Restif de la Bretonne
Monsieur Nicolas' Abenteuer im Lande der Liebe
Restif de la Bretonne

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2

Es war am 15. Oktober 1747, als man mich den Händen der braven Wirtschafterin Marguerite übergab, und da mein Vater noch mit der Weinlese beschäftigt war, wollte er am folgenden Tage zu Mittag nach Courgis kommen, um mich nach Auxerre mitzunehmen, wo wir in der Frühe des Donnerstags uns auf das Postschiff begeben sollten.

Erst gegen Abend kamen wir in Courgis an, und ich sah meinen Bruder, den Pfarrer, beim Nachtmahl. Er empfing mich mit freundlicher und liebevoller Miene. Nach dem Nachtessen gingen wir zu dem wackeren Monsieur Foynat, dem Schloßkaplan des Herrn Baron von Courgis. Bei dem Kaplan trafen wir ein Fräulein von Courtives, Fräulein von Chablis, eine Fromme namens Schwester Pinon und seine Haushälterin. Diese erhoben sich und küßten ehrerbietig die Hände des eintretenden Pfarrers. Der gute Kaplan lächelte mir freundlich zu, und vom ersten Augenblick an hatte ich ihn liebgewonnen; Treuherzigkeit und Milde spiegelten sich in seinen Gesichtszügen.

Der Kaplan befragte mich nach meiner Lektüre. Ich antwortete ihm, daß ich das ›Leben der Heiligen‹ gelesen hätte.

»Und hast du etwas davon behalten?«

Auf der Stelle zählte ich die verschiedenen Todesarten auf, welche die Märtyrer erlitten hatten.

»Ein ausgezeichnetes Gedächtnis!« sagte Monsieur Foynat zu meinem Bruder.

»Und was hast du sonst noch gelesen?«

»Die Bibel.«

»Die Bibel? Einen Auszug aus dem alten Testament?«

»Die ganze Bibel!« Und ich nannte die heiligen Bücher; als ich mit den Namen der zwölf kleinen Propheten beginnen wollte, rief er überrascht: »Er hat gut gelernt! Gewiß unter Messire Foudriat?«

»Keineswegs«, antwortete mein Bruder, »nur mit meinem Vater; sonst hütete er die Schafe...«

Der Kaplan umarmte mich mit den Worten: »Welche trefflichen Anlagen!« Und zu den frommen Damen gewandt sagte er: »Was sagen Sie dazu, meine Schwestern?«

»Wenn er seine Demut bewahrt, wird er eines Tages ein Heiliger werden«, sagte Mlle. de Courtives.

»Ja, wenn ...« sagte lächelnd Marguerite vor sich hin. Die beiden anderen frommen Damen versicherten ehrerbietig, daß ich meine Demut wohl bewahren werde.

»Er schlägt nicht aus der Familie«, sagte der Kaplan zu meinem Bruder gewandt, »und dieses Kind wird es weit bringen, wenn man es nicht hindert.«

Am folgenden Morgen hörte mir mein Bruder die Beichte ab, vielleicht nur, um seine priesterlichen Pflichten zu erfüllen. Gegen Mittag kam mein Vater. Wir verließen Courgis gegen drei Uhr.

Fröhlich setzten wir unsere Reise fort. Beim Anblick von Auxerre, das sich amphitheatralisch auf Hügeln erhebt, war ich, der ich bisher nur ärmliche Dörfer kannte, ganz erstaunt und von Bewunderung ergriffen. Wir gingen weiter. Ich hatte noch nie eine Brücke gesehen.

Als wir die Stadt durchschritten, führte mich mein Vater vor die Kathedrale, die mir als ein Werk der Feen erschien. Alle Leute kamen mir hier reich vor und ich fragte in kindlicher Weise: »Hier gibt es wohl nur Herren?« Alle Frauen erschienen mir schön, denn in meiner Kindereinfalt blendeten mich diese gezierten Puppen.

Donnerstag früh fuhren wir mit dem Postschiff weiter. Auf dem Schiff trafen wir eine Pariser Familie mit einem Mädchen meines Alters, das lieblich und hübsch war wie alle Pariserinnen. Sie gefiel mir recht gut. Aber ich bekam die Seekrankheit, als wären wir auf dem Meere gefahren, und konnte nichts essen. So sah sich denn mein Vater gezwungen, das Schiff mit mir zu verlassen. Ich bedauerte dies, denn gleich beim ersten Anblick meiner willfährigen Schönen hatte ich gewisse Wünsche empfunden, die durch ihr köstliches Schuhwerk in mir erregt worden waren.

Wir setzten unsere Reise zu Fuß über Melun fort. Die Umgebung von Paris ist reizend. Voll Vergnügen und Staunen betrachtete ich die prächtigen Häuser zu beiden Seiten der Straße. Allein die herrlichsten Bauwerke erregten keine Wünsche in meiner Seele. Aber in einem jener Parks, die mit ihren Gebüschen und ihrem Wildwuchs die Gebäude umgaben, hätte ich gerne hausen mögen, wenn nur kein Schloß dazu gehört hätte.

Als wir Villejuif, wo wir übernachtet hatten, den Rücken kehrten, gewahrten wir bald ein unermeßliches Häusermeer, das von Dünsten verschleiert war. Ich fragte meinen Vater, was das sei.

»Das ist Paris. Das ist die große Stadt. Man kann sie von hier aus nicht ganz überblicken.«

»Ach, wie groß ist Paris! ... Vater, ist es so groß, wie von Sacy nach Vermenton oder von Joux nach Sacy?«

»Ja, mindestens so groß!«

»Ach, und wieviel Menschen werden wohl darin wohnen?«

»So viele, daß selbst die Nachbarn einander nicht kennen und die Leute in einem Hause sich fremd sind.«

Ich sann einen Augenblick nach, dann rief ich begeistert: »Vater, ich möchte dort mein ganzes Leben lang wohnen!«

Mein Vater lächelte und sagte: »Aber du liebst es doch nicht, wenn viele Menschen um dich herum sind.«

»Ja, Menschen, die mich kennen, das stört mich, und ich fühle mich befangen. Hier aber kennt man sich nicht?«

»Nein!«

»Grüßt man sich auch nicht?«

»Nein!«

»Kümmert sich keiner um den andern?«

»Nein!«

»Also würde sich auch keiner um mich kümmern?«

»Nicht im mindesten!«

Außer mir vor Freude rief ich: »Dann gehe ich nach Paris! Dann gehe ich nach Paris!«

Aber wir gingen nicht gleich nach Paris; als mein Vater am Tore von Bicêtre ankam, wo Abbé Thomas wohnte, trat er ein.

Ich empfand keinerlei Scheu in diesem Hause, denn hier sah ich nur Unglückliche, die unter mir standen. Wir besuchten zuerst die Kirche, und ich hörte, wie mein frommer Vater Gott für die glückliche Reise dankte und seinen Segen für mich erflehte.

In diesem Augenblick fesselte ein anderes, mir neues Schauspiel meine Aufmerksamkeit; ungefähr dreißig Knaben in Soutane und Mäntelchen traten ein. Staunend blickte ich sie an und rief in meiner Einfalt: »Ach, sieh nur die kleinen Pfarrer!« Ich hatte noch keine anderen Priester gesehen und hielt die Bezeichnung Priester und Pfarrer für gleichbedeutend.

Nachdem die Knaben der Messe beigewohnt hatten, kehrten sie mit meinem Bruder zurück, den wir erst jetzt ansprachen, weil es ein Grundsatz meines Vaters war, keinen Menschen, am wenigsten seine Söhne, in dringenden Geschäften zu stören.

Ich will an dieser Stelle ein Bild von Abbé Thomas entwerfen. Er war groß, hager, hatte ein längliches Gesicht von dunkler Farbe und eine glänzende Haut; er besaß eine Adlernase und buschige schwarze Augenbrauen. Infolge eines Unfalls war ihm auf der rechten Wange eine nußgroße Geschwulst zurückgeblieben. Er war verschlossen und sehr ungestüm, ohne daß er diesen Anschein erweckte, heißblütig, leidenschaftlich, sinnlich, aber durch seine Frömmigkeit war er stark genug, seine Triebe zu meistern. Da er aber zu wenig entschlossen und zu nachgiebig war, eignete er sich nur für eine untergeordnete Stellung. Allein, man darf nicht vergessen, daß alle seine Vorzüge durch die Religion gehoben wurden, so daß selbst sein Mangel an Klugheit zuweilen der liebenswürdigsten und aufrichtigsten Gutherzigkeit gleichkam.

Wir stiegen nun in den Schlafsaal der Chorknaben hinauf, von dem man eine schöne Aussicht genoß. Von seinen Fenstern aus überblickte man fast ganz Paris. Ich war von den kleinen Pfarrern, in deren Schar ich eingereiht werden sollte, sehr befriedigt; sie drängten sich um mich und begrüßten mich als ihren Kameraden, doppelt freundlich, da ich der Bruder ihres Lehrers war. Nachdem wir eine kleine Erfrischung zu uns genommen hatten, brachen wir, Vater, Abbé Thomas und ich, nach Paris auf.

Während mein Vater mit meinem Bruder plaudernd zusammen ging, schritt ich hinter ihnen her und betrachtete staunend alles, was sich meinen Blicken darbot. Ich fühlte mich gar nicht schüchtern in Paris, sondern wie in meinem natürlichen Element. Man fragte mich nach allem, was ich gesehen hatte, und ich teilte meine kindlichen Beobachtungen über Läden, Kaufleute und Lakaien mit.

Mein Vater erzählte dann, während ich vor die Tür ging und nach Paris hinüberblickte, wie mein Bruder, der Pfarrer, von meinem ausgezeichneten Gedächtnis überrascht gewesen wäre. Dies freute Abbé Thomas, der hoffte, daß mein leuchtendes Beispiel seine etwas nachlässigen Schüler aneifern werde.

Nachdem wir von einem Spaziergang zurückgekehrt waren, wurde ich nicht an den kleinen Tisch gesetzt, an dem mein Bruder mit seinem Unterlehrer Monsieur Maurice und zwei Knaben speiste, die die rote Mütze trugen, Bruder Nicolas Fagel und Bruder Jean-Baptiste Poquet, sondern an einen der beiden großen Tische zwischen Bruder Edme und Bruder Joseph. Ersterer stammte aus Troyes in der Champagne und war von abschreckendem Wesen, der andere war rothaarig und von rechthaberischem Charakter.

Das Essen, das man mir vorsetzte, mundete mir nicht besonders; es war ein schlechter Mischmasch, in einer Weise zubereitet, die einem verwöhnteren Geschmack nicht zusagen konnte. Dennoch gefiel es mir in Bicêtre. Die enge Freundschaft, die sich zwischen mir und meinem Kameraden Fagel entwickelte, machte mich zwar nicht glücklicher als frühere Beziehungen dieser Art, aber aus andern Gründen. Meine beiden ersten Freunde, grobe Bauernburschen, besaßen kein Zartgefühl; mein neuer Freund dagegen war empfindlich launenhaft und eifersüchtig; dies hat mich alle Qualen einer weiblichen Seele begreifen gelehrt; in gewissem Sinne ein neuer Tiresias, spielte ich die Rolle einer eroberten Geliebten, die in ihren Worten und selbst in ihren Blicken nicht frei und unbefangen ist. Fagel, den ich einmal bevorzugt hatte, peinigte und quälte mich mit dem, was ich gesagt oder dem hübschen Bruder Jean-Baptiste auch nur geantwortet hatte, dessen weiblich zartes Gesicht und rosige Farbe ihn als ein verkleidetes Mädchen erscheinen ließen.

Eines Abends schmollte Fagel, mit dem ich oft nach dem Nachtmahl Schach oder Würfel spielte, mehr als gewöhnlich; er war nicht zum Spiel zu bewegen und antwortete mir nicht. Das machte mir eine unruhige Nacht. Am Morgen sagte ich zu Fagel: »Was habe ich dir getan? Sprich doch, damit ich mein Unrecht wieder gutmachen kann, aber sei mir nicht böse. Ich brauche deine Freundschaft!« Bruder Nicolas blickte mich an, und ich bemerkte Tränen in seinen Augen. Dies rührte mich so, daß ich ihn umarmte.

»Ach!« sagte er, »ich habe das Unglück, eifersüchtig zu sein! Mein lieber Augustin!« (Diesen Namen hatte man mir hier gegeben.) »Ich hasse Bruder Jean-Baptiste, sprich nicht mehr mit ihm!«

»Willst du, daß ich undankbar bin? Ist er nicht gegen mich wie ein brüderlicher Freund? Ich soll undankbar sein?« Ich hielt einen Augenblick inne; dann bemerkte ich, daß Fagel erblaßte ... »Nun gut«, sagte ich, »ich werde undankbar sein, um dir keinen Kummer zu bereiten.«

Dadurch wurde unsere Freundschaft besiegelt. Aber ich bat Bruder Joseph, meinen Nachbarn zur Rechten, er möge mich bei Poquet entschuldigen. Dieser ließ mir sagen: »Ich kenne Fagel; Bruder Augustin soll sich um meinetwillen nicht beunruhigen; ich werde ihn immer lieben und auch Fagel.«


Trotz meiner äußersten Abneigung gegen das Laster der Männerliebe wäre es vielleicht um mich geschehen gewesen, wenn nicht von anderer Seite ein Angriff auf meine Tugend unternommen worden wäre.

Eines Tages sandte man uns, Fagel und mich, zur Schwester Oberin, um für unsere Kleiderkammer, die erschöpft war, eine Unterstützung zu erbitten. Wir fanden sie selbst nicht, aber an ihrer Stelle eine hübsche Sekretärin. Diese schickte Fagel zur Oberin, die ihn liebte, und behielt mich bei sich. Sie war eine Brünette von zwanzig Jahren. Sie überschüttete mich mit hundert Fragen, nach meiner Heimat, nach meinen Eltern. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick zur Türe. Sie schien noch etwas zu wünschen und zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen; als sie sah, daß meine feurigen Augen die Schüchternheit meines Wesens Lügen straften, dachte sie sich ... die Wahrheit.

Sie blickte schnell noch einmal nach der Türe, drehte sich mit einer lebhaften Bewegung um und breitete freudig erstaunt die Arme aus. Dann setzte sie sich, zog mich zu sich und sagte: »Wer kämmt dich?« – »Eine Stiefschwester.« – »Ist sie jung? Ist sie hübsch?« – »Nein, meine Schwester.« – »Nein, meine Schwester, nein, meine Schwester... Schnell, ich will dich kämmen.« –

Ich kniete vor ihr nieder. Schwester Melanie drückte mein Gesicht zwischen ihre Schenkel.

»Ist sie älter als ich?« – »Ach, meine kleine Schwester, Sie sind doch so jung!« – »Ach was, meine kleine Schwester, meine kleine Schwester!« sagte sie erregt. »Ist sie hübscher?« – »Sie sind die schönste Schwester!« – »Ah, mein kleiner Mann!...«

Ihre Erregung steigerte sich. Ein unwillkürlicher Trieb, den meine Erfahrungen unterstützten, hieß mich aufstehen und ihren Hals umschlingen. Ich drängte sie zu dem hübschen Bett.

»Ah, der kleine Kerl!« rief sie lächelnd und wich selbst zurück, »was will er denn?« Ich war entzückt. »Was will er denn: Was sucht er denn nur?«

Das war die ganze Verteidigung der Schwester Melanie ... Sie erreichte ihr Ziel und erstickte mich mit ihren Zärtlichkeiten. Als ich die Besinnung zu verlieren schien, reichte sie mir einen belebenden Trank. Kaum hatte ich ihn zu mir genommen, als Fagel eintrat. Wir gingen zusammen weg und unterwegs bemerkten wir, daß wir von demselben Elixier genossen hatten. Aber er war verschwiegen, und ich war es auch.

Man hatte uns den Bescheid gegeben, wir sollten in vierzehn Tagen wiederkommen. Da wir zu lange ausgeblieben waren, gab man uns diesmal den jungen Poquet mit, der bei den Schwestern ebenfalls sehr beliebt war. Bei unserer Ankunft sagte man uns, die Oberin und ihre hübsche Sekretärin Melanie seien bei Schwester Saint-Augustin, die diesen Teil der Anstalt leitete. Ich weiß nicht, ob Melanie gesprochen hatte.

Die Oberin entführte Fagel, Schwester Augustin nahm Poquet mit sich, und ich blieb allein mit Melanie und der blonden Rosalie, der fünfzehnjährigen Gehilfin von Schwester Saint-Augustin. Rosalie verschlang mich mit den Augen. »Was! Er?« sagte sie zu Melanie. – »Ja, er!« – »Ah, mein Gott! ... Vor dem braucht man keine Angst zu haben!« – »Gewiß nicht, das ist ein hübscher Zeitvertreib!« – »Oh, Zeitvertreib?« – »Wahrhaftig! Du willst wohl die Dumme spielen? Als ob ich dich nicht kennte!« – »Und die Oberinnen?« – »Ach, die haben auch einen, um sich zwei Stunden lang ...« (Sie lachte schallend.) – »Also vorwärts! – Was machen wir denn?« Melanie sprach leise mit ihr. »Ah, ich soll anfangen? – Für ein Mädchen vom Krankenhaus bist du sehr bedenklich!«

Rosalie kam auf mich zu mit einem so freien Wesen, wie ich es seitdem nur noch einmal gefunden habe, und zwar am 26. Mai 1756 bei der Macé ... Wir wurden beinahe von den beiden Oberinnen überrascht, aber Melanie, die die Wächterin machte, hielt sie einen Augenblick vor der Türe fest ... Man gab uns dreien von dem Trank und wir kehrten zurück ... Für einen kleinen frommen Jansenisten war meine Moral etwas locker! Aber ich hatte ja die Gelegenheit nicht gesucht, und daß ich den ersten Glücksfall genutzt, war rein zufällig ... Übrigens darf man nicht denken, daß meine Kameraden dasselbe taten wie ich: das waren Kinder, die man liebkoste, für das andere waren sie noch zu zart.

Abbé Thomas verehrte die Oberin wie eine Heilige, und sie war doch nur eine Heuchlerin; Abenteuer wie dieses aber beweisen, daß diese frommen Anstalten nichts anderes sind als ein Abgrund von Scheinheiligkeiten und Verderbnis ...

Erzbischof Gigot de Bellefons war gestorben. Kurze Zeit darauf wurde Monsieur Cristoph de Beaumont auf den Bischofssitz von Paris erhoben. Gleich nach seiner Installation erklärte er den Jansenisten den Krieg. Als der neue Rektor unser Institut besuchte, fühlte Abbé Thomas, daß nun hier nicht mehr lange seines Bleibens sei; er bereitete sich darauf vor, seinen Platz zu verlassen. Da die Jansenisten mächtige Gönner hatten, wurde man über die Schritte des Erzbischofs unterrichtet. Abbé Thomas schickte während der nächsten acht Tage alle Zöglinge, die Kinder frommer Eltern waren, in ihre Heimat zurück. Auch mein teurer Fagel ging, und ich war untröstlich über seinen Verlust. Bruder Jean-Baptiste kam, um mich zu besänftigen; durch das große Bogenfenster blickten wir dem Wagen Fagels nach und schluchzten. Noch waren zwei Freunde vereint; übermorgen blieb ich allein, wenn Poquet abreiste.

Mein Bruder wurde am siebenten Tage nach dem Besuch des Rektors davon benachrichtigt, daß der Befehl zur Vertreibung der Jansenisten ausgegeben worden sei. Er war so klug, dem zuvorzukommen.

Er verließ mit seinem Gehilfen Maurice und mir das Haus, als ob er einen Spaziergang unternehme. Aber ein Wagen brachte uns nach Vitry und in Sicherheit vor den Verfolgern.

Mich ließ man nach einwöchigem Aufenthalt in Vitry zu meiner Schwester Marie Beaucousin nach Paris bringen. Der Lehrer und sein Gehilfe trennten sich, um sich nie wiederzusehen. Ich war ernst geworden; innerlich von meiner Vortrefflichkeit überzeugt, denn ich war verfolgt worden um der Wahrheit willen. Ich betrachtete mich als einen kleinen Bekenner Jesu Christi und kam mir vor wie ein Märtyrer.

Während ich in Paris weilte, betrachtete ich zitternd vor Begierde die hübschen Mädchen, die zu meiner Schwester kamen. Man glaubt nicht, was für ein Draufgänger ich geworden war!

Eine verheiratete Frau, Madame Bossu, die wollüstig herausgeputzt war, hatte mir die Sinne derart entflammt, daß ich sie in ihrem Zimmer überfiel und umarmte, bevor sie Licht machen konnte. Ich bemerkte, daß sie selbst Lust bekam, aber dann stieß sie mich doch von sich, indem sie sagte: »Wenn du nicht artig bist, werde ich es deiner Schwester sagen!« Aber sie sagte nichts, obschon ich nicht lange artig blieb.

Noch lebhafter blieb der Eindruck, den mir eine andere machte, eine junge, hübsche Mulattin, die Zimmermädchen bei einer Amerikanerin war, und deren süßes Gesicht eines der verführerischsten war, das ich je im Leben gesehen habe. Es war etwas ganz Neues für mich. Sie bemerkte bald, daß sie mir gefiel.

Eines Tages, als ich mit ihr allein war und las, kam sie zu mir und blickte mir über die Schulter ins Buch. Ein göttliches Lächeln, das durch ihre dunkle Hautfarbe noch reizender wurde, drang mir bis ins Herz, denn es erinnerte mich an eine schwarze Schöne, die ich auf einem alten Bilde ›Toilette Esthers‹ gesehen hatte. Den Mund halbgeöffnet schlug ich lächelnd die Augen zu ihr auf; sie meinte, ich begehre einen Kuß und drückte ihre glühenden Lippen auf die meinigen. Das versetzte mich in volle Glut! Ohne mich als Bekenner Christi zurückhalten zu lassen, eine Eigenschaft, die mir seit einiger Zeit eine gewisse Würde verlieh, erlaubte ich mir allerhand Freiheiten. Esther leistete mir keinen Widerstand, sie lächelte nur und sagte: »Mein kleiner Weißer! Mein kleiner Weißer! Ich nur die Weißen liebe, nicht die Schwarzen. Willst du kommen mit mir?« Ich erwiderte, daß ich nicht mitgehen wolle, daß aber meine Schwester und mein Schwager nicht vor einer halben Stunde zurückkämen. Da sah ich Esthers Augen funkeln, und wie eine Rasende stürzte sie sich auf mich ... Ich war nicht unerfahren, aber Esther war mir überlegen und vor allem sehr leidenschaftlich.

»Mein kleiner Weißer!« sagte sie, »du bekommen meine Erstlinge, weil deine Schwester ist so hübsche Frau und ich sie haben lieb; später werden mich großer Schwarzer heiraten, wenn er will ...«

Auf schlüpfrige Einzelheiten werde ich hier nicht eingehen, geschieht es jemals, so gebietet es der Zweck ... Ich will nur sagen, daß ich nach verschiedenen Versuchen erreichte, was sie wünschte. Der Unfall, der mir stets zustieß und den die hübschen Schwestern von Bicêtre besonders gern hatten, befiel mich auch diesmal und zwar sehr heftig. Ich wurde ohnmächtig. Die hübsche Schwarze erschrak und lief davon. Ich erholte mich aber, bevor meine Schwester nach Hause zurückkehrte und brachte alles wieder in Ordnung. Ich empfand Gewissensbisse und bat mit Tränen in den Augen Gott um Verzeihung...

Einer Aufforderung des Pfarrers von Courgis folgend, kehrte Abbé Thomas in seine Diözese heim. Teils zu Fuß, teils im Wagen legten wir den Weg nach Auxerre zurück, wo wir an einem Sonntag ankamen. Abbé Thomas begab sich ins Kleine Seminar, wo er als ein Bekenner Jesu Christi empfangen wurde. Man gab ihm ein hübsches Zimmer und auch mir wurde eine kleine Kammer zugewiesen. Am nächsten Tage ging ich mit Marguerite Paris, der Wirtschafterin des Pfarrers, die mich abholen kam, nach Courgis.

Ich beginne damit einen neuen Abschnitt meines Lebens, in dem sich die erste Entwicklung meiner Leidenschaften wahrhaft zeigen wird, eine wichtige Epoche, die ohne Zweifel mein ganzes übriges Leben bestimmt hat.


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