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Glanz und Elend

Er kommt auf dem Verdeck eines der großen Verkehrsautos aus dem Norden. An der Tauentzienstraße sieht er ein junges Mädchen, hell bestrumpft und mit großem, weißem Pelz, die knapp vor dem Autobus leicht und graziös über die Straße tänzelt. Dieser Gang und die Schlenkerbewegungen ihres Rückens erinnern ihn an seine Schwester Helene. Vielleicht läuft sie dort über die Straße? Er will zu ihr, sofort, das muß noch erledigt werden. Hinten in dem kleinen roten Notizbuch steht ihre Adresse: Knesebeckstraße.

Nicht weit vom Savignyplatz erwartet ein stilles Haus den Besucher: Breite Front mit großen Fenstern und Balkonen, grau, kühl, wie überall in den Seitenstraßen des Kurfürstendamms mit betonter Distanz die Villen gebaut sind. Der Hausmeister öffnet und betrachtet mißtrauisch Paul. Fräulein Helene Moll bewohnt die zweite Etage. Soll er diesen Proleten hinauflassen, über weiche Läufer, vor schneeweißen Türen? Den Hosen fehlt die Bügelfalte, Wolljumper unter der durchgewetzten Jacke und ein breites, schlecht rasiertes Gesicht, das höchstwahrscheinlich vor einer zugeklappten Tür nicht kehrtmachen würde.

Paul Moll würdigt aber keinesfalls den barocken, Neuberliner Treppenaufgang, die Gipsengel in den Nischen mißfallen ihm außerordentlich, und nur kurz denkt er: Ihr scheint es also gut zu gehen.

Schließlich ist der Besuch kein notwendiger Geschäftsgang, nichts und niemand verpflichtet ihn, Helene aufzusuchen, wenn er Hambruch ausnimmt. Brüderliche Liebe? Er kann sich noch an das kleine, kleine Mädchen mit den langen, braunen Zöpfen erinnern, an die eigensinnige und trotzige Kämpferin, als sie in der Grube schuften mußte, und dann, schon in den letzten Monaten, an die Stenotypistin in der Stadt, die dem Bruder immer fremder wurde, bis sie ihn wieder brauchte. Und sie brauchte ihn, als Mieke geboren wurde, als sie hilflos und verlassen den Schmerz der Mutter und das Leid der Armen erdulden mußte.

Sie verließ ihre Welt, die Welt der Armut und der schwarzen Gruben, vielleicht hat sie Glück gehabt. Was sucht er, der Grubenarbeiter, der politische Flüchtling, hier? So kommen die ganzen Gedanken noch einmal anmarschiert. Auf der obersten Stufe bleibt er stehen, steckt die Fäuste in die Taschen, und da spürt er die weichen Ärmchen um seinen Nacken und hört das traurige Stimmchen: »Wann kommt Mutter wieder?«

Mieke!

Die weiße Visitenkarte übersieht man auf der weißen Tür fast: Lia Moll. Lia? Hm. Er klopft.

Zofen, nicht nur auf der Knesebeckstraße, müssen sich genau nach den Spezialwünschen und besonderen Mucken ihrer Herrschaft richten. Thea, die schlanke Postbeamtentochter aus Neukölln, reizend in ihrem weißen Häubchen und mit den verschleierten Augen, die sie sich auf dem Weg über eine solide Girltruppe und eine durchaus nicht solide Breslauer Nachtbar erworben hat, versteht, prompt und sicher auf die Wünsche ihrer Herrschaft zu reagieren. Und ihre Herrschaft heißt: Bruno Salzmann, verantwortlich für den Inseratenteil. Er bezahlt ihr den Lohn, nicht jene Lia Moll, die draußen an der Tür ihre Visitenkarte hat, die morgen vielleicht schon durch eine andere ersetzt wird.

Thea ist froh, daß sie wieder Boden unter den Füßen fühlt, und sehnt sich nicht nach jener Zeit zurück, von der sie als Schulmädchen geträumt und zusammen mit ihren Freundinnen phantasiert hatte. Sie weiß jetzt, welche Ware jene jungen Mädchen liefern müssen, die als Girls oder Mannequins oder »Privatsekretärinnen« ein leichtes Leben und ein Vergnügen ohne Grenzen erhoffen. Viele rutschen an der Nachtbar vorbei und tiefer. Sie sehnt sich nicht zurück und arbeitet eifrig, um die Gunst ihres Brotherrn zu behalten. Dazu gehört die Spionagearbeit gegen ihre Herrin, alle Wege Lia Molls erfährt am nächsten Tag der »flotte Bruno«, wie ihn seine Redaktionskollegen nennen. Oft folgen dann Szenen hinter den blauen Portieren, und die Zofe zuckt die Achseln, sie werden sich doch wieder versöhnen. Der Inseratenchef verlangt für sein Geld auch, daß er beim Vergnügen nicht gestört wird. Deshalb darf die Zofe während seiner Anwesenheit keinen Menschen empfangen.

Als sie jetzt die Tür öffnet, einen kleinen Spalt nur, und einen jungen Arbeiter draußen stehen sieht, der sie erstaunt und leicht verlegen von oben bis unten mustert, kommt ihr noch nicht die große Gefahr zum Bewußtsein, die im Vorsaal steht. Vielleicht will der Mann etwas reparieren oder den Lichtmesser nachsehen.

»Ich will meine Schwester sprechen.«

»Ihre Schwester? Da sind Sie hier in der falschen Etage, ich bin hier die einzige Zofe.«

»Ich will Fräulein Helene Moll sprechen.« Er betont das Wort Helene und nähert sich der Tür, die vielen Hindernisse reizen ihn.

»Sie meinen wohl, Fräulein Moll sei Ihre Schwester.« Die Zofe beugt sich durch die Türspalte und lacht ihm mit offenem Mund in sein Jungengesicht, der Gedanke ist zu absurd.

»Wollen Sie mich jetzt hereinlassen?«

Nein, diesen Ton ist Thea nicht gewöhnt, sie klappt die Tür zu, das heißt sie versucht, die Tür zuzuklappen, aber da gibt es ein kleines Hindernis: Pauls Schuh. Eine Kleinigkeit für ihn, um sich den untersagten Eintritt zu verschaffen.

In diesem stillen, vornehmen Hause, einem Bau aus den neunziger Jahren, laufen in jeder Etage rechtwinklige Gänge, an denen die Zimmer liegen. Weit hinten, fern der Entreetür, wie das in herrschaftlichen Häusern üblich ist, befindet sich die Küche, vorn aber immer der wichtigste Raum: Empfangssalon oder großes Besuchszimmer. Lia Molls wichtigstes Zimmer ist das Boudoir. Stilmischung »Tauentzien«. Deckchen und Bänderchen, Kissen, Seide, Samt, die Fenster verhängt, Portieren, Königreich der Ladenmädchen.

Woher soll Paul auch wissen, daß gleich neben der weißen Tür, zwei Schritt nur entfernt, sich eben Bruno Salzmann die Haare bürstet, fertig zum Ausgehen?

Paul läuft erst einmal vorbei an dem erschrockenen Mädchen Thea, durch diesen langen, endlosen Gang, in der Hoffnung, ein Lebewesen zu treffen. Aber sein kleiner Disput mit der Zofe ist nicht geräuschlos vorübergegangen, Lia und Bruno kommen erstaunt aus dem Boudoir.

»Was is'n das for Krach?« Im Gespräch mit Untergebenen gebraucht der Inseratenchef ein abscheuliches Idiom, nachlässig über seine zu großen Lippen genuschelt.

Thea schluchzt in der blauen Portierecke, sie sieht sich schon fliegen. Bis Breslau, grüß Gott, meine Nachtbar!

»Ein fremder Kerl ist hereingekommen, er sagt, er wäre der Bruder der gnädigen Frau!« Sie zieht laut und vernehmlich einen tränenreichen Seufzer hoch.

»Der Bruder?« Aus zwei Mündern kommt im selben Moment der gleiche Ausruf, und dann lacht der flotte Bruno und wiederholt noch einmal: »Der Bruder!«

Paul ist überall auf verschlossene Türen gestoßen, im Vorsaal hört er die Stimmen, er rennt durch den Gang zurück. Gerade als Bruno Salzmann noch einmal das ihm anscheinend überaus komische Wort »Bruder« hervorgluckert, gerade bei diesem Wort erscheint Paul auf der Bildfläche. Thea schluchzt entsetzt: »Das ist der Kerl!«

Stürzen sich Bruder und Schwester in die Arme? Nein, es ist, als ob die beiden Frauen in dem Augenblick gar nicht vorhanden wären, sie sind ziemlich nebensächlich.

Die Männer aber glotzen sich an, der eine verdutzt, mit nachdenklichem, überlegendem Gesicht, der andere schneller begreifend, obenhin, nachlässig. Der andere ist Salzmann, er steht nicht lange so da, weltmännisch spielt er mit seinem Bambusstock, setzt sich die graue Melone auf. »Servus und viel Spaß allerseits.« Die Tür klappt hinter ihm zu. Für ihn ist die Episode erledigt, Lia hat ihren Bruder nicht verleugnet und er selbst, nun, sechs Jahre sind eine lange Zeit, aber sein Gedächtnis ist gut.

Der junge Ruhrarbeiter starrt immer noch auf die zugeklappte Tür, eine Erinnerung schnappt damit zu.

»Paul, bist du es wirklich.« Sie will sich an seinen Hals hängen, und er spürt ein fremdes, schweres Parfüm, das sich sofort überall festsetzt. Er macht sich leicht los, obwohl sich die Zofe Thea längst verdrückt hat und nur noch aus dem Hinterhalt beobachtet. Dann öffnet er die Tür zum Boudoir und geht hinein.

»Ja, ich hatte hier etwas zu erledigen und wollte dich mal besuchen. Es sieht so aus, als hätte ich gestört.«

»Du, wie kannst du so etwas sagen!«

Sie streichelt mit ihren blanken, blitzenden Nägeln über sein hartes, graues Gesicht; diese Hand, denkt er, ist nicht mehr Helenens kräftige Jungmädchenpfote, diese gepflegten, langen, duftenden Finger.

»Ich habe mich so oft nach euch gesehnt, ich hätte gern alles, was ich habe, hingeworfen, um wieder einmal oben unter der Dachluke schlafen zu können. In unserem Haus! In unserer Kolonie!«

»Warum bist du nicht gekommen?«

»Ach«, sie macht eine müde Bewegung mit dem Kopf, und Paul sieht, daß viele kleine, dunkle Falten unter den Augen mit Puder überdeckt sind.

»Das verstehe ich nicht.«

»Vielleicht läßt mich auch mein Leben nicht fort.«

»Oder vielleicht der Jüngling, der eben fortging?«

»Der?« Sie scheint etwas Bitteres hinunterzuschlucken.

Paul faßt sie um den Nacken und nähert sich diesem veränderten Gesicht, ihre weißgepuderten, vollen Nasenflügel zittern.

»Du, ich kenne diesen Jüngling, Salzmann, nicht wahr?«

Paul steht auf und geht zum Fenster, trommelt gegen die Scheiben. Zur Rechten füllt ein Kissenlager die Ecke, zerwühlt, groß, pompös. Ein Gedanke ist blitzschnell aufgetaucht, er verbeißt sich darin, ein wichtiger Gedanke.

»Komm wieder her«, ihre Stimme ist jetzt ganz dünn geworden, »erzähle mir von zu Hause«, und dann setzt sie leiser hinzu: »Wie geht es Mieke?«

Auf einem hellbraunen zierlichen Vertiko steht eine Vase mit merkwürdigen, vielleicht chinesischen Malereien.

»Teuer, was?« Er wiegt das Schmuckstück in der Hand. Daneben ist ein Spiegel in die Wand eingelassen. Er prüft alles, die alten Bilder, die eleganten Möbel, Spitzen auf dem Tisch.

»Wie lange muß man schuften, um das kaufen zu können?«

»Warum sagst du mir das? Sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, und das erste ...«

»Ja, sechs Jahre, weißt du, was damals passiert ist ...?« Ah, jetzt weiß er, worüber er die ganze Zeit nachgedacht hat und welcher Gedanke ihn so hartnäckig verfolgt. Irgendwie muß der Selbsterhaltungstrieb bei ihm sehr rasch reagieren, ihm sagen ja auch alle, daß er furchtbar mißtrauisch sei. War damals bei Herdecke vielleicht auch Salzmann auf der Maschine? Salzmann, damals noch revolutionärer Student, der mit Helene ging und schließlich Verräter wurde. Nach sechs Jahren kann man sich nicht mehr an alles erinnern. Wenn Salzmann mich angezeigt hat, denkt Paul, und ich traue ihm das durchaus zu, dann ist Peter unschuldig. Er läuft hin und her, an seiner Schwester vorbei, die müde und mit tränenverschwommenen Augen irgendwohin sieht, zum Fenster hinaus. Da fallen immer noch Blätter von den Bäumen.

»Ich habe mich hier in Berlin bitter durchbeißen müssen in den ersten Jahren. Du weißt nicht, wieviel Schmerz und Jammer diese glänzenden Zimmer gesehen haben ...«

»Und noch sehen werden! Ich möchte nicht zwischen dieser Bande leben!«

»Ach, so eine kleine Hoffnung haben wir alle noch: Bis die nicht ausgelöscht ist, leben wir eben so weiter. Ich habe viele von dieser Sorte kennengelernt. Ich brauch dir wohl nicht zu sagen, was das für Freunde waren. Im vorigen Jahr sah ich Salzmann zufällig in einem Kino wieder, er ist Inseratenchef bei einer großen Zeitung ...«

Sie nennt den Namen des Blattes. Paul wird aufmerksam, es ist dieselbe Zeitung, bei der sein Gastgeber von der Wizlefstraße als Werkmeister beschäftigt ist. »... ich war damals schon so zermürbt, daß ich mir nichts draus machte, ob Salzmann abends bei mir schlief oder ein anderer. Sie sind alle gleich, gleich brutal, gleich lieblos. Nur ihre Preise sind verschieden.«

So mit dem abzurechnen muß ein Vergnügen sein. Da begleiche ich nicht nur meine Rechnung, sondern auch noch die meiner Schwester. Und nun wünscht Paul fast, daß Bruno Salzmann ihn bei der Polizei angezeigt habe.

Wenn mich aber Salzmann erkannt hat, überlegt Paul weiter, und er ist der Denunziant, was wird er dann tun? Er wird sofort die Polizei alarmieren. »Bitte schön, Knesebeckstraße so und so bei Fräulein Lia Moll werden sie einen Mann finden. Verhaften Sie ihn wegen Mord.«

Jetzt wird das Spiel verdammt prosaisch, denkt Paul, ich muß mich über Wasser halten, bis die Rechnung mit dem Schuft beglichen ist, der Miekes Vater ist und nicht sein will. Ohne sich zu verabschieden, saust er aus der Wohnung, springt die Treppe hinunter und bleibt unten ruhig stehen. Nicht die Balance verlieren! Vielleicht hält gerade das Polizeiauto vor der Tür, vielleicht hat Salzmann schon jemanden beauftragt, ihn zu beobachten und zu verfolgen.

Draußen steht niemand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite laufen zwei Männer nebeneinander her, weiter hinten kommen andere Passanten. Paul geht langsam bis zur Ecke, langsam und gleichgültig, wartet da eine Weile. Die Männer drüben nähern sich. Jetzt biegt eine Bahn im schnellsten Tempo in die Kantstraße ein, Paul rennt über die Straße, packt den Griff. Der Schaffner flucht, aber Paul ist oben. Er wechselt noch zweimal die Straßenbahn, steigt an der Haltestelle Bismarckstraße als letzter in die Untergrundbahn und ist nun, falls ihm wirklich jemand gefolgt ist, sicher, daß sie seine Spur verloren haben, steigt am Kaiserdamm wieder aus und läuft durch Charlottenburg bis nach Haus.

Lichter flammen auf, das Heer der Angestellten flutet aus den Geschäften und Kontoren. Die elektrischen Birnen über den Kinos leuchten auf. Er sieht zum erstenmal eine solche große Stadt. Eine leicht berauschende Betäubung überfällt ihn, als er sich von dieser glitzernden abendlichen Flut treiben läßt, die in jeder Stunde Lust und Schmerz in die Häuser und Zimmer dieser arbeitswütenden Stadt treibt.

Helene muß eigentlich sehr erstaunt und betroffen gewesen sein, als er sie so schnell verließ. In der nächsten Telephonzelle ruft er seine Schwester an.

»Paul, was hast du denn gemacht, die Polizei hat dich hier gesucht ...«

Er hängt ab. Das genügt. Jetzt wird die Rechnung beglichen, Herr Salzmann!


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