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Moabit, Wizlefstraße

Über Berlin ziehen noch einmal, ehe Regen und Schnee das Stadtbild verwischen, die weichen Tage des sterbenden Herbstes. Am Lützowufer treiben die Blätter herunter auf das friedliche Wasser, mittags promenieren die jungen Leute zum letztenmal ohne Mantel durch den Tiergarten. Alle Dinge, die Häuser in den Außenorten, Straßen ohne Tram, eine mildbesonnte Stuckfassade, atmen jene leise Melancholie aus, die uns in den Übergangstagen gleich einer leichten, fiebrigen, berauschenden, aber nicht unerwünschten Krankheit überfällt. Letzter Duft vom Sommer, Ahnung der dunkleren Tage, ferner Ruf des neuen Jahres. In den Betrieben dröhnen die Maschinen weiter, in Rummelsburg geht das neue Großkraftwerk in Höchstgeschwindigkeit seiner Vollendung entgegen, die AEG schmeißt wieder einen Schub Proleten auf die Straße. Berlin atmet. Berlin lebt. Paul Moll merkt noch nichts von dem zarten Tag, der sein erster in dieser Stadt ist. Er wälzt sich auf die andere Seite, draußen stört ihn irgendein Geräusch auf. Rrrrrr, gleichmäßig, monoton. Endlich begreift der Langschläfer und springt vom Sofa.

Eine Kaffeemühle. Leise Stimmen summen durch die Wand, fremde Stimmen. Gestern abend, als er den Potsdamer Bahnhof verlassen hatte, reisemüde, zerschlagen von jener letzten Nachricht, die zuviel zum Nachdenken für eine lange Bahnfahrt enthielt, war er sofort mit der Straßenbahn nach Moabit herausgefahren. Wizlefstraße, eine Hausnummer und ein Name stand auf dem Zettel, den er von Heinrich Hambruch erhalten hatte, die Adresse eines Arbeiters, bei dem durchfahrende Genossen für ein oder zwei Nächte eine Schlafgelegenheit oder auch ein Versteck erhalten konnten. Viel anderes als ein freundliches Wort und ein Händedruck war nicht notwendig. Die Frau deckte ein weißes Bettuch über das Sofa im großen Zimmer und wünschte ihm guten Schlaf. Dann blieb nichts weiter in seinem Gedächtnis als ein wüster Traum.

Die heisere Kaffeemühle ist verstummt, jetzt beginnt das Ausklopfen. Sein Gastgeber wohnt im Hinterhaus, Erdgeschoß, ein schönes, neues, großes Mietshaus. Vier Klopfstangen stehen in dem schmalen Hof, alle vier werden benutzt, und der Staub steigt aus Decken und Teppichen. Paul zieht sich an und geht in die Stube, in der Kaffeetassen klirren.

»'n Tag, Genosse.« Der Mann reicht ihm über den Kaffeetisch hinweg die Hand. »Dort steht Wasser.« Und er zeigt in die Ecke, wo ein großes Waschbecken steht. Paul macht sich sauber, das Wasser spritzt gegen den gestickten Wandspruch über der Leitung. Auf einer Konsole steht ein Wecker: neun Uhr. Paul wundert sich, daß der Genosse noch in aller Ruhe am Tisch sitzt, die Hemdsärmel aufgekrempelt, und frühstückt.

»Bist du arbeitslos?«

»Nee, ich habe einen feinen Posten! Druckerbulle: Weeste, was das ist? Oberspitzel! Da staunste, was?«

Er legt seine bloßen Unterarme auf den Küchentisch und kaut an einem großen Stück Brot. »Ich präsidiere in einer großen Druckerei über vierhundert Mann. Bürgerliche Abendzeitung, faules Blatt! Aber ich bin vor vier Jahren so reingerutscht und habe allerlei Ahnung, war während des Krieges in Amerika interniert. So'n bißken dabei gelernt.« Er schnalzt mit den Fingern.

Seine Frau kommt mit der Markttasche herein und begrüßt ihn strahlend. »Gut geschlafen? Ja? Mußt du tagsüber hierbleiben oder darfst du ausgehen?«

Ein kleines, rundliches Frauchen, die eigentlich nicht zu dem Riesen paßt. Sie legt die weichen molligen Arme um den Hals ihres Mannes und fährt mit ihrem sanften Doppelkinn über seine glänzende Platte. Anscheinend passen sie doch zusammen.

»Ich will am Vormittag in das Zetka, meine Angelegenheiten erledigen, vielleicht fahre ich heute abend schon wieder ab.«

Er denkt dabei, was suche ich eigentlich in dieser Stadt, mein Platz ist woanders.

»Du kannst hier ruhig bleiben. Ich werde dir das Sofa heute abend wieder herrichten. Wenn du nicht wiederkommst, ist es auch nicht schlimm.«

Ihr Mann winkt energisch. »Komm jetzt her. Hier ist Brot und Butter. Schmieren mußt du dir selber.« Aber die Frau schneidet ihm schon Stullen ab. Der Kanarienvogel am Fenster beginnt zu trillern, im Hofe draußen lärmen die Kinder. Schweigend frühstücken die drei Menschen zu Ende.

»Höre mal, ich fange zehn Uhr an zu arbeiten, werde ein Stück mit dir gehen, warst doch noch nicht hier, wat?« Er wendet sich zu seiner Frau und klopft ihr behutsam auf den Rücken. »Pack ihm ein paar Stullen ein!«

Sie legt Wurstscheiben auf das Brot und pfeift eine Schlagermelodie dazu. Der Mann zieht sich die Stiefel an, Paul sieht seinen komischen Schnurrbart auf und nieder tanzen. So was hatte er mal in einer amerikanischen Groteske gesehen. Beate saß damals neben ihm und freute sich an seiner Freude. Er hatte vor Vergnügen mit den Beinen getrampelt und unbekümmert um die mißbilligenden Blicke der Umhersitzenden vor Vergnügen gebrüllt. Beate aber lachte hell und ebenso intensiv über ihn. Die Erinnerung kommt wieder, als er diesen Schnurrbart sieht, jetzt muß er auch wieder lachen. Die erstaunten blauen Kinderaugen seines Genossen sehen ihn an, dann lacht dieser mit, ohne zu wissen, warum. Seine Frau füttert den Kanarienvogel und lockt ihn, ihre kleinen Wurstfingerchen fahren dabei an den Gitterstäben auf und ab. »Hänschen, komm doch – Hänschen – hat Hänschen keinen Hunger?«

Die Proleten sind hier doch ein bißchen anders als bei uns an der Ruhr, denkt Paul, wie mögen die bloß in die Partei gekommen sein.

Plötzlich dreht sich die Frau mit offenem Munde um. »Du! Wir haben doch noch keine Kohlen geholt.« Ihr Mann kratzt sich seinen elastischen Schnurrbart. »Das hättste ooch eher sagen können! Ich habe jetzt keene Zeit mehr.«

Paul erfährt, die Kohlen werden zwei Straßen weiter geholt, man fährt mit einem kleinen Handwagen. Schön, Paul erklärt sich bereit, der Frau beim Transport zu helfen. »Es ist doch egal, ob ich jetzt schon oder erst heute Nachmittag meine Angelegenheit erledige.« So sieht er an der Deichsel eines Handwagens zum erstenmal das lebendige Berlin. Die Frau seines Genossen zwitschert nebenher und erklärt die Gegend. Mietskasernen, ein paar Kirchen, eine Brauerei, dahinter das Krankenhaus Moabit.

»Und da drüben ist gleich die Spree.«

Bierfässer werden abgeladen, eine Straßenkehrerkolonne rückt an. Arbeiterfrauen holen in Körben und Taschen Gemüse und Kartoffeln für das Mittagsmahl. Links pfeift weißer Rauch aus einer Fabrik. Geschuftet wird überall, da ist kein Unterschied zwischen Essen und Berlin.

Als sie nach Hause kommen, steht schon jemand vor der Tür und verlangt Einlaß. Der kleine Käsehoch hämmert trotzig gegen die Tür. Als er Schritte auf dem Hof hört, dreht er sich um und springt seiner Mutter in die Arme: Der Stolz der Familie ist aus der Schule gekommen. Er schließt sofort mit Paul Freundschaft.

»Warst du schon im Lunapark? Oh, fein du, da gehen wir zusammen hin!« Er hat Pauls Mütze entdeckt und probiert, wie sie ihm paßt. »Wo ist dein Sturmband? Och, keen Sturmband! Gucke mal!«

Und er muß den Kleinen bewundern, der sich seines Vaters Rotfrontmütze schief auf den kleinen strohgelben Kopf drückt.

»Ich heiße Karl. Weißt du, wer auch so 'nen Namen hatte? Karl Liebknecht.«

Es wird still in der Stube, beide liegen auf dem Bauch und gucken sich die »Trommel« an, die Zeitung der Arbeiterkinder. Karl erklärt seinem neuen Freund die Bilder. Als dieser mal absichtlich dumm tut, fährt ihn der Kleine an: »Mensch, du bist wohl een bißchen begriffsstutzig?« Woher hat der Knirps diesen Ausdruck? Paul verzieht aber keine Miene. Marke Moabit, denkt er.

Die Vormittagsstunden vergehen schnell. Nebenan auf dem Bau wird schon Mittag gemacht, Karl und Paul gehen raus und klettern auf dem Gerüst herum. Oben, hoch über der Stadt und mit einem Blick auf das Häusermeer, sitzt Oskar. Der Kleine rennt schreiend über das Laufbrett:

»Onkel Oskar, ein neuer Genosse!«

Paul schüttelt dem Bauarbeiter die Hand, mit der anderen löffelt dieser seine grüne Suppe weiter, in der große Kartoffelstücke schwimmen.

»Woher?«

»Ruhrgebiet.«

»KPD?«

»Jawohl.«

»Wie steht's da unten?«

»So lala! Viel Arbeit.«

Karl findet einen Schraubenschlüssel und beschäftigt sich sofort mit den Nieten des Gerüstes. Paul läßt ihn da sitzen, an beiden Seiten ist ein dicker Bretterverschlag, der Junge kann nicht herunterfallen. Rund um das fertige Hochhaus, vom grünen Jubelbaume zwischen den Dachsparren flattern schon die bunten Bänder, läuft schon das Gerüst. Er geht herum, an einer durchbrochenen Stelle setzt er sich hin und baumelt mit den Beinen. Hier leiert ein Kran während der Arbeitszeit ununterbrochen Karren mit Zement hoch. Die Stadt atmet aus dem Wald der Essen; Kirchtürme, Hochhäuser schießen über das erstarrte Meer der Dächer hoch hinaus, die Weltstadt wächst. Nicht weit, fast zu seinen Füßen, beruhigt die stille Fläche des Tiergartens. Hast, Unruhe, Angst fallen von ihm ab. Feiertagsstimmung, absonderlicher, unregelmäßiger und doch beruhigender Schlag des Herzens. Kein Ziel lockt, eine lächerlich nebensächliche Aufgabe muß erledigt werden. Dieser Tag ist eine Pause in den Arbeitsjahren, ein Sonntag für ihn. Merkwürdiges Gefühl, über dieser fremden Stadt zu sitzen, die man so schnell liebgewinnt, auf einem Gerüst zu sitzen und mit den Beinen zu baumeln.

Beschauliche Schleppkähne ziehen in der trägen Spree. Der endlos blaue Himmel darüber ist noch einmal warm, mit jener späten Wärme, in der wir frösteln. Wo mag Beate jetzt sein? Wie steht der Streik? Wie wird die Zelle arbeiten? Er muß zurück, da unten ist sein Platz, da unten wartet die Arbeit. Und Beate? Er trommelt mit den Fäusten gegen die Bretter. Arbeiten, arbeiten, den Kopf gerade halten, die Zähne zusammenbeißen, fest bleiben, fest und hart, dann wird alles richtig gehen.

Er schultert seinen kleinen Freund, winkt Oskar grüßend zu und steigt auf den vielen Leitern hinunter.

Der Druckereiarbeiter oder vielmehr Werkmeister kommt nicht zum Essen. Seine Arbeitsstelle liegt weit draußen in Neukölln, er ißt dort in einer Kantine. Karl sitzt neben Paul, die mollige Hausfrau beiden gegenüber. Makkaroni mit Parmesankäse, Pauls Leibgericht, das er zu Hause nur zu seinem Geburtstag bekommt.

Als er mit dem zweiten Teller beginnen will, klingelt jemand draußen an der Vorsaaltür. Die Frau geht hinaus, Paul hört eine männliche Stimme: »Ist ein Genosse Paul Moll bei euch?« Ein fremder Mann kommt in die Stube, er legitimiert sich. Aha.

»Komm, wir sprechen in der guten Stube.« Sie gehen hinüber, der Fremde schließt die Tür.

»Paul Moll, Bezirk Ruhrgebiet, augenblicklich illegal. Stimmt das?«

»Ja.«

»Du suchst Ernst Linke?«

»Hm.«

»Ist gestern von der Polizei verhaftet worden. Zersetzungsarbeit. Genügt dir das, oder glaubst du etwa, daß die Polizei nur, um dich zu täuschen, den Genossen Linke eingesperrt hat?«

Paul spürt den feindseligen Unterton in den Worten des fremden Genossen.

»Ich wußte schon auf der Herfahrt, daß mein Verdacht gegen Linke unbegründet war.«

Der andere, der jetzt mit verschränkten Armen an der Wand lehnt, fast unbeteiligt, hebt bei diesen Worten erstaunt den Kopf.

»Wieso?«

»Wenn man erst auf dem Bahnhof erfährt, daß ein anderer der Schuft war, kann es passieren, daß man nicht umkehrt, sondern erst mal die Fahrkarte benutzt.«

»So.«

Paul spürt in der kalten, vorsichtigen Reserve dieses Berliner Genossen ein gewisses Mißtrauen.

»Übrigens empfehlen wir dir, zurückzufahren und abzuwarten. Wir hoffen, daß du amnestiert wirst. Sollte das Verfahren doch durchgeführt werden, so müßte man es natürlich groß aufziehen. Aber die Entscheidung über dein Verhalten überlassen wir dir.«

»Ich fahre zurück.«

Der andere sieht wieder auf, öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, und reicht ihm schließlich die Hand. »Guten Tag.«

Draußen im Vorsaal brennt er sich eine Zigarette an, dann tapsen seine Schritte über den Hof.


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