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Die Marquise von Châtelet

Marquise du Châtelet-Laumont. Quelle:de.wikipedia.org

Marquise du Châtelet-Laumont

I

Als Voltaire im Jahre 1734 zum ersten Male in Cirey Zuflucht suchte, war das Schloß fast unbewohnbar. Er mußte als improvisierter Baumeister auftreten, mußte Maurer, Zimmerleute und Schreiner holen lassen. Auch für Steinmetze und Wollscherer war gute Verwendung. Das Schloß befand sich im Verfall, und da die Herrschaft nicht wohlhabend war, hatte man nichts getan, der wachsenden Verwahrlosung zu steuern, um so weniger, als der Herr des Hauses in der Regel in Garnison lag und die Frau des Hauses sich zumeist in Lunéville oder in Paris aufgehalten hatte.

Es war unsäglich viel zu tun, ehe man dieses vernachlässigte Besitztum zu einem behaglichen Aufenthalt umwandeln konnte. Noch im nächsten Sommer sehen wir Madame du Châtelet ganz mit ihren Handwerkern beschäftigt. Ja, noch vier Jahre danach, als Madame de Graffigny Cirey besuchte, sind im Grunde nur die Wohnung der Hausfrau und Voltaires Behausung gemütlich ausgestaltet und geschmückt, der Rest des Hauses entbehrt allen Komforts, ja sogar der Reinlichkeit, die Gastzimmer sind groß, unwohnlich, unheizbar, Wind und Wetter ausgesetzt.

Voltaire erhielt seinen eigenen Flügel in dem Gebäude. Der Eingang zu diesem Flügel befand sich unten bei der großen Treppe. Wie sein Logis allmählich eingerichtet und möbliert ward, können wir aus Madame de Graffignys enthusiastischer Beschreibung ersehen. Ein kleines Vorzimmer, eine kleine Kammer, mit karmoisinrotem Samt tapeziert, darin eine Samtnische mit Goldfransen. (Sonderbarer Geschmack!) In seinem Schlafzimmer waren wenige Tapeten, aber viel Holzverkleidung, die schöne Gemälde umrahmte. Es gab da Spiegel, schöne lackierte Eckschränke, Porzellanvasen, eine von morgenländischen Figuren getragene Standuhr, eine offene Kassette, die ein Silberservice enthielt, die seltensten Silberarbeiten, all das Überflüssige, das für Voltaire so notwendig war, und solche Reinlichkeit, daß man den Fußboden küssen konnte. In der sich hier anschließenden kleinen Galerie standen auf glasierten Fußstücken zwei kleine Statuen, eine Venus und ein Herkules. Ihnen gegenüber zwei Schränke, einer mit Büchern, einer mit physikalischen Apparaten, zwischen ihnen in der Mauer ein vorzüglicher Ofen. Vor diesem auf hohem Piedestal ein den Pfeil entsendender Amor und darunter Voltaires berühmte Inschrift:

Qui que tu sois, voici ton maître;
Il l'est, le fut, ou le doit être.

Dieser Amor wurde später in einer Nische aufgestellt. In der Galerie gab es außerdem noch Tische, Schreibtische, Uhren und, wie die kleine Provinzdame in ihrem Briefe naiv hinzugefügt: »Du kannst es glauben, es fehlt an nichts«. Dennoch stand nur ein Sofa da und kein bequemer Fauteuil; die Lehnstühle waren hübsch, aber nicht üppig; man fühlt, sagt sie, daß hier nur die Rücksicht auf Bequemlichkeit waltet, nicht auf Wohlleben. In der Mitte öffnete sich eine Türe nach dem Garten, die nach außen die Form einer niedlichen Grotte hatte. In der Galerie nahm das große Porträt Friedrichs des Großen als Kronprinz einen Ehrenplatz ein. In einer Schale lagen zwölf Ringe mit geschnitzten Steinen und zwei Diamantringe.

Voltaires Räume waren jedoch nichts gegen die von der Frau des Hauses bewohnten. Die Holzbekleidung an den Wänden ihres Schlafzimmers war hellgelb lackiert mit blaßblauen Streifen. Dieser Stil war so weit durchgeführt, daß bis zu dem Korbe, in welchem ihr Hund schlief, alles hellgelb und hellblau war: das Holzwerk der Stühle, der Arbeitstisch, die Eckschränke, das Schreibpult. Ihre Bettdecke war aus blauem Moirée. Eine große Tür aus Spiegelglas führte in die Bibliothek. Hier gab es Gemälde von Paolo Veronese. Aus dem Schlafzimmer gelangte man in ein kleines Boudoir, welches so schön war, daß man, wie Madame de Graffigny sagt, sich versucht fühlte, beim Eintritt aufs Knie zu fallen. Es hatte ein Deckengemälde aus der Hand des damals beliebten französischen Malers Martin und alle Felder des Holzgetäfels waren mit Bildern von Watteau ausgefüllt. Ein einziges großes Fenster öffnete die Aussicht auf eine Terrasse und eine entzückende Landschaft. Eine Nische teilte den Raum und führte in eine »göttliche« Garderobe mit Marmorboden und schönen Kupferstichen. Alles Linnen bis zu den Musselingardinen vor den Fenstern war mit auserlesenem Geschmack gestickt. Ringsumher standen fünfzehn bis zwanzig Tabaksdosen aus emailliertem Gold, mit Edelsteinen geschmückt, Uhren aus Jaspis mit Diamanten, emaillierte Räucherpfannen, und lagen Etuis, Schalen mit Ringen und an die Uhr zu hängende kleine Kostbarkeiten ausgebreitet.

Die Besucherin staunte; sie wußte ja, daß die Familie Châtelet nicht wohlhabend war. Sie bedachte nicht, daß Voltaire, wohin immer er kam, selbst nur zu kurzem Besuch, einen Goldstrom hinterließ. Auf einem fünfzehn Jahre dauernden Besuch führte er einen Goldstrom mit sich.

II

Während der ersten Zeit, da Voltaire sich in Cirey installiert hatte, nahm er durchaus nicht festen Aufenthalt dort, sondern führte im Gegenteil das unruhigste Leben. Madame du Châtelet war in Paris geblieben und unternahm alle erdenklichen Schritte, um die Regierung zu besänftigen und die Führenden zugunsten Voltaires zu stimmen. Er schreibt am 22. Juni an Herrn de Condamine:

Sie bekommen Madame du Châtelet bald zu sehen. Die Freundschaft, mit der sie mich beehrt, hat sich bei diesem Anlaß nicht verleugnet. Ihr Geist ist Ihrer und Herrn de Maupertuis wert und ihr Herz ist ihres Geistes würdig. Sie erweist Freundesdienste mit demselben Leben und Feuer, mit dem sie Sprachen und Geometrie lernt, und wenn sie einem alle erdenklichen Dienste geleistet hat, meint sie, nichts getan zu haben, sowie sie mit ihrem Geist und ihrer Einsicht sich einbildet, nichts zu wissen, und nicht einmal weiß, ob sie Talente hat oder nicht. Seien Sie ihr recht ergeben, Sie und Herr de Maupertuis, und lassen Sie uns für unser ganzes Leben ihre Verehrer und Freunde bleiben. Der Hof ist ihrer nicht sonderlich würdig; er müßte Hofmänner haben, die dächten wie Sie. Ich bitte Sie, sagen Sie ihr, in welchem Grade ich von ihrer Güte gerührt bin. Es ist einige Zeit her, seit ich ihr geschrieben und Nachrichten von ihr erhalten habe; aber ich bin darum nicht minder durchdrungen von dankbarer Ergebenheit.

Im Juli schreibt Madame du Châtelet aus Paris (an einen Unbekannten), daß zu ihrem Leidwesen die Sache Voltaires äußerst schlecht stehe. Der Schatzkammerkanzler scheine besänftigt; habe nur verlangt, Voltaire solle erklären, niemals das »unselige Buch« (über England) geschrieben zu haben, dann verspräche er, seine Lettre de cachet zurückzuziehen; dagegen scheine das Ministerium nun gereizter denn je.

Im übrigen verlor die Marquise von Châtelet ihre Zeit nicht mit Sorgen und Kränkungen; sie verkehrte fleißig bei den beiden herzoglichen Familien Richelieu und Saint Pierre, sie lernte mit Eifer Englisch – das mußte sie ja, um sich ihrem Geliebten zu nähern – und sie vertiefte sich endlich mit Leidenschaft in Mathematik und Physik. Sie hatte Maupertuis' Bekanntschaft gemacht. Er war ihr Lehrer und Freund geworden. Er unterwies sie in Geometrie und Physik; er führte sie in das Studium Newtons ein. Damals noch ein junger Mann, erst sechsunddreißig Jahre alt, verstand er selbst das Schwierigste leichtfaßlich zu machen, das Studium seiner Dornen zu berauben. Gleichzeitig pflegte sie die Bekanntschaft mit dem jungen Clairaut, einem der ausgezeichnetsten Mathematiker seiner Zeit, der, damals einundzwanzig Jahre alt, schon mit achtzehn Jahren als Mitglied in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden war, und dem man bereits Entdeckungen in der Geometrie und höheren Mathematik verdankte. Ihr Lebelang blieb die göttliche Emilie mit diesen beiden verbunden. Beide besuchten auch das Paar in Cirey.

Maupertuis' Kenntnisfülle, Verstand und Liebenswürdigkeit ergriffen Madame du Châtelet mit wahrer Begeisterung. Wir haben ihre Briefe an ihn. Sie verraten nicht bloß große Dankbarkeit und Ergebung, sondern auch das Verlangen, ihn so häufig wie möglich zu sehen. Hat sie vergebens auf seinen Besuch gehofft, so kann sie Klagen und Vorwürfe nicht unterdrücken. Er allein oder er mit Clairaut sind stets bei ihrem Abendtisch willkommen. Was sie für ihn fühlt, ist wohl eine rein intellektuelle Neigung, aber bei Frauen ist die Grenze zwischen einer solchen und warmen Gefühlen von rein passioneller Natur ja in der Regel recht fließend. Sie will sich seines Unterrichts würdig machen; sie fürchtet diese oder jene Unwissenheit zu verraten und hierdurch seine gute Meinung zu verscherzen. Sie fühlt in seiner Gesellschaft das Vergnügen, die Wahrheit kennen zu lernen, geschmückt mit all' dem Reiz, den er dieser zu verleihen weiß.

Seele und Sinne sind bei ihr all zu erfüllt von Voltaire, als daß diese Schwärmerei für Maupertuis mehr hätte werden können. Man bekommt aus den Briefen den Eindruck, daß ihr ewiges Zurückkommen auf Voltaire ihm unangenehm gewesen wäre. Denn als sie ihm Ende Oktober 1734 aus Cirey schreibt, beginnt sie ihre Mitteilungen über Voltaire mit der Entschuldigung, diesmal sei es Maupertuis, der ihn zuerst genannt habe, sie sei also genötigt, zu antworten. Ebenso auffallend wie es in dem eben angeführten Briefe Voltaires, der die Marquise doch so warm preist, erscheinen muß, daß der Schreiber selbst in der letzten Zeit nichts von ihr gehört hat, ist es auch, daß Emilie, als sie sich von Paris losgerissen hat und in Cirey ankommt, um die Arbeiten zur Instandsetzung des Schlosses fortzusetzen, Voltaire nicht mehr dort antrifft; er ist nach Brüssel gereist. In ihrem Briefe an Maupertuis erzählt sie, er sei hypochondrisch geworden. Es scheint eher ein ziemlich ernstliches Zerwürfnis zwischen den beiden Liebenden entstanden zu sein. Vermutlich hat die Schwärmerei der Marquise für Maupertuis Voltaires Unruhe und Zorn erregt, was den Hohn und Spott, mit welchem er acht Jahre später diesen seinen einstigen Freund und Genossen angriff und förmlich zu vernichten suchte, zum Teil erklären könnte.

Man achte genau auf die Worte eines Briefes, den Voltaire seinem intimsten Freunde, dem Grafen d'Argental, aus einer holländischen Schenke nach Brüssel sendet. Anscheinend ist er bloß gereizt, weil Madame du Châtelet ihm, als sie ihn nicht traf, allerort nachforschen ließ. Aber warum hat er sie dazu genötigt?

Während eines ganzen Monats bin ich ohne Nachrichten von Ihrer Freundin (nicht unserer Freundin); aber ich bin betrübt gewesen ohne Zorn, ohne mich verraten zu glauben. Noch weniger habe ich ganz Deutschland in Bewegung gesetzt. Ich gestehe, höchst verdrießlich zu sein über die Schritte, die man getan hat. Diese Schritte haben mehr Schaden verursacht als Sie denken; aber es gibt keine Fehler, die einem nicht lieb sind, wenn das Herz sie begehen läßt. Ich habe dieselben Gründe, zu vergeben, wie man gehabt hat, sich schlecht aufzuführen. Sie, mein lieber Engel, würden großes Unrecht tun, wenn Sie mich ungehört verurteilten.

Er fand seine Emilie in Cirey wieder, und die Versöhnung war herzlich und vollständig. Sie war damit beschäftigt, das Haus umzubilden, »Fenster anzubringen, wo er Türen gesetzt, die Treppen zu Kaminen zu verwandeln, Linden zu pflanzen, wo er Ulmen hinbestimmt hatte; sie wirkte wie mit Feenhänden begabt und möblierte Cirey mit nichts«, wie es in seiner schalkhaften und bewundernden Schilderung heißt. Die Marquise wollte gern Voltaire mit nach Paris haben, um, wie sie sich vorgenommen, am heiligen Abend die Mitternachtsmesse zu hören, die noch heutigentags in Paris so großen Zuspruch hat; aber Voltaire wagte sich nicht abermals aus Cirey fort. Er hatte auf der Flucht seine bekannte Tragödie Alzire geschrieben, die Emilie d'Argentals höchstem Richterurteil unterbreiten sollte. In Paris sandte sie Maupertuis folgendes Billet, dessen Orthographie der Namen, wie stets, die Heiterkeit des modernen Lesers erregt.

Paris, Freitag, Weihnachtsnacht 1734.

Ich würde lieber noch in Cirey sein und wissen, daß Sie in Basel seien, als Sie so wenig zu sehen, wie es der Fall ist. Ich will Eloïses Geburt mit Ihnen feiern (Eloïse soll Elohim sein, Gott, also Jesus). Sorgen Sie dafür, daß Sie heute Abend kommen und mit Clerau (Clairaut) und mir auf sein Wohl trinken können; ich will Sie zwischen acht und neun erwarten, wir gehen dann zusammen zur Mitternachtsmesse und hören die Weihnachtspsalmen zur Orgelmusik; von dort werde ich Sie heimfahren; ich rechne darauf, falls nicht Fräulein de Lagni sich dem widersetzt.

Ganz grundlos scheint Voltaires Eifersucht nicht gewesen zu sein.

III

In seiner Einsamkeit zu Cirey vertiefte er sich teils in Studien, teils arbeitete er die ersten acht Gesänge der Dichtung aus, die von allem, was er geschrieben, von den Zeitgenossen am meisten bewundert wurde, und von allem, was er hinterlassen, seinem Ansehen bei der Nachwelt am meisten geschadet hat, dieser Nachwelt, die dem einstmals so pikanten, jetzt so wenig interessanten Geisteserzeugnis verwundert und sprachlos oder auch aufgebracht und scheltend gegenübergestanden hat.

Der Ursprung von La Pucelle geht bis zum Jahre 1730 zurück, wo während eines Abendessens bei Richelieu die Rede auf den alten Dichter Chapelain kam, dessen Ruhm zwar sehr groß war, dessen Poem über die Jungfrau von Orléans den Zeitgenossen Ludwigs des Fünfzehnten aber nur komisch erschien.

Unter dem vierzehnten Ludwig hatte man dem Königtum zuliebe Jeanne d'Arc in Ehren gehalten. Der Respekt vor dem unbedeutenden Karl dem Siebenten hielt die Erinnerung an sie aufrecht. Chapelains La Pucelle stammt aus dem Jahre 1656. Trotz des Titels ist nicht Jeanne die wahre Hauptperson der Dichtung, sondern der Bastard von Orléans, weil er der Stammvater jenes Herzogs von Longueville gewesen, dem Chapelain als seinem Mäzen das Gedicht zugeeignet hatte.

Chapelains La Pucelle ist eine klassische Epopöe in Alexandrinerversen mit Vergilschen Gleichnissen und mythologischer Maschinerie – hier Gott, Satan und Engel –, in der kein Vers korrekt ist, und in der nicht eine Zeile lebt. Chapelain hatte seine Verehrerinnen unter den zierlichen Damen (wie die feine Madame de la Suze), über die sich Molière in Les Précieuses ridicules aufgehalten hat.

Gegen den Schluß der Dichtung ergibt sich für Chapelain die Aufgabe, den schmählichen Untergang seiner Heldin und Heiligen mit der Güte des Höchsten und dessen Plänen zu versöhnen. Es gelingt. Der »ungeschaffene« Dreieinige sitzt eben in seiner kleinen dreieckigen Loge hoch über dem Himmelsgewölbe und grübelt über die Schicksale des Weltenalls. Mit ihren drei gleich langen Seiten bildet diese unbegreifliche Loge ein Dreieck ohnegleichen, das in jeder Hinsicht bewundernswert ist, und in dem unbekannten Mysterium dieser heiligen Stätte ist – wie es dunkel heißt – der Inhalt nicht von dem Rahmen zu unterscheiden:

Plus haut que tous les Cieux une Loge secrette
Sert â l'Estre incréé de profonde retraitte,
Quand par ses soins vaillans et ses pensers couverts
Il veut délibérer du Sort de l'Univers.
De trois costés égaux la Loge inconcevable
Forme un Triangle unique en tout sens admirable,
Et d'un lieu si secret le mystère inconnu
Confond le contenant avec le contenu.

Gott sieht die Engländer hochmütig und eingebildet, Karl den Siebenten verhärtet. Seine dunkle und strenge Gerechtigkeit beschließt also, Jeanne zu opfern, um andere zu bestrafen – in Wahrheit eine dunkle Gerechtigkeit. Das ungeschaffene Wesen, wie er genannt wird, ist ein himmlischer Monarch, den gleich Ludwig dem Vierzehnten ein Hof umgibt. Der Hof der Seligen folgt den unmenschlichen Prüfungen des unbezwingbaren Mädchens und betet für die Jungfrau. Aber der ewige Monarch ist taub für die Bitten des Hofes. Erst später, als er Jeannes fromme Unterwerfung sieht und erkennt, daß sie sich bloß über ihres Königs Unglück, nicht über ihr eigenes härmt, besänftigt er sich und erlaubt dem himmlischen Hof, durch Konzerte die Qualen zu betäuben, welche die Hölle die Jungfrau in ihrem Gefängnis zu erdulden zwingt, so daß sie weder Unruhe noch Schmerz mehr fühlt.

Chapelain hat den bei Voltaire so abgeschmackten Einfall vorbereitet, Jeanne Anbeter zu geben. Auf daß sie sicherer die Herzen gewinnen, verleiht Gott ihr – bei Chapelain – das bei all ihrer Heiligkeit am meisten verführerische Äußere:

Et dans tous son aspect et tous ses mouvements
Met un nouvel amas de saints enchantements.

Kein Wunder daher, daß Dunois und d'Alençon sich sofort sterblich in sie verlieben. Sie läßt sie Feuer fangen (les allume). Dunois fragt sich selbst, welch eine Feuersbrunst sie in seinem Busen entzünde, ob er sie »eine verliebte Flamme« nennen dürfe oder welchen Namen sie führen solle.

Da Aristoteles gelehrt hatte, das Weib sei ein Fehlgriff der Natur, die in der Absicht, einen Mann zu schaffen, unterwegs innegehalten hatte, ist bei Chapelain sogar Jeanne ein untergeordnetes Wesen geworden. Dunois ist der Held, Jeanne nur die Gnade, mit der es Gott gefallen hat, des Helden Arm zu stärken. In der Vorrede wird erklärt, die ganze Dichtung sei eine Allegorie: Frankreich bedeute hier die Menschenseele in ihrem Kampf mit sich selbst. König Karl sei der Wille, der, von Natur dem Guten zugeneigt, leicht zum Schlechten zu lenken sei, wenn dieses den Schein des Guten trage; die Engländer und Bourguignons seien Ausschreitungen des Zorns; Amaury und Agnes seien Augenblicke sinnlicher Begierde, Dunois sei die Tugend, Tanneguy das Verständnis und die Pucelle, wie gesagt, die göttliche Gnade selbst, die bei aller Gebrochenheit der Seelenkräfte den Willen stärkt, das Verständnis aufrechterhält, sich mit der Tugend vereinigt, die Triebe überwindet, und so zuletzt den Frieden herbeiführt.

Die Dichtung, zumeist bloß langweilig, wird stellenweise burlesk, wie da, wo Jeanne in einer Felsenhöhle des Compiègne-Waldes »mit Eicheln und Herzeleid« einen Monat lang ihr Leben fristet.

Die Wortspiele sind zuweilen von einer Geschmacklosigkeit, die mitten in dem feierlichen Ton erheiternd wirkt:

Sur elle l'Anglais tonne et tonne à grands éclats;
Mais pour tonner sur elle, il ne l'étonne pas.

Einzelne Stellen in Voltaires Dichtung lassen sich nur verstehen, wenn man das Original kennt, das sie parodieren; so die drollige Stelle:

Jeanne étonné, ouvrant un large bec,
Crut quelque temps que l'on lui parlait grec,
La grâce agit, cette augustine grâce
Dans son esprit porte un jour efficace.

Hier werden die wunderbaren Wandlungen verspottet, denen Jeannes Gedankenleben bei Chapelain unterworfen ist.

IV

Die nun seit wohl anderthalb Jahrhunderten allgemein bekannte sublime Erscheinung der Jeanne d'Arc war zu Voltaires Tagen noch nicht aus dem Dunkel der Zeit hervorgezogen worden. Jeannes Zeitgenossen hatten alles, was in ihrer Macht stand, getan, um die Gestalt zu entwürdigen und zu beschmutzen, ehe sie sie dem Flammentod überlieferten. Sie waren allerdings überzeugt, daß Gott durch seine Jungfrauen zu den Menschen sprach. Aber man mußte zwischen falschen und wahren Prophetinnen unterscheiden. Und vor allem mußte man sich vergewissern, daß die Jungfrau wirklich Jungfrau war. Daher wurde Jeanne sogleich, als sie in Chinon ankam, sorgfältig von Matronen untersucht. Daher die erneute sechswöchige Untersuchung, der sie sich in Poitiers unterziehen mußte und bei welcher Hebammen, erfahrene Jungfrauen, Witwen und Ehefrauen am Werke waren. Unter diesen Frauen befand sich die Königin von Sizilien und Jerusalem, die Herzogin von Anjou, die Dame Jeanne de Preuilly, die siebenundfünfzigjährige Gemahlin des Herrn von Gaucourt, Gouverneur von Orléans, und die erst achtzehnjährige Gattin des Messire Robert le Maçon, Jeanne de Mortemer.

Die Jungfräulichkeit galt Jeanne d'Arcs Zeitgenossen als Gideons Zeichen. Ihr wohnte eine ganz besondere Kraft inne. Mit einer Jungfrau ließ sich nämlich der Teufel niemals ein. Daher die dreimalige Untersuchung Jeannes von Seiten der Engländer, als sie in ihrem Gefängnis schmachtete, jene schimpfliche Untersuchung, die zwar von Frauen vorgenommen wurde, der aber der Regent, der Herzog von Bedford, durch ein Loch der Kerkerwand spähend, beizuwohnen sich nicht entblödete. Als auch diese letzte Untersuchung zur Ehre der Gefangenen ausfiel, versuchte man sie durch Vergewaltigung zu entehren und hierdurch dem Teufel den Zutritt zu ihr zu erleichtern.

In den Augen der Nachwelt hatten weder Jeanne d'Arc noch Dunois genügende Bedeutung, um den Stoff für eine epische Dichtung zu liefern. Dagegen hatte Frankreichs fanatische und abergläubische Geistlichkeit aus Jeanne als Wundermädchen Nutzen gezogen, was denjenigen, die solcher Aberglaube abstieß, Anlaß gab, mit der angeblich drallen Wirtshausschönheit aus dem Bauernland, die im Alter von siebenundzwanzig Jahren als jungfräuliche Heilige ausgegeben wurde, ihren Spott zu treiben.

Daß Jeanne erst achtzehnjährig und niemals in einem Wirtshaus gewesen war, wußte man zu Voltaires Zeiten nicht.

An die historische Jeanne dachten die Spötter auch nicht, sondern an die in den Sakristeien fabrizierte und von einem schlechten Dichter aufpolierte klerikale Kriegsmaschine. Wie weit auch Voltaire entfernt war, der historischen Erscheinung zu Leibe rücken zu wollen, zeigt am besten die Darstellung, die er in seinem Essai sur les mœurs von ihr gibt. Er schreibt hier:

Diese Siege eines jungen Mädchens, das scheinbare Wunder, die Salbung des Königs, die ihre Person ehrwürdig machten, eroberten bald wieder das gesetzmäßige Königreich und verjagten die Fremden. Das Werkzeug dieser Wunder jedoch, Jeanne d'Arc selbst, wurde verwundet und gefangen, als sie Compiègne verteidigte. Ein Mann wie der schwarze Prinz hätte ihren Mut geehrt und geachtet; der Regent Bedford hielt es für nötig, sie zu entehren, um seine Engländer zu stärken.

Sie hatte vorgegeben, Wunder zu üben (Voltaire glaubt naiv im Geiste seiner Zeit an bewußten Betrug); Bedford gab vor, sie für eine Hexe zu halten.

Die Pariser Universität veranstaltete eine Untersuchung und klagte Jeanne d'Arc der Ketzerei und Magie an. Die Universität dachte das, was man nach dem Willen des Regenten denken sollte, und dachte sie es nicht, so beging sie eine verabscheuungswerte Feigheit. Diese Heldin, die würdig war des Wunders, das sie vollbracht zu haben vorgab, wurde in Rouen von Cauchon, Bischof von Beauvais, von fünf anderen französischen Bischöfen, von einem einzelnen englischen Bischof unter Beistand eines Dominikanermönchs, des Stellvertreters der Inquisition, und von den Doktoren der Universität verurteilt. Sie wurde gestempelt als abergläubische teuflische Weissagerin, Lästerin Gottes, seiner Heiligen und Heiligenfrauen usw. Als solche wurde sie zu ewigem Gefängnis bei Wasser und Brot verdammt ...

Als sie zuletzt des Vergehens angeklagt wurde, Männerkleidung angelegt zu haben, eine Tracht, die man absichtlich bei ihr ließ, um sie zu versuchen [und die sie nachts trug, um sich der Soldaten zu erwehren, welche sich über sie warfen], erklärten ihre Richter, die gar nicht das Recht hatten, sie zu verurteilen, da sie Kriegsgefangene war, sie des Rückfalls in die Ketzerei schuldig und ließen diejenige auf dem Scheiterhaufen sterben, der man in den heutigen Zeiten, da die Menschen ihren Befreiern Altäre errichteten, als Retterin ihres Königs einen Altar gebaut hätte. Karl VII. rehabilitierte später ihr Andenken, obwohl es durch ihre Todesstrafe genug geehrt war.

Diese starken und warmen Worte bezeigen mit Nachdruck, daß Voltaire recht wohl wußte, was Jeanne d'Arc wert war, und welche Schmach ihr Schicksal für die Menschheit bedeutete.

An jenem Tage des Jahres 1730 äußerten die Gäste an Richelieus Tische ihre Überzeugung, daß Voltaire das Thema auf viel schönere Art zu behandeln verstanden hätte als Chapelain. Voltaire antwortete hierauf, nichts erschiene ihm minder episch, als eine Kellnerin, die ihre Schenke verließ, um auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Diese Historie müsse seiner Ansicht nach in scherzendem Tone erzählt werden, im Stil des Orlando furioso von Ariosto. Richelieu bat ihn, den Versuch zu machen; die anderen Anwesenden schlossen sich dem Herzog an und Voltaire ließ sich überreden. Er schrieb mit seinem gewohnten Improvisationstalent rasch die ersten vier Gesänge nieder, las sie bald darauf derselben Gesellschaft vor, erntete den stärksten Beifall und versprach denn seinen Zuhörern und sich selbst, das Werk bald fortzusetzen. Auf Cirey arbeitete er in seiner Einsamkeit die nächsten vier Gesänge aus und von da an wurde die Dichtung seine heimliche Lust, sein liebster Zeitvertreib, seine Lieblingssünde, sein geheimes Laster, das größte Wagestück seines Lebens, das ihn allen möglichen Gefahren aussetzen könnte und das kennen zu lernen seine sämtlichen Bewunderer und Bewunderinnen vor Neugierde verschmachteten, wonach sie vor Entzücken in Ohnmacht fielen. Voltaires La Pucelle wurde ein Schibboleth, ein Kennwort, ein Wahrzeichen. Diejenigen, die etwas davon kannten, waren Eingeweihte, gehörten zu den Verschworenen der freidenkerischen Opposition.

V

Um die Wichtigkeit zu verstehen, die die Zeitgenossen dieser Satire beimaßen, muß man wissen, daß »das Übernatürliche«, das den entwickelteren Menschen der Gegenwart nicht mehr in störende Nähe tritt, sich dazumal noch täglich denen in den Weg stellte, die ihm aus eigener Neigung nicht einen Gedanken geschenkt hätten.

Erst zu jenem Zeitpunkt begann die Bevölkerung den gröbsten Aberglauben von sich abzuschütteln, z. B. Magdalenas und Lazarus' Aufenthalt in der Provence zu bezweifeln, an den Heiligen zu zweifeln, die niemals existiert hatten (wie an der heiligen Marguerite, deren Stimme Jeanne d'Arc überzeugt war, gehört zu haben), endlich an den unwahren Wundern, den falschen Reliquien. Im Jahre 1702 hatte ein aufgeklärter Geistlicher, der Bischof von Chalons-sur-Marne, Gaston Louis de Noailles, eine in der Kirche Notre Dame durch Jahrhunderte angebetete Reliquie, Jesu Christi Nabel vorstellend, fortgeworfen. Ganz Chalons murrte gegen ihn, alle königlichen und parlamentarischen Beamten legten Protest ein und beriefen sich darauf, daß Christi Gewand in Argenteuil und in Trier aufbewahrt wurde, sein Tuch in Turin und Laon, seine Vorhaut sowohl in Rom wie in Puy en Velay, einer der Nägel seines Kreuzes in St. Denis usw. Aber das Geschrei der leichtgläubigen Massen prallte an der Festigkeit des Bischofs ab.

Es war damals ebenso viel vom Teufel die Rede wie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. In der Hoffnung, mit ihm zusammenzutreffen und ihn um Rat fragen zu können, erlebten vornehme Damen in leichter Gewandung allerlei merkwürdige Abenteuer. Der Diakonus Pâris, von dem früher die Rede war, verursachte, wenn er seine Wunder übte, bei den Gläubigen Konvulsionen.

Auch Toulon erhielt sein Mirakel: Ein alter Jesuit, namens Girard, der seine Schülerin, das schöne Fräulein Cadière, mittels häufiger sanfter Geißelungen disziplinierte, teilte 1731 mit, diese Behandlung habe Züge und Gestalt seiner interessanten Bußfertigen verklärt, so daß ihre Hände und Füße Spuren von den Nägeln des Erlösers wiesen; Blut sei aus den Wunden getropft, auch aus denen, die die Dornenkrone auf der Stirn erzeugt hatte. Man glaubte dem Mönch oder stellte sich, als glaubte man ihm. Niemand wagte die Sache zu untersuchen.

Da zeigte sich zur allgemeinen Überraschung, daß die Gnade fruchtbar gewesen. So alt und häßlich Girard auch war, eines Morgens offenbarte sich, daß die schöne Cadière sich im Zustand der Schwangerschaft befand und nicht sie allein, sondern eine Menge der anderen Beichtkinder des Abbés: Ladenfräulein, Arbeiterinnen, Damen.

Nun behaupteten die Jansenisten, Girard, der ja Jesuit war, sei der Teufel in eigener Person; wogegen die Jesuiten angaben, der Teufel habe Fräulein Cadière besessen, die ihrerseits offenbar Girard verhexte. Die Provence teilte sich in zwei Lager; da aber Frankreich damals noch überwiegend klerikal war, schlugen die Anhänger des Königs im Parlament in Aix vor, die Cadière hängen und erdrosseln zu lassen – eine Art der Gerechtigkeit, welche die große Bevölkerung empörte und zu zahlreichen Protestversammlungen Anlaß gab.

Da verfiel Girard auf den Ausweg, seine schwangeren Beichtkinder in verschiedenen Klöstern unterzubringen. Er kannte die Diskretion der Nonnen. Das Kloster Ollioules, in das er die Cadière brachte, hatte einen schlechten Ruf; die Äbtissin führte ein freies Leben; die reichen Klosterbewohnerinnen wurden von Mönchen bedient; die armen Nonnen fanden Trost in heißen Freundschaften für einander.

Der Bischof von Toulon, der anfänglich als Anwalt des Fräulein Cadière auftrat, ließ sich, eingeschüchtert von den Jesuiten, die ihm gewisse Schwächen in seiner Lebensführung vorwarfen, aus Feigheit bestimmen, sich ihnen anzuschließen.

Der Prozeß war ein Skandal. Die Richter bedrohten die gegen Girard auftretenden Zeugen mit der Tortur; die beiden Kommissäre, welche das Pariser Parlament nach Toulon sandte, fraternisierten mit den Jesuiten. Indessen trug die einfache Verteidigung des jungen Weibes vor Gericht so unverkennbar den Stempel der Wahrheit an sich und war für Girard so gravierend, daß die Sache vor das Parlament in Aix kam, wo die ganze gute Gesellschaft für den Jesuitenmönch Partei ergriff. Dieser erklärte mit ruhiger Frechheit, nur den Regeln für religiöse Mystik gefolgt zu sein. Daß er als Beichtvater sich mit seinem Beichtkinde einschloß und es züchtigte, sei sein Recht und seine Pflicht; was man unschicklich nenne, sei hier erforderlich, um den Hochmut des weltlichen Willens zu brechen.

Das Resultat, das die Verhandlungen zeitigten, war aufs neue la Cadière auf dem Platz des Dominikanerklosters in Toulon zu hängen und zu drosseln. Aber die ganze niedere Bevölkerung strömte zum Gefängnis und rief: »Nicht bange sein, Fräulein! Wir sind hier.«

Da erfolgte im Parlament ein Umschwung. Die Jansenisten erklärten, Girard verdiene den Scheiterhaufen; er sei ein Hexenmeister, er sei vom Teufel besessen gewesen. Als der Richterspruch verkündigt wurde (im Oktober 1731) sprachen zwölf Stimmen das Todesurteil über Girard, zwölf sprachen ihn frei. Die Stimme des Präsidenten schloß sich den letzteren an und Girard wurde freigesprochen.

Voltaire sieht den ganzen Prozeß von der komischen Seite an. Daher im zweiten Gesang von La Pucelle diese Verse über den Gott Morpheus:

Aux cris du moine il monte en son char noir,
Par deux hiboux traîné: dans la nuit sombre.
Dans l'air il glisse, et doucement fend l'ombre.
Les yeux fermés, il arrive en bâillant,
Se met sur Jeanne, et tâtonne, et s'étend;
Et secouant son pavot narcotique,
Lui souffle au sein vapeur soporifique,
Tel on nous dit que le moine Girard,
En confessant la gentille Cadière,
Insinuait de son souffle paillard
De diabloteaux une ample fourmilière.

Wie man sieht, ist Voltaire vor allem die Vorstellung burlesk erschienen, daß Girard dem Fräulein Cadière durch seinen Atem kleine Teufelchen eingeblasen habe.

Voltaire verweilt nicht bei dem Empörenden der Wendung, die die Gerichtshöfe der Sache gegeben hatten, auch nicht bei der Gemeinheit und Heuchelei des lüsternen Mönchs; was seinen Sinn für Komik weckt, ist die Behauptung der Jansenisten, daß der Teufel mit im Spiele gewesen, daß der Fall sich nicht auf natürliche Art erklären lasse, daß Girard unbedingt ein Zauberer gewesen sei. Mit überlegenem Hohn versichert er, Girard selbst, seine Ankläger und seine Verteidiger, seine Feinde und seine Beschützer, seine Zeugen und seine Richter, sie alle seien gleich weit davon entfernt, Hexenmeister zu sein.

Venez, venez, mon beau père Girard
Vous méritez un long article à part,
Vous voilà donc, mon confesseur de fille,
Tendre dévot qui prêchez à la grille,
Que dites-vous des pénitents appas
De ce tendron converti dans vos bras?
J'estime fort cette douce aventure,
Tout est humain, Girard, en votre fait;
Ce n'est pas là pécher contre nature.
Que de dévots en ont encor plus fait!
Mais, mon ami, je ne m'attendais guère
De voir entrer le diable en cette affaire.
Girard, Girard, tous vos accusateurs,
Jacobin, carme, et feseur d'écriture,
Juges, témoins, ennemis, protecteurs,
Aucun de vous n'est sorcier, je vous jure.

Mit seinem Blick für das Komische sieht Voltaire nicht das Niederträchtige des Prozesses, nur dessen ungeheure Dummheit, und seine Anspielungen auf ihn münden daher in die prachtvolle Hymne an die Dummheit, welche beginnt:

O toi, Sottise, ô grosse déité
De qui les flancs à tout âge ont porté
Plus de mortels que Cybèle féconde
N'avait jadis donné de dieux au monde,
Qu'avec plaisir ton grand œil hébété
Voit tes enfants, dont ma patrie abonde!

VI

Wie bereits gesagt: La Pucelle war ein Spaß, den Voltaire zu seiner eigenen Belustigung und zum Vergnügen einiger intimer Freunde niederschrieb. Aber von allem Anfang an war es niemals seine Absicht, daß dies ein Werk für das Publikum werden sollte. Er brütete über jedem Gesang, den er fertig hatte, und verweigerte selbst Personen, auf deren Enthusiasmus für ihn er vertrauen konnte, eine Abschrift. Im Jahre 1737 erbat sich Friedrich der Große vergebens eine solche. Erst sechs Jahre danach gelangte der preußische König durch Kauf in den Besitz einiger Gesänge, mußte aber versprechen, sie der Umgebung unzugänglich aufzubewahren. Den Rest verwahrte Madame du Châtelet in Cirey unter sieben Siegeln.

Allein die solcherart beobachteten Vorsichtsmaßregeln fruchteten nichts. Verräterische Sekretäre nahmen Abschriften, welche zu Voltaires Leidwesen in Umlauf kamen.

Am 2. September 1735 erhielt er um vier Uhr morgens in Cirey die Nachricht, daß mehrere Gesänge in Paris zirkulierten. Er schrieb sogleich und erbat sich nähere Auskünfte, ließ verstehen, daß die Sache von äußerster Wichtigkeit sei, und bereitete sich zur Flucht vor. Als sich herausstellte, daß nur wenige Exemplare existierten und diese nur einen geringen Teil des Werkes enthielten, vergaß er seine Angst. Aber später wuchs die Anzahl der Exemplare, ihr Inhalt wurde vollständiger, und besonders gefährlich erschien, daß diejenigen, die diese Handschriften zuwege gebracht hatten, die Lücken darin mit den anstößigsten Plumpheiten füllten.

Voltaire kam indessen bald auf den Einfall, gerade hierin ein Mittel zu sehen, das ihn retten könnte. Er ließ selbst mehrere ganz verschiedene Handschriften anfertigen und so viel Unsinn und so schlechte Verse darunter mischen, daß niemand ihm einen so groben und albernen Scherz zumuten könnte.

Die Plattheit einzelner Partien und die Mangelhaftigkeit der Technik hatten jedoch keineswegs ein Abflauen der Nachfrage zur Folge; man riß sich um die Handschriften.

Im Jahre 1754, vierundzwanzig Jahre nachdem er die Dichtung begonnen hatte, erfuhr er zu seiner Verzweiflung, daß eine Drucklegung geplant werde. 1755 erschien eine Ausgabe, der rasch mehrere andere folgten. Da gab D'Alembert ihm den Rat, lieber selbst eine zu veranstalten. Er konnte sich lange nicht dazu entschließen. Endlich gab er im Jahre 1762 das Werk heraus.

Einer modernen Betrachtung liegt es nahe, in dem vielfach Schlüpfrigen und Unanständigen die Ursache zu erblicken, die den Verfasser das Werk ein Menschenalter lang zurückhalten ließ. Man täuscht sich jedoch in dem Glauben, daß Voltaire selbst die Dichtung anstößig und häßlich gefunden habe. Die Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts von dem, was höfische Ohren zu hören vertragen konnten, war eine total verschiedene von der des zwanzigsten. Die vornehmsten Damen der damaligen Zeit lasen – und schrieben selbst – ohne die geringste Scham Dinge, die eine wohlerzogene Frau der Gegenwart verletzen oder peinlich berühren würden. Alle Schriftsteller jenes Zeitalters streiften das Obszöne oder vertieften sich darin –, nicht bloß lockere Vögel, wie Piron oder Gresset oder der jüngere Crébillon, sondern sogar die Feierlichsten, wie Montesquieu (in Lettres Persanes), die am begeistertsten Strebenden, wie Diderot (in Les Bijoux indiscrets).

Nein, was Voltaire fürchtete, war eine Anklage wegen Frevels und Spott mit dem Heiligen, obschon er in Wirklichkeit bloß einen albernen Aberglauben verhöhnt hatte. Er sagt selbst, daß die Vorwürfe, die man ihm machte, weil er den Aberglauben verspottete, am besten bewiesen, wie notwendig und nützlich seine Arbeit war. Die Begier, mit der man von den verschiedensten Seiten nach ihr griff, ist ein Fingerzeig, auf welch schlechtem Fundament die dogmatische Überzeugung jener Zeit ruhte. Sogar in den Klöstern las man La Pucelle mit Begeisterung.

VII

Wie erwähnt, weigerte sich Voltaire anfänglich mit höflichem Bedauern, den preußischen König Einblick in die Dichtung nehmen zu lassen; 1743 hatte Friedrich sich sechs Gesänge in einer der im Umlauf befindlichen Abschriften verschafft. Als Voltaire 1750 zu Friedrich kam, schenkte er dem König eine Handschrift des bis dahin fertigen Teiles, wohl zwölf von den einundzwanzig Gesängen; aber er verabschiedete seinen Sekretär Tinois, als er entdeckte, daß dieser heimlich für Friedrichs Bruder, den Prinzen Heinrich, eine Abschrift genommen hatte.

Wir sehen, daß der Herzog de La Vallière sich damals eine Handschrift für fünfzig Louisd'ors kaufte, daß Voltaire im Jahre 1755 sich schriftlich an den Polizeimeister in Paris, d'Héméry, mit der Bitte wandte, die Drucklegung der zirkulierenden Manuskripte zu verhindern, und daß er selbst im Juni 1755 der Marquise von Pompadour ein handgeschriebenes Exemplar sandte, in welchem sich allerdings nicht die Spottzeilen über die Marquise befanden, die Voltaire zu seinem eigenen Vergnügen, aber höchst unklugerweise in den zweiten Gesang eingeflochten hatte:

Telle plutôt cette heureuse grisette
Que la nature ainsi que l'art forma
Pour le bordel ou bien pour l'opéra,
Qu'une maman avisée et discrète
Au noble lit d'un fermier éleva,
Et que l'Amour, d'une main plus adrète,
Sous un monarque entre deux draps plaça,
Sa vive allure est un vrai port de reine,
Ses yeux fripon s'arment de majesté,
Sa voix a pris le ton de souveraine,
Et sur son rang son esprit s'est monté.

Es sind Zeilen, die zu schreiben er sich lieber hätte versagen sollen, er, der Madame de Pompadour schon in ihrer Jugend gekannt, sich ihres Wohlwollens erfreut hatte, ihr dankbar für das Interesse war, das sie für Kunst und Literatur bekundete, Verse ihr zu Ehren schrieb und ihr gerne schmeichelhafte Dinge sagte, wenn es ihm auch nicht immer gelang, sie so zu formulieren, daß sie nicht anstießen. Wären Zeilen, wie die angeführten, ihr zu Ohren gekommen, hätte die Freundschaft von ihrer Seite selbstverständlich ein Ende gehabt.

Wer als junger Mensch La Pucelle mit einiger Neugierde und unter dem Eindruck der Entrüstung gelesen hat, mit welcher das Werk besonders um den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wegen seiner Verspottung des Reinen und Heiligen überhäuft wurde, wundert sich bei später wiederholter Lektüre, wie unschuldig diese Scherzdichtung im Grunde ist. Wenn sie in unseren Tagen so veraltet erscheint, so rührt dies daher, weil vieles von dem, was sie angreift, von Voltaire selbst vernichtet wurde, und weil sie so durchsetzt ist mit Anspielungen auf damalige Verhältnisse, daß sie sich, wie die meisten literarischen Satiren ohne Kommentare nicht verstehen läßt.

Die Empörung, die sie noch heutigentags erwecken kann, gilt der anscheinend herz- und geschmacklosen Verhöhnung der rührenden, aber dazumal noch nicht genügend bekannten historischen Gestalt, während der Spott doch vielmehr allein den Aberglauben traf, welcher sich um den Namen Jeanne d'Arc kristallisiert hatte, so wie Steinchen, Schmutz und Tang in einer erstarrten Masse die Muschel umgeben können, die eine Perle birgt.

In ihrer ursprünglichen Anlage behandelt die Dichtung im Grunde ganz andere Dinge als Jeanne. Man lese bloß die ersten Gesänge und verfolge die Verspottung der Hexerei, an die man damals glaubte. Der heilige Denis reitet auf seinem Sonnenstrahl, Jeanne auf ihrem Esel. Der Franziskanermönch Grisbourdon, ein Hexenmeister, verwandelt den Mauleseltreiber in ein Maultier und reitet auf ihm.

Es liegt kein geringer Humor darin, wie im zweiten Gesang Baudricour den König ausschmäht, weil er alle Not Frankreichs über seiner Liebe zu Agnes Sorel vergißt, und wie der Ritter ihm verkündigt, daß ein anderes Weib, das als Jungfrau magische Kraft besitze, ihm beistehen und die Engländer aus dem Lande vertreiben werde. Die einzige Frage, die König Karl Jeanne gegenüber am Herzen liegt, ist die nach ihrer Jungfräulichkeit:

Donc, se tournant vers la fière beauté,
Le roi lui dit, d'un ton de majesté
Qui confondrait tout autre fille qu'elle:
»Jeanne, écoutez: Jeanne, êtes-vous pucelle?«

Nicht bloß humoristisch, sondern in Übereinstimmung mit der lächerlichen historischen Wirklichkeit ist Jeannes Antwort:

Jeanne lui dit: »O grand sire, ordonnez
Que médécins, lunettes sur le nez,
Matrones, clercs, pédants, apothicaires,
Viennent sonder ces féminins mystères;
Et si quelqu'un se connaît à cela,
Qu'il trousse Jeanne et qu'il regarde là.«

Überaus drollig ist nun die Antwort erfunden, durch welche Jeanne den König von ihrer wunderbaren Sendung überzeugt:

A sa réponse et sage et mesurée
Le roi vit bien qu'elle était inspirée.
»Or sus, dit-il, si vous en savez tant,
Fille de bien, dites moi dans l'instant
Ce que j'ai fait cette nuit à ma belle?
Mais parlez net!« – »Rien du tout,« dit-elle,
Le roi surpris soudain s'agenouilla,
Cria tout haut: »Miracle!« et se signa.

Der dritte Gesang ist als ein Angriff auf die menschliche Dummheit geschrieben, wie sie sich in jenen Zeiten formte; es wird ihr Reich geschildert; sie selbst darin als weiblicher Souverän (la sottise) mit all den Gräueln, die sie damals noch erzeugte: dem Scheiterhaufen, der Urbain Grandier, den Hexenmeister, verzehrte; dem anderen, auf welchem Maria von Medicis Ehrendame, Eleonore Galigai, als Hexe den Tod fand; das unter Ludwig XIII. erlassene Verbot, daß niemand unter Androhung der Galeerenstrafe irgendeine andere Philosophie lehren dürfe, als die von Aristoteles, und daß niemand ein Brechmittel verkaufen dürfe.

Allmählich sammelt sich die Komik in dem ältesten Teil der Dichtung um die mirakulösen Wirkungen der Jungfräulichkeit Jeannes und damit um alles, was einerseits getan wird, um ihren sublimen Zustand zu beenden, und andererseits, um ihn ungeschädigt zu erhalten. Lustig wirkt es, wenn der dumme Mönch den Engländern zuruft: »Erzittert, sie ist Jungfrau!«

Elle est pucelle, Anglais, frémissez tous;
C'est Saint Denis qui l'arme contre vous.

Im fünften Gesang gibt die Ankunft des Mönchs Grisbourdon in der Hölle Anlaß zu einer heiteren Schilderung der Lebensweise, die der Teufel und seine Vasallen da unten führen, einer Schilderung, die ebensowenig an Dantes wie an Miltons Darstellungen des unterirdischen Zuchthauses erinnert. In einem Punkt nähert sich Heibergs Aufzählung der feinen Gesellschaft, die das Höllenpublikum bildet, einigermaßen der Liste Voltaires. Dieser verweilt besonders bei der auserlesenen Sammlung berühmter und hochgestellter Prälaten, die es da unten gibt:

Il voit partout de grands prédicateurs,
Riches prélats, casuistes, docteurs,
Moines d'Espagne, et nonnains d'Italie
De tous les rois il voit les confesseurs,
De nos beautés il voit les directeurs,
Le paradis ils ont eu dans leur vie.

Heiberg ist minder einseitig, wo eine Seele nach dem Tode die Mitglieder der vornehmen Höllengesellschaft aufzählt:

Aber du findest hier Professores,
Magister, Licentiaten, Doctores,
Von jedem Fach die meisten Skribenten,
Poeten zu Tausenden, Rezensenten
Und Belletristen, recht viele Studenten,
Die Tänze aufführten auf feinen Bällen,
Und spielten Komödie leidlich gut,
Kurzum, Personen von edlem Blut,
Was nette Leute man nennen tut.

Heiberg hat den genannten Kreis der Höllennotabeln erweitert; die Idee ist jedoch verwandt.

Nur ist die Voltaires von Beginn an kühner als die Heibergs. Seine Satire hat ein positives Ziel. Er hat sich freilich bei der endgültigen Durchsicht der Arbeit genötigt gesehen, seiner Sicherheit zuliebe einen großen Teil fortzulassen, der nun in einzelnen Ausgaben als Zugabe zu finden ist. Nach dem ursprünglichen Entwurf, der in der Ausgabe von 1756 vorliegt, befanden sich in der Voltaireschen Hölle der Beförderer des Christentums zur Staatsreligion, Kaiser Constantin selbst (wegen seiner Verbrechen), der heilige Ludwig von Frankreich in eigener Person (wegen der Abschlachtung der Sarazener, seiner Askese und seiner Selbstquälereien). Es gab in dieser Hölle Voltaires aber nicht nur Heilige, auch weitberühmte und verehrte Reformatoren wie Luther und Calvin. Während aber Luther, der den Dichter nicht sonderlich interessierte, nur eben dem Namen nach erscheint, wird Calvin mit dem finsteren Blick, dem gefühllosen Herzen, der leidenschaftlichen Eifersucht und Beflissenheit, mit der er den armen Servet, »den großen Apostel« auf den Scheiterhaufen brachte, hier gestempelt, und seine Stadt, das fanatische Genf, das Voltaire ja aufs Genaueste kannte, mit herzhaftem Abscheu behandelt.

Es ist dies nicht die einzige Stelle, aus der Voltaire Partien zu entfernen für notwendig gehalten hat, die kerniger und witziger waren, als das, was an ihre Stelle gesetzt wurde. Dasselbe ist im zwanzigsten Gesang der Fall, wo der Esel vor Jeannes Bett kniet und sein wunderbares Alter verkündet: es ist nämlich Bileams Esel aus Kanaan, der sich einer ewigen Jugend erfreut, dafür aber tausend Jahre hat im Zölibat leben müssen. Es folgt eine Stelle, die den damaligen Gesetzen über Gotteslästerung strikte zuwiderlief: die, wo der Esel erklärt, derselbe zu sein, auf dessen Rücken Jesus seinen Einzug in Jerusalem gehalten hat:

Je vis couler, content de mon état,
Plus de mille ans dans ce doux célibat.
Bientôt il plut au maître du tonnerre,
Au créateur du ciel et de la terre,
Pour racheter le genre humain captif
De se faire homme et, ce qui pis est, Juif.
Joseph Panther et la brune Marie
Sans le savoir fit cet œuvre pie.

Was der Esel nun von sich erzählt, ist viel drolliger, als was in dem fertigen Text steht:

C'était un point de sa réligion
Que sur un âne il entrât dans Sion;
Cet âne était prédit par Isaïe
Ezéchiel, Baruch et Jérémie.
C'était un cas important dans la loi;
O Jeanne d'Arc! cet âne, c'était moi.

Allerdings mündet dieses aus in eine überaus häßliche Phantasie, sodaß Voltaire Recht daran tat, die Stelle zu entfernen und ihre Veröffentlichung nach Möglichkeit zu verhindern.

Wer heutzutage La Pucelle liest, beachte die einleitenden Strophen der verschiedenen Gesänge. Sie sind frisch und enthalten zumeist irgendeine verständige Erwägung, irgendeinen lustigen Scherz oder ein Bekenntnis aus Voltaires eigenem Leben. So enthält die Einleitung zum siebenten Gesang Voltaires bittere Jugenderfahrungen mit Fräulein de Livry und dem Freunde und bezeichnet, daran anknüpfend, es als unwürdig, diejenige zu hassen und zu verfolgen, die einen nicht mehr liebt.

Mehrere der Phantastereien, die nur in allerlosester Verbindung mit dem Thema stehen, sind überaus witzig. So schlägt die Satire da scharf durch, wo Dunois auf seiner Reise zum Schloß des Ruhmes kommt, und Voltaire die Fama als eine alte redselige Göttin schildert, die jedermann gern für sich gewinnen will: Sie hat, sagt er, zwei Posaunen; die eine setzt sie an den Mund und verherrlicht Heldentaten, die andere setzt sie an das Hinterteil und durch sie verkündet sie die Namen der literarischen Läuse, die ihr Leben fristen, indem sie an großen Persönlichkeiten schmarotzen, hierauf folgt die Liste der schreibenden Feinde Voltaires: Guyot, Fréron, La Beaumelle, Nonnotte, deren Bekanntschaft wir noch nicht gemacht haben.

Die Abenteuer haben in der Regel denselben Charakter wie die Fabel bei Ariosto; einzelne von ihnen, wie die Abenteuer der schönen Agnes im Nonnenkloster, haben wohl Byron vorgeschwebt, als er seinen Don Juan Zutritt in das Serail erhalten läßt.

Dennoch erscheint die Dichtung als Ganzes uns jetzt Lebenden nicht bloß unpoetisch, sondern kaum witzig. Ihre Unanständigkeiten, die abstoßend auf uns wirken, wenn sie eine Gestalt wie die der historischen Jeanne d'Arc beflecken, sind auch nicht unterhaltender, wenn sie auf Karl des Siebenten Geliebte, Agnes Sorel, gemünzt sind, die in Wirklichkeit ein wertvoller Mensch war. Und alles in allem amüsiert uns ja das Unanständige als solches nicht mehr. Wo die Dichtung am allergewagtesten sein will, wird sie für uns unlesbar. Was einmal Poesie für Fürsten war, ist nun kaum noch Poesie für Lakaien.

Es ist gefährlich für einen Geist, seine Zeitgenossen in allzu hohem Grade befriedigt zu haben. Voltaire tat das als ernsthafter Epiker mit der Henriade, als komischer Epiker mit der Pucelle.

Beide Werke sind heute gleich veraltet, gleich langweilig. Es sind zwei alte Kriegsmaschinen gegen Intoleranz und gegen Aberglauben. Sie haben ihren Zweck erfüllt, haben zu ihrer Zeit ihre Ladung abgefeuert. Nun sehen wir sie an, wie man zwei Mörser von veralteter Konstruktion in einem Zeughaus betrachtet.

VIII

Es gibt eine außerordentliche Menge von Aussprüchen Voltaires über Madame du Châtelet und sowohl die vielen privaten, wie die zahlreichen, für die Öffentlichkeit bestimmten, in Vers und Prosa strömen von Bewunderung und Hingebung über. Selten hat ein Schriftsteller eine Frau so verherrlicht, wie Voltaire die Marquise. Man muß bis zu Dante, Petrarca und Boccaccio zurückgehen, um eine so beharrliche und demütige Lobpreisung einer und derselben Frau zu finden; bei ihnen aber wird die Dame nur mit einem Vornamen bezeichnet, unwirklich gemacht und in einer Weise gepriesen, daß sie von Unbeteiligten nicht erkannt und genannt werden könne. Man muß noch weiter zurückgehen, bis zu den Troubadours der Provence im elften Jahrhundert, um diese besondere Verehrung zu finden, den Ausdruck einer Liebe, in welcher das intellektuelle Element das Übergewicht hat. Die Troubadourenminne galt nur dem Vollendeten in weiblicher Form; aber sie gab dem Liebenden Anteil an dieser Vollkommenheit des bewunderten Weibes. Voltaire war sehr weit entfernt, ein Troubadour zu sein; aber in seiner Vergötterung Emiliens war etwas, was in gerader Linie von der provençalischen Lyrik abstammt.

Als bloßer Liebhaber tritt er fast nur in den frühesten Gedichten vom Jahre 1734 hervor. Eines von den am tiefsten empfundenen unter ihnen, an Madame du Châtelet gerichteten, ist die 47. Epistel an Urania. Der Anfang drückt den Kummer des bald Vierzigjährigen aus, so spät erst von ihrem Wesen durchdrungen worden zu sein; er habe seine Jugend verscherzt, ohne zu lieben; was er damals für Liebe genommen, sei nur der Schatten von Liebe gewesen. Kein Kuß, den er als Jüngling empfangen, keine Liebkosung, die ihm als jungen Mann zuteil geworden, sei eines einzigen Blickes aus ihren Augen wert. Er habe erst gelebt von dem Tage an, da er und sie einander gefunden, da sie ihn hingerissen und gleichzeitig die ganze Welt für ihn verschwand. Welches Glück bloß, sie zu sehen und zu hören! Wie stark und schön ihr Geist, wie reich und zärtlich ihr Herz und wie freudenvoll ihre Umarmung! Er habe das grenzenlose Glück, die zu lieben, die er bewundere.

Hier als Probe einige Verse:

Je vous adore, ô ma chère Uranie!
Pourquoi si tard m'avez vous enflammé?
Qu'ai-je donc fait des beaux jours de ma vie?
Ils sont perdus; je n'avais point aimé.
Je n'ai vécu que du jour, où ton âme
M'a pénétré de sa divine flamme;
Que de ce jour où, livré tout à toi,
Le monde entier a disparu pour moi.
Ah quel bonheur de te voir, de t'entendre!
Que ton esprit a de force et d'appas!
Dieux! que ton cœur est adorable et tendre!
Et quels plaisirs je goûte dans tes bras!
Trop fortuné, j'aime ce que j'admire.

Keine seiner früheren Empfindungen für eine Frau konnte tatsächlich irgendwie mit der verglichen werden, die Voltaire nun ebenso dauernd wie stark überwältigte. Bei seiner intellektuellen Veranlagung und bei der Entwicklung, die er in ununterbrochen aneignender und hervorbringender Geistesarbeit erreicht hatte, konnte ihn kein Weib ernstlich fesseln, das ihn nicht auch geistig packte. Die schöne Emilie war »Philosophin«, das heißt, über die Vorurteile erhaben, denen der Haufe huldigte; dies war die Bedingung, daß Voltaire sie überhaupt in gleicher Höhe mit sich fühlen konnte. Aber die schöne Emilie war überdies ein selbständig denkendes und hartnäckig arbeitendes Wesen, und was mehr wog, ihre Anlagen schienen die seinen zu vervollständigen. Was ihn erfüllte, Poesie und Geschichte, war für sie von sekundärem Interesse. Was sie anzog, Mathematik und Physik, waren Wissenschaften, in welche er sich erst während des Zusammenlebens mit ihr ernstlich vertiefte. Ihnen gemeinsam war das Verlangen, sich eine begründete philosophische Lebensanschauung zu bilden. Er erstrebte eine Art Metaphysik, die der von Newton begründeten Astronomie entsprechen mochte; sie fühlte sich mehr zu der von Leibniz entworfenen Art der Metaphysik hingezogen. Allmählich aber wurde Newton ihr gemeinschaftliches Gebiet, und die Verehrung für Newton der Tempelvorhof, in dem sie einander begegneten.

Wie berichtet wurde, hatte Madame du Châtelets erste Einweihung in das Studium Newtons unter der Führung Maupertuis' bei ihrem Freunde einige Mißstimmung erregt. Es dünkte ihm (vielleicht zum ersten- und letztenmal in seinem Leben), als sei er geistig überstrahlt in den Augen derjenigen, vor der er sich am liebsten hätte auszeichnen wollen. Die Epistel Vierzig ist als ein Zeugnis dieser Stimmung zurückgeblieben. Darin diese Zeilen:

Vous renoncez aux étincelles,
Aux feux follets de mes écrits,
Pour des lumières immortelles;
Et le sublime Maupertuis
Vient éclipser mes bagatelles.
Je n'en suis faché ni surpris.

Allein derartige vorübergehende Mißstimmungen bedeuteten nichts für die Anhänglichkeit, die Voltaire fühlte. Diese ging so tief, daß er zehn Jahre nach Emiliens Tode seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben begann, die mit einer Schilderung ihres Wesens, seiner Verbindung mit ihr und ihrer beider geistig so fruchtbaren Zusammenleben auf Cirey eröffnete. Er hat dort ihre leidenschaftliche Liebe für Putz nicht vergessen, die er schon im Jahre 1733 in einem Briefe an den Abbé de Sade in einem scherzhaften kleinen Vers genannt hatte:

Cette belle âme est une étoffe
Qu'elle brode en mille façons;
Son esprit est très philosophe,
Et son cœur aime les pompons.

Er erzählte hier, wie Madame du Châtelet das verfallene Schloß auf jede Art und Weise ausbesserte und schmückte, sobald sie und er beschlossen hatten, sich dahin zurückzuziehen, wie er hier einen bedeutenden physikalischen Apparat sammelte, und wie einige Gelehrte sie aufsuchten, um mit ihnen in ihrer Einsamkeit zu philosophieren. Er nennt den berühmten Physiker König, der Professor im Haag und Bibliothekar der Prinzessin von Oranien war. Dieser wohnte zwei ganze Jahre auf Cirey. Er nennt Maupertuis, der, wie er angibt, äußerst eifersüchtig und infolge dieser Eifersucht ihm feindlich gesinnt war.

Von ihrer beider geistigem Zusammenleben berichtet er, daß er Madame du Châtelet Englisch lehrte und sie diese Sprache in bloß drei Monaten ebenso gut beherrschte, wie er selbst, so daß sie zusammen Locke, Newton und Pope lasen. Nicht minder schnell erlernte sie Italienisch; sie lasen gemeinsam den ganzen Tasso und den ganzen Ariosto. Als der Freund Friedrichs des Großen, Algarotti, nach Cirey kam, wo er seinen Newtonianismo per le dame vollendete, war sie seiner Sprache so mächtig, daß sie ihm auf Italienisch manchen nützlichen naturwissenschaftlichen Wink erteilen konnte.

Sie und Voltaire suchten in ihrer zurückgezogenen Lebensführung nicht bloß im allgemeinen ihren Wissensvorrat zu bereichern, sondern auch allem zu folgen, was in dem zeitgenössischen Geistesleben vorging. Madame du Châtelet interessierte sich für Leibniz und entwickelte einen Teil seines Systems in ihrem wohlgeschriebenen Buche Institutions de Physique. Sie schrieb ohne Stilschmuck, einfach, klar, bestimmt, elegant.

Allmählich, sagt Voltaire hier, wandte sie sich jedoch von Leibniz' Ideen, als unwahrscheinlich, ab, kehrte überhaupt den Systemen den Rücken und vertiefte sich in die Entdeckungen des großen Newton. Sie übersetzte sein ganzes Werk über die mathematischen Prinzipien ins Französische und fügte, nachdem sie ihre Kenntnisse weiter gestärkt hatte, dem schwierigen Buche einen arithmetischen Kommentar hinzu, der von Clairaut durchgesehen wurde.

IX

Diese für die große Öffentlichkeit zurechtgelegte Darstellung der Studien und der wissenschaftlichen Produktion Madame du Châtelets verdeckt verschiedene verwickelte und peinliche Verhältnisse, die der Veröffentlichung ihres Buches über die Lehre Leibniz' folgten.

Anfänglich hatte sie sich unter der Einwirkung sowohl Voltaires wie Maupertuis' Newton und überhaupt der Denkweise der exakten Wissenschaften angeschlossen, dann während des zweijährigen Aufenthalts Königs auf Cirey sich von diesem zu Leibniz' Monadenlehre bekehren lassen. In ihrem Buche Institutions de Physique tritt sie daher als Leibniz' überzeugte Anhängerin auf. Obwohl Voltaire weit entfernt war, ihr in ihrem Glauben an Monaden folgen zu können, waren doch Meinungsverschiedenheiten bald über einen, bald über einen anderen Punkt der Philosophie außerstande, nur für einen Augenblick die Herzlichkeit ihrer Verbindung zu stören.

In ihrem Buche hatte Madame du Châtelet, von einem anderen Gedanken von Leibniz ausgehend, sich im Widerstreit geäußert mit den Anschauungen, die Herr de Mairan, Secrétaire perpétuel an der königlichen Akademie der Wissenschaften, über den Maßstab für bewegende Kräfte ausgesprochen hatte, jedoch auf die allerartigste Art und indem sie die Hoffnung ausdrückte, Herr de Mairan werde in ihren einzelnen Einwänden einen Beweis der Wertschätzung sehen, den sie seiner Arbeit entgegenbringe. Herr de Mairan habe alles geltend gemacht, was sich überhaupt zugunsten einer schlechten Sache anführen ließe. Diese schlechte Sache sei die Verwerfung der Lehre von der Erhaltung der Kraft. Die von ihr als schlecht bezeichnete Sache war auch Voltaires in seiner Abhandlung Doutes sur la mesure des forces vives et sur leur nature, die übrigens weder seinen Bundesgenossen, Herrn de Mairan, noch seine Freundin Madame du Châtelet nennt.

Herr de Mairan verteidigte seine Ansichten in einem offenen Briefe, und hatte unrecht ganz wie Voltaire; sein Ton war unnötig streitig, und durch die Bemerkung, seine Gegnerin habe wohl seine Abhandlung weder gelesen noch verstanden, appellierte er an ein im Umlauf befindliches Gerücht, daß Madame du Châtelet gar nicht die wirkliche Urheberin ihres Buches sei.

Die Institutions de Physique waren niedergeschrieben worden, während König auf Cirey wohnte, sozusagen unter seinen Augen, und Madame du Châtelet war in ihrer Ehrenhaftigkeit eifrig bedacht, ihm alle Ehre, die ihm für das Buch zukam, zu erweisen, um so mehr, als auf ihrer und Voltaires letzter Reise nach Paris, auf welcher König sie begleitete, ein Zerwürfnis zwischen ihr und dem Physiker eingetreten war. Die Ursache ist unbekannt, aber die Sache selbst war der Marquise so peinlich, daß sie sich nicht einmal zu Voltaire darüber aussprach.

In einem Brief an Maupertuis, der ihr seinerzeit König empfohlen hatte (12. September 1740), bittet sie ihn vor der Herausgabe ihres Buches um seinen Rat: »Ich bitte Sie sagen Sie mir, ob Sie meinen, daß das, was ich in der Vorrede von König geschrieben, genügend ist, oder ob in den Vorbemerkungen des Buchhändlers etwas mehr über ihn stehen soll. Ich habe an beiden Stellen die Wahrheit gesagt; Sie haben aus den Zugeständnissen, die ich Ihnen machte, ersehen können, daß ich die Kunst nicht verstehe, sie unkenntlich zu machen, nicht einmal, wenn sie mir ungünstig wäre.«

Samuel König, der mehr als zehn Jahre später auf seine damals nicht vorauszusehende Art in Voltaires Leben eingreifen sollte, war ein wegen einiger leichtsinniger Jugendstreiche aus seiner Vaterstadt verwiesener Schweizer aus Bern. Maupertuis hatte ihn Madame du Châtelet als Lehrer und Helfer in ihren geometrischen Studien nach Cirey geschickt. Er selbst hat erzählt, daß sie ihm eines Tages ungeduldig sagte: was er sie in Mathematik gelehrt, verstünde sich von selbst, das wisse sie im voraus. Darauf hatte er geantwortet, sie habe recht, aber es gäbe andere, weit wichtigere Wahrheiten als die mathematischen, die nicht minder einleuchtend seien – nämlich die metaphysischen. Voltaires Freundin fing zu lachen an, aber König betonte, er könne ihr dies mit Leichtigkeit beweisen, wenn sie ihm bloß die nötige Aufmerksamkeit schenken wolle.

In seinem Groll nach dem stattgehabten Bruch erzählte er nun seinen Freunden, er habe in Cirey zu jeder Unterrichtsstunde, auf einem Stück Papier den Lehrsatz mitgebracht, den er beweisen wollte; er habe ihn erläutert, ihn bewiesen und die Marquise befragt, ob sie ihn anerkenne. Sobald sie bejaht, habe er ihr das Papier überreicht mit der Aufforderung, zu unterzeichnen. Und aus diesem Pack unterzeichneter Papiere sei, behauptete er, die Introduction métaphysique der Marquise entstanden. Sie habe bloß seine Gedanken in Form und Stil gebracht; die Arbeit selbst sei seine.

Derartige Aussprüche Königs waren offenbar Mairan zu Ohren gekommen, da er sich so spöttisch äußerte. Die Marquise, überaus erzürnt, schrieb eine glänzende, ironisch gehaltene Antwort, die großes Glück machte und das Gelächter und die Sympathien der Lesewelt auf ihre Seite brachte (Réponse de Madame la marquise du Châtelet à la lettre que M. de Mairan lui a écrite le 18 fevrier 1741 sur la question des forces vives). Diese Antwort erfolgte schon einen Monat nach Veröffentlichung des Angriffs.

An d'Argental schrieb sie:

Mairan ist nun verstimmt, und das ist natürlich. Er muß es sein, da er Unrecht gehabt und in eine rein literarische Uneinigkeit Persönlichkeiten eingemischt hat. Nicht ich war es, die damit begann, Pikanterien vorzubringen; die Institutions enthalten nur Artigkeiten für ihn und Gründe gegen seine Widersinnigkeiten; in seinen Briefen dagegen sind viele verletzende Dinge gegen mich und gar keine Gründe, die für seine Sache sprechen. Konnte ich je scharf genug auf seine verletzende Beschuldigung gegen mich erwidern, daß ich ihn weder gelesen noch verstanden und daß ich eine gedrängte Darstellung der Hauptgedanken von einem anderen abgeschrieben habe?

Voltaire, dessen Kopf es mit Mairan hielt, während sein Herz auf Seite der schönen und erzürnten Emilie war, bestrebte sich nach Kräften, das Mißverhältnis, das sowohl zwischen ihr und Mairan, wie zwischen ihr und Maupertuis entstanden war, zu glätten. An Mairan schrieb er, er könne den Bruch zwischen ihm und der Marquise unmöglich als ernsthaft gemeint betrachten. »Ich schmeichle mir damit, daß Ihr kleiner Krieg mit Madame du Châtelet nur dazu dienen wird, die Achtung und Freundschaft, die Sie beide für einander hegen, zu erhöhen.« An Maupertuis, der zu Emiliens tiefer Betrübnis gegen sie und für König Partei ergriffen hatte, schrieb er im gleichen versöhnlichen Geist. Maupertuis hatte nämlich anläßlich ihres Bruches mit dem Schweizer, ohne genau über das Geschehene unterrichtet zu sein, sie hören lassen, »sie habe demütigendes Unrecht in einer Sache, in der sie sich einbildete, edelmütig gehandelt zu haben.« Voltaire wendet sich mit folgenden Worten an den von Emilie so stark bewunderten Gelehrten: »Schreiben Sie ihr doch (ein Mann ist immer in seinem Recht, wenn er sich selbst einer Frau gegenüber Unrecht gibt) und Sie werden ihre Freundschaft wiederfinden; ihre Achtung hat sie Ihnen immer bewahrt.« Voltaire mußte indessen zweimal schreiben, ehe der störrische Maupertuis nachgab. Dann folgte aber auch von Seiten der Marquise eine herzliche Antwort:

Ich kenne keine Halbheit, weder in der Liebe, noch in der Versöhnung; ich habe Ihnen mein Herz zurückgegeben und ich rechne auf die Aufrichtigkeit Ihres Herzens. Ich habe es Ihnen nicht verhohlen, wie betrübt ich war, meine Freundschaft für Sie aufgeben zu müssen, und ich verhehle jetzt nicht die Freude, mit der ich unsere Verbindung neuerdings anknüpfe. Sie haben mich fühlen lassen, wie grausam es ist, sich über einen beklagen zu müssen, den man gern lieben möchte und den zu achten, man nicht umhin kann.

Versucht man, in den Kern dieses Streites zwischen wissenschaftlichen Anschauungen und persönlichen Gefühlen einzudringen, bis zu der Quelle, aus der so entgegengesetzte Auffassungen entsprangen, so stockt man bei der Frage über die Stärke, den Umfang, die Originalität der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabung der Madame du Châtelet, die von Voltaire nie mit einem geringeren Ausdruck als Genie bezeichnet wird, und dies offenbar nicht infolge seiner persönlichen Liebe zu ihr, sondern aus einer selbständig empfundenen, ungemein tiefen Bewunderung heraus.

Liebe zur Wissenschaft war der Charakterzug, der Madame du Châtelets Persönlichkeit Haltung und Festigkeit mitteilte, – eine Liebe, stark genug, daß sie um ihretwillen gesellschaftliche Triumphe verschmähte und den Studien gerne ihre Tage und Nächte gab. Die Arbeit war ihr eine Notwendigkeit und eine Freude. Sie überwand die größten Schwierigkeiten, drang derart in Newton ein, daß sie ihn ganz verstand, und sie verstand ihn so, daß sie ihn übersetzte. Obwohl Anhängerin Newtons, zeigte sie die Selbständigkeit, sich in der Lehre von der Erhaltung der Kraft für Leibniz' geniale Abweichung von Descartes zu erklären, wiewohl Newton am Schluß seiner Optik Descartes' Maßstab als richtig angenommen hatte. Sie vermochte also die Gedanken der Philosophen und Mathematiker mit Klarheit darzustellen. Im übrigen hatten ihre Fähigkeiten ohne Zweifel die Begrenzung, die weibliche Begabung auf dem Gebiet der Wissenschaft in der Regel hat.

Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts erregte Sonja Kowalewski durch ein mathematisches Talent, das von einigen als mathematische Genialität bezeichnet wurde, ein ähnliches Aufsehen, wie Emilie du Châtelet um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Sonja Kowalewski empfing sogar für ihre Forschung eine ehrende akademische Auszeichnung, die Madame du Châtelet nicht zuteil wurde. Nichtsdestoweniger blieb Sonja Kowalewski, auch als mathematischer Professor in Stockholm, Schülerin des großen Mathematikers Weierstraß in Berlin. Gab er ihr eine Aufgabe zu lösen, legte er ihr ein Problem zurecht, so bewies sie Denkvermögen und Scharfsinn in der Beantwortung. Ganz auf eigene Hand hat sie nichts erreicht.

So überraschte auch Emilie du Châtelet durch eine für eine Frau erstaunliche Fähigkeit zum Abstrahieren, durch feurige Inangriffnahme der schwierigsten mathematischen und physikalischen Probleme. Aber sie war Schülerin von Maupertuis wie von König, von Clairaut, wie von ihrem intimen Freunde Voltaire. Und es steht zu bezweifeln, daß einer dieser Männer, bei aller Verehrung für ihre Tüchtigkeit, sich jemals als ihr Jünger fühlte.

X

Unter ihnen ist Voltaire der einzige, der so spricht, als habe sie ihn zum Studium der Wissenschaften gerufen, und der einzige, der sie wieder und wieder als Genie bezeichnete, ja kaum ihren Namen nennt, ohne ihr eine umfassende und mächtige Genialität als Eigenschaft beizulegen. Der Ton ist der folgende:

Tu m'appelles à toi, vaste et puissant génie,
Minerve de la France, immortelle Emilie,
Je m'éveille à ta voix, je marche à ta clarté.

Es sei freilich bemerkt, daß man in jenen Zeiten freigebiger mit dem Worte Genie war, als in unserem Zeitalter, wo es nur mehr auf die bedeutendsten Geister des Menschengeschlechts angewendet wird. Im achtzehnten Jahrhundert war das Wort eine Dekoration, mit der man ohne Knickerei die Brust der Talente schmückte.

Nicht immer jedoch besingt Voltaire seine Emilie so feierlich, wie in der oben angeführten 54. Epistel über Newtons Philosophie. Wirft man einen Blick auf das Gewimmel längerer und kürzerer Gedichte, die er zur Ehre der Vergötterten geschrieben, so findet man insbesondere aus den ersten Jahren der Verbindung viele, in welchen die nie vergessene Verehrung sich mit einer warmen Erotik vereinigt.

In der 48. Epistel heißt es: Laß einen anderen dich lehren, meine teure Urania, die Erde zu messen, im Himmel zu lesen und vor deinem Genie auszubreiten, was die Liebe der Macht deiner Augen unterwirft; ich für mein Teil lasse mich nicht auf Dispute ein über den leeren Raum oder den gefüllten; was ich liebe, das ist meine ganze Welt; mein System ist das Ovids, Liebe ist mein Thema und die Seele meiner Verse.

In der 49. Epistel ist ein wenig mehr Künstelei: Er wollte am liebsten, um seiner Huldigung für sie einen ewigen Ausdruck zu geben, die Sprache der Götter entleihen und sie so anreden, in ihrer eigenen Sprache, um ein lebendiges Bild des Feuers, der Seele, der himmlischen Gaben zu liefern, die man in ihrer Rede vernimmt, in ihren Augen sieht. Aber sein Genie ist zu gering, und er beruft sich statt dessen auf die Dichter des alten Rom. Sie kennt diese, es sind ihre Freunde und einzig und allein den Meistern des Parnaß kommt es zu, ihre Herrlichkeit zu besingen.

Was er auch schreibt, an wen er auch schreibt, so flicht er in seine Verse gern eine Huldigung der Gebieterin Cireys ein.

In einem Gedicht an ein junges Fräulein in Rouen, das im Verein mit Cideville ein verständiges Schreiben an ihn gerichtet hat, und dessen Vorname zufälligerweise Emilie ist, preist er die Natur, die also zweimal etwas Vollendetes geformt hat, das den gleichen Namen trägt:

Je vois que la nature a fait
Parmi ses œuvres infinies
Deux fois un ouvrage parfait,
Elle a formé deux Emilies.

Friedrich von Preußen, der sich erkundigt hat, wie man auf Cirey lebt, antwortet er in artigen Versen, daß seine Freundin und er versuchen, sich nach dem Beispiel des Königs die Weisheit Epikurs anzueignen, alle Künste zu pflegen und die Natur anzubeten. Aber sie folgen ihrem Meister in großer Entfernung. Das Verhältnis zwischen ihm und ihnen ist, wie wenn der Tagesgott einen Strahl in eine Dunkelkammer würfe und solcherart das reine Licht dort das Miniaturbild einer unermeßlichen Landschaft hervorbrächte.

In diesem Gedicht kommt übrigens eine der bei Voltaire durchaus nicht seltenen Wendungen vor, in denen er – lange vor Jean Jacques – die wilde Natur auf Kosten aller Kunst und aller Gärtnerkunst verherrlicht:

Jardins, il faut que je vous fuie;
Trop d'art me révolte et m'ennuie.
J'aime mieux ces vastes forêts;
La nature, libre et hardie,
Irrégulière dans ses traits
S'accorde avec ma fantaisie.

Unter Dutzenden zu Emiliens Ehre hingeworfenen Gedichtchen seien die eigentümlichsten hervorgehoben. Die meisten sind scherzhaft, aber nicht einmal im Scherz wird die Anbetung, keinesfalls die Schmeichelei vergessen. Für das erste Jahr der Bekanntschaft ist folgender Anschlag kennzeichnend:

L'esprit sublime et la délicatesse,
L'oubli charmant de sa propre beauté,
L'amitié tendre et l'amour emporté
Sont les attraits de ma belle maîtresse.

In dem Epigramm, zu welchem eine Abendmahlzeit, die die Marquise mit vielen Geistlichen einnahm, den Anlaß lieferte, liegt mehr Phantasie. Es heißt darin, daß ein gewisser Gott in seiner Kindheit die Schriftweisen durch seine Gelehrsamkeit verblüffte; man sagt zugleich von ihm, er sei der Herr der Herzen. Ihre Herrschaft erinnere an die seine. Nur daß sein Reich nicht von dieser Welt sei. Aber ihr Reich ist es; denn es ist das der Liebe selbst. »Denke mein, wenn du in deinem Reiche bist!«

Son règne au moins n'est pas de ce séjour;
Le vôtre en est, c'est celui de l'amour,
Souvenez-vous de moi dans votre empire!

Allerliebst ist folgendes Motto, das Voltaire für Madame du Châtelet schreibt:

Du repos, des riens, de l'étude,
Peu de livres, point d'ennuyeux,
Un ami dans la solitude,
Voilà mon sort; il est heureux.

Hier wagt er es, in ihrem Namen fast den Neid der Götter herabzubeschwören, indem er sie sich selbst glücklich nennen läßt. Dieses Wort ist überhaupt der stehende Refrain in den Briefen und Versen aus diesen vielen Jahren: Cirey ist ein Eden; man ist glücklich in Cirey. Man lese zum Beispiel dies eines abends im Garten bei Mondschein aus dem Stegreif gedichtete Impromptu:

Astre brillant, favorable aux amants!
Porte ici tous les traits de ta douce lumière:
Tu ne peux éclairer, dans ta vaste carrière,
Deux cœurs plus amoureux, plus tendres, plus constants.

Es ist wirklich eine Mondscheinstimmung darin und ein Glücksgefühl; nur verletzt es rein künstlerisch, daß Voltaire das Bild nicht festhält, sondern den Mond die Unmöglichkeit begehen läßt, zwei Herzen zu bescheinen.

Rein mustergültig ist Voltaire dagegen in den Gedichtchen (deren Kernigkeit einen Japaner befriedigen und erfreuen würde), in welchen er Innigkeit mit Witz zu vereinen gewußt hat. Sie werden hierdurch Kunstwerke wie jene Gemmen aus dem griechischen und römischen Altertum, auf denen ein Halbedelstein von der Größe eines Nagels, mit tiefem Gefühl behandelt, das Bild eines Weibes oder eines Mannes wiedergibt. Man lese folgende zwei Epigramme, die als Gegenstücke gedacht sind und sich der gleichen Wendung bedienen. Das erste bildete die Begleitzeilen zu einem Ring, in welchen sein Porträt graviert war:

Barier grava ces traits destinés pour vos yeux;
Avec quelque plaisir daignez les reconnaître!
Les vôtres dans mon cœur furent gravés bien mieux,
Mais ce fut par un plus grand maître.

Beim Empfang ihres Porträts antwortete er, seine Ausdrücke variierend:

Traits charmants, image vivante
Du tendre et cher objet de ma brûlante ardeur!
L'image que l'amour a gravé dans mon cœur
Est mille fois plus ressemblante.

Die Feinheit in dem ersten der Gedichtchen liegt darin, daß nicht gesagt wird, sondern erraten werden muß, wer der größere Meister war, der ihr Bild in sein Herz ritzte. Der Wert des anderen beruht auf der Glut der Worte und der Wendung, daß das Bild in seinem Herzen ihr tausendmal mehr gleiche.

Voltaire nimmt keinen Anstand, sich selbst leidenschaftlich herabzusetzen und als unglückliches Wesen, als Stiefkind der Natur, zu bezeichnen im Vergleich mit ihr, der die Götter alles geschenkt haben; aber wenn sie ihn liebt, ist das Gleichgewicht wiederhergestellt:

Esprit, raison, beaux yeux, charmant visage,
Fleur de santé, doux loisir, jours sereins,
Vous avez tout, c'est là votre portage.
Moi, je parais un être infortuné,
De la nature enfant abandonné,
Et n'avoir rien semble mon apanage:
Mais vous m'aimez, les dieux m'ont tout donné.

Es gibt zwei Götter, sagt er anderswo, die alles auf Erden verrichten, die bewirken, daß man gefällt, und daß man seinerseits liebt – das sind der Geist und die Liebe; sie gedeihen selten zusammen, jedes hat seinen Hof. Aber eines Tages wollten sie Frieden schließen, und dieser Tag bleibt unvergessen; denn an diesem Tage zeugten sie im Verein Emilie.

Voll und ganz von seinem Glück überzeugt, ließ er denn über der Türe zu seiner Galerie in Cirey die Worte einhauen:

Asile des beaux arts, solitude où mon cœur
Est toujours demeuré dans une paix profonde,
C'est vous qui donnez le bonheur
Que promettait en vain le monde.

Wie oben erwähnt, setzte er mehrmals durch seine Reisen und Unbesonnenheiten dieses so kostbare Glück aufs Spiel. Seine Natur bedurfte mehr als die Emiliens der Abwechslung.

XI

Nachdem man die Bekanntschaft mit diesen zu Ehren der schönen Emilie verfaßten Gedichtchen gemacht oder erneuert hat, durchlese man aufmerksam die ausführliche Epistel an Madame la marquise du Châtelet, die Voltaires Tragödie Alzire einleitet, das erste Dichterwerk von größerem Umfang, das er auf Cirey ausführte, und man wird sehen, mit wieviel mehr Ernst und Sorgfalt er die Dame seines Herzens im Bewußtsein der Zeitgenossen über durchschnittsmenschliches Niveau zu erheben sucht, wie er nachzuweisen bestrebt ist, daß die Kenntnisfülle, die einzelne ihr vielleicht, als auf unweibliche Art gewonnen, zur Last legen wollten, der beste Schmuck ihrer Weiblichkeit sei.

Die Widmung beginnt:

Madame.

Welch schwache Huldigung für Sie ist doch eine dieser poetischen Arbeiten, die nur eine Zeitlang leben, deren Wert von der flüchtigen Gunst des Publikums und der Illusion der Bühne bestimmt wird und dann in die Masse und das Dunkel verschwinden!

Was ist eine in Handlung und in Verse gesetzte romantische Erzählung für Sie, die Sie geometrische Werke mit derselben Leichtigkeit lesen, wie andere Romane; für Sie, die in Locke, dem weisen Lehrer der Menschheit, nur Ihre eigenen Gefühle und die Geschichte Ihrer Gedanken wiedergefunden, für eine Frau, die, zur Augenlust geschaffen, ihr die Wahrheit vorzieht!

Aber – entwickelt Voltaire weiter – am größten ist das Genie, das keine der schönen Künste verschmäht; am glücklichsten der Geist, der sich an den Schönheiten Ciceros und Bossuets, Vergils und Tassos erfreut, nachdem er Erleuchtung bei Clarke und Newton gefunden. Und so sei ihr Genie beschaffen.

Es gab eine Zeit – fährt er fort –, wo in Frankreich Frauen sich gegen ihr Geschlecht zu vergehen meinten, wenn sie Kenntnisse zu erwerben suchten. Der Schein von Lächerlichkeit, den große Männer, wie Molière und Boileau über die gelehrten Damen zu werfen versuchten, schien ein barbarisches Vorurteil zu rechtfertigen. Boileau versuchte beispielsweise in einer Satire über die Frauen eine Dame zu verspotten, die Astronomie verstand. Es wäre besser gewesen, er hätte sie selbst verstanden. Sie, die an wissenschaftlichem Geist so Hochstehende, versteht zugleich jede Dichtung; sie erweist hierdurch der Literatur ebenso große Ehre, wie Königin Christine und die Herzogin von Maine durch ihre Liebe zu ihr als einer der schönen Künste ihr erwiesen haben. Man darf also den Namen der Marquise neben dem der hervorragendsten Fürstinnen nennen. In dem Alter, das für die meisten Frauen das Alter der Vergnügungen ist, beschäftigt sie sich mit jeder Art von Wissenschaft und Kunst.

Alzire wurde im Januar 1736 zum ersten Male aufgeführt und hatte mächtigen Erfolg. Das Stück ging zwanzigmal nacheinander in Szene, was damals ein seltenes Vorkommnis war, und brachte mehr als 53 000 Livres ein, eine Summe, die Voltaire, um den Schauspielern seine Erkenntlichkeit zu zeigen, ihnen ganz überließ, nebst allen Einnahmen aus den folgenden Vorstellungen.

Es hat die Franzosen offenbar lebhaft interessiert, daß die Handlung des Stückes nach Amerika verlegt war, dessen eingeborene Bewohner man noch niemals auf den französischen Brettern erblickt hatte. Und da es Voltaire, wie so oft, wie erst kürzlich in Zaïre, darum zu tun war, Widerwillen gegen Grausamkeit und Fanatismus zu erwecken, konnte er keinen glücklicheren Griff tun als Züge aus der Eroberung der amerikanischen Reiche durch Spanien heranzuziehen. Die Greuel, die Cortez im Jahre 1517 in Mexiko, Pizarro 1525 in Peru verübten, waren wohl geeignet, die Roheit und Unduldsamkeit der christlichen Eroberer darzutun.

Voltaires Drama spielt in Peru. Der frühere spanische Gouverneur in Lima, Don Alvarez, hat durch eine verständige, ja väterliche Haltung, verstanden, den Eindruck der sowohl vor seiner Zeit wie während seiner Verwaltung gegen die Eingeborenen begangenen Grausamkeiten zu mildern. Die Folge ist gewesen, daß, als ein Aufstand ausbricht, sein Leben geschont wird; ein ihm persönlich unbekannter eingeborener Häuptling befreite ihn und nahm ihn in seine Obhut. Nun, da er hochbetagt ist, hat man in Madrid, wie er es wünschte, seinen Sohn, Don Gusman, zu seinem Nachfolger ernannt. Dieser will jedoch nicht im Geist des Vaters regieren. Er betrachtet die Eingeborenen als gefährliche Wilde, die sich nicht unter das Joch der Europäer beugen wollen, wofern man sie nicht in strengster Zucht hält, und die mit Festigkeit und Härte bestraft werden müssen, sobald sie Unabhängigkeitsgelüste zeigen. Er will den väterlichen Wünschen so weit entgegenkommen, daß er etliche Einheimische von ihren Ketten befreit: aber er besteht mit Bestimmtheit darauf, daß sie, sowie das Gesetz es verlangt, Christen werden müssen. Vergebens weist Alvarez darauf hin, daß es gelte, die Herzen zu gewinnen, nicht zu zwingen.

Der eingeborene Herrscher Monteze hat den christlichen Glauben angenommen und strebt auch seine Tochter Alzire zu bekehren, die Gusman leidenschaftlich begehrt und heiraten will. Diese Ehe soll ein Band des Friedens zwischen Amerika und Europa, Peru und Spanien ausmachen.

Die junge Königstochter ist in tiefen Schmerz versunken. Während eines Kampfes ist ihr Verlobter, Zamore, der Fürst eines Nachbarstaats, verschwunden und wird als tot betrachtet. Zamore aber ist der einzige, den sie jemals geliebt hat und den sie noch immer liebt. Gusmans Wesen erschreckt sie, nicht ohne Grund. Die Hochzeit wird anberaumt. Am Hochzeitstage selbst kehrt Zamore nach Peru zurück, den Gefängnisketten entschlüpft, in denen Gusman ihn festgehalten hat. Er träumt nur von Alzire, auf deren Treue er baut. Er trifft den alten Alvarez, und es stellt sich heraus, daß es Zamore war, der seiner Zeit Alvarez' Leben gerettet hat.

Wie in der Regel in französischen Tragödien, gibt es hier reichlich viele Pflichtenkonflikte. Alzire hat soeben Gusman feierlich ihre Hand am Altar gereicht, als sie Zamore wiedersieht, den sie tot geglaubt hatte und den aufzugeben sie sich jetzt nicht überwinden kann. Alvarez verdankt Zamore sein Leben und sollte ihn also seine Alzire behalten lassen; aber er kann seinem Sohn nicht zuwiderhandeln und er muß die Heiligkeit der Ehe anerkennen. Monteze drängte es naturgemäß, für seine Tochter und Zamore Partei zu ergreifen; aber er hat die Religion gewechselt und muß also auf Seite der Christen stehen.

Dies ist jedoch nur die Schale. Der Kern ist der Zusammenstoß zwischen dem unschuldigen Heidentum der Ureinwohner und dem bekehrungssüchtigen Fanatismus der Katholiken, die zu herzlosen und zweckwidrigen Grausamkeiten führt. Während Oehlenschläger, wo er in seinen Tragödien den Kampf zwischen dem alten Heidentum der Nordens und dem vom Süden eindringenden Christentum darstellt, das Heidentum gern wild, aber männlich auftreten und das Christentum von den Heiden als zu weichlich betrachten läßt, hat Voltaire in strengerer Übereinstimmung mit der Geschichte seine Heiden in den Christen blutdürstige und geldgierige Barbaren erblicken lassen.

Um den Geist des Christentums in einen Gegensatz zu der Praxis der Christen zu stellen, um einen schönen, überraschenden, aber doch erklärlichen Schluß herbeizuführen, und überdies wohl auch, um seinem Drama die Möglichkeit zu sichern, aufgeführt und gedruckt zu werden, hat Voltaire einen fünften Akt gedichtet, in welchem Zamore in seiner Verzweiflung einen Mordanschlag auf Gusman ausführt und ihn tödlich verletzt. Doch der lebensgefährlich Verwundete beharrt nicht in seiner Härte. Er gibt nicht nur den Gedanken auf, Zamore der Tortur zu unterziehen, sondern – um Zamore und seinen anderen Feinden zu zeigen, wie hoch die Moral des Christentums über der der Rachsucht stehe – legt er Alzires und Zamores Hände ineinander, vergibt ihnen und bittet Zamore bloß, nun Christ zu werden. Es wird also eine Bekehrung in Aussicht gestellt, ohne daß sie augenblicklich plump vollzogen wird.

Wie man sieht, ist in dem Zusammenstoß der beiden Religionen eine Parallele mit Zaïre; noch größer aber ist die Ähnlichkeit mit Adélaide du Guesclin. Auch hier der brutale Bräutigam, der sich die Einwilligung der Braut erzwingen will. Der Herzog von Vendôme kehrt zurück als Don Gusman. Zamores Leben ist hier bedroht, wie dort das Leben Nemours'! Und in dem harten Gemüt des Bräutigams siegt hier wie dort die Menschlichkeit über rücksichtslose Begierde.

Alles in allem ist das Stück eine schöne Verkündigung von Duldsamkeit auf religiösem Gebiete und von Menschlichkeit im Verhältnis zwischen Volk und Volk.

XII

Wenn das für beide Teile so befriedigende und erfreuliche Beisammenleben in Cirey in den ersten Jahren hier und da eine Unterbrechung erfuhr, so lag die Ursache dazu teils in Voltaires angesichts der ihm drohenden Gefängnisstrafen allzu begreiflichen Unruhe, teils aber in einer anderen, ihm selbst körperlich innewohnenden Unruhe, die nach Abwechslung und nach Erlebnissen verlangte.

Den vorherrschenden Anlaß zu seinen Reisen gaben allerdings die Verfolgungen, denen seine Arbeiten jederzeit ausgesetzt waren. Mit den Augen einer aufgeklärten Nachwelt betrachtet, waren diese in der Regel ganz unschuldig; zu jener Zeit aber lieferten sie vortreffliche Vorwände für das Einschreiten der Staatsgewalt.

Le Mondain, eine von Voltaires beliebtesten Dichtungen, wurde im Jahre 1736, unmittelbar nach dem großen Bühnenerfolg der Alzire, geschrieben. In keinem Gedicht erinnert er mehr an Horaz und Ovid, ja man kann sagen, das ganze Gedicht Le Mondain ist eine weitere Ausführung der Zufriedenheit mit dem Zeitalter, die in Ovids Versen aus Ars amatoria ausgedrückt ist:

Prisca juvent alios! ego me nunc denique natum
Gratulor. Hæc ætas moribus apta meis.

Le Mondain verspottet diejenigen, die die alte Zeit preisen, das goldene Zeitalter, in welchem die Menschen nackt gingen und Eicheln aßen. Voltaire freut sich der Zeit, in der er lebt, wenn sie auch die eiserne genannt wird, einer Zeit mit Komfort und Reinlichkeit, einer Zeit mit neuen Forderungen und neuen Freuden, die die barbarischen Vorväter nicht kannten:

O le bon temps que ce siècle de fer!
Le superflu, chose très nécessaire,
A réuni l'un et l'autre hémisphère.

Adam und Eva hatten lange Nägel mit schwarzen Rändern, ungeordnetes Haar, keinen gedeckten Tisch und kein gutes Bett. Sie kannten keine durchgeführte Reinlichkeit; aber ohne Reinlichkeit ist sogar die glücklichste Liebe nicht Liebe, sondern bloß ein Trieb, dessen man sich schämt:

Sans propreté l'amour le plus heureux
N'est plus amour, c'est un besoin honteux.

Der gepriesene Naturzustand im goldenen Zeitalter ist also sehr wenig verlockend, verglichen mit dem Leben, das ein zivilisierter Mensch führt. Es ist besser, sich an Gemälden des sanften Correggio und des gewandten Poussin, an den Statuen Bouchardons, an den Juwelierarbeiten von Germain zu erfreuen, besser, in Gemächern zu leben, deren Wände mit Tapeten aus den Gobelinwebereien bekleidet sind, als sich in einem Garten aufzuhalten, der durch den Teufel und den Apfel berühmt geworden ist.

Man sollte es nicht glauben! Aber es war damals ein Todesverbrechen, über den Mangel der ersten Menschen an Sinn für die wohltätige Wirkung eines Bades oder über die Sage von Eva und der Schlange zu scherzen. Von einem modernen Dänen wäre es allerdings Affektation, sich über solchen Obskurantismus stark zu wundern, da ja die dänische Regierung mehr als anderthalb Jahrhunderte danach, zu Beginn des Jahres 1891 einen Redakteur wegen Gotteslästerung und Verhöhnung der Religion belangte und Gefängnisstrafe beantragte, weil Henrik Pontoppidan in dessen Blatte eine scherzhafte Variante der Legende von Evas Erschaffung gegeben hatte. Aber Dänemark hat ja auch niemals, wie Holland oder die Schweiz, zu den kleinen Staaten gehört, von denen Freisinn in religiöser Beziehung zu erwarten war.

Voltaire war unvorsichtig genug gewesen, dem Abbé de Bussi, Bischof in Luçon, das Gedicht Le Mondain zu senden. Als dieser in demselben Jahre starb, wurde es in seiner Schublade gefunden; Abschriften wurden in Umlauf gesetzt und bald erhielt der Verfasser des Poems die Nachricht, daß man sich zur Strafe seiner Person bemächtigen werde.

So ergab sich die Notwendigkeit für ihn, über Hals und Kopf abzureisen. Die schöne Emilie weinte bitterlich beim Abschied. Eine einzige Rücksicht machte eine kürzere Trennung wünschenswert: gewisse puritanische oder boshafte Verwandte der Schloßfrau hatten an ihrem Zusammenleben mit Voltaire in Cirey, während der Marquis von Châtelet beim Heere weilte, Ärgernis zu nehmen begonnen, und man drohte, dem Ehemann einen anklagenden Brief zu senden. Und obschon der Marquis sich keineswegs beeinträchtigt fühlte und sowohl seiner Frau wie Voltaire stets dieselbe warme Freundschaft bewahrte, hätte ihn immerhin diese Einmischung Fremder in seine Verhältnisse wider seinen Willen in eine schwierige Stellung bringen können.

XIII

Voltaire reiste über Brüssel nach Antwerpen, von da nach Amsterdam und Leyden. In Holland war er sicher, und seine Gegenwart war erwünscht; er konnte hier selbst die Drucklegung seiner Bücher überwachen und die Korrekturen an Ort und Stelle erledigen. Eben befand sich sein großes Werk Eléments de la Philosophie de Newton unter der Presse.

Einstweilen war Madame du Châtelet nur darauf bedacht, die Verfolgung seiner Person aufzuhalten; sie ließ ihre Freunde sich an den Schatzkammerkanzler, Herrn de Chauvelin, wenden und machte selbst einen naiven Versuch, ihn zu besänftigen, indem sie ihm offen gestand, wie unentbehrlich Voltaire ihr geworden sei. Im Dezember 1736 schreibt sie an ihren Vertrauten d'Argental: »Der Schatzkammerkanzler kennt das Band, das ihn und mich vereinigt; er weiß, daß der Wunsch nach einem ruhigen Beisammenleben mit mir ihn in Zügeln halten wird. Welches Vergnügen kann er denn daran finden, unser Leben mit Bitternis zu erfüllen!«

Die warmfühlende Frau sah ihre Aufgabe darin, Voltaire von Unvorsichtigkeiten zurückzuhalten; erkannte sie doch, daß diese Zurückhaltung die Bedingung für eine glückliche Zukunft sei. Aber sie litt Qualen unter der Schwierigkeit, einem Poeten und Schriftsteller von Voltaires unberechenbarem Temperament Fesseln anzulegen. Noch war Paris mit den Abschriften von Le Mondain beschäftigt, als sich daselbst das Gerücht von der hundertmal gefährlicheren Pucelle verbreitete.

Einen Monat später schreibt Madame du Châtelet an d'Argental: »Jeden Augenblick muß ich ihn vor sich selbst retten und ich wende mehr Politik an, ihn zu führen, als der Vatikan braucht, um sich die ganze Christenheit zu unterwerfen.«

Als Voltaire Brüssel erreichte, fand er hier schon das von Jean Baptiste Rousseau verbreitete Gerücht vor, daß er hierher bloß gereist sei, um Atheismus zu predigen. Da er aus diesem Grunde nur einen einzigen Tag blieb, ließen seine Verehrer noch an demselben Abend Alzire aufführen. Madame du Châtelet schreibt darüber an d'Argental: »Seine Lorbeeren folgen ihm überall. Aber was nützt ihm all die Ehre! Ein Glück im Verborgenen wäre weit mehr wert. Wie sind die Menschen eitel, wie ist die Seele blind!« Sie sagt das letzte mit einem lateinischen Zitat:

O vanas hominum mentes! o pectora cæca!

Man darf indessen nicht glauben, daß Voltaire auf dieser Reise unter seinem Namen auftrat. Er unternahm sie inkognito als Herr Révol, Kaufmann, erhielt seine Briefe unter diesem Namen und ließ sie in Amsterdam an die Firma Ferrand & Arty, in Leyden an einen Bankier Hellin adressieren. Allerdings war sein Inkognito schwieriger zu bewahren als das eines Monarchen.

In Leyden kam man scharenweise, um ihn zu sehen; zwanzig junge Engländer aus dem Gefolge des Königs suchten ihn gleichzeitig auf. In Amsterdam, wo er bei dem Buchhändler Ledet wohnte, strömten die Huldigungen von allen Seiten auf ihn ein. Einer der städtischen Obrigkeitspersonen hatte La Mort de César übersetzt und widmete ihm seine Übersetzung. Sein Brutus war frühzeitig ins Englische übertragen worden; nun wurde die obenerwähnte Übersetzung der Zaïre, die eben zu jener Zeit nicht auf Drury Lane in Szene gehen konnte, in Yorck Buildings aufgeführt, das ein für Voltaire schwärmender Enthusiast, namens Mr. Bond, zu diesem Zwecke gemietet hatte. Bond selbst als Lusignan und einige seiner nicht minder begeisterten Freunde in den anderen Rollen gaben dem Stück eine vorzügliche Darstellung. Der sechzigjährige Mr. Bond, der mit Leib und Seele spielte, stürzte nach der ersten Aufführung zusammen und war auf der Stelle tot. Solche Feueranbeter Voltaires waren diese Amateure, daß sie sich von diesem Vorfall nicht abschrecken ließen, sondern ein anderer sofort in die Rolle des Verstorbenen einsprang und die Tragödie schon am folgenden Tage, mit einem Prolog zu Ehren des Toten und des Dichters, abermals über die improvisierte Bühne ging.

All diese Ehrenbezeigungen, deren Berichte Voltaire aus England eingingen, sowie diejenigen, die ihm täglich in Holland zuteil wurden, endlich die Korrekturarbeiten an seinem Buche über Newtons Philosophie nahmen den empfänglichen Poeten und eifrigen Arbeiter so stark in Anspruch, daß er unwillkürlich den Briefwechsel mit seiner Freundin in Cirey ein wenig vernachlässigte.

Wie nahe ihr dies ging, zeigt ein Brief von ihr an d'Argental vom Februar 1737. Er ist so lang, daß es untunlich ist, ihn unverkürzt anzuführen. Aber kein anderes Dokument zeigt so klar wie dieses den Charakter der Marquise als ein tief und aufrichtig liebendes Weib.

Auf den ersten Seiten versichert sie d'Argental ihres unbedingten Vertrauens. Sie kennt sein Herz. Sie wirft sich vor, daß sie Voltaire habe abreisen lassen, nennt jedoch seinen Namen nicht; aber sie sei der Meinung gewesen, es sei unmöglich, ihn auf Cirey vor der Regierung verborgen zu halten. Sie will nun endlich von d'Argental genau erfahren, unter welchen Formen er dort ungekannt verweilen könnte. Kann er sich unter einem fremden Namen bei ihr aufhalten? Das würde ihm peinlich sein. Wenn aber d'Argental es für nötig hielte, solle es geschehen. Kann er sich auf Cirey selbst aufhalten? Was dafür spricht, ist, daß man just auf dem Schlosse am wenigsten Leute aus der Champagne trifft. Sie findet es überdies schicklicher, daß sie hier beisammen sind als anderwärts. Am besten wäre es, wenn er direkt nach Cirey zurückkehrte. Damit würden keinerlei Ungelegenheiten verbunden sein, es sei denn, daß boshafte Verwandte ihre Drohung ausführten und »den unseligen Brief« an Herrn du Châtelet schrieben. Wenn er nicht in Cirey ist, kann sie seine Aufführung nicht so leicht überwachen und ihm nicht den Abgrund zeigen, der sich unter ihm auftut, sobald er sich nicht vernünftig beträgt. Und nun macht sie der Angst Luft, die ihr gequältes Herz ergriffen hat, der Angst, daß er überhaupt nicht mehr zurückkehre. Man fühlt es heraus; sie hat ihm in ihren Briefen so heftige Vorwürfe gemacht, daß er teils geschwiegen, teils formell und kalt geantwortet hat.

Ich empfange in diesem Augenblick einen Brief, der mich fürchten macht, daß er nicht zurückkehrt; ich bin sehr niedergeschlagen darüber. Ich muß Ihnen nun endlich das Schlimmste anvertrauen: ich fürchte, er fühlt sich weit schuldiger mir gegenüber als dem Ministerium. Wir wollen nun sehen, ob er kommt; aber, ich wiederhole es Ihnen, ich baue nicht darauf, und ich schwöre Ihnen, daß ich es meinen Kräften nicht zutraue, diesen Kummer zu ertragen. Wir verlieren ihn ein für allemal, zweifeln Sie nicht1 Aber wer kann ihn vor seinem eigenen Willen bewahren! Ich habe mir nichts vorzuwerfen; das ist ein Trost, aber ein trauriger. Ich wurde nicht geboren, glücklich zu sein. Ich wage es nicht, etwas von Ihnen zu fordern; aber wagte ich es, so würde ich Sie bitten, noch einen letzten Sturmlauf gegen sein Herz zu versuchen. Schreiben Sie ihm, daß ich sehr krank bin, daß ich es ihn wissen lasse, und daß er mir schuldig ist, zurückzukommen, wenigstens um meinen Tod zu verhindern. Ich versichere Ihnen, es ist im Grunde keine Lüge, wenn ich dies sage; denn ich habe in diesen beiden letzten Tagen Fieber gehabt. Meine Einbildungskraft kann mich töten, wenn dies noch zwei Tage währt.

Ich verdiene weit mehr Teilnahme als je zuvor. Es ist abscheulich, mich über ihn beklagen zu müssen; es ist eine Qual, die ich früher nicht kannte. Wenn Sie noch ein bißchen Mitleid mit mir haben, so schreiben Sie ihm; er wird sich nicht dem aussetzen, vor Ihnen erröten zu müssen. Ich bitte Sie auf den Knien darum.

Er sendet mir die ersten Korrekturen zu diesem unglücklichen Buch Eléments de la Philosophie. Ich sage Ihnen, er denkt nur daran. Aber er wird zugrunde gehen, falls es in Holland erscheint. Muß er zugrunde gehen, so lassen Sie es wenigstens so geschehen, daß er wisse, welcher Gefahr er sich aussetzt. Ich bitte Sie auf meinen Knien, schreiben Sie ihm hart, daß, wenn er nicht nachgeben und nicht zurückkommen will, er rettungslos verloren sei; dies ist mein fester Glaube. Wenn, wie Sie sagen, seines Lebens Glück oder Unglück davon abhängt, ob er sich jetzt vernünftig und vorsichtig beträgt, so darf man ihn keinen Augenblick aus den Augen verlieren.

Wenn Sie seinen letzten Brief gesehen hätten, würden Sie mich nicht streng beurteilen. Dieser Brief ist unterzeichnet und darin nennt er mich Madame. Dies ist ein so seltsamer Unterschied gegen frühere Zeiten, daß mein Kopf geschwindelt hat. Schreiben Sie ihm nach Brüssel!

Herr du Châtelet quält mich, mit ihm zur Hochzeit der Frau Prinzessin (Elisabeth-Therese) nach Lothringen zu gehen; aber ich will nicht. Eine Hochzeit und ein Hof würden mich zur Verzweiflung bringen. Die Stätte, wo ich unseren Freund gesehen habe, ist die einzige, auf der ich wohnen kann.

Der Brief ist noch viel länger und malt die Qual, die Madame du Châtelet darob empfindet, sich so fest an einen Mann geschlossen zu haben, der ihr Alles geworden, für den sie aber nur viel, nicht alles ist, besonders nicht, wenn er auf Reisen war mit »seiner Geliebten, dem Ruhm«, wie Saint-Lambert von Jean Jacques Rousseau sagte.

Die schöne Emilie vermochte sich niemals an sein Fortsein zu gewöhnen. Ein anderes Mal schreibt sie:

Ich bin hundertfünfzig Meilen von unserem Freund entfernt und es sind zwölf Tage, seit ich etwas von ihm gehört habe. Verzeihung, Verzeihung! Aber mein Zustand ist fürchterlich.

Vor vierzehn Tagen vermochte ich nicht ohne Qual zwei Stunden vergehen zu lassen, ohne ihn zu sehen; ich schrieb ihm dann von Zimmer zu Zimmer. Und nun sind vierzehn Tage vergangen, in denen ich nicht weiß, wo er ist und was er treibt; ich habe nicht einmal den traurigen Trost, sein Mißgeschick zu teilen. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie mit meinen Klagen langweile; aber ich bin allzu unglücklich.

Aber ebensowenig wie an seine Abwesenheit, vermochte sie sich an seinen Ehrgeiz, seine Liebe zum Ruhm zu gewöhnen. Sie sah, daß die Berühmtheit seine wirkliche maîtresse en titre, seine Innigstgeliebte war und blieb. Sie begriff aber nicht, daß er sich bloß, um gelesen und bewundert zu werden, sogar von Nichtsachkundigen, handgreiflichsten Gefahren aussetzen wollte. Man lese folgendes höchst bezeichnende Brieffragment:

Wenn ein Freund, den er zwanzig Jahre kennt, ihn um das Manuskript gebeten hätte, würde er ihm diese Bitte abgeschlagen haben; und er sendet es an jemand, den er kaum kennt, einen Fürsten! Warum in aller Welt seine Ruhe abhängig machen von einem anderen und noch dazu ohne Notwendigkeit, aus törichter Eitelkeit (denn ich kann kein anderes Wort statt des richtigen setzen), bloß um seine Metaphysik einem zu zeigen, der sie nicht beurteilen kann und in dem Werke nur die Unvorsichtigkeit sehen wird? Wer so leichtsinnig irgend jemandem sein Geheimnis anvertraut, verdient, daß man ihn verrät. Ich aber, was habe ich ihm getan, daß er mein Lebensglück von diesem Preußen abhängig machen sollte? Ich gestehe es, ich bin außer mir.

Arme Frau! Es war nicht leicht, mit Voltaire unverheiratet verheiratet zu sein, und es ist kein Wunder, daß im Laufe eines Jahrzehnts ihre Gefühle für ihn sich abnutzten, wiewohl keine andere Frau ihn jemals erfüllte oder in seinen Augen nur im geringsten Emiliens Wert verdunkelte.

XIV

Bei jenem Anlaß, da er durch den Titel Madame und durch die Unterzeichnung seines Briefes sie so tief betrübt hatte, gab er jedoch ihrer und d'Argentals Aufforderungen sogleich nach, unterbrach seine Korrekturen an dem Buche über Newton und reiste spornstreichs nach Cirey zurück, wo er auf der Stelle Verzeihung erhielt und – gleich einem sich bedroht fühlenden Insekte – tot lag. Er ließ seine Briefe unter dem Frauennamen Madame d'Azilli dahin adressieren.

Als Herr du Châtelet nach Paris reiste, wo er mit dem Kardinal Fleury zu sprechen hatte, gaben Voltaire und Madame du Châtelet ihm Briefe an den Grafen d'Argental mit. Voltaire schreibt darin:

Ich habe nicht gewagt, Ihnen zu schreiben, seitdem ich neuerdings in Cirey bin, und Sie begreifen, daß ich niemandem geschrieben habe. Ich gestehe Ihnen, wäre es nicht die Freundschaft gewesen, die mich zurückgerufen, so hätte ich gern den Rest meiner Tage in einem Lande verbracht, wo mindestens meine Feinde mir nicht schaden können ... Ich habe in Frankreich nichts anderes zu erwarten als Verfolgungen; sie werden der ganze Lohn sein, den ich dort ernte. Ich würde davor zurückschrecken, auf französischem Boden zu leben, ließe mich nicht die Zärtlichkeit und die großen Eigenschaften des Wesens, das mich hier zurückhält, vergessen, daß ich hier bin ... Ich mache mich freiwillig zum Sklaven, um mit derjenigen zusammen zu leben, in deren Nähe alles andere verschwinden muß ... Ich habe Ihnen immer gesagt, würde mein Vater, mein Bruder oder mein Sohn in einem despotischen Staate Premierminister, so würde ich den Staat Tags darauf verlassen ... Aber Madame du Châtelet ist mir freilich mehr als Vater, Bruder und Sohn.

Madame du Châtelet schrieb aus dem gleichen Anlaß eine lange Epistel, deren Anfang lautet:

Unser Freund sendet Ihnen, mein lieber Freund, einen schwarzen Brief; aber seine Situation ist tatsächlich abscheulich. Sie wissen, daß er heftig fühlt; aber heftig liebt er auch Sie. Ich wage die Verantwortung zu übernehmen, daß er sich vorsichtig benehmen wird, mindestens so lange ich so glücklich bin, mit ihm reden zu können ... Ich glaube, daß die Rückkehr Ihres Freundes ihn aus einer Falle gerettet hat, in welche er mit seiner gewohnten Güte und Zuvorkommenheit eben zu gehen im Begriffe stand. Ich bitte Sie, in Ihren Briefen an mich, die ich ihm zeige, nichts hierüber zu sprechen; aber empfehlen Sie ihm nur beständig, vorsichtig zu sein, Newton in Frankreich drucken zu lassen und die Pucelle mit hundert Schlüsseln versperrt zu halten.

Zwei Töchter der verstorbenen Schwester Voltaires waren vaterlos geworden, und sowohl er wie sein Bruder nahmen sich ihrer an. Voltaire hätte die ältere von ihnen gern mit dem Sohn der Madame de Champbonin verheiratet, einer nahen Verwandten, die er ungemein schätzte und die sich, verwitwet, bei ihm in Cirey ansässig gemacht hatte. Aber das junge Mädchen zog es vor, selbst zu wählen, vermählte sich, wie oben berührt, mit einem jungen Offizier, der Militärintendant (commissaire de guerre) geworden war, und kam als Neuvermählte mit ihrem Manne nach Cirey auf Besuch.

Für den, der Madame du Deffands und Madame Delaunay de Staals gehässige Schilderungen der Marquise du Châtelet kennt, ist es von großem Interesse das Urteil zu lesen, das eine ganz junge Frau, ärgerlich, Voltaire durch seine Verbindung mit der Marquise sich und den Ihrigen entrissen zu sehen, über diese und über Cirey, das Domizil des Oheims, fällt. Die junge Frau schreibt naiv:

Ich bin verzweifelt; ich halte ihn für alle seine Freunde als verloren; er hat sich so gebunden, daß es ihm, wie mir vorkommt, unmöglich wird, seine Ketten zu zerbrechen. Sie wohnen in einer für Menschen erschreckenden Einsamkeit. Cirey liegt vier lieues (2½ Meilen) von jedem bewohnten Platz, in einer Gegend, wo man nur Berge und unbebautes Land sieht. Sie sind von allen ihren Bekannten verlassen und haben fast niemanden aus Paris bei sich.

Das ist das Leben, welches das größte Genie des Jahrhunderts führt – allerdings mit einer Frau, die hochbegabt und sehr schön ist, und die jede erdenkliche Kunst anwendet, um ihn zu verführen.

Es gibt keinen Putz, mit dem sie sich nicht schmückt, sowie keine Stelle in den besten Philosophen, die sie nicht zitiert, um ihm zu gefallen. An nichts wird gespart. Er scheint davon mehr bezaubert als je zuvor. Er hat sich eine schöne Wohnung eingerichtet mit einer Dunkelkammer für physikalische Versuche. Das Theater ist sehr niedlich; aber es wird nicht Komödie gespielt, aus Mangel an Schauspielern. [Bloß neun Monate später schreibt Madame de Graffigny, daß die Bewohner selbst in nur vierundzwanzig Stunden dreiunddreißig Akte, sowohl Tragödie, Komödie wie Oper, geprobt und gespielt haben]. Aber alle umherreisenden Truppen in sechs Meilen Umkreis haben Ordre, sich auf dem Schlosse einzufinden. Man hat das Unmögliche getan, um während unseres Besuches einer von ihnen habhaft zu werden; aber wir haben nur Marionetten gesehen, im übrigen sehr gute. Wir sind glänzend aufgenommen worden.

Wie schon berichtet wurde, unterbrach Voltaire auf Madame du Châtelets Aufforderung die Drucklegung seiner Philosophischen Elemente in Holland in der Hoffnung, die Erlaubnis zur Herausgabe dieses Buches über Newton in Frankreich zu erhalten. Allein der Kanzler, d'Aguesseau, ein gebildeter, jedoch charakterloser Mann, fand es gottlos, Descartes zu kritisieren, der zwar kürzlich in Bann getan, jetzt aber unverletzbar erklärt worden war. Voltaire schrieb: »Augenscheinlich ist es einem armen Franzosen verboten, sich zu der Überzeugung zu bekennen, daß die allgemeine Anziehungskraft bewiesen, daß die Erde an den Polen abgeplattet, daß die Leere des Raums bestätigt und Descartes Wirbel ein Widersinn seien.« Aus Vorsicht und bekannt mit der Unverläßlichkeit der Buchhändler, hatte er Ledet den Schluß seines Manuskriptes vorenthalten, und sich hierdurch vor der Möglichkeit gesichert, daß jener ihm den Streich spielen könnte, das Buch ohne weiteres herauszugeben, wenn die Bewilligung für Frankreich verweigert würde.

Er hatte nicht mit der Schlauheit und Gewinnsucht des Buchhändlers gerechnet. Dieser ließ das Manuskript von einem Mathematiker fertigstellen und gab es heraus, als stamme das Ganze von Voltaires Hand, fügte sogar, um den Verkauf zu erleichtern, auf dem Titelblatt der Aufschrift Eléments de la philosophie de Newton die Worte hinzu: mis à la portée de tout le monde (für jeden Leser faßlich gemacht), die in der spottenden Umstellung des Abbé Desfontaines lauteten: mis à la porte de tout le monde (überall hinausgeschmissen).

Sogar Voltaires ärgste Feinde, die Herausgeber der geistlichen Zeitschrift in Trevoux, sprachen mit Anerkennung von seiner in diesem Werke abermals bekundeten erstaunlichen Fähigkeit, sogar das Schwierigste und Dunkelste taghell zu machen. Sie bemerkten, daß Newton volle siebenundzwanzig Jahre in dem Laden des Buchhändlers, der ihn zu drucken gewagt, begraben gelegen; nun stehe er vom Grabe auf. Newton hatte gemessen, berechnet, gewogen, nicht gesprochen. Tausend englische, deutsche, holländische, russische Gelehrte waren zu ihm in die Tiefe hinabgestiegen, hatten das Dunkel durchdrungen, mit Einsicht verdolmetscht, mit Gelehrsamkeit erläutert, bewundernswerte Arbeiten geliefert. Aber auch diese ausgezeichneten Männer hatten nicht gesprochen, oder sie hatten nur gelehrte Sprache zu Gelehrten gesprochen. Newton war ein Geheimnis geblieben, das die Eingeweihten einander zuflüsterten. Da kam Voltaire, und Newton wurde verstanden; ganz Paris widerhallte von Newton, stammelte Newton, erforschte Newton, lernte Newton kennen.

XV

Zu diesem Zeitpunkt war Voltaire zahlreichen Scherereien und Schikanen ausgesetzt. Der Buchhändler Jore hatte ihm viel Ärger bereitet und war zuletzt so weit gegangen, ihn an seiner Ehre anzugreifen. Endlich bequemte er sich dann, ihn in einem reuigen und demütigen Brief um Vergebung zu bitten und zu erklären, daß er unter dem Einfluß seines Feindes (wohl Abbé Desfontaines), »des Feindes, den Sie ja kennen«, so gehandelt habe. Eine ganz parallele Haltung hatte jener Demoulin beobachtet, der in Voltaires Brot stand und unter dessen Namen er Kornhandel betrieb. Demoulin betrog ihn um 24 000 Livres und hatte noch die Frechheit, ihm, falls er sich darüber beklagte, die »Preisgebung seiner Geheimnisse« anzudrohen. Erst als der Betrüger merkte, daß Voltaire sich nicht einschüchtern lasse, ließ er seine Frau an ihn schreiben und ihn um Verzeihung bitten. Voltaire, der sich den Verlust des Geldes nicht nahegehen ließ, verzichtete auf die Summe, forderte aber mit Festigkeit eine Zuschrift, in welcher Demoulin für seine unverschämten Drohungen Abbitte zu leisten hatte.

Weit mehr als Jores und Demoulins ohnmächtige Verleumdungen erbitterte Voltaire jedoch die Hartnäckigkeit, mit welcher Abbé Desfontaines, dessen Verhältnisse zu ihm bereits einige Male früher berührt wurden, ihn verfolgte.

Desfontaines schrieb anläßlich des Werkes über Newton:

Es wäre lächerlich, wenn ein Philosoph in etwas vorgerückten Jahren die Philosophie aufgäbe, um die Dichtkunst zu pflegen. Aber es kleidet umgekehrt einen Poeten in solchem Alter, dem Vers zu entsagen, um Philosoph zu werden. Es ist schimpflich für einen Greis, Dichter sein zu wollen (Turpe senex vates). Ich bin keiner von denen, die es unvernünftig finden, daß Herr de Voltaire es endlich satt bekommen hat, seine Gedanken zu reimen und seine Worte zu messen und daß er es versucht, seinem Geist einen edeln Aufschwung zu geben, indem er sich zu den Höhen der Philosophie erhebt. Nur ist es schade, daß er sich mit dem Newtonianismus eingelassen hat, der schlechte Physik und von allen guten Denkern in Europa verworfen ist. Man muß überdies geborener Geometer oder Physiker sein, um in Geographie und Physik Glück zu haben, sowie man geborener Dichter sein muß, um auf dem Parnaß Ehren einzuheimsen.

Und er entwickelt weiter: Die ersten Fortschritte, die Voltaire mühsam in der Wissenschaft errungen, hätten ihn mit einer so eiteln Freude erfüllt, daß er sich zugetraut habe, andere zu belehren. Aber er tauge nicht zum Gelehrten und er habe einen Weg eingeschlagen, der nur irreführe.

Wie frech der Abbé in seiner Verfolgungslust wird, zeigt am besten folgender kleine Zug: Er erzählt, Voltaire habe in seinen Eléments Regeln angegeben, um mit einem Zirkel einen Winkel in drei zu teilen; in Wirklichkeit steht in dem Buche kein Wort darüber. Er selbst hat es also gar nicht gelesen, sondern sich vermutlich von irgendeinem Mathematiker foppen lassen.

Endlich verlor Voltaire ihm gegenüber die Geduld und schrieb eine gegen ihn gerichtete kleine Broschüre Le Préservatif, in welcher er die verschiedenen kritischen Schriften des Abbés Punkt für Punkt durchging und etwa dreißig darin begangene Fehler und Irrtümer nachwies. Nicht zufrieden mit dem rein Literarischen, berührte er, um Desfontaine sicherer und tiefer zu treffen, auch dessen persönliches Verhältnis zu ihm, bewog jedoch, da es ihm nicht eben anstand, sich mit einem Desfontaines in eine Fehde einzulassen und er sich überdies aus vielerlei Gründen stets Anonymität sicherte, einen gewissen Chevalier de Mouhy, die Vaterwürde an der Broschüre zu übernehmen, deren Titelblatt Desfontaines zeigte, im Gefängnis zu Bicêtre kniend, durchgebläut von einem Kerl, der nicht eben glimpflich zu Werke ging.

Dieser Ritter von Mouhy, einer der zahlreichen verhungerten literarischen Abenteurer jener Zeit, hatte seit langem von Voltaire Unterstützungen und, für literarische Korrespondenzen, die er dem Dichter zusandte, sogar ein Jahrgeld empfangen. Wie stets in ähnlichen Fällen, war Voltaire auch hier so naiv, seine Urheberschaft für unentdeckt zu halten, wenn er einen Strohmann die Verantwortung übernehmen ließ. Tatsächlich vermochte er sich um so weniger zu decken, als der entscheidende Punkt des Buches keinen Zweifel zuließ, daß Voltaire hinter dem Ganzen stehe.

Der in dem Buche ungenannte Herausgeber sagt im 27. Abschnitt, er habe, da Desfontaines in seinen Observations sur les écrits modernes sich gegen Herrn de Voltaire geäußert und sich eines Briefes gerühmt habe, welchen dieser ihm geschrieben haben sollte, sich die Freiheit genommen, an Herrn de Voltaire selbst zu schreiben, wiewohl er ihn persönlich nicht kenne, und folgende Antwort von ihm erhalten:

Abbé Guyot Desfontaines kenne ich nur daher, daß Herr Thiériot ihn 1724 bei mir einführte als einen Mann, der früher Jesuit gewesen war und folglich Studien gemacht hatte. Ich empfing ihn freundlich, wie ich alle empfange, die sich mit Literatur abgeben. Ich wunderte mich, vierzehn Tage später von ihm einen Brief zu erhalten, datiert aus dem Gefängnis in Bicêtre, wo er eingesperrt saß. Ich erfuhr, daß er drei Monate zuvor in Châtelet wegen desselben Verbrechens verhaftet wurde, dessen er nun angeklagt war ... Ich war so glücklich, damals einige mächtige Freunde zu besitzen, deren mich der Tod nun beraubt hat. Ich eilte, so krank ich war, nach Fontainebleau, um mich ihnen zu Füßen zu werfen; ich drang in sie; ich versuchte allerorten vorzusprechen. Endlich erreichte ich, daß er freigelassen und der Prozeß, in welchem es sich um sein Leben handelte, aufgehoben wurde. Ich verschaffte ihm die Erlaubnis, zu meinem Freund, Herrn Präsidenten de Bernières, aufs Land zu gehen. Er zog mit Herrn Thiériot hinaus. Wissen Sie, was er dort tat? Er schrieb eine Schandschrift gegen mich. Er zeigte sie sogar Herrn Thiériot, der ihn zwang, sie ins Feuer zu werfen. Er bat mich um Verzeihung, behauptete, die Schrift sei entstanden, ehe er in das Gefängnis zu Bicêtre kam. Ich hatte die Schwäche, ihm zu vergeben, und diese Schwäche hat mir einen Todfeind verschafft, der anonyme Briefe an mich geschrieben und zwanzig Schmähschriften gegen mich nach Holland gesandt hat. Dies ist ein Teil von dem, was ich Ihnen von ihm zu sagen habe.

Voltaire hätte hinzufügen können, daß es Desfontaines war, der Le Mondain der Staatsgewalt angezeigt hatte.

Was er hier sagte, war die reine Wahrheit, genügte aber, um Desfontaines zur Raserei zu bringen und wilde Rachegelüste in ihm zu entfachen. Noch in demselben Jahre gab er, anonym wie Voltaire, seine blutig verwundende, lügnerische und schmutzige Antwort La Voltairomanie ou Lettre d'un jeune avocat heraus, die alle Bewohner Cireys in die peinlichste Aufregung versetzen sollte.

Daß Voltaire Le Préservatif schrieb, war sicherlich nicht nach dem Kopf der »göttlichen Emilie«. Es erregte ihren Abscheu, daß er Zeit und Kräfte daran vergeudete, sich mit dem Pack einzulassen, und als er gleichzeitig gegen Desfontaines ein ganzes Schauspiel L'Envieux geschrieben hatte, in welchem Ariston, der Voltaire vorstellt, reichlich edel, und Zoïlin, der Desfontaines vorstellt, allzu ausbündig gemein ist, hatte sie den lebhaften Wunsch, daß es auf dem Théâtre Français nicht aufgeführt werde. Dies geschah auch nicht; es wurde anonym eingereicht und von den Schauspielern zurückgewiesen, die nicht vermuteten, wer der Verfasser sei.

XVI

Desfontaines ist – wenn man Jean Baptiste Rousseau nicht mitrechnet – der erste in der Reihe der professionellen Hasser und Angreifer Voltaires, einer langen Reihe, deren Hauptnamen sind: Fréron, La Beaumelle, Nonotte, aber denen noch Saint-Hyacinthe, Clément (de Dijon) beizufügen wären, nebst vielen anderen.

Die wichtigsten unter ihnen gehören der typischen literarischen Schmarotzerklasse an, die kraft eines unersättlichen Neides sich an irgendeine große Persönlichkeit festsaugen und sich ein Leben lang geistig und buchstäblich von dem Haß gegen sie nähren. Jede stark hervorragende Gestalt ist notwendigerweise vielen zuwider und im Wege. Der Haß gegen sie kann einträglich gemacht werden. Der Neid inspiriert diese Personen, macht sie, so steril sie auch an sich sind, produktiv, zuweilen ein wenig witzig, schenkt ihnen jedesfalls häufig die Bosheit und die Gabe zu karikieren, die einen Schriftsteller vielgelesen machen. Auch nach außen hin schafft der Haß ihnen eine Position; das stets nur wenig urteilsfähige Publikum betrachtet sie als »Gegner« desjenigen, an dem sie schmarotzen, als eine Art Gegenpäpste, also – so unglaublich es klingt – als ihm ebenbürtig.

Die Männer, die als feindlich gesinnte Schmarotzer das Blut Voltaires sogen, waren recht verschiedener Art. Ehre im Leib hatte keiner von ihnen, mit Ausnahme des überzeugten und unwissenden jesuitischen Pedanten Nonotte, dessen Namen Victor Hugo zu einem Wort der Sprache gemacht hat. Am abscheulichsten in seiner grenzenlosen Frechheit war vielleicht La Beaumelle, der Dänemark früher als Frankreich kennen lernte, und der sich in jugendlichem Eigendünkel früher an Holberg vergriff als an Voltaire. Am meisten Kopf hatte derjenige unter ihnen, der durch Voltaires leidenschaftliche Verteidigung am berüchtigtsten wurde: Fréron. Es fehlte ihm nicht an Witz. Er besaß auch als der einzige etwas, was man mit gutem Willen Talent nennen kann. Vor allem hatte er eine Ausdauer ohne gleichen; die Anzahl Bände, die er als Zeitschriftenredakteur herausgab, ist phantastisch, übertrifft sogar die Anzahl der Bücher, die Voltaire geschrieben hat. Nur ist von allem, was Fréron verfaßt hat, nichts zurückgeblieben als einige kritische Bosheiten über Voltaire, die von Fachmännern um seinetwillen gesucht werden. Er wie auch Desfontaines werden nach ihrem Tode lebend erhalten durch den Mann, an dessen Ruhm sie beide schmarotzt haben.

XVII

Guyot Desfontaines wurde 1685 in Rouen geboren, studierte und unterrichtete, wie schon erwähnt, bei den Jesuiten, wurde dessen überdrüssig, suchte und fand Schutz bei dem mächtigen Cardinal von Auvergne. Er war eine Art Hofnarr des Kirchenfürsten, der die Literatur beschützte, und gelangte hierdurch zu einer Stellung als Priester in Thérigny in der Normandie.

Aber das Lesen der Messe machte ihm kein Vergnügen; und er gab sein Amt auf, um in voller Freiheit seinem literarischen Beruf zu folgen. Er schrieb eine Ode über den törichten Gebrauch, den man vom Leben macht, sowie einige schlechte Psalmen und äußerte seinen Überdruß an den französischen Versen.

Gegen den Vers überhaupt hatte auch La Motte sich ausgesprochen und Argumente angeführt, die in der Geschichte der Literatur häufig wiedergekehrt sind. De la Motte nennt die Versifikation eine mechanische und lächerliche Arbeit; alles könne ebenso kräftig und schön in Prosa gesagt werden; was am Vers erfreue, sei einzig und allein die überwundene Schwierigkeit; man könne an der Kunst des Reimeschmieds keine andere Art Vergnügen haben als an der, ein Hirsekorn durch ein Nadelöhr gehen zu lassen.

La Motte selbst hat jedoch die Tragödie Inès de Castro in Versen geschrieben, eine Tragödie, die stürmischen Erfolg hatte, und von der Voltaire sagte, sie sei »eine der interessantesten, die sich auf der Bühne gehalten haben«. Ihre Verse waren freilich, wie zu erwarten stand, wenig harmonisch, und Desfontaines kritisierte das Stück streng. Voltaires Kritik war humoristischer. Als La Motte mit Bezug auf den Oedipe zu ihm sagte: »Das ist das vortrefflichste Thema der Welt; ich muß es in Prosa setzen«, erwiderte Voltaire: »Tun Sie das und ich will dafür Ihre Inès in Verse setzen.«

Wir haben verfolgt, wie Desfontaines Voltaires La Ligue stahl und veröffentlichte, darauf rechnend, daß der Dichter nicht wagen würde, sein Urheberrecht geltend zu machen, und wie er selbstfabrizierte Verse gegen La Motte darin einflocht. Um aber Desfontaines in voller Figur vor sich stehen zu sehen, muß man wissen, daß er in seinem im Gefängnis geschriebenen Pamphlet kaltblütig die ausfällige Art und Weise tadelte, mit der der heilige Ludwig, der doch die Güte selbst war, in der Dichtung über Pradon, also über de la Motte sprach usw., – in den Versen nämlich, die Desfontaines selbst eingeschmuggelt hatte.

Desfontaines hatte soeben Frankreichs älteste kritische Zeitschrift Journal des Savants übernommen, als er, wie schon erzählt wurde, das Mißgeschick hatte, einen Schornsteinfegerjungen mit einem Amor zu verwechseln, ertappt wurde und dem Tode auf dem Scheiterhaufen sehr nahe stand. Man fühlt den ganzen Abstand zwischen der Betrachtung krankhafter geschlechtlicher Erscheinungen im achtzehnten Jahrhundert und der Anschauung des modernen Humanismus nicht bloß an der Härte der Strafe selbst, sondern auch an der Art, wie die damalige Literatur diese billigte, ja sogar so natürlich und vernünftig fand, daß sie Witz und Scherz damit trieb. Man lese bloß zwei Epigramme von Jean Baptiste Rousseau. Eines beginnt:

En un marché passaient avec maint sbirre
Deux Florentins que pour crime on brûla,
Crime galant tel que l'aurez pu lire
Du beau Catulle et de Caligula.

Ein anderes beginnt:

Un vieux paillard qu'à Rome on accusait
De pratiquer l'amour antiphysique
Vit à Paris un prestre qu'on cuisait
Pour mesme cas dans la place publique.

Und beide endigen mit Späßen, die schwer wiederzugeben sind. In dem letzteren Gedicht wird betont, das, was in Paris ein Verbrechen genannt werde, sei eine Sache, aus der in Rom niemand ein Wesen machte.

Wir haben gesehen, daß der Holzstoß Desfontaines gewiß war, als Voltaire ihn rettete und es erlangte, daß die Todesstrafe mit einer unbedeutenden Verbannung vertauscht wurde.

Desfontaines schrieb an ihn:

Ich werde niemals vergessen, wie unendlich ich Ihnen verpflichtet bin. Ihr gutes Herz ist noch mehr wert als Ihr Geist, und Sie sind der tätigste Freund, der jemals existiert hat. Der Eifer, mit welchem Sie mir geholfen, ehrt mich gewissermaßen mehr, als die Bosheit und Abscheulichkeit meiner Feinde mir durch die unwürdige Behandlung, die ich erleiden mußte, Schande bereitet hat.

Und er bittet Voltaire gleich in einer Sache, noch die Hilfe, die er ihm hat angedeihen lassen, zu ergänzen: indem er die Aufhebung der lettre de cachet erwirkt, welche Desfontaines 30 Lieues (18 Meilen) weit von Paris verbannt.

Voltaires Gutherzigkeit ging so weit, daß er noch ein Gesuch um Aufhebung der Verbannung schrieb. Als die Sache sich in die Länge zog, verschaffte er Desfontaines sogar die Erlaubnis, auf dem Lande bei dem Präsidenten de Bernières Aufenthalt zu nehmen, und setzte seine Bemühungen fort, ihm Paris wieder zu öffnen.

Es war denn sozusagen unter den Augen Madame de Bernières und Thiériots, daß Desfontaines das in Bicêtre begonnene Pamphlet vollendete, dessen Titel war: Apologie de Voltaire adressée à lui-même.

Voltaire hat es nie vor Augen bekommen. Das geht mit größter Klarheit aus dem Umstande hervor, daß Voltaire in große Verlegenheit gebracht wurde durch die freche Antwort Desfontaines aus dem Jahre 1739: »Wenn eine Schrift aus diesem Jahr existiert, so beweisen Sie es!« Er wußte sich auf nichts zu berufen, als auf Thiériots frühere Aussage, die dieser feig zu leugnen versuchte.

Indessen stand, was Voltaire nicht ahnte, die ganze »vor Thiériots Augen verbrannte« Broschüre gedruckt in La Bibliothèque Française vom Juli-August 1725; sie ist dort vom Mai datiert. Es ist darin von der ersten und zweiten Aufführung der Mariamne Voltaires die Rede und von der Wiederholung der Aufführung im April, was genau stimmt; denn es war Ende April, daß Desfontaines in Bicêtre eingesperrt wurde. Die Imprimatur für sein nächstes gegen Voltaire gerichtetes Pamphlet: Vérités littéraires sur la tragédie d'Hérode et de Mariamne, adressées à M. de Voltaire wurde im September 1725 geschrieben, also nicht einmal volle drei Monate, nachdem Voltaire ihm das Leben gerettet hatte.

In der Apologie spricht Desfontaines von der großen Subskriptionsausgabe der Henriade, die lange in Aussicht gestellt worden war, aber sich verspätet hatte, und von den beiden Ausgaben von 1723 und 1724. Er hat die abenteuerliche Frechheit, sich folgendermaßen zu Voltaire zu äußern:

Wissen Sie, mein Herr, daß das Publikum aufgehört hat, über die beiden übereilt und heimlich veranstalteten Ausgaben Ihrer Dichtung zu murren und beinahe Ihr Vorgehen billigt, in der Hoffnung, dieser kleine pekuniäre Betrug werde eines schönen Tages dem Publikum selbst zugute kommen, sowie er für den Augenblick Ihnen zum Vorteil gereicht. Nichtsdestoweniger gibt es jetzt wie immer übelgesinnte Menschen, die die Sache von der kriminellen Seite auffassen und Sie erbarmungslos als Schwindler bezeichnen, indem sie behaupten, daß Sie dieselbe Sache mehrmals verkaufen.

Das Wundervolle daran ist, daß die Ausgabe von 1724 ohne Voltaires Wissen erschien, und daß es niemand anderes als Abbé Desfontaines war, der sie zu seinem eigenen Vorteil heimlich in Evreux oder in Troyes drucken ließ.

Dies wurde schon von dem Redakteur der Bibliothèque Française entdeckt. Dieser schrieb: »Der Verfasser zielt insbesondere auf eine Ausgabe der Dichtung, die in Duodez unter dem Namen Jean Frédéric Bernard in Amsterdam erschien, wiewohl sie in Troyes gedruckt wurde. Sonderbar ist, daß Abbé Desfontaines, der seinen Befreier des Schwindels anklagt, selbst diese Ausgabe kolportiert hat. Man kann das einen Trick nennen, der reichlich nach der Normandie schmeckt.«

Wie erwähnt, warf Desfontaines Voltaire vor, die Verse geschrieben zu haben, die er selbst in die Henriade eingeflochten hatte. Sein Ton war, was die Henriade betraf, überhaupt der einer moralischen Überlegenheit. Er tadelt z. B. die Eile, mit der Gabrielle d'Estrées in der Dichtung Heinrich dem Vierten ihre Gunst geschenkt hat.

Im übrigen wälzte er die Verantwortung für die Schrift auf einen Abbé Pellegrin und ließ diesen sich über die wenig erfolgreichen Aufführungen seiner Theaterstücke damit trösten, daß dasselbe auch Voltaire passiert sei.

Desfontaines Abenteuer waren unterdessen bekannt geworden und man dachte daran, ihm die Leitung des Journal des Savants zu entziehen. Er bewog zwar den Polizeipräsidenten, einen Brief an den Herausgeber der Zeitschrift, Abbé Bignon, zu schreiben, sah aber selbst ein, daß es klüger wäre, die Redaktion aufzugeben, und gab nun seinen Dictionnaire néologique heraus, in welchem er sich über diejenigen lustig macht, die neue Worte einführten. Viele dieser damals seltsam klingenden Worte sind jedoch später ganz alltäglich geworden, z. B.: frivolité, popularité, scélératesse, insolite, inattaquable. Er griff hier angesehene Schriftsteller wie Fontenelle, La Motte, Montesquieu, Voltaire an.

Voltaire hatte, wie bereits erzählt wurde, all diesen Vorfällen zu Trotz, während seines Aufenthalts in England Desfontaines eine Übersetzungsarbeit anvertraut, in welcher dieser die Kuchen, die die Trojaner verzehrten, mit Cacus' nagendem Hunger wiedergab. Mag es dahingehen, daß er cakes als Cacus auffaßte; aber geradezu phantastisch ist es, wenn er statt Trojaner Kühe des Cyclopen setzt. Mehr Aufmerksamkeit hat er eben auf seine Übersetzerarbeit nicht verwendet.

Voltaire verbessert die Fehler und druckte vorläufig die Abhandlung nach seiner Henriade. Da klagte Desfontaines ihn an, ihn seines Eigentums beraubt zu haben, und von Stund an »fühlte er sich durch Bande der Dankbarkeit nicht mehr so gefesselt, daß er darüber seine Pflichten als Journalist vernachlässigen durfte«. Er bezichtigte z. B. in seiner neuen kritischen Zeitschrift Observations sur les écrits modernes Voltaire der Pietätlosigkeit gegenüber Campistron, behauptend, Voltaire habe in einer Broschüre über Ines de Castro den alten Dramatiker den armen Campistron genannt. Diese Broschüre war indessen gar nicht von Voltaire geschrieben und dieser rechtfertigte sich mit aller Mäßigung.

Ein zweites Mal rettete Voltaire (wie oben berührt) Desfontaines vor Gefängnisstrafe, die ihm drohte, weil er in der Vorrede eines Buches über den Prozeß Père Girards und der schönen Cadière die directeurs de conscience und die Parlamente mit Ironie behandelte

Nichtsdestoweniger blieb sein Verhalten Voltaire gegenüber weiterhin das eines Menschen, der ihm nichts zu danken hatte. Er griff in Observations critiques sur le Temple du goût das Gedicht über den Tempel des Geschmacks an. Voltaire antwortete ihm ohne Namensnennung, aber vernichtend in seinem Discours sur l'Envie:

Cent fois plus malheureux et plus infâme encore
Est ce fripier d'écrits que l'interêt dévore,
Qui vend au plus offrant son encre et ses fureurs,
Méprisable en son goût, détestable en ses mœurs ...
Chacun, avec mépris, se détourne de toi;
Tout fuit jusqu'aux enfants, et l'on sait trop pourquoi.

Allwöchentlich gab Desfontaines seine Observations über die neuerschienenen Bücher heraus, und von nun an lobte er Voltaire nie mehr. Seine ersten Angriffe waren dem Dichter um so peinlicher gewesen, als er sich gleichzeitig von einer lettre de cachet bedroht sah, falls sein Temple du goût nicht »nach einem neuen Plan aufgebaut würde.«

Desfontaines deutete an, daß es Voltaires Bestreben sei, die berühmtesten Schriftsteller herunterzureißen, um sich selbst als einzig vollkommenen Autor zu behaupten: ein sinnloses Gewäsch, da Voltaires Kritiken der Älteren zwar frei, aber ehrerbietig sind. Nur J. B. Rousseau wurde mit Schärfe behandelt, was Desfontaines verdroß. Voltaire hatte Pamphlete verurteilt. Desfontaines bemerkt, wenn Rousseau ein Beispiel eines Pamphlets nennen wolle, so seien es die Aussprüche über ihn in der französischen Ausgabe des Temple du goût (die in der holländischen waren nicht persönlich, sondern reine Kritik).

In einem Brief an Cideville (vom 20. September 1735) schreibt Voltaire, grimmig scherzend: »Ich bereue, ihn aus Bicêtre herausgeholt und vom Grève-Platz befreit zu haben. Zu guterletzt ist es besser, einen Geistlichen zu verbrennen, als ihm Erlaubnis zu verschaffen, die Leute zu langweilen.«

Zu gleicher Zeit, da La Mort de César von Schülern aufgeführt wurde, kam das Stück, ebenfalls ohne Voltaires Wissen und Einwilligung, in Druck, und zwar mit zahlreichen Fehlern. Desfontaines schrieb eine herabsetzende Kritik darüber, die seine Bildungsstufe verrät: er macht Voltaire in vollem Ernst den Vorwurf, daß alle Personen darin Du zueinander sagen, als seien sie einander gleichgestellt, ja daß sogar Brutus Du zu Cäsar sagt, den er doch für seinen Vater hält und also höfisch behandeln muß: allerdings will er ihn ermorden. Desfontaines scheint zu glauben, daß die Römer das Sie kannten. Über Brutus schreibt er: »Dieser Römer, der mehr Quäker als Stoiker ist (er weiß offenbar nicht, daß die Quäker niemals Waffen tragen), hegt eher ungeheuerliche als heldenmütige Gefühle.« Plan, Gang, Dialog, Stil, Gedanken, behauptet er, seien von der Art des englischen Theaters. Nichts darin war im geringsten englisch.

Zum Erstaunen des Lesers führt Desfontaines sodann einen Brief an, den er behauptet, von Voltaire empfangen zu haben. Er ist datiert aus Cirey, nächst Vassy in der Champagne, 7. September 1735; der Verfasser habe ihm darin seine Absicht mit Jules César erklärt, einer Tragödie, in welcher keine Frauen vorkommen und von keiner anderen Liebe die Rede ist, als von der zum Vaterlande, einem Stücke also, das nicht für das große Publikum geschrieben sei. In diesem Briefe bittet Voltaire ihn, wenn er das Stück rezensiere, ausdrücklich zu bemerken, daß es ohne sein Wissen und Willen mit zahllosen Fehlern und mit von fremder Hand eingeflochtenen Versen in Druck gekommen sei. Er schreibt sogar: »Das ist nicht mein Werk.«

Desfontaines mißbraucht hier auf schändliche Weise das – übrigens sehr unvernünftige – Vertrauen des Dichters. Er unterdrückt in diesem Brief eine Stelle, wo Voltaire ihn bittet, dieses Schreiben als Geheimnis zu bewahren; Desfontaines veröffentlichte also zuerst die Kritik, welche zu verhindern der Brief bezweckte, und hierauf den Brief selbst mit der Auslassung, die seine Handlungsweise notwendig machte. Äußerst nahe ging es Voltaire überdies, seinen Aufenthalt, den er so sorgfältig zu verbergen bestrebt war, hier schwarz auf weiß preisgegeben zu sehen: Teils mußte er nun mehr als zuvor Beunruhigungen durch die Polizei befürchten, teils konnte der Name seiner Geliebten nun in seine literarischen Fehden hineingemischt werden.

Voltaire versuchte durch Thiériot Desfontaines zu veranlassen, seine Kritik zurückzunehmen. In einem der folgenden Hefte der Observations äußert sich denn dieser dahin, als seien die angegebenen Fälschungen in Jules César bewiesen worden.

Gegen Kritik empfindlich, wie Voltaire immer war, ließ er sich soweit herab, Desfontaines aufs neue zu schreiben, und dieser unwürdige Versuch, den Schurken durch Schmeichelei zu entwaffnen und zu gewinnen, mutet geradezu peinlich an: er bittet sogar, ihn wissen zu lassen, welche Fehler Desfontaines und dessen Freunde an seinen Werken fänden, damit er diese in der neu vorbereiteten Auflage verbessern könne.

Eben dann brach aber Desfontaines den Waffenstillstand. Graf Algarotti stand im Begriff, in Verein mit Maupertuis, Clairaut und einigen anderen nach Lappland zu reisen, um zu untersuchen, ob die Erde an den Polen flachgedrückt sei oder nicht, und Voltaire schrieb ihm zum Abschied eine vertrauliche Epistel, deren Abschrift dank dem Leichtsinn, mit welchem man damals wertvolle Briefe behandelte, in Desfontaines Hände fiel. Er wünschte, das Gedicht zu veröffentlichen. Voltaire weigerte sich leidenschaftlich, seine Zustimmung zu geben. Desfontaines tat es dennoch. Am Schlusse dieser Epistel hatte Voltaire jedoch seiner Emilie auf eine Art gehuldigt, die in einem öffentlichen Dokument nicht schicklich war:

Allez donc, et du pôle observé, mesuré,
Revenez aux Français apporter des nouvelles.
Cependant je vous attendrai,
Tranquille admirateur de votre astronomie,
Sous mon méridien, dans les champs de Cirey,
N'observant désormais que l'astre d'Emilie.
Echauffé par le feu de son puissant génie,
Et par sa lumière éclairé,
Sur ma lyre je chanterai
Son âme universelle autant qu'elle est unique;
Et j'atteste les cieux, mesurés par vos mains,
Que j'abandonnerais pour ses charmes divins
L'Equateur et le pôle arctique.

Die Art, wie die körperliche Schönheit der schönen Emilie hier vor der Öffentlichkeit gepriesen wurde, als sei diese Schönheit ein Besitz, den der Dichter nicht um den Preis aller Kenntnisse vom Äquator und vom Pol aufgeben wollte, empörte Herrn du Châtelet ebenso sehr wie seine Frau. Sie standen beide im Begriff, an den Schatzkammerkanzler zu schreiben, als der Umstand, daß Desfontaines von einer viel größeren Gefahr bedroht wurde, sie edelmütig von ihrer Anklage zurücktreten ließ.

Es war die französische Akademie, die mit ihrem ganzen Gewicht über den Pamphletisten herfiel. In einer unterschobenen Rede eines Abbé Ségui standen scharfe Anzüglichkeiten auf die Akademie, welche Desfontaines zugeschrieben wurden, zwar erklärte Desfontaines in einem der Akademie vorgelesenen Brief, auf seine Ehre, er habe keinen Anteil an der Schmähschrift; als er aber richterlich verhört wurde, mußte er die Autorschaft bekennen; er hatte die Broschüre um drei Louisdors dem Buchhändler Ribou verkauft.

Voltaire, der die Akademie nicht liebte, da sie ihn nicht unter ihre Mitglieder aufgenommen hatte, war der Ansicht, daß Desfontaines gute Gründe habe, sie zu verspotten. Als er aber erfuhr, daß Defontaines in Gefahr stehe, verhaftet zu werden und vielleicht als Galeerensklave zu enden, schrieb er am 29. Januar 1736 aus Cirey an den Abbé Asselin: »Ich höre, daß Abbé Desfontaines unglücklich ist, und darum verzeihe ich ihm. Wenn Sie wissen, wo er ist, so schicken Sie ihn mir. Ich könnte ihm Dienste erweisen, und er aus dieser Rache lernen, daß er mich nicht hätte verhöhnen sollen.«

Kurz zuvor hatte er in der Ode Über die Undankbarkeit an Richelieu folgende barsche und beißende Verse über Desfontaines geschrieben:

C'est Desfontaines, c'est ce prêtre,
Venu de Sodome à Bicêtre,
De Bicêtre au sacré vallon,
A-t-il l'espérance bizarre
Que le bûcher qu'on lui prépare
Soit fait des lauriers d'Apollon?
Il m'a dû l'honneur et la vie,
Et dans son ingrate furie,
De Rousseau lâche imitateur,
Avec moins d'art et plus d'audace
De la fange où sa voix coasse
Il outrage son bienfaiteur.

Desfontaines gewann mit Hilfe mächtiger Beschützer seine Freiheit wieder. Und als der Freigelassene von Voltaires Tragödie Alzire, die auf der Bühne soviel Erfolg gehabt hatte, mit Wärme und Bewunderung sprach, ließ Voltaire vorläufig die Strophen über Desfontaines in seiner Ode fort. Bald aber merkte er, daß der Abbé in seinem Artikel nur das wiedergegeben, was er »die öffentliche Meinung über das Stück« nannte und sich sein persönliches Urteil vorbehalten hatte. Nun wußte er, daß sein Feind nach wie vor Böses im Sinne führe.

Desfontaines Urteil über Voltaires Drama L'Enfant prodigue war wohl ziemlich ungünstig, aber mäßig gehalten: »Mitten unter all den Mängeln, die dem Kenner auffallen, bahnt doch das seltene und ausgezeichnete Genie sich seinen Weg«. Er bemerkt übrigens, was Voltaires Anonymität betrifft, unschuldig und richtig: »Er macht es wie der Strauß, der den Kopf unter die Flügel steckt. Ganz Paris erkennt ihn als Verfasser von L'Enfant prodigue.« Doch zu gleicher Zeit, da Desfontaines sich solcherart hütete, den Haß zu verraten, der ihm in der Seele brannte, zwang er ihn durch seine Denunziation als Verfasser von Le Mondain von seiner Zufluchtsstätte in Cirey zu flüchten.

Hier sind wir bei dem Punkte angelangt, wo wir den Gang der Erzählung unterbrachen, um Desfontaines Vorgeschichte im Zusammenhang darzustellen. Es folgte dessen ebenso höhnische wie alberne Abfertigung des Buches über Newton, die anonyme Herausgabe der Broschüre Le Préservatif, und Desfontaines' ebenso anonyme Streitschrift La Voltairomanie, eine Sammlung der gröbsten Injurien, verflochten mit den geschicktesten Lügen.

XVIII

Die Schrift beginnt mit der Mitteilung des als Autor geltenden jungen Advokaten an das Publikum, daß Abbé Desfontaines allzu entschlossen sei, die Mäßigung und Milde zu bewahren, die er bisher Voltaire gegenüber an den Tag gelegt, als daß er sich bequemen könnte, auf dessen gehässiges und infames Pamphlet einzugehen. Er habe die Antwort dem jungen Advokaten überlassen, der seine schwachen Kräfte bisher bloß vor den Schranken erprobt, aber den die gute Sache gewappnet habe, gegen einen frechen Skribenten aufzutreten, welchem nichts heilig sei, weder Sittlichkeit, noch Schicklichkeit, weder Wahrheit noch Religion. Voltaire sei durch seine eigene Unwissenheit und seinen Unverstand wieder und wieder bloßgestellt worden. Abbé Desfontaines, an dem er sich zu vergreifen gewagt, sei ein Ehrenmann und ein großer Schriftsteller. Voltaires Henriade sei ein Chaos, mit mehr Sprachfehlern, als das Buch Seiten habe; sein Karl XII. sei ein schlechter Roman, von einem konfusen Ignoranten geschrieben, der einen bürgerlichen Klatschschwesternton anschlage; seine Elemente von Newtons Philosophie der Entwurf eines Schuljungen, der in seiner tiefen Unwissenheit bei jedem Schritt stolpere – das Buch habe seinen eingebildeten Verfasser ebenso in Frankreich wie in England zum Gespött gemacht; seine Philosophischen Briefe endlich, die freche Äußerungen über die Religion enthalten, seien einem weisen Parlamentsurteil zufolge verurteilt worden, vom Henker verbrannt zu werden.

Der Advokat fährt fort: Darum hat das Leben dieses Autors mit Recht aus einer Reihe von Bastonnaden bestanden. Zuerst erhielt er, schon während der Regentschaft, eine gerechte Züchtigung, indem er in Sèvres verhauen wurde. Dann folgte die berühmte Durchbläuung vor Sullys Palais. Noch eine Bastonnade fand in London statt, wo ein englischer Buchhändler ihn so verprügelte (dies ist freie Phantasie), daß er leidenschaftlich um die gnädige Erlaubnis ansuchen mußte, nach Frankreich zurückkehren zu dürfen.

Es sei, meint der Advokat, unglaublich, daß Voltaire eine schimpfliche Beschuldigung gegen Desfontaines aufzuwärmen wage, deren Lügenhaftigkeit er einmal selbst in einer Eingabe dargetan habe (freie Phantasie). Diese Eingabe habe der selige Präsident de Bernières ihn schreiben geheißen, ein Mann, der zwar nicht Voltaires Freund war – wie konnte ein Mann wie er, auch der Freund des Enkels eines Bauern sein! (freie Phantasie) – aber ein großer Herr, welcher Voltaire aus Güte für einige Zeit einen Platz in seinem Haus überließ, ihn indessen vor die Tür setzte, als er sich im Jahre 1726 bei einem Zusammentreffen mit dem Herzog von Rohan in der Loge der Adrienne Lecouvreur unverschämt gegen den Herzog benahm.

Desfontaines leugnet durch den Mund des Advokaten bestimmt, in Bicêtre gegen Voltaire geschrieben zu haben. Über Thiériot bemerkt er:

Herr Thiériot ist ein Mann, der von ehrlichen Leuten ebenso geachtet, wie Voltaire von ihnen verabscheut wird. Er schleppt, gegen seinen Willen, noch an den Resten alter Freundschaftsbande, deren er sich schämt, aber die ganz zu zerreißen er bisher noch keine Kraft gefunden hat. Man hat Herrn Thiériots Zeugnis angerufen und ihn gefragt, ob die Geschichte wahr sei, und Herr Thiériot war genötigt zu antworten, daß er nichts davon wisse. Wir setzen also Voltaire das Messer an die Kehle: der Landaufenthalt bei Herrn Präsidenten de Bernières fällt in die Ferien des Jahres 1725. Gibt es ein in diesem Jahre gedrucktes Pamphlet gegen Voltaire, so zeige er es! Antwortet er, Abbé Desfontaines selbst habe es ins Feuer geworfen, so möge er Zeugen anführen! Denn so viel ist sicher, daß man Voltaire nicht auf sein bloßes Wort glaubt. Herr Thiériot, sagt er, verpflichtete Desfontaines, die Schrift ins Feuer zu werfen. Und Herr Thiériot selbst erklärt die Geschichte für falsch. Herr Voltaire ist also das dreisteste und verrückteste Lügenmaul, das je existiert hat.

XIX

Madame du Châtelet erwies sich bei dieser Gelegenheit als ebenso zärtliche wie tapfere Freundin. Wie wir aus ihren Briefen an d'Argental sehen, war sie fest entschlossen, die Schmähschrift vor Voltaire geheimzuhalten, fürchtend, der Anblick des Pasquills könnte seine Ruhe stören und seine Gesundheit angreifen. Andererseits war es unmöglich, dieses unbeantwortet zu lassen. Es ging absolut nicht an, daß Voltaire sich auf Thiériot berief und dieser ihn dann im Stiche ließ. In dieser peinlichen Lage hatte sie selbst eine Entgegnung verfaßt, die wie sie sich schmeichelte, mit größerer Mäßigung – wenn auch mit weniger Geist – geschrieben war, als Voltaire es vermocht hätte. (Liest man, was sie geschrieben, so fällt einem übrigens die Mäßigung nicht eben als das Hervorstechendste daran auf.) In einem Privatbrief an d'Argental sagt sie bezeichnend:

Meine größte Wut, das gestehe ich, gilt Thiériot und es gibt nichts, was ich nicht täte, um ihn zu der Erklärung zu zwingen, die er in gleichem Maße seines Freundes Ehre und seiner eigenen schuldet. Ich habe ihm bereits mit meiner besten Tinte geschrieben, und gibt er Herrn de Voltaire jetzt nicht eine unbedingt befriedigende Satisfaktion, so verfolge ich ihn bis ans Ende der Welt, um diese zu erhalten.

Es hatte sich unterdessen die zugleich drollige und rührende Situation ergeben, daß, während die schöne Emilie alles tat, um ihrem Freund die Existenz des Pamphlets zu verheimlichen, dieser es längst in die Hände bekommen und gelesen hatte, ohne seinerseits ein Wort darüber verlauten zu lassen, damit sie sich die Sache nicht zu nahe gehen lasse. Höchst natürlich faßte sie diese seine Rücksicht auf ihre Gemütsruhe als Zeichen seiner Unkenntnis auf.

Wie erwähnt, meinten beide sich an Thiériot wenden zu müssen, um den Beweis von der Existenz jenes (angeblich) verbrannten Pamphlets zu erbringen; hatte doch Thiériot erst während seines letzten Besuchs in Cirey sich des Weiten und Breiten mit aller erdenklichen Entrüstung über den Vorfall ausgelassen, die, wie er sah, von den Anwesenden vollauf geteilt wurde! Jetzt antwortete er der Marquise so lau, daß sie in Feuer und Flamme stand. Er schrieb, er sei in letzter Zeit wieder und wieder über den wahren Sachverhalt eines gewissen Umstandes (daß er den Abbé gezwungen habe, das Pamphlet zu verbrennen), ausgefragt worden; seine Antwort habe gelautet, daß er sich der Tatsache erinnere, daß aber die Umstände, unter denen sie vorsichging, ihm entfallen seien, so daß er unmöglich über sie Rechenschaft geben könne; und nach Verlauf so vieler Jahre sei dies ja nicht verwunderlich. Alles, dessen er sich entsinne, sei, daß bei Bernières die Rede von einer gegen Voltaire gerichteten Schrift gewesen sei, einem Heft von 40-50 Seiten, das Desfontaines ihm zeigte und das zu verbrennen Thiériot ihn aufforderte. Wann diese Schrift entstanden sei und welchen Titel sie führte, versichere er auf seine Ehre, vollständig vergessen zu haben.

Man spürt aus dieser Antwort Thiériots feigen Versuch heraus, sich weder mit Desfontaines noch mit Voltaire zu überwerfen.

Mit der grenzenlosen Langmut seines liebreichen Herzens vermochte Voltaire auch jetzt noch nicht, Thiériot zu zürnen. Er flehte ihn in den beweglichsten Ausdrücken an, nicht etwa mit Desfontaines zu brechen, sondern bloß einen anderen und wärmeren Brief an Madame du Châtelet zu schreiben:

Im Namen unserer Freundschaft, schreiben Sie ihr etwas, was ihr Herz gut stimmen kann. Sie kennen die Festigkeit und Großmut ihres Charakters; sie betrachtet die Freundschaft als ein so heiliges Band, daß das kleinste bißchen Politik in der Freundschaft ihr als ein Verbrechen erscheint ... Anscheinend zurückzuweichen, seine Aussagen zurückzunehmen, ist in ihren Augen eine Beleidigung. Und ist es nicht eine Beleidigung, sich für einen Freund nicht in einen Streit einmengen zu wollen? Ist es nicht eine noch größere, mitten in der Schlacht zu fliehen? Freunde, die ich zwei Tage kenne, brennen darauf, mich zu verteidigen, und Sie lassen mich im Stich, Sie, ein Freund, den ich fünfundzwanzig Jahre besessen habe! ... Aber, mein Freund, lebt man denn nur, um gut zu Abend zu speisen? Lebt man nur für sich selbst? Ist es nicht schön, seinen Geschmack und seine Herzenswahl zu rechtfertigen, indem man seinen Freund rechtfertigt?

In kräftigem Gegensatz zu Thiériots erbärmlichem Auskneifen stand bei dieser Gelegenheit Madame de Bernières' Betragen. In den entschiedensten und bestimmtesten Ausdrücken äußert sie in einem zur Veröffentlichung bestimmten Brief, daß alle Behauptungen über Voltaires Stellung in ihrem Hause Lüge und Erfindung seien. Er sei nicht im Hause geduldet, sondern vielmehr ein vertrauter Freund und täglicher Genosse gewesen. Auch habe er die Gastfreundschaft der Familie nicht ohne Entgelt annehmen wollen, sondern habe für seine und Thiériots Wohnung gezahlt.

Höchst interessant für die Situation auf Cirey wie für die geistig freie Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts von dem unveräußerlichen Verfügungsrecht des Individuums über sich, ist die Art und Weise, wie der männlichste Charakter auf Cirey, der Ehemann der schönen Emilie, Marquis von Châtelet, nun eingriff, zuerst Thiériot, etwas später Desfontaines gegenüber, den er allein in die Knie zu zwingen verstand.

Man muß sich zurückrufen, wie tief Thiériot Voltaire verpflichtet war. Der Verkauf der Lettres Philosophiques hatte ihm seinerzeit mehr als 200 Guineen eingebracht; er hatte den ganzen Betrag, den er für die Subskription der Henriade einnahm, heimlich aufgezehrt, Geld, das Voltaire den Subskribenten zurückerstatten mußte, als das Buch verboten wurde. Noch im Jahre zuvor (1738) hatte Voltaire ihm fünfzig Louisdors in den Koffer getan, als er von Cirey nach Paris zurückfuhr. Und er, der mit Desfontaines verkehrte, erlaubte diesem ohne Protest, Voltaire der Unredlichkeit bei der Herausgabe der Henriade anzuklagen, wiewohl er wußte, daß es hier nur zwei Menschen gab, die gegaunert hatten, Desfontaines und er selbst.

Der Marquis von Châtelet war kein großer Stilist; aber er war ein Mann. Er schrieb aus Cirey (10. Januar 1739) an Thiériot:

Mein Herr, die außerordentliche Freundschaft, die ich für Herrn de Voltaire hege, sowie auch die Freundschaft, die er, wie ich weiß, für Sie hegt, und von der er Ihnen wesentliche Beweise gegeben hat, treibt mich, von Ihnen zu fordern, was Sie der Freundschaft und Wahrheit schuldig sind. Die Briefe, die ich von Ihnen gesehen habe, in welchen Sie von dem Pamphlet sprechen, das Abbé Desfontaines Ihnen bei dem Präsidenten de Bernières, in Rivière-Bourdet, zeigte, verbieten mir zu glauben, daß Sie irgendwelchen Anteil an dem haben können, was über diese Sache in einem neuen Pamphlet, betitelt La Voltairomanie erzählt wird. Da aber dieses Pamphlet Herrn de Voltaires Ehre an anderen wesentlichen Punkten angreift, so sind die Briefe, von denen ich spreche, nicht genügend, um das zu erfüllen, was Sie der Wahrheit und Herrn de Voltaire schulden; und ich bin überzeugt, Sie werden ohne Schwanken tun, was die Gesetze der Gesellschaft und die Pflicht ehrlicher Männer von Ihnen verlangen. Es ist also notwendig, daß Sie mir gütigst einen Brief schreiben, der ungefähr dem beigelegten Entwurf entspricht. Sie wissen, daß dieser Entwurf nur die genaue Wahrheit enthält, und ich überlasse es Ihrem Eifer, alles hinzuzufügen, was Ihr Herz und die Dankbarkeit, die ich an Ihnen beobachtet habe, Ihnen noch diktieren werden. Sie sind mehr als irgendein anderer verpflichtet, den guten Namen des Mannes zu verteidigen, den Abbé Desfontaines der Raubgier anklagt, der aber, wie Sie wohl wissen, sein Leben damit verbracht hat, seine Freunde durch Geschenke zu erfreuen, so daß er wegen seiner Freigebigkeit ebenso bekannt ist, wie wegen seiner Werke.

Was das Dementi betrifft, das man ihm in Ihrem Namen gegeben hat, so ist es zunichte gemacht durch den Druck der Briefe, die Herr de Voltaire von Ihnen besitzt. Diese werden in einem sehr verständigen Memorandum eingeflochten werden, das erscheinen wird und das, dem Kanzler einzusenden und zu veröffentlichen, alle seine Freunde, unter die zu zählen ich mir zur Ehre anrechne, ihm geraten haben. Abgesehen von dem Ansehen, das eine männliche und von der Freundschaft geforderte Haltung Ihnen eintragen wird, wird sie Ihnen überdies die vollständige Achtung dessen verschaffen, der sich nennt, mein Herr,

Ihr ergebener und gehorsamer Diener Châtelet.

Die Voltairomanie hatte in Paris stürmischen Erfolg. Obwohl die Schrift in Holland heimlich gedruckt worden war, wurden 2000 Exemplare in zwei Wochen verkauft. In Privatkreisen leugnete Desfontaines seine Autorschaft nicht; er las die Schrift seinen Freunden vor, darunter verschiedenen Freunden Voltaires, die – wie es ja geht – zugleich die seinigen waren. So Abbé Prévost, ja sogar Algarotti.

Der angebliche Advokat, der als der offizielle Urheber der Schrift galt, machte ihm keine Sorge, da er nicht existierte. Dagegen war Voltaires Stellung zu dem vorgeblichen Verfasser seiner Broschüre nicht so bequem. Dieser existierte nämlich in Fleisch und Blut. Herr de Mouhy, der ihm den Dienst als Strohmann geleistet und viel Geld an der Broschüre verdient hatte, unterzog Voltaire um den Preis seiner Verschwiegenheit einer regulären Gelderpressung, und ließ sich den geringfügigsten Schritt, den er anläßlich der Schrift getan hatte, bezahlen, bis zu den zwölf Franken, die ihn, wie er behauptete, die Eingabe der Klage an die Polizei gekostet hatte, – eine Sache, die für jedermann kostenlos war.

Mouhy und Abbé Moussinot, Voltaires ständiger Kommissionär, beschworen ihn übrigens, endlich persönlich nach Paris zu kommen, um die Angelegenheit mit Kraft zu betreiben. Aber abgesehen von der Gefahr, mit welcher ein Aufenthalt in der Hauptstadt für ihn verbunden war, scheint auch Clairauts Anwesenheit in Cirey seine Eifersucht erregt und für ihn einen weiteren Grund gebildet zu haben, in Cirey zu bleiben. Als Madame du Châtelet und Clairaut sich eines Tages trotz wiederholter Aufforderungen nicht bei der Abendmahlzeit einfanden, weil sie, in die Lösung einer mathematischen Aufgabe vertieft, sich eingeschlossen hatten, um ungestört zu bleiben, war Voltaire in seiner Erbitterung zu ihnen hinübergestürmt und hatte mit einem Fußtritt die versperrte Türe gesprengt.

Er besaß nicht die nötige Gemütsruhe, um einen jungen Nebenbuhler auf dem Platze zurückzulassen.

Es geht nirgends hervor, daß Thiériot sich schließlich aus seiner erbärmlichen Reserve hat heraustreiben lassen. Die Briefe, die er schrieb, sandte Madame du Châtelet ihm zurück, desgleichen seine Antwort auf ihres Mannes Brief, die so unbefriedigend war, daß sie fürchten mußte, der Marquis werde nach Paris fahren und ihn fordern. Herr du Châtelet bekam also dieses Schreiben gar nicht zu sehen.

Desfontaines wurde zu dem Polizeipräsidenten gerufen; als dieser aber den in Le Préservatif eingeflochtenen, für Desfontaines so ehrenrührigen Brief Voltaires las, bezeigte er keine Lust, einzugreifen. Er bot Desfontaines an, sich wegen La Voltairomanie zu entschuldigen, falls Voltaire das Gleiche mit Le Préservatif täte.

Aber Madame du Châtelets Stolz empörte sich gegen diese Parallele.

Um dem Gezänk ein Ende zu machen, reiste der Marquis nach Paris, ging geradenwegs zu Desfontaines hinauf und erzwang von ihm folgende Erklärung:

Ich mache hiermit bekannt, daß ich nicht der Verfasser eines La Voltairomanie betitelten Pamphletes bin, daß ich dieses ganz und gar mißbillige, alles, was darin Herrn de Voltaire zur Last gelegt wird, als Verleumdung betrachte, und daß ich mich für entehrt halten würde, wenn ich nur den geringsten Anteil an dieser Schrift hätte, da ich für Herrn de Voltaire die Gefühle der Ehrerbietung hege, die seinen Talenten gebühren und die das Publikum ihm mit so gutem Grund entgegenbringt.

XX

Von nun an ging es mit Desfontaines abwärts. Seine Zeitschrift Observations wurde unter Aufsicht gestellt und zensuriert, und stand bei dem geringsten persönlichen Ausfall in Gefahr, unterdrückt zu werden; sie wurde daher notwendigerweise immer farbloser und langweiliger.

Allein, gleich allen Skandalschreibern gezwungen, irgend etwas Aufsehenerregendes zu unternehmen, wählte er als Opfer einen Abbé Gourné, Prior in Taverny, der 1741 das erste Heft einer Géographie méthodique herausgegeben hatte. Desfontaines fand sein Vergnügen daran, dieses Werk in zwei, drei Artikeln herunterzureißen. Aber hier kam er an den Unrechten. Der Prior fand sich durchaus nicht in sein Schicksal: er schrieb gegen seinen Angreifer, behauptete, Desfontaines habe von Pariser Buchhändlern Geld dafür bekommen, die Geographie des Priors durchfallen zu lassen, und legte Desfontaines folgende Worte in den Mund:

Ich könnte die Herausgabe Ihres Werkes mit größter Leichtigkeit einstellen lassen – eine Sache, die doch für Sie von Wichtigkeit ist. Aber ich achte Sie und möchte Sie gern mir verpflichten. Nur müssen Sie mir ein wenig helfen. Ich bin lange Zeit Jesuit gewesen; aber habe ich auch verschiedenes in dieser Schule gelernt, so besitze ich doch keine Spur von Religiosität. Ich lebe von meiner Feder und bin als Kritiker die Geißel der Autoren. Weh' dem, der mir nicht zu Gefallen schreibt!

Der Prior glaubte, Desfontaines ein Exemplar seines Werkes überlassen zu müssen. Dieser forderte jedoch außer dem ersten noch sechs andere Exemplare, vier Louisdors und dazu ein Manuskript, das die Geschichte der Reims-Kathedrale enthielt. Als Entgelt wollte er dann die Geographie auf Kosten aller anderen Geographien herausstreichen. Für die folgenden Hefte wollte er sich dann mit einem Louisdor und seinen sieben Exemplaren begnügen: »Ich bin, wie Sie sehen, nicht kostspielig und behandle Sie als Freund.«

Gourné weigerte sich. Da verabredete sich Desfontaines mit drei Buchhändlern (in unserer Sprache: Verlegern), die alle verbreiten sollten, Gournés Geographie finde keine Käufer. Behauptete der Prior sodann das Gegenteil und führte an, daß er viele Exemplare verkauft habe und verkaufe, so sollte man ihn wegen Übertretung der für den Buchhandel gültigen Gesetze belangen.

Da Gourné dies alles vor die Öffentlichkeit brachte, klagte Desfontaines bei der Polizei. Es erfolgte eine Hausdurchsuchung beim Prior und dessen Verhaftung. Gourné erhob nun die Klage beim Parlament; aber gleichzeitig belangte Desfontaines ihn beim Gerichtshof in Châtelet. Der Prior erwirkte jedoch einen Parlamentsbeschluß, der diesem Gerichtshof den Prozeß untersagte. Die Sache kam also nicht vors Gericht; und im Oktober 1743 wurde Desfontaines das Privilegium zur Herausgabe der Observations sur les écrits modernes entzogen.

Insoweit war Voltaire gerächt; allerdings waren die Behörden nicht seinetwegen eingeschritten, sondern der Französischen Akademie zuliebe, die Desfontaines ein zweites Mal herausgefordert hatte, indem er als Vorrede seiner Übersetzung des Vergil schrieb: »Es verletzt mehr, einen hochmütigen Haufen Menschen ohne Verdienste lobpreisen zu hören, als Augustus von Ovid und Vergil als Gott behandelt zu sehen.«

Diese allgemeingehaltene und vage Zeile, diese Bagatelle machte, der Rede hinzugefügt, in welcher Desfontaines sieben Jahre zuvor unter einem Decknamen die Akademie verhöhnt hatte, den Becher überfließen. Prior Gourné lieferte nur den Vorwand, wiewohl er in seiner Hartnäckigkeit sein Opfer weiter mit blumigem Hohn zu verfolgen fortfuhr.

Desfontaines gab sich nicht vollständig verloren. Er begann eine neue Zeitschrift Jugements sur les ouvrages nouveaux. Aber nun hatte er einen Maulkorb angelegt bekommen.

1745 erkrankte er an einer Lungenentzündung, die in Wassersucht überging. Er bereute seine Sünden und starb.

Er war einer von denen, die der Ruhm anderer grämt: ein mißgünstiger, undankbarer Pedant.

XXI

Madame du Châtelet war sicherlich größer und selbständiger veranlagt als die meisten Frauen ihrer Zeit und der Nachwelt. Es war nichts in ihr von der systematischen Prüderie des tristen neunzehnten Jahrhunderts und von der Heuchelei seines guten Tons. Dennoch kann man sie keineswegs eine für das achtzehnte Jahrhundert typische Erscheinung nennen. Sie war wohl weiblich gefallsüchtig, aber ohne alle Koketterie, sowie im Grunde ohne Grazie, und sie war zwar eine Frau, die in einer einzigen großen Leidenschaft aufgehen konnte, aber nicht im Geiste des Zeitalters, nicht heimlich wie Mademoiselle de l'Espinasse oder rührend wie Mademoiselle d'Aïssé, sondern mit einer Offenheit, die in den Augen einzelner etwas Schamloses hatte.

Die schöne Emilie war in ihrer Geistesrichtung und ihrem Gedankengang, in ihrer Gelehrtheit wie in ihrem Sinn für die Natur in deren nackter Herrlichkeit näher verwandt mit italienischen Frauen aus dem Jahre 1500 als mit anderen französischen von 1740.

Wie gewisse vornehme Damen der Renaissance war sie schamlos, ohne irgendwie unkeusch zu sein. Es genierte sie nicht, sich unbekleidet vor einem Lakai sehen zu lassen; sie betrachtete ihn nicht als Mann im Verhältnis zu ihr selbst als Weib.

Voltaires späterer Sekretär, Madame du Châtelets Kammerdiener, S. G. Longchamp, erzählt in seinen Memoiren, wie er seinen Dienst bei ihr antrat, und was sie ihm zu tun gab; seine Schwester, die durch mehrere Jahre ihre Kammerjungfer gewesen, hatte ihm den Platz verschafft. Am ersten Morgen, da er zusammen mit seiner Schwester in das Schlafzimmer der Marquise trat, ließ Madame du Châtelet die Bettgardinen beiseite ziehen und stand auf:

Während meine Schwester ein Hemd hervorholte, ließ die gnädige Frau, die sich mir gegenüber befand, ihr Hemd vor die Füße hinabgleiten und stand da, nackt wie eine Marmorstatue. Ich war verblüfft und wagte nicht den Blick auf sie zu richten, obwohl ich, am Hof von Lothringen erzogen, mehr als einmal in der Lage gewesen war, Frauen ihr Hemd wechseln zu sehen; allerdings nicht auf solche Art. Sobald die gnädige Frau angekleidet war, bestellte sie ihre Abendmahlzeit (sie speiste nur einmal des Tages), bei welcher bloß zwei Personen zugegen sein sollten, der Herzog von Richelieu und Herr de Voltaire ... Einige Tage später klingelte sie, während sie im Bade lag; meine Schwester war anderwärts beschäftigt und nicht zugegen. Madame du Châtelet sagte mir, ich solle einen Kessel kochenden Wassers nehmen, der auf dem Feuer stand, und davon in ihr Bad gießen; es sei zu kalt geworden. Als ich mich näherte, sah ich, daß keine Essenz in das Badewasser gemengt worden war, denn es war vollkommen klar und durchsichtig. Die Dame entfernte die Beine voneinander, damit ich das kochende Wasser, das ich brachte, leichter und ohne ihr Schaden zu tun, in die Wanne gießen könnte. Als ich ihren Befehl auszuführen begann, fiel mein Blick auf das, was ich zu sehen nicht gesucht hatte. Voll Scham und, so weit möglich, mit abgewendetem Kopf stehend, hatte ich das Mißgeschick, mit der Hand zu zittern und das Wasser aufs Geratewohl in die Wanne zu gießen. So passen Sie doch auf! sagte sie heftig mit starker Stimme. Sie verbrennen mich ja! Ich war also genötigt, genau und länger zuzusehen, als ich es gewollt hätte ... Ich war bei den weiblichen Herrschaften, bei denen ich früher gedient hatte, an solche Ungezwungenheit nicht gewohnt gewesen.

Sicherlich hat sich im Altertum Hypatia, so gelehrt und vorurteilsfrei sie auch war, einem Sklaven gegenüber zurückhaltender gezeigt. Es gab eine gewisse Scham bei einer denkenden Griechin im alten Aegypten wie im alten Hellas, die man unter dem Scheinklassizismus des achtzehnten Jahrhunderts eingebüßt hatte.

Hypatia kannte Homer und Platon, aber nicht Mathematik und Physik; Madame du Châtelet stand nicht unter dem mildernden Einfluß der Griechen, beherrschte dagegen vollständig die mathematische Erkenntnis ihrer Zeit, obwohl sie niemals im Gesellschaftsleben von ihren mathematischen Fähigkeiten sprach, sie nur bisweilen beim Spieltisch gebrauchte, um die sich gelegentlich hier bietenden arithmetischen Aufgaben zu lösen, – was sie allerdings nicht hinderte, an einem Unglücksabend in Fontainebleau am Spieltisch der Königin ein Vermögen zu verlieren.

XXII

Es wurde bereits in der Ouverture bemerkt, daß Voltaires Eléments de la philosophie de Newton kein Auszug aus Newtons Principia, sondern eine selbständige Entwicklung seiner Entdeckungen in Optik und Astronomie seien. Das Werk wurde sogleich im Jahre 1738 der Madame la Marquise du Châtelet mit einem Gedicht und einem kürzeren Brief zugeeignet. Die Widmung wurde im Jahre 1741 erweitert und geändert und 1745 von der umfangreicheren und gewichtigeren Epistel abgelöst, die mit den begeisterten Worten beginnt:

Madame!

Als ich zum erstenmal Ihren angesehenen Namen an die Spitze dieser Philosophischen Elemente setzte, studierte ich gemeinsam mit Ihnen. Seit jener Zeit haben Sie einen so hohen Flug genommen, daß ich nicht mehr folgen kann. Ich bin jetzt in derselben Situation wie ein Grammatiker, der einen Versuch in der Redekunst dem Demosthenes oder Cicero überbringen will. Ich biete einfache Elemente derjenigen, die alle Tiefen der transzendenten Geometrie durchdrungen und als Einzige unter uns Newton übersetzt und erklärt hat. Dieser Philosoph gewann bei Lebzeiten all die Ehre, die er verdiente; er erregte keinen Neid, weil er keinen Nebenbuhler hatte. Die gelehrte Welt war seine Jüngerin; die übrigen Menschen bewunderten ihn, ohne Anspruch zu erheben, ihn zu fassen. Aber die Ehre, die Sie ihm erweisen, ist zweifellos die größte, die ihm je zuteil geworden.

Das Werk, welches Sachkundige sowohl damals wie später wegen seiner ungemein durchsichtigen Darstellung schwerzugänglicher philosophischer, physikalischer und astronomischer Wahrheiten so hoch schätzten, wird von einer Metaphysik eingeleitet, deren erste deistische Kapitel seinerzeit wohlgeeignet, dem Buche einen Weg zu bahnen, heutzutage von der Lektüre zunächst abschrecken. Sie enthalten in der Tat nichts anderes als reine Theologie, die heutigentags so gründlich veraltete, vermeintlich rationelle Theologie des achtzehnten Jahrhunderts, die von wissenschaftlichem Gedankengang ebenso entblößt war wie die spekulativen Dogmen des neunzehnten Jahrhunderts. Ab und zu verspürt man zwar auch hier helle Blitze von Voltaireschem Scharfsinn; so in den Betrachtungen über Willensfreiheit. Aber erst da, wo er mit eindringlicher Klarheit Newtons Entdeckungen in der Optik und Physik beleuchtet, steht er auf seiner Höhe als Lichtbringer und Erzieher. Er popularisiert hier die neuen Ideen, das Gesetz von der Schwere, die allgemeine Anziehungskraft, die Brechbarkeit der Lichtstrahlen und bekämpft die Irrtümer seiner Zeit.

Allein er begnügt sich nicht damit, bei der Darstellung der Grundgedanken anderer Forscher stehen zu bleiben.

Eine von Descartes' kühnen, wenn auch unbewiesenen Ideen war die gewesen, daß Gott die Summe der Bewegungen und die Menge der Materie im Weltall unverändert bewahre.

Es war die schon von Epikur entworfene von der Erhaltung der Kraft, die hier wieder auftauchte, jene Lehre, die heute der Menschheit in der Form eingeprägt worden ist, daß alles, Feuer und Farben so gut wie Muskelkraft, Fahren und Gletscherschreiten wie Stimmenklang nur verwandeltes Sonnenlicht sind.

An den Streitigkeiten, die der cartesianische Einfall hervorrief, nahm auch Voltaire Teil. Descartes hatte den Fehler begangen, die Größe der Bewegung der mit der Geschwindigkeit multiplizierten Masse gleichzusetzen, da er sich für die Beständigkeit der Bewegungssumme der Welt aussprach. Leibniz verbesserte 1686 diesen Fehler, indem er an Stelle der Geschwindigkeit die die Geschwindigkeit erzeugende Fallhöhe: also das Quadrat der Geschwindigkeit setzte.

Seitdem blieben die Mathematiker in zwei Lager geteilt, verteidigten teils Descartes', teils Leibniz' Kraftmaß. Erst im Jahre 1743 machte D'Alembert dem Streit ein Ende.

Newton selbst hatte am Schlusse seiner Optik Cartesius' Maß als richtig angenommen, aber dessen Lehre von der Unveränderlichkeit der Bewegungssumme verworfen, ohne der Leibnizschen Veränderung dieser Theorie Erwähnung zu tun.

Wie wir gesehen haben, dachte Madame du Châtelet selbständig genug, um sich für Leibniz' Verbesserung der cartesianischen Lehre zu erklären, obwohl sie in allem anderen durchweg Newtons Schülerin war.

Voltaire nahm in seiner Abhandlung über dieses Buch Exposition du livre des institutions physiques 1740 Partei für Descartes gegen Leibniz und entwickelte in seiner zweiten Abhandlung Doutes sur la mesure des forces motrices genauer die Gründe, warum er die Lehre von der Erhaltung der Energie verwarf, Gründe, die dazumal vom wissenschaftlichen Standpunkt aus schwierig zu widerlegen waren, heute aber nur historisches Interesse haben.

In der Anzeige des Buches seiner Freundin Madame du Châtelet sowie in dem metaphysischen Kapitel, das das Werk über Newton einleitet, spricht Voltaire eine Sprache, die für unsere Ohren rein theologisch klingt. In der Metaphysik sagt er: »Wenn die Materie dem Gesetz der Schwere folgt, wie bewiesen ist, so folgt sie diesem Gesetz nicht aus ihrer Natur heraus: Sie hat die Schwere von Gott empfangen. Wenn die Planeten sich in der einen Richtung bewegen und nicht in der anderen, so hat des Schöpfers Hand mit unbedingter Freiheit ihren Lauf in einer bestimmten Richtung gelenkt.«

Hier gibt Voltaire Newtons Denkungsart als begeisterter Schüler wieder.

Gegenüber dieser theologischen Behauptung von der unbedingten Freiheit des Schöpfers, die Bewegung geschehen zu lassen, wie es ihm beliebt, betont Leibniz, es gebe keine Erscheinung in der Natur, die ohne einen Beweggrund bloß ein Produkt des Zufalls oder des höchsten Willens sei. Er stellt daher das Prinzip von dem hinreichenden Grund auf, dem Madame du Châtelet sich in ihren Institutions angeschlossen hat. Als gläubiger Newtonianer protestiert Voltaire gegen das Prinzip von dem hinreichenden Grund mit folgendem, nicht überzeugenden Argument: »Ich denke, daß Leibniz selbst verlegen geworden wäre, wenn jemand ihn gefragt hätte, warum die Planeten sich von West nach Ost drehen und nicht in umgekehrter Richtung; warum dieser oder jener Stern just diesen Platz am Himmel einnimmt usw.«

Da Madame du Châtelet hier auch dem von Leibniz am Ende seiner Laufbahn in seiner Théodicée entwickelten Optimismus zugestimmt hatte, bemerkt Voltaire, mit einem Kompliment an die Verfasserin, über diese Lehre, die er in Candide so blutig verspotten sollte: »Sie glaubt mit Leibniz, daß Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, und liefert, ohne daran zu denken, selbst den Beweis, welch treffliche Wesen er geschaffen hat.« Am auffallendsten in dieser Anzeige, die sich um die höchsten und schwierigsten philosophischen Fragen dreht, ist die unbefangene Naivität, mit der Voltaire an den gesunden Menschenverstand als an die höchste Instanz appelliert, in Fragen wie denen über das Entstehen der Zeit- und Raumvorstellungen, in welchen die Entscheidung des gesunden Menschenverstandes so wenig bedeutet, wie das Zeugnis des Sehvermögens in der Frage, ob die Sonne wirklich morgens aufgeht.

Descartes hatte seine Lehre theologisch damit gestützt, daß es zu Gottes Vollkommenheit gehöre, nicht bloß selbst beständig zu sein, sondern auf so konstante und unveränderliche Art wie möglich zu wirken. Voltaire fragte, warum es denn weniger zu Gottes Wesen gehören solle, die Beschaffenheit und Form aller Wesen so zu bewahren, als die Energie unverändert aufrecht zu erhalten. So verkannte dieser Zweifelgeist, der von seinem allzu blinden Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand ausging, die ersten Strahlen einer Idee, die im folgenden Jahrhundert gleich einer Sonne emporstieg (Robert v. Mayer, Helmholtz, Colding), bis im zwanzigsten die Natur des Radiums sie aufs neue in Frage stellte.

In Cirey wurde nach der Abendmahlzeit zwischen der schönen Emilie, Voltaire, Maupertuis und Clairaut das Problem von der Erhaltung der Kraft erörtert, bis die Wachskerzen tief in die Leuchter hinabbrannten.

XXIII

Daß zwischen diesem Problem und dem Problem von der Wärme eine Beziehung bestehen müsse, erkannte man zu jener Zeit recht wohl, indem man fragte, woher die Kraft käme, wenn aus einem Funken ein Brand entstände.

Voltaire hatte sich stets von dem rätselhaften Wesen des Feuers angezogen gefühlt. Selbst Feuer, schien ihm das Feuer die Allnatur zu umspannen, alles zu gebären, zu erneuern, zu teilen, zu vereinen, zu nähren. Er schrieb auf Lateinisch folgendes schöne Distichon darüber:

Ignis ubique latet, naturam amplectitur omnem,
Cuncta parit, renovat, dividit, unit, alit.

Die Akademie der Wissenschaften in Paris setzte eine Preisaufgabe für das Jahr 1738 aus: Wesen und Verbreitung des Feuers.

Voltaire brannte vor Lust, die Kenntnisse, die er unter seinen eifrigen naturwissenschaftlichen Versuchen und Studien auf Cirey gesammelt hatte, auf eine Art und Weise anzuwenden, welche die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Schon im vorhergehenden Jahre hatte er sich durch Maupertuis Auskunft zu verschaffen versucht, welche Preisaufgabe die Akademie der Wissenschaften für das folgende Jahr ausschreiben würde: ein Freund von ihm interessiere sich dafür. Als die gestellte Frage so gut mit seinen Studien und Experimenten stimmte, machte er sich rasch an die Beantwortung.

Er besaß in Cirey einen physikalischen Apparat und die chemischen Hilfsmittel jener Zeit, hatte hier ein Laboratorium und eine Dunkelkammer aufführen lassen. Er war der erste, der einen von Newton nur angedeuteten Versuch ausführte, indem er sich überzeugte, daß die totale Reflexion in einem Prisma nicht aufhört, wenn das Glas, statt von Luft, von Luftleere begrenzt ist. J'en ai fait l'expérience; j'ai fait enchâsser un excellent prisme dans le milieu d'une platine de cuivre; j'ai appliqué cette platine au haut d'un récipient ouvert, posé sur la machine pneumatique; j'ai fait porter la machine dans ma chambre obscure. Là, recevant la lumière par un trou sur le prisme, et la fesant tomber à l'angle requis, je pompai l'air très longtemps; ceux qui étaient présents virent qu'à mesure qu'on pompait l'air, il passait moins de lumière dans le récipient, et qu'enfin il n'en passa prèsque plus du tout. C'était un spectacle très agréable de voir cette lumière se réflechir par le prisme, tout entière au plancher.
L'expérience démontre donc que la lumière, en ce cas, rejaillit du vide; mais on sait bien que ce vide ne peut avoir d'action. Que peut on donc conclure de cette expérience? deux choses très palpables: la première, que la surface des solides ne renvoie pas la lumière; la seconde, qu'il y a dans les corps solides un pouvoir inconnu qui agit sur la lumière; et c'est cette seconde propriété que nous examinerons à sa place.

Nun versuchte er das Wesen der Wärme zu erforschen. Er ging experimentierend zu Werke und bediente sich der Hilfsmittel, die man damals besaß, vor allem einer Wage, dann eines Réaumurschen Thermometers, und eines Musschenbroekschen Pyrometers (nicht eines modernen Hitzemessers, sondern einer Meßstange, durch welche sich beobachten ließ, wie sich die erhitzten Körper ausdehnten). Zu dieser Zeit waren die Ansichten über die Möglichkeit, die Wärme zu wägen, noch geteilt.

Boerhave hatte glühendes Eisen und kaltes Eisen gleich schwer befunden. Duclos und Homberg hatten einen bei Verkalkung der Metalle entstehenden Zuwachs an Gewicht gefunden, den Boerhave nur durch das Abschabsel von dem zum Umrühren verwendeten Spachtel zu erklären vermochte.

Voltaire nahm seine Versuche in einer Eisenhütte vor. Wie Boerhave es vorgeschrieben hatte, ersetzte er die Stricke, an welchen die Wagschalen hingen, durch Ketten, die nicht wie die Stricke dem Austrocknen unterlagen, und wog dann bis zu hundert Pfund Eisen, geschmolzen und hart; bis zu zweitausend Pfund Eisen, glühend und kalt. Er wiederholte in größerem Maßstab alle Versuche Boerhaves.

Nach vielem Zweifeln fand er zuletzt, daß die Wärme nicht zu wägen sei. Da er sie aber für gleichartig mit dem Lichte hielt, das Newtons Lehre nach von den Körpern angezogen wurde, so ließ er es dahin stehen, ob nicht dennoch der Wärme ein äußerst geringes Gewicht zukäme, das sich eben durch Versuche nicht nachweisen ließe.

Mit einem Blick für das Richtige, der ihn seiner Zeit weit voranstellte, erklärte er die durch Verkalkung entstehende Gewichtszunahme daraus, daß aus der Luft ein Stoff aufgenommen wurde. Die Luft war für ihn kein Element, sondern eine Mischung von Dämpfen. Boerhave hatte das anscheinend geringere Gewicht der heißen Massen durch das Trockenwerden der Stricke erklärt; an die aufsteigenden Luftströme hatte er nicht gedacht.

Voltaire betont, daß die Wärme ihre Wirkungen durch Bewegung ausübt. Sie gleicht die Anziehung der Teilchen aus, bedingt den fließenden Zustand, teilt der Luft Elektrizität mit, sprengt Körper durch die allzu große Heftigkeit der Bewegung. Die Versuche in bezug auf Mitteilung der Wärme stellte Voltaire so an, daß er die Zeiten maß, innerhalb welcher verschiedene Körper durch dieselbe Wärmequelle bestimmte Temperaturen annahmen. Von der damals erreichten wissenschaftlichen Einsicht aus konnte dies zu nichts führen. Aber indem er eine heiße Eisenplatte zwischen zwei kalte legte und nachwies, wie diese sich bei jeglicher Stellung der Platten auf gleiche Art erwärmten, widerlegte er den Aberglauben, daß die Wärme nach aufwärts strebe.

Sogar über das Fortschreiten des Waldbrandes stellte er Versuche im großen Stil an, so kostspielig sie auch waren.

Am merkwürdigsten jedoch – wie schon in der Ouverture berührt – war seine Beobachtung, daß dieselben Mengen verschiedenartiger Flüssigkeiten, wie Öl, Wasser, Essig von verschiedener Temperatur, wenn man sie mischte, nicht die Durchschnittstemperatur annehmen.

Sowie Voltaire in weiterer Verfolgung seiner Ideen bezüglich der Verkalkung der Metalle und der zusammengesetzten Beschaffenheit der Luft den Sauerstoff hätte entdecken müssen, so stand er hier dicht vor der Entdeckung der spezifischen Wärme der Körper. Diese Voltaires Untersuchungen zu einer Zeit, da – wie Condorcet und nach ihm Dubois-Reymond bemerkten – die Chemie in Frankreich noch nicht einmal in das Stadium eingetreten war, wo man an den Feuerstoff (Flogistan) glaubte, haben ihm die höchste Achtung der modernen Naturforscher erworben.

XXIV

Die Marquise von Châtelet nahm an der Konkurrenz teil, ohne daß Voltaire etwas davon ahnte. In einem Brief an Maupertuis vom 21. Juni 1738 beklagt sie sich zuerst, daß er nach seiner Vaterstadt Saint-Malo gegangen sei statt nach Cirey, wo sie fest gehofft hatte, ihn zu sehen, und wo er den ersehnten Frieden gefunden hätte; denn hier habe während der letzten drei Jahre Frieden geherrscht; hier hätte er abwechselnd die Einsamkeit und die Gesellschaft zweier Menschen genießen können, die ihn bewunderten und liebten, so wie er es verdiente. Dann folgt nach einer Auseinandersetzung, wie gut er zu Friedrich dem Großen passen würde, den er ja auch später zu Voltairens Ärgernis so ganz für sich gewann, folgende Mitteilung:

Ich denke mir, Sie waren sehr verwundert, daß ich die Kühnheit hatte, eine Abhandlung für die Akademie zu komponieren. Ich wollte meine Kräfte inkognito erproben; denn ich schmeichelte mir, für immer unbekannt zu bleiben. Herr du Châtelet war der einzige Eingeweihte und er hat mein Geheimnis so gut bewahrt, daß er Ihnen in Paris nichts davon gesagt hat. Ich habe kein Experiment machen können, weil ich ohne Herrn de Voltaires Wissen arbeitete und ich es sonst nicht vor ihm verborgen hätte. Ich kam erst auf den Einfall einen Monat, bevor die Abhandlungen eingesandt werden sollten; ich konnte nur des Nachts arbeiten, und ich war auf diesem Gebiete ganz unerfahren. Das Werk Voltaires, das fast beendet war, ehe ich das meinige begann, gab mir die Ideen und die Lust zu einem Wettlauf auf derselben Bahn. Ich begann zu arbeiten, ohne zu wissen, ob ich meine Abhandlung einsenden würde, und ich sagte Herrn de Voltaire nichts, weil ich nicht vor ihm eines Unternehmens wegen erröten wollte, das, wie ich fürchtete, ihm mißfallen würde, um so mehr, als ich fast alle seine Ideen in meiner Arbeit bekämpfte. Ich gestand es ihm erst, als ich aus der Zeitung ersah, daß weder er noch ich einen Anteil an dem Preise erhalten hatte. Es schien mir, als würde eine Niederlage, die ich mit ihm teilte, ehrenvoll. Ich habe später erfahren, daß sowohl seine wie meine Arbeit unter denen gewesen, die zur Konkurrenz zugelassen wurden. Daß Sie sie demnach lesen würden, war ein Gedanke, der meinen Mut belebte.

Statt mir mein Schweigen übel zu nehmen, hat Herr de Voltaire nur daran gedacht, mir zu nützen, und da er mit meiner Arbeit recht zufrieden war, erwies er mir die Güte, sich deren Drucklegung anzunehmen. Ich hoffe diese ins Werk zu setzen, insbesondere wenn Sie ein Wort an Herrn Dufay und Herrn de Réaumur schreiben wollten. Herr de Voltaire hat an beide geschrieben. Herr de Réaumur hat mit ausgesuchter Höflichkeit geantwortet ... Ich wundere mich nicht, daß Herrn des Voltaires Abhandlung Ihnen gefallen hat; sie ist reich an Scharfblick, an Untersuchungen und lehrreichen Experimenten. Es ist nichts dieser Art in der meinen und es ist ganz natürlich, daß Sie keine Vorstellung von ihr haben. Vielleicht erinnern Sie sich ihrer, falls Sie sie gelesen haben, wenn ich Ihnen sage, daß es die Abhandlung war, die Nummer Sechs hatte und in der dargestellt wird, daß das Feuer nichts wiegt, daß es möglicherweise ein Wesen ganz eigener Art ist, weder Geist noch Stoff, wie der Raum, dessen Existenz auch als bewiesen gelten kann, weder Geist noch Stoff ist.

Der Preis wurde zwischen drei anderen Bewerbern geteilt, unter welchen sich ein mathematisches Genie befand, der damals 31jährige Euler. Sowohl die Marquise wie Voltaire erhielten ehrenvolle Besprechungen, und die Akademie ließ ihre Arbeiten nach den drei preisgekrönten abdrucken. Aber obgleich sich unter den Richtern Männer wie Réaumur und Dufay befanden, zeigte die fortschreitende Wissenschaft bald, daß Voltaire eher als selbst Euler den Preis verdient hätte und weit eher als die beiden anderen Belohnten. Der eine von ihnen, der Jesuit Lozeran de Fiesc glaubte an die cartesianischen Wirbel im Feuer; für ihn bestand die Wärme aus flüchtigen und wesentlichen Salzen, Schwefel, Luft, Ätherstoff, Teilchen von Wasser, Erde und Metall. Cartesianer gleich Fiesc war der dritte Preisgekrönte, ein Graf Créquy, und da die Akademie cartesianisch war, ließ sich der Erfolg der beiden Sieger leicht erklären.

Euler war als junger Mann hier nicht weniger spekulativ als seine beiden Genossen. Seiner Vorstellung nach enthielten brennbare Körper in ihren Teilchen einen Feuerstoff, so wie in kleinen Glasblasen stark zusammengepreßte Luft war. Sprang eine kleine Blase, so verpflanzte sich durch den Stoß der herausgelassenen Luft die Bewegung weiter von Blase zu Blase.

Am Schlusse seiner Abhandlung teilte Euler eine Formel für die Wellengeschwindigkeit elastischer Medien mit, eine Formel, die er von nirgends herleitete; obwohl diese Formel nichts mit dem Thema zu tun hatte und sich später als nicht richtig erwies, so daß Euler selbst sie aufgab, war sie eben dasjenige an der Schrift, was den Richtern imponierte.

In einem Brief an Friedrich vom 15. Januar 1739 macht Voltaire sich über Eulers Blasentheorie lustig, indem er das Wort Blase mit dem Wort Flasche vertauscht. Er schreibt: »Unsere Academie hat Leuten den Preis gegeben, von denen der eine sagt, daß das Feuer aus Flaschen zusammengesetzt, der andere, daß es ein Walzwerk sei. Da haben Sie den Geschmack unserer Nation; sie zieht immer das Romanhafte der einfachen Natur vor.« Zwanzig Jahre danach erinnerte er sich des Urteils der Akademie, als er in Candide die Hauptperson den letzten ihrer Doradohammel der Akademie der Wissenschaften in Bordeaux schenken läßt, die dann im selben Jahr die Preisfrage ausschrieb, warum die Wolle dieses Hammels rot sei: »Den Preis gewann ein nordischer Forscher, der durch A plus B minus C, dividiert durch Z, bewies, daß der Hammel rot sein und an Klauenseuche sterben müsse.«

Auch die Abhandlung der Madame du Châtelet, welche die energische Frau in nur acht Nächten schrieb, in denen sie nur eine einzige Stunde schlief, enthielt etwas, was die Gelehrten späterer Zeiten außerordentlich gefunden haben. Sie vermutet, daß die Spektralfarben sich in ungleichem Grad erwärmen, Rot am stärksten, Violett am schwächsten, was Rochon vierzig Jahre später bewies.

Voltaire schrieb dem Aberglauben der cartesianischen Wirbel seine und der Marquise Niederlage zu. In einem Briefe an Maupertuis, den er artig als seinen und ihren Lehrer bezeichnet, heißt es:

Sie werden mir zugeben, daß die Sache drollig ist. Es ist grausam, daß die verfluchten Wirbel sich stärker erweisen sollen als Ihr Schüler ... Die Abhandlung über das Feuer, welche Madame du Châtelet komponiert hat, ist voll von Dingen, die dem größten Physiker Ehre machen würden, und sie hätte den Preis gewonnen, wenn nicht dies sinnlose und lächerliche Hirngespinst, die Wirbel, noch in den gelehrten Köpfen spukten.

Die Akademie gab, wie gesagt, ihre Zustimmung, daß die beiden ungekrönten Arbeiten gegen die Regel in ihren Schriften gedruckt wurden; sie erschienen mit einem Vorwort, in welchem gesagt wird, daß beide Abhandlungen eine ausgebreitete Belesenheit, große Kenntnisse in den besten physikalischen Werken bewiesen, voll von Tatsachen und Erkenntnissen seien; überdies sei Nr. 6 von einer Dame von hohem Rang, Madame du Châtelet, und Nr. 7 von einem »unserer hervorragendsten Dichter.« Vergebens bat die schöne Emilie in einem Briefe an die Akademie, ungenannt bleiben zu dürfen, »ich habe tausend Gründe, es zu fordern«. Sie hatte offenbar nur den einen, daß es für ein Weib als lächerlich galt, gelehrt zu sein, so daß sie ewige Spöttereien befürchten mußte.

Voltaire und sie wurden übrigens bei diesem Anlaß Gegenstand einer possierlichen und geschmacklosen Lobpreisung. Ein Prior an der Sorbonne, der vor einer gelehrten Versammlung einen Vortrag über Newton und dessen Lehre hielt, fügte eine Lobrede über Voltaire und Madame du Châtelet hinzu, die sich folgender Ausdrücke bediente: »Newtons System ist ein Labyrinth, in welchem Herr de Voltaire mit Hilfe eines Fadens, den die moderne Ariadne ihm in die Hände gegeben, den Weg gefunden hat. Theseus und Ariadne in der neuen Zeit sind umso rühmenswerter, als sie in der griechischen Fabel nur in sinnlichem Feuer für einander entbrannt sind, während diese bloß eine geistige Liebe zueinander hegen, in der nichts Unreines ist.«

XXV

Voltaires Studium der Naturwissenschaften ist mit seinem Aufenthalt auf Cirey verknüpft, mit dem Zusammenleben mit der schönen Emilie. Seine zahlreichen naturwissenschaftlichen Abhandlungen, teils im Dictionnaire philosophique, teils in Singularités de la Nature, zeugen von seinem selbständig prüfenden Geist, der ebenso wenig davor zurückscheut, die Entscheidungen einer Autorität in Zweifel zu ziehen, wie die Begrenzung seines eigenen Wissens einzubekennen. »In der Physik,« sagt er, »muß der Zweifel oft das sein, was in der Mathematik der Beweis ist: das Resultat einer richtigen Schlußfolgerung.«

Wie wir indessen gesehen, hat er sich öfters infolge seines Hangs zum Handgreiflichen tieferliegenden Geheimnissen gegenüber unempfänglich gezeigt und mitunter zu unverständigem Spott hinreißen lassen, wo er hätte verstehen sollen, daß er einer neuentdeckten Wahrheit gegenüberstand. So erging es ihm mit seiner Auffassung der Versteinerungen als zufälligen Bildungen; mit seinem Unglauben gegenüber der Lehre, daß in der vorhistorischen Zeit da Wasser gewesen ist, wo nun Berge sind.

In Singularités de la Nature hat er ein sehr bezeichnendes Kapitel (das zwölfte) über Muschelschalen und auf Muschelschalen aufgebaute Systeme. Er sagt hier, daß man rings auf der Erdkugel bisweilen Haufen von Muscheln, anderwärts versteinerte Austern finde. Hieraus habe man trotz des Gesetzes der Schwerkraft und trotz der Tiefe des Meeres geschlossen, daß dieses sich vor einigen Millionen Jahren über die ganze Erde erstreckt habe. Wiewohl die Wogen niemals höher als etwa fünfzehn Fuß über unsere Küsten gelangen, glaube man, das Meer habe Berge von 18 000 Fuß Höhe bedeckt. Niemand leugne ja, fährt er fort, daß im Laufe der Jahrhunderte auf der Oberfläche unserer Erdkugel große Veränderungen eingetreten seien. Es sei physisch möglich – und enthalte keinen verwegenen Widerspruch gegen die Heilige Schrift –, daß die Insel Atlantis, wie Platon erzählt, 9000 Jahre vor seiner Lebenszeit verschwunden sei. Aber das beweise nicht, daß das Meer den Kaukasus, die Pyrenäen und die Alpen hervorgebracht habe. Man behauptet, es fänden sich Muschelschalen auf dem Montmartre und in der Nähe von Reims. Aber auf den hohen Bergen gebe es keine. Er habe auf dem St. Gotthard und dem St. Bernhard nach solchen suchen lassen; aber man habe nichts entdeckt.

Ein einziger Physiker habe ihm geschrieben, daß er auf dem Mont-Cenis eine versteinerte Austernschale gefunden habe. Er müsse es glauben und wundere sich bloß, daß solche Schalen sich nicht zu Hunderten fänden. Die benachbarten Seen hätten große Muscheln, deren Schalen den Austernschalen glichen. Und nun kommt Voltaires höchst drollige Erklärung dieser Funde:

Ist es übrigens eine reine Romanidee, den Gedanken auf die zahllosen Pilgrime zu lenken, die mit Muschelschalen auf ihren Hüten zu Fuß von San Jago in Galizien und aus allen anderen Provinzen nach Rom wandern? Sie kommen aus Syrien, Ägypten, Griechenland, sowie aus Polen und Österreich ... Eine auf dem Mont-Cenis gefundene Auster beweist daher nicht, daß der Indische Ozean alles Land auf unserer Halbkugel bedeckt hat.

In diesem Punkte wurde er von Buffon zurechtgewiesen. Andererseits hütete er sich wohl vor den Enttäuschungen, denen sich Buffon durch seinen Glauben an Needhams von Spallanzani rasch widerlegten Versuch mit dem Kleisteraal ausgesetzt hatte. Ein irischer Jesuit, namens Needham, glaubte folgende Entdeckung gemacht zu haben: Er meinte, im Mehl von Mutterkörnern, das in einem festschließenden, luftdichten Gefäß in den Ofen gelegt wurde, Aale zu entdecken, die bald andere Aale zeugten. Und dieselben Erscheinungen meinte er in Hammeltunke zu finden. Einige Philosophen schlossen hieraus, daß Keime und Schößlinge überflüssig seien; alles werde durch eine gewisse der Natur innewohnende Lebenskraft geschaffen und neugeboren. Voltaires gesunde Vernunft lehnte sich gegen diese Theorie auf und er freute sich, schon im Altertum, bei seinem lieben Lucretius einen Einspruch gegen solche Torheit zu finden:

Ex omnibus rebus
Omne genus nasci potest, nil semine egeret.
E mare primum homines, e terra posset oriri
Squammigerum genus et volucres; erumpere cælo
Armenta atque aliæ pecudes ...

Spallanzinis Partei ergriff Voltaire auch in dem Streit um die Beobachtung, die jener gemacht zu haben behauptete: daß der abgeschnittene Kopf der Seeschnecke immer wieder nachwüchse. Volle zweiunddreißigmal stellte auch er diesen Versuch an und in zwei Fällen sah er, daß der Kopf nachwuchs. Offenbar hatte er in diesen Fällen den Schlundring nicht beschädigt, da, wie spätere Experimente erwiesen haben, das Gelingen des Versuchs hiervon abhängt.

Wir haben bemerkt, daß Voltaires zum Umspannen großer Hauptsachen geneigter Geist sich nicht auf die Vertiefung in Details einließ, ebensowenig auf dem Gebiet des Naturstudiums wie auf jedem anderen. Wir sahen ferner, wie er seinen Landsleuten die in England anerkannte und praktizierte Pockenimpfung empfahl, die jedoch erst fünfundzwanzig Jahre, nachdem er darauf aufmerksam gemacht hatte, in Frankreich eingeführt wurde.

Wie in der Ouverture gesagt wurde, lag ihm die Hygiene am Herzen, in einem Zeitalter, da sie sonst noch keinerlei Berücksichtigung fand. In seiner kleinen Erzählung Le monde comme il va, in welcher er den weisen Babouc zu seinem Sprachrohr macht, wird erzählt, wie der weise Mann nach Persepolis (Paris) kam und welchen Eindruck er hier von dem Kirchengang empfing:

Babouc mischte sich in einen Volkshaufen, bestehend aus dem, was von beiden Geschlechtern am häßlichsten und schmutzigsten war; dieser Haufe eilte mit stumpfen Mienen in einen großen dunkeln Raum. Das beständige Gemurmel, das ewige Hin und Her, das er beobachtete, sowie auch das Geld, das einige zahlten, um sich setzen zu dürfen, ließen ihn anfänglich glauben, dies sei ein Markt, wo Strohstühle verkauft würden; als er aber mehrere Weiber auf die Knie fallen und starr vor sich hin schauen sah, begriff er, daß er in einem Tempel sei. Scharfe, grobe, übeltönende Stimmen widerhallten unter der Wölbung ..., so daß er sich die Ohren verstopfte; aber bald war er versucht, sich auch die Nasenlöcher zu verstopfen, als er Arbeiter mit Hacken und Schaufeln in den Tempel einziehen sah. Sie hoben einen breiten Stein empor und warfen zur Rechten und Linken Erde, der ein verpesteter Gestank entstieg. Dann legten sie eine Leiche in die Öffnung und brachten obenauf den Stein an. Wie, sagte Babouc, diese Völker begraben ihre Toten an derselben Stelle, wo sie die Gottheit anbeten! Wie, ihre Tempel sind voll von Leichen! Dann wundere ich mich nicht mehr über die pestartigen Krankheiten, die so oft Persepolis heimsuchen. Der Toten Fäulnis und der Gestank der Lebenden, die sich hier versammeln und zusammenpressen, genügen, um die Erdkugel zu vergiften.

Bedenkt man, wie sehr Voltaires Vorfahren sich der Bevorzugung freuten, als Notabeln in den Kirchen selbst begraben werden zu dürfen, so fühlt man den Fortschritt, der mit ihm Platz griff.

Voltaire selbst ist ganz durchdrungen von jenem Geist der Naturwissenschaft, der ihn während seines Aufenthalts in England ergriff, und den er später in seinem Heim in Cirey weiter ausbildete. Die naturwissenschaftliche Grundlage tritt allerorten hervor, in seinen Abhandlungen, seinen Briefen, seinen Lehrgedichten, seinen didaktischen Novellen, seinen philosophischen Romanen, seinen Streitschriften, sowohl in den gegen die katholische Kirche gerichteten, wie in denen, die gegen die materialistische Auffassung des Menschen als Maschine sich aussprechen. Wie die Naturwissenschaft dem Glauben ein Ende gemacht hatte, daß die ganze Weltgeschichte sich um Europa drehe, so hatte sie auch die Idee getötet, daß der Mensch der Mittelpunkt des Weltalls sei.

Die größte Bedeutung, die Newton für Voltaire bekam, war vielleicht die ganz allgemeine, daß der geniale Franzose, statt den Blick auf Paris fest genagelt zu halten, sich in dem unendlichen Raum schweben fühlte und in diesem unendlichen Raum kosmische Nebel, Milchstraßen, Sonnensysteme spürte, mit seinem inneren Auge unsere Sonne im Himmelsraum wirbeln, Planeten in ihren Bahnen um sie schwingen und kreisen sah, und endlich einen Punkt in diesem System, die Erde, schnell wie eine Sternschnuppe durch den Raum stürmend, empfand, um ihre Achse sich drehend, sausend wie ein schnurrender Kreisel, leicht und flüchtig wie ein Ball, von einer Gottheit geschleudert.

Wenn er von nun an auf das Erdenleben blickte, so tat er es wie sein Micromegas, der Riese vom Sirius, der in sechsunddreißig Stunden um die Erde fuhr und die Menschen durch das Mikroskop betrachtete.

XXVI

Fräulein d'Issembourg d'Happoncourt war aus einer vornehmen und verdienstvollen Familie hervorgegangen. Ihr Vater war Major in der Gendarmerie des Herzogs von Lothringen, ihre Mutter, Marguerite Callot, die Enkelin des berühmten Malers und Graveurs Jacques Callot. 1695 in Nancy geboren, war sie als ganz junges Mädchen mit einem Kammerherrn des Herzogs von Lothringen, Huguet de Graffigny, verheiratet worden, einem rohen und gewalttätigen Manne, der sie in seinen Anfällen von toller Wut halbtot schlug, so daß sie in einem uns erhaltengebliebenen rührenden Briefe ihren Vater um Befreiung aus dieser Ehe anflehen mußte.

Sie erreichte diese Befreiung, war aber nach der Trennung so arm, daß sie kaum ein paar hundert Franken zur Verfügung hatte. Sie war Gesellschaftsdame bei dem jungen Fräulein de Guise geworden, als Voltaire dessen Heirat mit dem Herzog von Richelieu zustande brachte, und die Herzogin behielt sie, ohne sie jedoch so fest an sich zu binden, daß sie nicht einen längeren Besuch auf Cirey hätte abstatten können. Erst im Jahre 1820 wurden die Briefe, die sie aus Cirey an ihre Freunde geschrieben hat, geordnet und herausgegeben, und sie bilden nun eine der besten Quellen, aus denen wir Kenntnisse über das Zusammenleben auf Cirey schöpfen können.

Diese Briefe sind an sich höchst kurios; berichten sie doch mit der äußersten Gewissenhaftigkeit den Freunden alles haarklein, was der Schreiberin passiert ist, so daß wir Jetztlebenden es mit ihr erleben: die täglichen Vorkommnisse, den Wortwechsel, in einer Art wiedergegeben, daß man die Stimmen zu hören glaubt, die Gegenstände, die in den Gesprächen behandelt werden, die Art, wie man sich unterhält und Scherz treibt, das Vorlesen Voltaires von dem, was er geschrieben hat, endlich eine Theateraufführung nach der anderen und außerhalb des Theaters kleine und größere Szenen.

Der Ton dieser Briefe ist entschieden provinziell; alle Personen, zu denen oder über die Madame de Graffigny spricht, werden mit Spitznamen genannt und die beliebtesten unter ihnen haben deren drei oder vier, ungefähr so wie hundert Jahre später Kamma Rahbek sie den Leuten in der Kleinstadt Kopenhagen zuteilte. Die Briefe sind an Madame de Graffignys Jugendfreund, den harmlosen, phlegmatischen Devaux gerichtet, dem man eine Stelle als Vorleser bei König Stanislaw in Lunéville und ein von diesem gutherzig bewilligtes Jahresgehalt von 2000 Talern verschafft hatte, obwohl der König, als man ihm Devaux als Lektor vorschlug, die Antwort gab: »Was soll ich mit einem Lekteur? Das ist bei mir eine Stelle, wie die eines Konfessionarius bei meinem Schwiegersohn«, woraus sich schließen läßt, daß Ludwig der Fünfzehnte seinem Seelsorger mit der Beichte nicht eben viel Mühe zu bereiten pflegte.

Devaux wird lustig gezeichnet in einem Gedichtchen vom Almosenier des Königs Stanislaw, Abbé Porquet, dessen erste Zeilen lauten:

Le ciel te prodigua tous les défauts qu'on aime;
Tu n'as que les vertus qu'on pardonne aisément;
Ta gaieté, tes bons mots, tes ridicules mêmes,
Nous charment presque également.

Devaux wird in den Briefen Panpan oder Panpichon tituliert. Madame de Graffigny duzt ihn wie alle ihre Freunde. Zu diesen gehört Saint-Lambert, später als Dichter der Jahreszeiten (Les Saisons) so sehr gefeiert, überdies später sowohl Voltaires wie Jean Jacques Rousseaus glücklicher Nebenbuhler bei ihrer Erkorenen. Er wird in den Briefen le petit saint genannt.

Die Hauptfigur aber unter den Erwähnten ist eine dritte Persönlichkeit, der Kavallerieleutnant Leopold Desmarets, Madame de Graffignys Geliebter, der ihre zärtliche Neigung besitzt und von ihr abwechselnd Maroquin, le Docteur, Cliphan, Gros chien oder Gros chien blanc genannt wird. Ein geliebtes Kind hat viele Namen. Die Briefe an ihn sind vielleicht zu heiß gewesen; sie sind jedenfalls verschwunden. Aber in den Freundschaftsbriefen, die wir besitzen, bekundet sich der kleinen Dame gutes, warmes Herz, nebst einer keineswegs geringen Beobachtungsgabe, die sich auch später in ihren Lettres peruviennes offenbarte.

Eine grenzenlose Bewunderung für Voltaire hat sie nach Cirey gezogen, in seiner Nähe zu sein, ihn reden zu hören, neben ihm zu sitzen, ist für sie als geistiges Wesen das höchste Glück und in den ersten Wochen ihres Aufenthalts genießt sie dieses Glück vollauf.

Voltaire heißt in ihren Briefen gern dein Abgott (da auch Devaux ihn verehrte); den Marquis nennt sie überlegen le bonhomme; die Marquise in der Regel die Nymphe.

XXVII

Bei ihrer Ankunft, die am 4. Dezember 1738, nachts zwei Uhr stattfand, empfing die Nymphe sie sehr gut; aber Madame de Graffigny blieb nur eine Minute in deren Schlafzimmer, ging dann sofort in ihr eigenes hinauf: »Einen Augenblick darauf erschien, wer? ... dein Abgott mit einer kleinen Kerze in der Hand, wie ein Mönch. Er sagte mir tausend verbindliche Dinge; er schien so froh, mich zu sehen, daß er mir zehnmal die Hände küßte und mit einem rührenden Interesse nach meinem Befinden fragte. Seine nächste Frage galt dir: es währte eine Viertelstunde. Er liebe dich, sagte er von ganzem Herzen. Dann sprach er mit mir von Desmarets und Saint-Lambert und dann ging er, um mir Zeit zu lassen, dir zu schreiben. Es ist geschehen. Gute Nacht, die Post geht heut Nacht.«

Der Tag auf Cirey ist folgendermaßen eingeteilt: Zwischen halbelf und halbzwölf wird ringsum Nachricht gegeben, daß der Kaffee serviert sei. Er wird in Voltaires Gallerie eingenommen. Man plaudert bis zwölf oder eins. Um zwölf Uhr essen zu Mittag, was man auf Cirey die Kutscher nennt, aber auch der Herr des Hauses, Madame de Champbonin, die dicke gutmütige Kusine Voltaires und ihr Sohn, der der Hausfrau als Sekretär hilft, zählen zu den Kutschern und speisen. Dagegen bleiben die Marquise, Voltaire und Madame de Graffigny sitzen, bis Voltaire eine tiefe Verbeugung macht und die anderen zu gehen bittet. Nun zieht sich jeder in sein Gemach zurück. Um vier Uhr gibt es bisweilen eine unbedeutende Zwischenmahlzeit. Zu dieser erscheint jedoch nicht Madame de Graffigny, wenn sie nicht ausdrücklich gerufen wird. Um neun Uhr abends ist die Hauptmahlzeit, – zu der Voltaire immer ein wenig spät kommt, da er sich vom Diktat für seinen Sekretär nicht losreißen kann – und man sitzt bis Mitternacht beisammen: »Gott! Welches Abendbrot! Es ist immer das Fest des Damokles. Alle Vergnügungen sind hier vereint, aber ach! Die Zeit ist so kurz; nichts fehlt, nicht einmal das Schwert über meinem Haupte; denn die Zeit, die entfliegt, ist dieses Schwert ... Viel allein sein und hernach gute Gesellschaft haben, das ist das Leben, wie ich es liebe.«

Voltaire gibt ihr allerlei von seinen Schriften zu lesen, wenn sie allein ist, Mérope, die noch unveröffentlichte Tragödie, die Handschrift zu dem Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten, die Madame du Châtelet Voltaire zu vollenden nicht erlauben will, – er soll sich mit Naturwissenschaft beschäftigen, nicht mit Geschichte – und die sie darum verschlossen hält. Er hat sie bitten müssen, das, was von dem Manuskript fertig ist, Madame de Graffigny zu überlassen. Er hat dieser überdies seine Übersicht über Molières Komödien zu lesen gegeben. Die hatte er als Einleitung zu der neuen schönen Molière-Ausgabe geschrieben; aber der Schatzkammerkanzler, der, wie es heißt, sein grimmigster Feind ist, hat Herrn Lasserre beauftragt, das Werk einzuleiten. Mit dieser Übersicht will sie sich eines Nachts in Schlaf lesen. (Dies ist ohne jede Ironie gesagt). Er hat ihr versprochen, wenn sie artig ist, ihr etwas anderes geben zu wollen, was ihr großes Vergnügen bereiten wird. (Aus dem bloßen Wortlaut erkennt man, daß die Rede von Jeanne ist).

Die im Laufe des Tages zu erledigenden Besuche bei den Gästen des Hauses absolviert Voltaire immer stehend, immer auf dem Sprung, wieder zu gehen; ist es doch einer seiner ständigen Refrains, wie leichtsinnig man in leeren Gesprächen die Zeit vergeudet, das kostbarste, was der Mensch überhaupt besitzt.

Nicht geringes Ärgernis empfindet der Gast ob der Tyrannei, die Madame du Châtelet auf Voltaire ausübt. Vergebens stellen Madame de Champbonin und Madame de Graffigny ihr das Unrecht vor, das sie begeht, in dem sie das Werk über das Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten einfach weggeschlossen hält: »Er stirbt vor Verlangen, es zu beendigen, und sagt, es sei die Arbeit, mit der er am zufriedensten sei. Sie gibt zu ihrer Rechtfertigung keinen anderen Grund an, als daß es kein Vergnügen sei, an einem Buche zu schreiben, das man ja doch nicht drucken lassen darf. Ich fordere ihn auf, zu schreiben, um persönlich die Unsterblichkeit, die er gewinnen wird, zu genießen. Er antwortet, er werde das Buch sicher beendigen, nur nicht hier. Sie verdreht ihm mit ihrer Geometrie den Kopf.« Hier wird Madame de Graffigny in ihrer Schreiberei dadurch unterbrochen, daß Voltaire Mérope vorlesen will.

Ein sehr lebendiges Bild gibt sie von dem Genuß, den es Madame du Châtelet augenscheinlich bereitet, ihre Macht über den von ihr eingefangenen seltenen Vogel zu fühlen und andere fühlen zu lassen. Er äußerte sich in einer Necklust, die doch zumeist weibliche Herrschsucht war, die in Kleinigkeiten ihre Befriedigung fand.

Voltaire kommt z. B. herein, um Mérope vorzulesen. Madame du Châtelet hat die Caprice ihn zu bitten, einen anderen Rock anzuziehen: »Es ist wahr, sein Rock war nicht schön; aber er selbst war schön gepudert und hatte feine Spitzen angelegt. Er gab verschiedene Gründe an, warum er den Rock jetzt nicht wechseln wolle; die anderen seien minder warm, und er erkälte sich leicht. Endlich zeigte er sich bereit, nach seinem Kammerdiener zu schicken, um von diesem einen anderen Anzug holen zu lassen. Der Kammerdiener war nicht zu finden, war augenblicklich fortgegangen, und Voltaire glaubte nun, die Sache auf sich beruhen lassen zu können. Aber behüte: die Quälerei ging von neuem los. Da geriet Voltaire in Erregung; er sprach heftig in englischer Sprache auf sie ein und verließ das Zimmer. Man sandte nach ihm; aber er ließ sagen, er habe Kolik, und damit war Mérope ins Wasser gefallen.«

Madame de Graffigny erzählt weiter, daß die Marquise sie hierauf bat, zu Voltaire hinabzugehen und ihn zurückzubringen. Solange sie und Madame de Champbonin bei ihm waren, lachte er und war guter Dinge; sowie er aber wieder in die Stube der Marquise trat, verdüsterte sich seine Miene, und er nahm, seine Kolik vorschützend, in einem Winkel Platz, ohne ein Wort zu sprechen. Erst als der Hausherr das Zimmer verlassen hatte, »begannen die beiden Schmollenden englisch miteinander zu sprechen und eine Minute später trat Mérope auf.« Naiv fügte sie hinzu: »Es ist das erste Zeichen ihrer Liebe, das ich bemerkt habe, seit ich hier bin; denn sie führen sich mit bewundernswertem Anstand auf; allerdings macht sie ihm das Leben ein wenig sauer.«

Mehr und mehr zieht Madame de Graffigny Voltaire der Frau des Hauses vor; »Voltaire ist immer entzückend und immer auf meine Unterhaltung bedacht. Seine Aufmerksamkeit ist unermüdlich; man sieht, er ist unruhig bei dem Gedanken, ich könnte mich langweilen. Diese Unruhe ist sehr überflüssig. Sich langweilen bei Voltaire!«

Madame du Châtelet hat ihren Bruder, den Abbé von Breteuil, für kurze Zeit als Gast bei sich. Er ist sehr liebenswürdig, sehr munter und witzig; seine Gegenwart macht die Abendmahlzeiten noch festlicher. Das Bild dieses Beisammenseins wird durch die Details, in welche Madame de Graffigny in ihren Schilderungen eingeht, überaus lebendig. Nach Tische beginnt Voltaire mürrisch zu werden, weil die schöne Emilie ihn hindern will, ein Glas Rheinwein, das er sich eingeschenkt hat, zu trinken. Dann will er sich nicht dazu verstehen, Jeanne laut vorzulesen, wie er es versprochen hat. Durch eine Menge Possen gelingt es Breteuil und Madame de Graffigny endlich, seinen Widerstand zu besiegen. Dann kann auch die Marquise, die eben in ihrer Necklaune ist, nicht widerstehen; es kommt zu einem Feuerwerk lustiger Repliken, die mit der Vorlesung eines Gesanges aus Jeanne endet, welche jedoch nicht amüsanter schien als Voltaires vorherige launige Bemerkungen.

An einem anderen Abend zeigte Voltaire eine Laterna magica und begleitete die Bilder mit einem Vortrag, bei dem man sich vor Lachen wand. Er schilderte den ganzen Umgangskreis des Herzogs von Richelieu, erzählte dann Abbé Desfontaines Geschichte, gab hierauf eine Novellette nach der anderen zum besten und sprach zuletzt nur im Savoyarden-Dialekt.

Wie Voltaire behauptete, war sein Kammerdiener durch das Abschreiben der Gedichte seines Herrn zur Überzeugung gelangt, Schöngeist zu sein und selbst Verse schreiben zu können. Er führte einige komische Beispiele dieser Kammerdienerpoesie an und erzählte, der Diener habe nach und nach Selbstgefühl genug, was er mangelhaft fand, zu verbessern. So war Voltaire beim Schreiben des Verses

Ah! croyez-moi, mon fils, voyez mes cheveux blancs,
La triste expérience est le fruit des vieux

unterbrochen worden, ehe er das Wort ans hinzugefügt hatte. Der Diener fand, daß sich dies nicht reime und schrieb den Vers in folgender Form ab:

Ah! croyez-moi, mon fils, voyez ces cheveux bleus.
La triste expérience est le fruit des vieux.

In Voltaires Gegenwart hatten einige seiner Gäste den Kammerdiener aufgefordert, irgend etwas aus den Werken seines Herrn zu rezitieren. Er meinte, sich nur der einen Stelle aus Jeanne zu erinnern, in der ihre Person geschildert wird. Diese Stelle hatte in seinem Gedächtnis die nachstehende Form angenommen:

Trente-deux dents brillent à fleur de tête;
Deux grands yeux noirs, d'une égale blancheur,
Font l'ornement d'une bouche vermeille
Qui va prenant de l'une à l'autre oreille.

Sehr gerührt zeigt sich Madame de Graffigny über Voltaires Langmut und Empfänglichkeit der Kritik gegenüber. Die göttliche Emilie hatte seine Tragödie Mérope, die sie nicht leiden mochte, ins Lächerliche gezogen, was ihm, wie Madame de Graffigny herausfühlte, naheging. Sie selbst bewunderte die Tragödie mit Ausnahme einer Szene, die ihr nicht gefiel. Sie sagte ihm dies unter vier Augen. Er dankte ihr herzlich für ihre Einwände und sagte: »Es freut mich, daß Sie offen zu mir sprechen; Sie haben Recht, es ist etwas ungemein Treffendes in Ihrer Kritik«. Und die brave Dame fügt hinzu: »Wahrhaftig, ich sage Ihnen, nur die schlechten Schriftsteller sind hochmütig; die guten haben eine gesunde Eitelkeit. Er duldet Tadel, aber freut sich des Lobes und schämt sich nicht, es zu gestehen.«

Und sie verbessert einige Verse ihres Freundes, die anläßlich Desfontaines Angriffen Voltaire verherrlichen, so daß diese Verse folgenden Wortlaut annehmen:

Par cet abbé qui, dans Paris,
Ose attaquer dans ses écrits
La gloire de nos jours, le célèbre Voltaire,
Ce mortel, dont le caractère,
Plus aimable encore que l'esprit,
Perce dans tout ce qu'il écrit,
Taisez-vous, auteurs faméliques:
Par vos ignorantes critiques
Son nom ne peut être terni.

Als Poesie ist der Vers nicht viel wert; aber er ist lehrreich als Illustration der Empfindungen einer begeisterten Provinzdame und ihres Freundes.

Eines Abends fiel es Madame du Châtelet ein, Madame de Graffigny zu fragen, ob sie Kinder gehabt habe. Eine Frage brachte die andere mit sich und zuletzt kam es dahin, daß die Gefragte ihre Lebensgeschichte erzählte, die sowohl der Frau des Hauses wie Voltaire ganz neu war. »Oh!« bricht sie aus, »welch gutes Herz!« Die schöne Dame lachte, um nicht zu weinen; Voltaire aber! Dieser menschlich fühlende Voltaire brach in Tränen aus; denn er schämt sich nicht seines Mitgefühls. Ich wollte aufhören; aber es war nicht möglich; man bat mich immer wieder fortzufahren. Sie waren so gerührt, daß meine Zurückhaltung sich unnütz zeigte. Zuletzt mußte ich selbst mitweinen.«

Wie weit Voltaires Aufmerksamkeit gegen sie ging, entdeckte sie erst allmählich. Sein Kammerdiener kam oft, um sie zu fragen, ob sie irgend etwas benötige. Zuletzt bemerkte sie, daß Voltaire seiner ganzen Dienerschaft befohlen hatte, bei ihr ebenso Dienst zu tun wie bei ihm selbst. Es waren seine, nicht des Hauses Lakaien, die sie bedienten. Sie schreibt mit liebenswürdiger Naivität: »Urteile selbst, ob es möglich ist, deinen Abgott genug zu lieben!«

Sie schildert die Art, wie Voltaire selbst bedient wird, wenn er beim Abendbrot sitzt. Der Kammerdiener weicht nicht von dem Platz hinter seinem Stuhl und seine Lakaien reichen ihm alles, was er braucht, ganz wie die Pagen, wenn des Königs Hofkavaliere bei Tische sitzen; aber all dies geschieht ohne Prunk oder Feierlichkeit. »So wahr ist es, daß die guten Geister bei jeder Gelegenheit die Würde zu wahren wissen, die ihnen geziemt, ohne jemals die Lächerlichkeit zu begehen, affektiert zu sein.«

»Er hat eine spaßhafte Art und Weise, etwas zu befehlen, die mit dem Anmutigen in seinen Manieren zusammenhängt; immer fügt er lächelnd hinzu: »Und sorgen Sie nur ja für Madame!«

Madame de Graffigny war sehr eifrig bemüht, ihren Freunden Zutritt nach Cirey zu verschaffen; am heftigsten war natürlich ihr Wunsch, Desmarets präsentieren zu dürfen, der denn auch kam. Aber sein Kommen brachte der Armen eine bittere Enttäuschung. Denn kaum war er angelangt, als er ihr sagte, er liebe sie nicht mehr, würde sie nie mehr in Zukunft lieben.

Ebenso intensiv wie Madame de Graffigny danach trachtete, Desmarets eine Einladung nach Cirey zu verschaffen, war der junge, damals erst zweiundzwanzigjährige Saint-Lambert selbst bestrebt, durch sie Zutritt zu dem Kreis zu erlangen. Die treue Freundin pries ihn denn auch in so hohen Tönen, daß Madame du Châtelet zuletzt nachgab: »Ich muß Dir sagen, daß ich heute morgen die Dame des Hauses so stark belagert habe, daß sie sich endlich betreffs Saint-Lamberts erklärte. Sie will wohl, daß er kommt; aber unter der Bedingung, daß er es versteht, auf seinem Zimmer zu bleiben und das Leben zu führen, das hier gelebt wird. Ich habe sie dessen so lebhaft versichert, daß sie nun die größte Lust hat, sowohl Desmarets wie ihn hierzu sehen.«

Seltsam ist es, wie abgeneigt die schöne Emilie anfänglich war, Saint-Lambert zu empfangen, der neun Jahre später ihr Schicksal werden sollte.

Die Idylle, die Madame de Graffigny in Cirey verlebte, sollte bald eine gewaltsame Unterbrechung finden. Aber noch war alles Scherz und Zerstreuung. Madame du Châtelet machte lange Ritte, Voltaire ging auf die Jagd. Auf dem Theater spielte man unter anderem eine lustige Farce von Voltaire, damals Boursouffle genannt; es ist dieselbe, die sich in seinen Werken unter dem Titel L'Echange findet, ein lustiges kleines Stück in Prosa. Die Prosa tut wohl und sichert dem Dialog Natürlichkeit. Das Stück ist im Stil der Lustspiele Molières und überhaupt der anspruchslosesten Komödien des siebzehnten Jahrhunderts. Die ganze Handlung dreht sich um den Streich eines verschuldeten jungen Mannes, der mit Hilfe eines frechen Possenreißers seinem älteren, närrischen, aber wohlhabenden Bruder eine reiche Erbin wegschnappt, indem er sich am Hochzeitstage für ihn ausgibt. Am ergötzlichsten ist die Braut, ein junges Edelfräulein aus der Provinz, das bereit ist, sich wie immer, wann immer (nur möglichst bald) und mit wem immer zu verheiraten, der sie zur Gräfin oder bloß zur Frau macht, nach Paris bringt und in Versailles einführt, wo tausend Zerstreuungen ihrer harren und sie zahlreiche Nebenbuhlerinnen vor Eifersucht zur Verzweiflung bringen kann.

In solchen kleinen Stücken wie diesem liegen Voltaires und Holbergs dramatische Methoden sehr nahe.

XXVIII

Etwa drei bis vier Wochen hatte Madame de Graffigny in glücklicher Befriedigung in Cirey verbracht, als eines späten Abends zu ihrer Verwunderung Voltaire bei ihr eintrat mit den überraschenden Worten, daß er verloren sei und daß sie sein Schicksal in ihren Händen halte. – Mein Gott, wieso das? fragte sie. – Wieso? erwiderte er. Es sind zahlreiche Abschriften von Jeanne im Umlauf. Ich muß auf der Stelle von hier fort, ich weiß nicht wohin, nach Holland oder weiter. Herr du Châtelet reist nach Lunéville. Sie müssen sofort an Devaux schreiben, daß er sich dieser Abschriften bemächtigen möge. Ist er rechtschaffen genug, dies zu tun? – Sie versicherte ihn, daß sie alles tun würde, was in ihrer Kraft stehe, um ihm ihre Ergebenheit zu beweisen und daß sie sehr betrübt sei, daß sich dies während ihres Aufenthaltes bei ihm ereignen müsse. – Keine Ausflüchte! rief er erbittert. Sie selbst haben diese Abschriften verschickt. – Vergebens beteuerte sie, niemals auch nur einen Vers kopiert zu haben. – Gewiß, versetzte Voltaire. – Devaux versichert mir, daß Sie es sind, die Jeanne in die Welt hinausgeschickt hat.

Ihr Kopf wirbelte; sie begriff nichts von alledem, konnte nur betonen, was die Wahrheit war, daß diese Abschriften von Jeanne nicht von ihr stammten. Er behauptete nichtsdestoweniger mit äußerster Heftigkeit, daß Devaux Jeanne Desmarets vorgelesen habe, daß Madame de Graffigny an alle Welt Abschriften sende, und daß Madame du Châtelet den Beweis dessen in ihrer Tasche habe.

Die arme Frau blieb nach wie vor der ganzen Sache gegenüber verständnislos, gewahrte nur Entrüstung und Zorn, ohne sich erklären zu können, wie das Mißverständnis entstanden sei.

Es war auch nicht leicht zu durchschauen. Um es zu begreifen, mußte man wissen, daß Cireys argwöhnische und auf Voltaires Sicherheit ängstlich bedachte Hausfrau die garstige Gewohnheit hatte, soweit wie möglich alle von ihren Gästen geschriebene Briefe zu lesen und ebenso alle an diese anlangenden, ehe sie ausgeteilt wurden.

Nun hatte die unglückliche und unschuldige Madame de Graffigny ihrem Freunde getreulich den guten Eindruck berichtet, den sie durch Voltaires Vorlesung eines ihr besonders amüsant und witzig erscheinenden Gesanges aus Jeanne empfangen hatte. Kurz darauf hatte Madame du Châtelet einen Brief Devaux geöffnet, der mit Bezug auf diese Mitteilung die unseligen Worte enthielt: Le chant de Jeanne est charmant. Die mißtrauische Emilie ersah hieraus einen Beweis, daß der betreffende Abschnitt Devaux heimlich zugesandt worden war, und da Voltaire dies nicht bezweifelte, andererseits aber nicht verraten wollte, auf welch unschönem Wege er diese seine Kenntnis erhalten habe, überfiel er den nichtsahnenden Gast des Hauses mit Vorwürfen, die sich auf freie Phantasien stützten.

Es gelang Madame de Graffigny nicht sogleich, ihn zu überzeugen. Er verlangte, sie solle das Original und die Abschriften zurückfordern. Auf sein Geheiß begann sie zu schreiben; da sie ja aber nicht zurückfordern konnte, was sie nicht abgesandt hatte, bat sie ihren Freund, um Erklärungen und Bescheid über diese gefahrdrohenden Abschriften. Als sie Voltaire den fertigen Brief reichte, warf er ihn von sich mit den Worten: »Pfui, Madame, man muß ehrlich und rechtschaffen sein, wenn es sich um einen armen Unglücklichen wie mich, um mein Leben und meine Wohlfahrt handelt.«

Diese peinliche Szene hatte mindestens eine Stunde gewährt; aber sie war noch nichts gegen das, was der armen Verkannten bevorstand. Madame du Châtelet stürmte in höchster Entrüstung in ihre Kammer und wiederholte wie eine Furie alle Beschuldigungen, die Voltaire vorgebracht hatte. Dann zog sie einen Brief aus ihrer Tasche, hielt ihn der nun vollständig Verstummten hin und sagte: »Sehen Sie hier den Beweis Ihrer Infamie. Ich habe Sie nicht aus Freundschaft, sondern aus Mitleid zu mir genommen, und Sie verraten uns. Sie erniedrigen sich so weit, aus meinem Schreibtisch eine Handschrift zu stehlen, um sie zu kopieren.«

Madame de Graffigny vermochte nichts zu erwidern als: »Schweigen Sie doch still, Madame, ich bin zu unglücklich, als daß Sie mich so unwürdig behandeln dürfen.«

Voltaire nahm Madame du Châtelet um den Leib und entfernte sie von der Beschuldigten, da sie ungestüm auf den Gast eindrang, daß Handgreiflichkeiten zu befürchten waren.

Lange konnte die Arme keine Worte finden; dann bat sie, den Brief sehen zu dürfen, was man ihr abschlug. Zeigen Sie mir doch bloß den Satz, der so sehr gegen mich spricht! bat sie. Und man zeigte ihr die unbedeutenden paar Worte: »Der Gesang aus Jeanne ist entzückend.«

Erleichtert erzählte sie nun die einfache Wahrheit: daß sie in einem Briefe den beim Zuhören empfangenen bezaubernden Eindruck geschildert habe.

Voltaire war intelligent genug, ihr zu glauben, zu verstehen, welch ein Mißgriff begangen worden war. Die wütende Schloßfrau dagegen wollte von ihren Behauptungen nicht abgehen, obwohl Voltaire lange in englischer Sprache auf sie einredete und sie auf Französisch bat, doch zu sagen, daß sie ihrem Gast nun Glauben schenke. – Sie entfernten sich um drei Uhr morgens, Madame de Graffigny in einem Zustand von zitternder Vernichtung zurücklassend.

Als der Tag kam, war sie krank und verzweifelt. Nichts wäre ja natürlicher gewesen, als eine sofortige Abreise. Aber die Unglückliche hatte nicht soviel Geld bei sich, um einen Reisewagen zu mieten und zur nächsten Stadt zu fahren. Sie mußte bleiben, wo sie war, mißhandelt und beschämt.

Es nutzte wenig, daß Voltaire hinterher das Geschehene gutzumachen versuchte (Madame du Châtelet konnte sich nicht überwinden, recht von Herzen für den albernen Überfall Abbitte zu tun) und die arme Dame verbrachte ein paar abscheuliche Monate an der Stätte, nach der sie voll Entzücken gekommen war und von der sie sich nun bloß fortsehnte. Konnte sie doch nicht einmal ihren Freunden eine genaue Mitteilung des Geschehenen geben, da sie wußte, daß jeder ihrer Briefe gelesen wurde.

Dieser dumme kleine Vorfall belehrt uns Nachkömmlingen unter anderem, in welchen Krisen Voltaire sein Leben verbrachte, weil er es einerseits nicht lassen konnte, Dinge zu schreiben, die ihn Gefahren aussetzten, andererseits nicht lassen konnte, diese Dinge hundert Menschen vorzulesen und sogar in Abschrift einem halben Dutzend Vertrauten zu schicken auf deren Diskretion er sich also gezwungenermaßen mehr verlassen mußte als auf seine eigene.

XXIX

Durchblättert man alle von Madame du Châtelet hinterlassenen Briefe, so spürt man, so oft Voltaire sie verläßt, um eine ihrer Ansicht nach unnötige Reise zu unternehmen, aus ihren Klagen heraus, wie notwendig seine Nähe ihr ist und wie tief unglücklich sie sich ohne ihn fühlt, doppelt unglücklich, wenn er zu der Abwesenheit Nachlässigkeit fügt, ihr Lebens- und Zärtlichkeitszeichen zu senden. An Richelieu schreibt sie am 23. November 1740 aus Paris:

Ich bin auf eine grausame Art für alles bezahlt worden, was ich in Fontainebleau getan habe; ich habe die schwierigsten Sachen geordnet; ich habe Herrn de Voltaire das Recht verschafft, auf ehrliche Art in sein Vaterland zurückkehren zu können; ich habe ihm das Wohlwollen des Ministeriums gewonnen, ihm den Weg zu den Akademien gebahnt. Und wissen Sie, wie er so viel Eifer und Hingabe belohnt? Er reist nach Berlin, teilt mir dies ganz trocken mit, wohl wissend, daß er mein Herz durchbohrt, und überläßt mich einer Qual, die ohnegleichen ist, von der andere sich keine Vorstellung machen können und die Ihr Herz allein verstehen kann ... Ich hoffe bald tot zu sein ... Und werden Sie glauben, daß der Gedanke, der mich am meisten beschäftigt, wenn ich fühle, daß der Kummer mich töten wird, die furchtbare Qual ist, die dies Herrn de Voltaire bereiten wird ... ich kann die Idee nicht ertragen, daß die Erinnerung an mich einmal ein Leiden für ihn sein wird.

Noch herzzerreißender sind die Ausdrücke, die sie in einem aus dem folgenden Monat stammenden Brief an denselben Freund gebraucht. Am 24. Dezember schreibt Emilie du Châtelet, nachdem sie dem Herzog geschildert hat, welche grenzenlose Freundschaft sie für ihn hegt: »Aber diese Empfindung tut der zügellosen Leidenschaft, die gegenwärtig mein Unglück ausmacht, keinen Abbruch. Man kann leicht sagen: Derlei ist unmöglich. Ich habe eine treffende Antwort: Es ist und es wird so bleiben mein ganzes Leben lang, auch wenn Sie es beklagen.«

An d'Argental schreibt sie fast drei Jahre danach, am 15. Oktober 1743, aus Brüssel:

Ich glaube, es ist unmöglich, zärtlicher zu lieben und unglücklicher zu sein. Denken Sie, zu dem Zeitpunkt, da Herr de Voltaire hier zurück sein könnte und sollte ... reist er von Berlin nach Bayreuth, wo er sicherlich nichts zu tun hat (wir haben oben gesehen, warum er dahin reiste); er verbringt dort vierzehn Tage ohne den König von Preußen und ohne mir eine einzige Zeile zu senden. Er kehrt nach Berlin zurück und bleibt dort noch vierzehn Tage und wer weiß! vielleicht bliebe er dort sein ganzes Leben, wenn nicht Geschäfte ihn jetzt nach Paris riefen. Dann schreibt er mir im Vorbeigehen vier Zeilen von einem Wirtshaus aus, ohne mir zu erklären, was er in Bayreuth sollte und ohne von seiner Rückkehr zu sprechen ... und dies ist das einzige Billet, das ich seit dem 14. September, das will heißen, seit einem ganzen Monat, von ihm erhalten habe.

Alle diese Briefe sprechen unzweifelhaft die Sprache der erotischen Leidenschaft. Man vergleiche damit die Sprache der Briefe, in welchen Voltaire gleichzeitig Friedrich auf das bestimmteste, wenn auch artigste erklärt, er könne nicht bei ihm Aufenthalt nehmen, weil es ihm unmöglich sei, seine Freundin zu verlassen.

Um seine Absicht zu erreichen, scherzt Friedrich nämlich beständig und in fast höhnischer Form über den Dichter, der Rinaldo in Armidas Armen ist, den weichlich Verliebten, der sich aus dem Netz, das seine Sinne um ihn gesponnen haben, nicht losreißen kann, – so z. B. in dem Brief vom 20. Juni 1742 in folgenden aufdringlichen Zeilen, die nach Tabak riechen und gleichsam Bierflecken haben:

Enfin ce Bork est revenu
Après avoir beaucoup couru.
Entre les beaux bras d'Emilie
Il m'assure vous avoir vu,
Le corps languissant, abattu,
Mais toujours l'esprit plein de vie.

Voltaire erklärt in seiner Antwort (Juli 1742), daß es nicht Liebe, sondern Freundschaft sei, die ihn bindet:

Vous prenez pour faiblesse une amitié solide,
Vous m'appelez Renaud, de mollesse abattu
Grand roi, je ne suis point dans le palais d'Armide,
Mais dans celui de la Vertu.

Mit nordischer Derbheit spricht dann Friedrich ohne sonderliche Diskretion von der Leber weg:

Sie nehmen es übel, daß ich Ihnen eine Leidenschaft für die Marquise von Châtelet zutraue; ich glaubte mich Ihres Dankes verdient zu machen, weil ich so gut von Ihnen dachte. Die Marquise ist schön und liebenswürdig; Sie sind empfänglich. Sie hat ein Herz; Sie haben Gefühle; sie ist nicht aus Marmor, und Sie haben zehn Jahre zusammen gewohnt. Wollen Sie mir einreden, daß Sie all' die Zeit mit Frankreichs liebenswürdigster Frau nur von Philosophie gesprochen hätten? In diesem Falle hätten Sie, mein lieber Freund, eine sehr unglückliche Rolle gespielt. Ich hatte nicht geglaubt, daß von dem Tempel der Tugend, den Sie zu bewohnen behaupten, Vergnügungen verbannt seien.

Voltaire antwortet in einem gereimten Brief (29. August 1742) auf diese Fragen, die sich schwer in Prosa erörtern ließen, und macht mit Kraft und Bedauern sein Alter geltend, das ihn von Liebesfreuden ausschließt:

Ah vous m'avez fait, je vous jure,
Et trop de grâce et trop d'honneur,
Quand vous dites que la nature
M'a fait, pour certaine aventure,
D'autres dons que le don du cœur.
Plût au ciel que je l'eusse encore
Ce premier des divins présents,
Ce don que toute femme adore
Et qui passe avec nos beaux ans!
J'approche, hélas! de la nuit sombre
Qui nous engloutit sans retour;
D'un homme je ne suis que l'ombre,
Je n'ai que l'ombre de l'amour.

XXX

Madame du Châtelet hat eine kleine Abhandlung über das Glück geschrieben, aus der man sie fast ebensogut kennenlernt, wie aus ihren Briefen. Um glücklich zu sein, sagt sie, muß man seine Vorurteile abgelegt und seine Illusionen behalten haben. Man muß tugendhaft (in unserer Sprache edeldenkend) sein, sich wohlbefinden, Neigungen und Leidenschaften haben; wir haben keine andere Aufgabe in dieser Welt, als uns behagliche Sinneswahrnehmungen und Empfindungen zu verschaffen. – Es ist, wie man sieht, die Theorie aus Voltaires Le Mondain. Vorurteile sind also schädlich, Illusionen notwendig. Man soll seinem Leben eine feste Richtung geben und dieser ohne Bedauern und ohne Reue folgen. Man muß seinen Ausgangspunkt und sein Ziel kennen und man soll versuchen, sich Blumen auf den Lebensweg zu streuen.

Wo sie von ihren Neigungen und Leidenschaften spricht, gesteht sie ihre Eßlust und ihren Hang zum Spielen ein, verweilt aber besonders bei ihrem Drang nach Studien: »Von allen Leidenschaften ist die Wißbegierde die, die am meisten zu unserem Glück beiträgt; denn sie ist die, die uns am wenigsten abhängig von anderen macht.« Liebe nennt sie »das größte der Güter, das zu erreichen uns möglich ist, das einzige, das verdient, daß man ihm sogar die Freude an den Studien opfert. Das Ideal wären zwei Wesen, die so für einander geschaffen wären, daß sie Übersättigung oder Abkühlung niemals kennten. Aber auf solche Übereinstimmung zwischen zwei Personen dürfe man nicht hoffen; sie wäre allzu schön«. Ein Herz, sagt sie, das solch einer Liebe fähig, eine Seele, die so fest und so zärtlich wäre, werde vielleicht einmal in jedem Jahrhundert geboren; »es scheint, als ob das Hervorbringen zweier solcher Seelen über die Kräfte der Gottheit gehe«.

Aber sie ist der Meinung, daß eine zärtliche und fühlende Seele glücklich sein kann bloß durch das Vergnügen, das es ihr bereitet, zu lieben. Hier hat sie an sich selbst gedacht; denn sie sagt in einem Briefe: »Ich bin zehn Jahre durch die Liebe desjenigen glücklich gewesen, der meine Seele bezwungen hatte, und diese zehn Jahre habe ich in Gemeinschaft mit ihm ohne einen Augenblick des Unwillens oder Schmachtens verbracht. Als Alter und Krankheiten seine Zuneigung vermindert hatten, verging eine lange Zeit, ehe ich es bemerkte; ich liebte für zwei; ich verbrachte mein ganzes Leben mit ihm und mein Herz, das kein Mißtrauen hegte, genoß die Freude, zu lieben, und die Illusion, sich geliebt zu glauben. Es muß gesagt werden, daß ich diesen so glücklichen Zustand verloren habe, und es ist nicht geschehen, ohne daß es mich viele Tränen gekostet hat.«

Voltaire seinerseits hat hundertmal geäußert, daß er erst auf Cirey glücklich geworden sei. Als Mann verweilt er weniger bei dem materiellen oder sensuellen Glück, als bei dem Frieden und der ruhigen Lebensfreude, die er in seiner, von der Freundin verschönten Einsamkeit genossen hat. Man vergleiche die folgenden Briefstellen: »Sagen Sie mir nicht, daß ich zuviel arbeite. Diese Arbeiten sind eine Geringfügigkeit für einen Mann, der keine andere Beschäftigung hat. Ist der Geist lange Zeit hindurch in die Formen der schönen Literatur gebeugt worden, so ergibt er sich dieser Arbeit ohne Mühe und Anstrengung, so wie man mit Leichtigkeit eine Sprache spricht, die man seit langem gelernt hat, oder wie die Hand des Musikers mit Leichtigkeit über ein Klavier hinläuft ... Ich versuche mein Leben in Übereinstimmung mit der Situation, in der ich mich befinde, zu führen, ohne peinliche Leidenschaft, ohne Neid, mit vielen Kenntnissen, wenigen Freunden und mit Sinn für alles und jedes ... Wir müssen unserem Geist alle möglichen Formen geben. Es ist ein Feuer, das Gott uns anvertraut hat; wir müssen es aufrechterhalten mit dem Kostbarsten, das wir finden können. Wir müssen jeder erdenklichen Erscheinung in unserem Wesen Zutritt gewähren, alle Pforten unserer Seele öffnen, den Wissenschaften wie den Gefühlen. Vorausgesetzt, daß all dies nicht wie ein Mischmasch in die Seele eindringt, ist Platz darinnen für eine ganze Welt.«

Man sieht, Madame du Châtelet war, wo sie am besten war, ganz Mensch, Voltaire, wo er am besten war, nur Geist.

Es existiert ein Brief der schönen Emilie an d'Argental, worin sie sich selbst von der körperlichen Seite schildert. »Ich habe«, schreibt sie, »ein sehr gutes Temperament, aber ich bin nicht robust. Es gibt Dinge, die sicherlich meine Gesundheit zerstören würden, z. B. Wein und jede Art von Likören. Diese habe ich mir auch selbst von früher Jugend auf untersagt. Aber ich habe ein Temperament aus Feuer: ich verbringe daher meine Morgen damit, mich in Bädern zu ertränken«.

Dieses Temperament aus Feuer hat anfänglich mit Voltaires Temperament übereingestimmt, das ganz von derselben Art war. Aber im Verlauf der Jahre, da ein beständiges Kränkeln Voltaires Gesundheit erschüttert hatte, wurde die Temperatur in dem Naturell der beiden höchst verschieden. Voltaire begann sich sehr frühzeitig physisch alt zu fühlen. Bekanntlich betrachtete man in Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts einen Mann, der über die Vierzig war, als alt. Der lächerliche alte Arnolphe in Molières l'Ecole des femmes, der so albern ist, sich ein junges Weib erringen zu wollen, ist genau 42 Jahre alt. Von dem Augenblick an, da Voltaire in die zweite Hälfte der Vierzig eingetreten ist, bezeichnet er selbst sich in seinen Briefen als Greis.

»Während er sich geistig seine beste Kraft bewahrt hatte, ja sogar ein Wachsen seiner intellektuellen Fähigkeiten fühlte, scheint er seiner Meinung nach in die Jahre gekommen zu sein, wo Freundschaft die Leidenschaft ersetzen müsse. Im Gegensatz zu den meisten anderen künstlerischen Genies, bei denen die Jugend des Körpers ebensolange währt wie die des Geistes, muß bei Voltaire zwischen der Kraft des Rückenmarks und des Gehirns ein Mißverhältnis bestanden haben. Als er kaum 46 Jahre alt geworden, betrachtete er Liebe als eine Leidenschaft, für die er zu alt war, und hat seiner notgedrungenen Resignation und Entsagung in einem sehr schönen Gedicht vom Juli 1741 Ausdruck gegeben, einem Gedicht, aus welchem einzelne Zeilen stehende Redensarten der französischen Sprache geworden sind. Das Gedicht trägt die Überschrift: A Madame du Châtelet:

Si vous voulez que j'aime encore,
Rendez-moi l'âge des amours;
Au crépuscule de mes jours
Rejoignez, s'il se peut, l'aurore.

Also: will sie, daß er noch lieben soll, so möge sie ihm das Alter zurückgeben, in dem man liebt. Der Gott der Zeit läßt ihn wissen, daß Wein und Liebe nicht mehr für ihn seien:

Des beaux lieux, où le dieu du vin
Avec l'Amour tient son empire,
Le Temps, qui me prend par la main,
M'avertit que je me retire.

Und er verkündet die später so zahllose Male wiederholte Lehre, daß derjenige, der sich nicht so beträgt, wie die Jahre es von ihm fordern, all das Unglück erleidet, das sein Alter mit sich bringt. Wir müssen, sagt er, die stürmische Heftigkeit der Jugend überlassen. Wir haben zwei Minuten, in denen wir leben. Eine dieser Minuten möge der Weisheit geweiht sein. – Es ist sicherlich ein Greis, wenngleich erst ein sechsundvierzigjähriger, der da spricht:

De son inflexible vigueur
Tirons au moins quelque avantage.
Qui n'a pas l'esprit de son âge,
De son âge a tout le malheur.

Laissons à la belle jeunesse
Ses folâtres emportements;
Nous ne vivons que deux moments;
Qu'il en soit un pour la sagesse!

Nicht etwa, daß der Sprecher mit seinem frühen Alter zufrieden wäre, es priese, wie Cicero in De senectute mit Greisenphilosophie das Alter preist. Im Gegenteil, dieser Zustand ist ein Tod, schlimmer als der Tod:

On meurt deux fois, je le vois bien:
Cesser d'aimer et d'être aimable,
C'est une mort insupportable.
Cesser de vivre, ce n'est rien.

Doch während er also den Verlust der süßen Jugendirrtümer beklagte, empfing er, wie er behauptet, einen Trost. Vom Himmel herab stieg die Freundschaft und ersetzte ihm die Liebe:

Du ciel alors daignant descendre,
L'Amitié vint à mon secours;
Elle était peut-être aussi tendre,
Mais moins vive que les Amours.

Ach, ebenso sprach sein lieber Cicero in dem ehrbaren De amicitia. Madame du Châtelet, die zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt und deren Temperament »dem Feuer glich«, konnte sich unmöglich gleichzeitig in ein altes Weib verwandeln. Der Übergang von Liebe zur Freundschaft war bei ihr nicht von der Natur gefordert wie bei Voltaire; und darum ist es sicherlich nicht zu verwundern, daß sie sich noch nach einer Reihe von Jahren von einem anderen Mann hinreißen ließ.

Von nun ab aber ist sie für Voltaire nur die Freundin, und während der 37 Jahre, die er noch zu leben hat, taucht keine andere Frau über seinem Gesichtskreis auf. Er hat den Zeitraum hinter sich, da er liebte und glücklich war und litt, bald auch den Lebensabschnitt, wo ein Weib ihn inspirierte und begeisterte.

Von nun an ist nur die Wahrheit Gegenstand seines Verlangens, nur Menschlichkeit das, was er preist und verehrt. Die Gerechtigkeit ist seine einzige Braut geworden und Berühmtheit die einzige Geliebte, mit welcher er reist und lebt.

Es schickt sich nicht für einen Soldaten, verheiratet zu sein. Es ziemt sich schlecht für einen Missionar, verheiratet zu sein. Voltaire wird aber von nun an immer mehr Soldat und Missionar. Die Tempelherren waren zugleich Mönche und Ritter, Krieger und Priester. Als halber Krieger, halber Priester ist Voltaire von nun an eine neue Art Tempelherr oder vielmehr Großmeister eines Tempelherrn-Ordens, der sich während seiner Lebenszeit langsam bildete und zu ihm als zu seinem Führer aufblickte.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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