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II.

Von allen Personen, die an dem Drama betheiligt waren, welches in dem Atelier des Malers Vitrac seinen Anfang genommen, war der Rittmeister Cavaroc der Einzige, der von den zahlreichen Ereignissen unberührt blieb, die seinem Spazierritte im Bois de Boulogne, den er in Gesellschaft seines Freundes Jonville unternommen, folgten. Er führte genau dieselbe Lebensweise wie früher und war nur ausgegangen, um sich nach dem Befinden seines Freundes zu erkundigen, dem es bereits so weit besser ging, daß er nur mehr zwei oder drei Tage das Zimmer hüten müßte.

Ohne daß sie irgend eine diesbezügliche Vereinbarung getroffen hätten, vermieden sie es, von jener Ballnacht und von der reizenden Nichte des Grafen Borodino zu sprechen. Auch von Wanda war keine Rede zwischen ihnen, obschon Cavaroc wußte, daß die schöne Frau zweimal in seiner Wohnung gewesen sei, ohne daß sie ihn zu Hause angetroffen hätte.

Aus gleichem Taktgefühle hatte er es nach einiger Ueberlegung unterlassen, den Grafen Borodino zu besuchen, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte. Und so lebte er denn wie vordem ohne Kummer und ohne Sorge, denn um die Zukunft sorgte er sich niemals und mit der Gegenwart war er vollkommen zufrieden.

Einen Tag nach seiner Begegnung mit Vitrac bei seinem Freunde Jonville nahm der Rittmeister in der heiteren Gesellschaft von mehreren Kameraden sein Diner im Café d'Orsay ein; seine Collegen begaben sich nach beendetem Mahle ins Theater und er hätte sie gern dahin begleitet, doch hatte er Jonville schon seit dem Tage vorher nicht gesehen und so beschloß er in großmüthiger Entsagung, den Abend ihm zu weihen. Statt sich also seinen Freunden anzuschließen, schritt er über den Quai d'Orsay der Place du Palais Bourbon zu.

Es war bereits dunkel und trocken kalt, wozu sich noch ein ziemlich heftiger Nordwind gesellte. Die wenigen Passanten, die über den dem Sturme voll ausgesetzten Quai schritten, hatten den Kragen bis zu den Ohren emporgeschlagen und die Hände in die Taschen versenkt; sie machten große Schritte, um sich durch den beschleunigten Gang zu erwärmen. Cavaroc hatte es nicht unterlassen, seine Vorsichtsmaßregeln gegen dieses wenig frühjahrsmäßige Wetter zu treffen; im Uebrigen aber beeilte er sich nicht sonderlich, da er dem Principe huldigte, daß man nach einem reichlichen Mahle nicht laufen dürfe.

Er schritt also langsam und gemessen einher und dachte an ganz andere Dinge, als an die Tragödie im Maleratelier und die Frauen, deren Bekanntschaft er während und nach diesem bewegten Abende gemacht. Er dachte weder an die schöne Wanda, noch an die liebreizende Nichte des Grafen Borodino; dagegen dachte er daran, daß er am Schlusse des Jahres mit einer guten Note von der Kriegsschule abgehen und man ihn zur Belohnung dafür an irgend einen weltentlegenen Garnisonsort versetzen werde, wo an Langweile gewiß kein Mangel sein wird. Er gelangte auf diese Weise zu der Erkenntniß, daß er die ihm noch gegönnte kurze Spanne Zeit dazu benützen müsse, das Leben in vollen Zügen zu genießen.

Er besaß alles, um einer derartigen Lebensweise zu fröhnen: Gesundheit, Jugend und Geld; doch liebte er es nicht, sich allein zu amüsiren, und auf Jonville, seinen bevorzugten Kameraden, konnte er nicht mehr rechnen. Seit jenem Unfalle neigte der junge Diplomat nämlich einer verliebten Melancholie zu, die die schlimmste unter allen derartigen Stimmungen sein soll, und der Rittmeister verwünschte das stumme Mädchen, welches seinem Freunde den Kopf verdreht hatte und sich desselben vielleicht noch ganz bemächtigen werde.

Cavaroc suchte sich selbst zu beruhigen, indem er sich sagte, daß der Onkel vielleicht schon demnächst in die russischen Steppen zurückkehren und die verführerische Helene mit sich nehmen würde; trotz dieser Beschwichtigungsversuche fühlte er aber instinctiv, daß allerlei Verwickelungen dazwischen kommen könnten, die bei Jonville und auch bei ihm selbst durchgreifende Veränderungen herbeiführen werden.

Von diesen und ähnlichen Gedanken erfüllt, war er an der Solferinobrücke angelangt, als er in einiger Entfernung eine Frau erblickte, die an der Quaibrüstung lehnte. Er war seiner Sache indessen nicht sicher, denn er unterschied bloß eine menschliche Gestalt in der ungefähren Höhe eines Kindes, die vom Kopf bis zu den Füßen in eine Art Mantel eingehüllt war.

Dies konnte recht gut auch ein kleiner Telegraphenbote sein, der seine Zeit hier vertrödelte, statt seine Telegramme auszutragen. Doch bei den laut wiederhallenden Schritten des Rittmeisters richtete sich die Gestalt empor und eilte mit raschen Schritten der Concordebrücke zu. Hierbei konnte Cavaroc sehen, daß es in der That ein langer Mantel mit einer Kapuze sei, in welchen die Gestalt gehüllt war, und daß sich unter demselben ein Frauenrock befinde. Jedenfalls ein recht sonderbares Costüm, um gegen neun Uhr Abends allein auf einem einsamen Quai zu lustwandeln.

Eine derartige Bewegung ließ den Rittmeister, diesen begeisterten Verehrer des schönen Geschlechtes, niemals unberührt; die Unbekannte zog ihn mächtig an und er folgte ihr um so unbedenklicher, als er damit von seinem Wege zu Jonville nicht abwich.

Er beschleunigte sogar seine Schritte in der Hoffnung, die Unbekannte einholen und ihr Gesicht erblicken zu können; doch erkannte er alsbald, daß dies seine Schwierigkeiten habe, da jene sehr schnell ging. Die beiden Personen waren die einzigen Passanten dieses nur ungenügend beleuchteten Weges, an dessen rechter Seite sich das Flußufer befand, während sich links eine Reihe großer Gebäude mit sehr ausgedehnten Gartenanlagen dahinzog.

Cavaroc, der sich durch einen angestrengten Lauf zu erhitzen fürchtete, beschloß, die nächtliche Spaziergängerin anzurufen, trotzdem dieselbe gar nicht gesonnen schien, seine Bekanntschaft zu machen, da sie wie ein aufgescheuchter Hase dahineilte.

»Hollah, schönes Kind!« rief er ihr zu, »gehen Sie doch nicht so schnell! Ich habe Ihnen zwei Worte bloß zu sagen – in Ihrem eigenen Interesse!«

Dies war recht einfältig; doch fand Cavaroc nichts besseres. Die Aufforderung, die er aus der Entfernung an sie ergehen ließ, hatte nur die Wirkung, daß die Unbekannte mit vermehrter Schnelligkeit weiter eilte, und schon wollte Cavaroc die Verfolgung aufgeben, als er sie mit einemmale verschwinden sah.

Dies setzte ihn vorerst in Erstaunen; dann aber ward ihm die Sache mit einemmale klar. Die Quaibrüstung war an der betreffenden Stelle, gleichwie an mehreren anderen unterbrochen, und von dort führte eine Treppe zum Flußufer hinab.

Cavaroc blickte nach dieser Seite und in der That entdeckte er die Flüchtige, die über die mit Kies und Sand bedeckte Uferstrecke weiter eilte.

»Alle Wetter!« brummte der Rittmeister; »diese Person sieht mir ganz danach aus, als wollte sie schnurstracks ins Wasser laufen. – Nun, daraus wird nichts, mein schönes Kind, denn ich habe keine Lust, Ihnen nachzuspringen.«

Und ohne einen Moment zu zögern, eilte er der Treppe zu, die er in vier Sprüngen erreicht hatte, die Stufen hinab und stürmte auf dem Flußufer dahin. Die Frau lief noch immer, doch ward sie von ihrem Mantel behindert, so daß sie nicht rasch genug vorwärts kam, während ihr der Rittmeister mit der ganzen Schnelligkeit seiner langen Beine nachsetzte.

Zwei Meter vom Uferrande entfernt hatte er sie erreicht, und ohne jedes Bedenken erfaßte er sie bei der Kapuze ihres Mantels, an welcher er sie auf die Gefahr hin, sie zu Falle zu bringen, nach rückwärts zerrte. Sie knickte in der That zusammen, wie ein Pferd, welches allzu plötzlich angehalten wird; der Rittmeister aber fing sie noch rechtzeitig auf, so daß sie nicht zu Boden fiel.

Sie wehrte sich aber mit aller Kraft, so daß es ihn Mühe kostete, sie festzuhalten.

»Seien Sie vernünftig und verhalten Sie sich ruhig!« sprach er halblaut, als er sich ihrer versichert hatte. »Was fällt Ihnen denn ein? Ist es gar so verlockend, bei dieser Kälte ein Bad in der Seine zu nehmen?«

Und ohne sie loszulassen, suchte Cavaroc ihr Gesicht zu erblicken, welches sie mit ihren Armen zu verdecken trachtete, da ihr die Kapuze auf die Schultern niedergefallen war.

»Das nützt Ihnen nichts,« sprach er halb lachend, halb erzürnt; »denn ich werde Ihr niedliches Gesicht doch sehen. Zeigen Sie es mir gutwillig, das ist viel besser.«

Die Arme der Unbekannten sanken herab und sie murmelte halblaut, doch so, daß man sie deutlich verstehen konnte und in deutscher Sprache:

»O mein Gott! – Der Rittmeister!«

»Alle Wetter! Eine Elsässerin!« sagte Cavaroc, der in der Kriegsschule auch Deutsch gelernt hatte. Er war dieser Sprache so weit mächtig, daß er sie ein wenig verstand, und er wußte, daß »Rittmeister« im Französischen » capitaine« bedeute. »Eine Elsässerin, die mich kennt!« fügte er hinzu. »Ich will des Teufels sein, wenn ich mir das erklären kann.«

Er versuchte diese Bemerkung in die Sprache Goethe's, eines Autors, den er nur dem Namen nach kannte, zu übersetzen und dies gelang ihm auch einigermaßen, denn die Unbekannte erwiderte neuerdings in deutscher Sprache:

»Blicken Sie mich an.«

Zugleich warf sie die Kapuze ab, die sie wieder über den Kopf gezogen hatte und ließ bei dem Scheine eines in der Nähe stehenden Gascandelabers ihr Gesicht sehen.

»Die Nichte des Russen!« rief der Rittmeister maßlos erstaunt aus und die Arme gegen Himmel erhebend, fügte er hinzu: »Eine Stumme, die sprechen kann! – Eine Griechin aus Smyrna, die deutsch spricht, als wäre sie in Berlin geboren!

Er hätte noch lange in diesem Tone fortsetzen können, ohne daß ihm die junge Dame, die kein Wort Französisch verstand, geantwortet hätte. Er wurde dessen alsbald gewahr und begann seine Fragen in deutscher Sprache zu stellen; doch war er mit diesem zweiten Versuche noch viel weniger glücklich als mit dem ersten. Helene verstand durchaus nicht, daß er sie fragte, wieso sie hierher gekommen sei und weshalb sie sich ins Wasser hatte stürzen wollen. Trotzdem antwortete sie ihm, aber mit einer Zungenfertigkeit, daß er keine Silbe von dem verstand, was sie sagte.

Die Situation begann lächerlich zu werden, und trotzdem war sie eine sehr peinliche. Cavaroc konnte das junge Mädchen, welches er soeben mit knapper Noth gerettet hatte, nicht verlassen; die Seine war zu nahe und Helene wäre gewiß in dieselbe gesprungen. Er wußte aber auch nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Sollte er sie zu ihrem Onkel zurückführen? Eine Ahnung begann in ihm aufzudämmern, daß sie keine Lust habe, unter das verwandtschaftliche Obdach in der Rue Berton zurückzukehren und je mehr er sich bemühte, eine für sie verständliche Satzfügung zu construiren, je mehr verwickelte er sich in die Gesetze der deutschen Syntax und je weniger Worte wollten ihm einfallen.

Statt dessen kam ihm ein rettender Gedanke.

»Nun habe ich es!« sprach er und schlug sich vor die Stirne. »Jonville spricht deutsch wie Bismarck; ich werde sie also zu Jonville bringen.«

Bei diesem Namen, der in Helenen's Gedächtniß haften geblieben war, seitdem der Rittmeister seinen Freund im Bois de Boulogne dem Grafen Borodino vorgestellt hatte, begann sie in die Hände zu klatschen, wobei sie wiederholte:

»Ja! – Ja! – Jonville! – Jonville!«

»Ja, ich habe ganz vergessen, daß sie während der Fahrt in dem Wagen ihres Onkels nur für Jonville Augen hatte,« sagte sich der Rittmeister im Stillen. »Er gefällt ihr, das ist nicht zu leugnen und sie gefällt ihm. Mein guter Julius wird hoch erfreut sein, wenn ich Arm in Arm mit seiner Schönen in sein Zimmer trete! Wenn ich aber nur wüßte, wie die Geschichte enden wird! – Doch das ist seine Sache. – Ich kann nichts weiter thun, als ihn bei allem unterstützen, was er zu thun gedenkt.«

Nachdem der Rittmeister zu diesem Schlusse gelangt war, gab er ohne Bedenken die Versuche, sich des deutschen Idioms zu bedienen, auf, um statt derselben eine ausdrucksvolle Pantomime zu beginnen. Er deutete mit dem Finger auf die Concordebrücke und darauf an dem Kammergebäude entlang, wobei er mehrmals das magische Wort »Jonville« wiederholte.

Helene schien ihn sehr gut zu verstehen. Vielleicht hatte sie, als ihr Onkel den jungen Diplomaten nach seinem Unfalle im Bois de Boulogne nach Hause brachte, im Vorüberfahren die Säulenfaçade des Palais Bourbon wahrgenommen, und nun erkannte sie das Gebäude, in dessen Nähe Jonville wohnte. Sie gab Cavaroc durch Zeichen zu verstehen, daß sie bereit sei und nahm den Arm an, den er ihr bot, worauf sie die zum Quai hinaufführende Treppe emporstiegen und raschen Schrittes den Weg nach der Rue de Bourgogne einschlugen.

Wie sie da so nebeneinander dahinschritten, hätte man sie für ein Liebespaar halten können, denn das junge Mädchen schmiegte sich eng an seinen Begleiter, der eine triumphirende Miene zur Schau trug, als wäre ihm soeben eine schwierige Eroberung geglückt. Die Aermste stützte sich aber auf den Arm des Rittmeisters, weil sie ganz erschöpft war und sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte, und Cavaroc zeigte seine Siegesmiene nicht etwa, weil er mit seinem Glücke prahlen wollte. Er freute sich bloß im Interesse seines Freundes und sagte sich im Stillen:

»Dieser Jonville hat entschieden Glück; diese germanisirte Griechin ist reizend, und dann kann sie kein Wort Französisch, so daß man in ihrer Gegenwart alles sprechen kann, ohne daß sie es verstünde. Ich will aber des Teufels sein, wenn ich mir erklären kann, was vorgefallen ist! Borodino hat sie vielleicht an die Luft gesetzt, und ich fange an, mißtrauisch gegen den Moskowiten zu werden. – Meiner Ansicht nach ist es nicht unmöglich, daß er der Anderen – den Hals abgeschnitten hat.«

Man langte ohne Zwischenfall vor dem von Jonville bewohnten Hause an, welches Helene sofort erkannte, denn sie blieb selbst davor stehen.

Cavaroc zog die Klingel, man trat ein, und beim Vorüberschreiten an der Nische des Thorwartes mußte der Rittmeister über die Miene desselben lächeln, als dieser den Freund seines Miethers in Begleitung einer Dame erblickte. Schwieriger gestaltete sich schon die Sache mit dem alten Kammerdiener, der ihnen die Thür öffnete. Der Wackere blieb mit offenem Munde stehen, und es fehlte wenig, so hätte er dem unerwarteten Paare den Weg verstellt.

Cavaroc lachte ihm ins Gesicht und schritt an ihm vorüber, ohne den Arm seiner Gefährtin loszulassen, die sehr erregt sein mußte, denn sie zitterte am ganzen Leibe, während sie sich an ihn schmiegte.

Jonville, der am Kamin saß und in die brennende Glut starrte, erkannte die Schritte des Rittmeisters und sagte, ohne sich umzuwenden:

»Kommst Du aber spät!«

»Lieber spät, als gar nicht,« erwiderte Cavaroc heiter, während er zu gleicher Zeit ohne Umstände die Kapuze entfernte, welche den Kopf Helenen's bedeckte, worauf er hinzufügte: »Ich bringe Dir jemanden, dem ich am Quai d'Orsay begegnete, und glaube, daß es Dir nicht unangenehm sein wird, diesen Besuch zu erhalten.«

Jonville blickte hin und erhob sich hastig, blieb aber vor Staunen wie angewurzelt auf seinem Platze. Er erkannte die Nichte des Grafen Borodino, wollte aber seinen Augen nicht trauen.

»Von mir erwarte keine Erklärung,« nahm der Rittmeister von neuem auf; »da ich Dir keine geben kann. Wende Dich an das Fräulein selbst.«

»Du vergißt, daß sie stumm ist.«

»Sie ist es nicht mehr, nur spricht sie ausschließlich deutsch, und da Du dieser Sprache mächtig bist, ich aber nicht, so wirst Du die erforderlichen Fragen an sie richten müssen und sie wird Dir gern antworten. Ich kann Eurer Unterhaltung nicht folgen; doch wirst Du mir den Inhalt derselben immer in kurzen Worten wiedergeben – außer Du willst die angenehmen Dinge, die Ihr Euch gegenseitig sagen werdet, für Dich behalten, was ich Dir gar nicht übelnehmen würde.«

Ohne sich in einleitenden Redensarten zu ergehen, eröffnete Jonville in deutscher Sprache ein förmliches Verhör, welches der Rittmeister mit keiner Silbe unterbrach und welches Helene ohne jede Befangenheit über sich ergehen ließ. Jonville fragte sie vorerst, wie es möglich sei, daß sie sich bei sinkender Nacht allein auf offener Straße befinde, worauf sie ihm ohne Zögern in reinstem Deutsch erwiderte:

»Ich suchte das Haus, in welchem Sie wohnten. Ich erinnerte mich, daß Sie in der Nähe des Flusses, an der Mündung einer Brücke, hinter einem großen schönen Gebäude wohnten; doch suchte ich schon seit drei Stunden vergebens, ohne das Haus finden zu können. Und da wurde ich von Verzweiflung erfaßt. Ich beschloß, zu sterben und wollte in die Seine springen, als mich Ihr Freund daran hinderte. Zuerst zürnte ich ihm; als er aber Ihren Namen nannte, errieth ich, daß er mich hierher bringen wolle und darum folgte ich ihm, ohne Widerstand zu leisten.«

»Ich danke Ihnen für dieses Vertrauen,« erwiderte Jonville tief bewegt. »Aber woher kamen Sie denn, um des Himmels willen?«

»Von einem Orte, wo ich vor Furcht zu sterben vermeinte – und auch vor Schmerz. Ich weiß nicht, weshalb man mich dahin brachte. – Ich sah dort einige Herren und eine Frau, die ich noch niemals gesehen hatte. – Was sie miteinander sprachen, habe ich nicht verstanden. – Mit einemmale führte man mich in ein ganz dunkles Zimmer – dort öffnete man ein Fenster – und da sah ich –«

»Was denn?«

»Etwas Schreckliches – einen abgeschnittenen Kopf!« sagte Helene.

»Ah! Die Unmenschen hatten es gewagt –«

»Und ich erkannte den Kopf – es war der Kopf meiner Schwester Irene!«

Bei dem Namen Irene, welchen Vitrac kaum hörbar gemurmelt hatte, als er den fahlen, blutigen Kopf seiner heißgeliebten Freundin erblickte, konnte Cavaroc, der dem Gange der Unterhaltung folgte, so gut er es vermochte, einen derben französischen Fluch nicht unterdrücken, Jonville aber rief in deutscher Sprache aus:

»Ihre Schwester! – Die Frau, die man ermordet hatte, war also Ihre Schwester?«

»Nun ist mir die Aehnlichkeit bereits erklärlich,« brummte der Rittmeister.

»Ermordet hat man sie, sagen Sie?« fragte das junge Mädchen. »Wer hat sie ermordet?«

»Das weiß ich nicht – kann ich auch nicht wissen. Noch vor einigen Tagen habe ich ja weder Sie, noch Ihren Onkel gekannt.«

»Meinen Onkel? Ich habe ja keinen Onkel!«

»Wie! Und der Graf Borodino?«

»Ist nicht mein Onkel. Ich habe keinen anderen Verwandten als meinen Schwager, Herrn Constantin Caritides, der vor drei Jahren meine Schwester Irene geheiratet hat.«

»Wie kommt es alsdann, daß Sie in dem Hause des Herrn Borodino wohnten?«

»Ich kam erst am jüngsten Donnerstag dahin und glaubte daselbst meine Schwester Irene anzutreffen, die mir geschrieben hatte. – Mein Schwager ist ein langjähriger Freund des Herrn Borodino und wohnte mit seiner Frau bei diesem. – Irene und ihr Gatte waren aber einen Tag vor meiner Ankunft abgereist – und Herr Borodino sagte mir, daß sie im Laufe der Woche zurückkehren würden. Ich glaubte ihm und als ich sah, daß er mich belogen hatte –«

»Wo waren Sie, bevor Sie nach Paris kamen?«

»In Oesterreich, in Wien. Ich lebte in einem Kloster, wo mich meine Schwester nach dem Tode unserer Mutter untergebracht hatte.«

»Ihre Mutter kam bei einer Brandkatastrophe ums Leben?«

»Ja. Herr Borodino sagte es Ihnen?«

»Er sagte uns auch, daß Sie aus Schrecken über das Unglück stumm geworden seien.«

»Ich? – Das ist ja eine Lüge! – Darum hatte er mir also zu sprechen verboten!«

»Aber aus welchem Grunde denn?«

»Es geschehe in dem Interesse meiner Schwester, sagte er mir und ich gehorchte seinem Wunsche, ohne eine weitere Erklärung zu verlangen. Ich liebte meine Schwester, wie ich meine Mutter geliebt hatte, und durch sie wußte ich, daß ihr Gatte an einer Verschwörung theilgenommen hatte. Ich glaubte, er fürchte, daß ich ihm durch unbedacht gemachte Aeußerungen schaden könnte, und es wurde mir um so leichter zu schweigen, als ich des Französischen nicht mächtig war und man mich ohnehin nicht verstanden hätte, wenn ich deutsch oder griechisch gesprochen hätte. Ich sprach daher auch kein Wort bis zu dem Momente, da ich völlig unerwartet den entstellten Kopf meiner geliebten Schwester vor mir sah, und da sagte ich in griechischer Sprache: » I adelphi mou.«

»War Herr Borodino zugegen?«

»Ja – und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. – Man brachte mich in ein anderes Zimmer und als ich mich aus meiner Ohnmacht erholt hatte, dachte ich nur daran zu fliehen – ich fürchtete mich vor Borodino.«

»Und er ließ Sie entfliehen?«

»Er war da nicht mehr zugegen. Bloß ein Arzt und eine Frau, die ich nicht kannte, waren um mich und die hielten mich nicht zurück.«

»Wo waren Sie denn, als Sie ohnmächtig wurden?«

»Das weiß ich nicht. Um die Mittagsstunde kam ein Maler zu uns, der in dem Pavillon, in welchem ich bei Herrn Borodino wohnte, mein Porträt malen wollte –«

»Ja, mein Freund Vitrac,« bemerkte Jonville.

»Ich glaube, daß man ihn bei diesem Namen nannte. Er hatte bereits zu malen begonnen, als ein Herr eintrat, worauf sich zwischen ihm und Herrn Borodino eine Unterhaltung entspann, die recht lange währte. Dann sagte Borodino, daß ich ihn begleiten müsse, wohin, das sagte er aber nicht; er schärfte mir nochmals ein, ja nicht zu sprechen oder zu antworten, selbst wenn man in deutscher oder griechischer Sprache eine Frage an mich richten sollte. Wir stiegen in einen sehr häßlichen Wagen, vor welchem Männer in häßlichen Kleidern Wache hielten.«

»Vitrac wurde aber nicht mitgenommen, wie?«

»Auch er kam mit uns, doch war er nicht zugegen, als ich meine Schwester erkannte. Als wir aus dem Wagen stiegen, befanden wir uns in einem Hofe, wo viele Polizeisoldaten standen, wie man solche auf der Straße sieht.«

»Ja; das waren gewiß Polizisten.«

»Der Mann, der uns geholt hatte, führte uns eine Treppe empor, und oben wies er uns ein leeres Zimmer an, in welchem sich bloß hölzerne Bänke zum Sitzen befanden. Zehn Minuten später holte er uns, Herrn Borodino und mich, und geleitete uns zu einem Herrn, der an einem mit Papieren bedeckten großen Tische saß. Er sah sehr strenge aus und sprach sehr lange mit Herrn Borodino, der oft in Zorn gerieth.«

Jonville begann es klar zu werden, daß man die arme Helene und ihren angeblichen Onkel vor einen Untersuchungsrichter gebracht und daß sie der Letztere dem Kopfe der ermordeten Frau gegenübergestellt hatte. Hieraus ergab sich der Schluß, daß man Borodino verdächtigte, die Schwester Helenen's selbst ermordet oder deren Ermordung veranlaßt zu haben. Helene schien kein Verdacht zu treffen, da man ihr das Gerichtsgebäude zu verlassen gestattet hatte.

Doch welch eine Menge neuer Thatsachen entdeckte Jonville in diesem naiven Bericht der Abenteuer, welche das junge Mädchen durchgemacht hatte! Er erfuhr, daß das gemordete Opfer die Schwester Helenen's gewesen, die mit Herrn Borodino durch keinerlei verwandtschaftliche Bande vereinigt wurde, und daß der Gatte der unglücklichen Irene ein gewisser Caritides sei, der an dem Tage verschwand, da seine Frau getödtet wurde.

Borodino hatte Lügen auf Lügen gehäuft, deren verwegenste jedenfalls die Behauptung war, daß seine angebliche Nichte stumm sei. Es hätte nicht einmal all dieser Umstände bedurft, um ihn den beiden Freunden verdächtig erscheinen zu lassen, zumal dieselben dem Manne von Anbeginn nicht recht getraut hatten.

Jonville erwog im Stillen die Frage, ob Borodino verhaftet worden sei, und je länger er darüber nachdachte, je mehr schien alles darauf hinzudeuten, daß Helene diesbezüglich keine Auskunft geben könne. Trotzdem legte er ihr diese Frage vor und sie antwortete ihm in dem Sinne, wie er es vorausgesehen, indem sie sagte, Borodino sei in dem Zimmer zurückgeblieben, in welchem er verhört wurde. Sie fügte noch hinzu, daß er ihr Schrecken und Abscheu einflöße und sie nie wieder zu ihm zurückkehren werde.

Nach dieser Erklärung drängte sich aber eine andere Frage von selbst auf, an die Jonville schon früher hätte denken sollen: Was sollte er mit diesem armen Kinde anfangen, welches, von dem Vertrauen einer keuschen Seele geleitet, gekommen war, um bei ihm Schutz zu suchen? Brachte man sie zu dem Grafen zurück, so wäre sie ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert gewesen, und Jonville hätte Helene dem falschen Onkel und gewiß auch falschen Edelmann um keinen Preis der Welt überantwortet. Auch war ja Helene entschlossen, nicht mehr zu dem Manne zurückzukehren.

Aber wie und wo sollte er ein junges Mädchen unterbringen, welches als Griechin gekleidet war und kein Wort Französisch wußte? Und was sollte aus ihr werden, da sie ohne jeden Schutz in der Welt dastand, der Rache unbekannter Feinde ausgesetzt war und möglicherweise auch von der Polizei gesucht wurde, da ihr Verschwinden nicht unbemerkt geblieben sein konnte?

Am Kamin lehnend, hatte der Rittmeister die in deutscher Sprache geführte Unterredung mit angehört, und wenn ihm auch nicht alles verständlich gewesen, so hatte er doch den Sinn einiger Sätze erfaßt, während ihm Jonville die Bedeutung anderer erläuterte. Der Augenblick war gekommen, um seinem Freunde einen Rath zu ertheilen, den derselbe ohnehin von ihm erbeten hätte.

»Lieber Freund,« begann der Rittmeister, »was Dir da zugestoßen ist, hast Du Dir nicht leichtfertigerweise zugezogen; doch ist's darum nicht weniger wahr, daß jetzt eine große Verantwortung auf Dir lastet. Ich an Deiner Stelle würde nicht zögern –«

»Was zu thun?«

»Die Kleine bei mir zu behalten.«

»Wohin denkst Du? Sie ist ja ein wahres Kind.«

»Und Du fürchtest das Gerede der Leute, welches Dir von Nachtheil sein könnte, wie? Du lieber Gott, hier kann ja von der Entführung einer Minderjährigen gar keine Rede sein, nachdem das junge Mädchen aus völlig freien Stücken zu Dir kam, was ich nöthigenfalls bezeugen kann. Außerdem steht Dir hier alles zu Gebote, um ihr ein Asyl zu gewähren, ohne den Anstand zu verletzen. Die Räume, in welchen Du Deine Mutter unterbringst, wenn sie nach Paris kommt, sind im ersten Stock gelegen und haben einen ganz abgesonderten Zugang.«

»Das ist wohl wahr, aber –«

»Höre mich zu Ende an. Die alte Monika, die ehemalige Kammerfrau Deiner Mutter, ist noch immer in Deinen Diensten. Sie kann jetzt also Fräulein Helene zugetheilt werden, so daß diese von Deinem Haushalte gänzlich unabhängig sein und nur noch eines Dolmetschers bedürfen wird, so lange sie des Französischen nicht mächtig ist. Ich wäre gern bereit, ihr diese Wissenschaft beizubringen,« fügte Cavaroc lachend hinzu; »glaube aber, daß sie Dich als ihren Lehrmeister vorziehen wird.«

»Du sprichst da, als wüßtest Du bereits, daß sie mit dieser hübschen Eintheilung einverstanden ist.«

»Ich möchte wissen, ob sie etwas besseres vorzuschlagen hat. Frage sie doch einmal, wie sie über meinen Vorschlag denkt.«

Jonville war sehr erstaunt, sagte sich aber, daß der Rath des Rittmeisters jedenfalls des Erwägens werth wäre, und so sprach er zu Helene:

»Ich bitte Sie um Entschuldigung, mein Fräulein, daß ich Sie mit so vielen Fragen belästige, da ich doch daran hätte denken sollen, daß Sie vor Müdigkeit und Kälte ganz erstarrt sind.«

»Sie konnten dies sehr leicht außer Acht lassen, da ich selbst nicht mehr daran dachte,« erwiderte das junge Mädchen sanft.

»Es ist an der Zeit, meine Nachlässigkeit gut zu machen. Wollen Sie mir gestatten, Sie in ein Zimmer zu geleiten, wo Sie sich wie in Ihrem eigenen Heim fühlen werden?«

»Und wo ich Sie nicht mehr sehen werde,« sagte Helene leise und traurig.

»Sie werden mich im Gegentheile sehen, so oft Sie wollen. Die Wohnung, die ich Ihnen zur Verfügung stelle, befindet sich oberhalb der meinigen, und werden Sie daselbst von einer vertrauenswürdigen alten Frau bedient werden. Sind Sie damit einverstanden?

»Was würden Sie sich von mir denken, wenn ich einwilligen würde?«

»Nichts anderes, als daß Sie Vertrauen zu mir haben, wofür ich Ihnen sehr dankbar wäre. Wohin wollten Sie denn sonst gehen, mein Fräulein? Sie haben, denke ich, nicht die Absicht, zu Herrn Borodino zurückzukehren?«

»Lieber sterben als das – gleichwie ich gestorben wäre, wenn mich Ihr Freund nicht zurückgehalten hätte, in die Seine zu springen.«

»Sie glauben also, daß Borodino Ihre Schwester getödtet hat?«

»Ja, er – oder der Andere.«

»Der Gatte Ihrer Schwester?«

»Ja. – Irene fürchtete sich vor ihm.«

»Und trotzdem wurde sie seine Gattin?«

»Was wäre aus ihr geworden, wenn sie ihn hätte verlassen wollen? Unsere Mutter hinterließ uns keinerlei Vermögen, und aus Liebe zu mir entschloß sich Irene, seine Gattin zu werden. Er bezahlte die Kosten meiner Erziehung in dem Kloster zu Wien, wo ich seit dem Tode meiner Mutter lebte. Als meine Schwester an die Oberin schrieb, sie möge mich nach Paris schicken, dachte ich, sie ließe mich kommen, um mich in ihrer Nähe zu haben. – Und wie freute ich mich auf das Wiedersehen! – Ich sah sie nur als Todte wieder.«

Ihre Stimme wurde durch ein Schluchzen erstickt, und Jonville, der sah, daß sie einer Ohnmacht nahe sei, machte sich den Augenblick zunutze, um sie mit einem Arm zu stützen, während der Rittmeister ein Gleiches auf der anderen Seite that. So trugen sie sie denn mehr als sie sie führten, die Wendeltreppe empor, die zu der im ersten Stocke gelegenen Wohnung führte, wo sie die rechtschaffene, alte Monika mit dem Ausbessern von Wäsche beschäftigt antrafen. Julius, den sie heranwachsen gesehen und den sie anbetete, nahm sie auf die Seite und erklärte ihr in wenigen Worten die Situation.

Es handelte sich darum ein rechtschaffenes junges Mädchen, welches von allen Seiten verlassen war, zu retten und ihm für einige Tage Nahrung und Obdach zu gewähren. An diesem Werke der Barmherzigkeit hätte sicherlich auch Frau von Jonville, wenn sie zugegen gewesen wäre, nichts auszusetzen gehabt, und die alte Monika, die eine gute Seele war, begehrte gar nichts mehr zu wissen.

Es traf sich sehr glücklich, daß sie auch deutsch verstand, da sie in Straßburg geboren war.

Die beiden Freunde kehrten in das Erdgeschoß zurück und Jonville sagte zu Cavaroc:

»Was denkst Du über alle diese Dinge? Du hast doch ihre Erzählung zur Genüge verstanden?«

»Hinreichend, um überzeugt zu sein, daß dieser Russe, gleichviel ob er wirklich ein Russe ist oder nicht, ein niederträchtiger Halunke ist. Dagegen bin ich mir über die Rolle nicht ganz klar, die Dein Freund Vitrac gespielt hat. Weshalb hat man ihn denn in Gemeinschaft mit den Anderen vor den Untersuchungsrichter geschleppt?«

»Wahrscheinlich weil man ihn bei Borodino angetroffen hatte und weil man wußte, daß man den Kopf der Ermordeten in sein Atelier geschmuggelt hatte. Du kennst ja das Sprichwort: mitgefangen, mitgehangen, und man wollte mit einem Schlage zwei Fliegen treffen.«

»Das mag wohl sein, denn ich muthe ihm nicht zu, daß er diese Frau tödtete; er hatte keinerlei Grund dazu, da er mit ihr auf bestem Fuße stand.«

»Ich möchte nur wissen,« bemerkte Jonville, »ob Borodino verhaftet wurde.«

»Das wirst Du morgen erfahren.«

»Weshalb nicht schon heute Abends? Ich hätte nicht übel Lust, in der Rue Berton nachzufragen.«

»Und Dein Fuß, Unglücklicher?«

»Der ist schon geheilt. Du hast ja gesehen, daß es mir gar keine Mühe kostete, die Treppe zum ersten Stock hinaufzusteigen.«

»Das thut nichts! Du bist noch nicht so weit, um bei Nacht auf die Straße zu gehen und außerdem würdest Du mir hinderlich sein.«

»Gedenkst denn Du hinzugehen?«

»Noch dazu unter allen Umständen. Ich wäre bereits gegangen, wenn ich Dir nicht hätte behilflich sein müssen, die Kleine in die für sie bestimmten Räume zu führen. Nebenbei bemerkt, hat mir die Unbefangenheit, mit welcher sie Dein Anerbieten annahm, sehr gefallen.«

»Ich bitte Dich, spotte nicht über sie!«

»Fällt mir gar nicht ein; ich spreche in vollem Ernste. Hätte sie sich geziert und allerlei Umstände gemacht, so wäre das verdächtig gewesen. In derartigen Fällen kommen Schlichtheit und Unbefangenheit einer Tugendbestätigung gleich. – Und nun, gute Nacht, Alter; morgen werde ich frühzeitig vorsprechen, um Dir über meine nächtliche Expedition zu berichten.«

»Ich rechne darauf, sei aber vorsichtig und lasse Dich nicht –«

»Was denn? Angreifen vielleicht? Durch wen denn? Von den Leuten Borodino's oder von den Polizeiagenten? Sei ganz unbesorgt; ich vermag mich noch zu vertheidigen. Auf Wiedersehen also, lieber Alter! Sei vernünftig und trachte gut zu schlafen!«

Nach dieser letzten Empfehlung entfernte sich der Rittmeister. Draußen angelangt, begann er ein heiteres Lied zu pfeifen, während er mit langen Schritten die Richtung nach der Concordebrücke einschlug.

Cavaroc, der für den Augenblick an die Kriegsschule gefesselt war, langweilte sich zuweilen, wenn er während des ganzen Tages Taktik und Befestigungslehre studiren mußte. Er war für ein thatkräftiges Leben geboren und hatte die Gelegenheit, sich einer gewissen Gefahr auszusetzen, mit Freuden ergriffen.

Welcher Art diese Gefahr wäre, wußte er allerdings nicht; doch hoffte er, daß er es mit irgend einem Feinde zu thun haben werde. Er wünschte sogar, es möge ihm Gelegenheit geboten werden, mit irgend jemandem, gleichviel mit wem, anbinden zu können.

Er schritt durch den Cours la Reine, sodann über den Quai de Billy, kam am Trocadéro vorüber und folgte jetzt dem Quai de Passy, ohne seinen Gang zu verlangsamen, um den ihn ein englischer Distanzgeher hätte beneiden können. Er war noch nie in der Villa des Russen gewesen, doch hatte ihm Borodino dieselbe auf der Fahrt vom Bois de Boulogne gezeigt, und so erkannte er sofort die lange Gartenmauer, welche das Grundstück des Grafen begrenzte.

Die Nacht war dunkel und der Ort einsam genug; ist einmal eine gewisse Stunde vorüber, so verkehrt hier niemand und nichts weiter als die Tramways. Der Rittmeister aber, der sehr gute Augen, wahre Katzenaugen hatte, die im Finsteren fast ebenso gut sehen wie bei Tage, glaubte längs der Mauer einige Schatten durch die kleine Straße gleiten zu sehen, in welcher sich die zu der Wohnung des wirklichen oder angeblichen Grafen führende Eingangsthür befinden mußte.

Waren diese geheimnißvollen Gestalten Dienstleute des Russen, die als Schildwachen aufgestellt wurden, oder Abgesandte der Polizei, die gleichsam als Kundschafter ausgeschickt wurden? Cavaroc dachte keinen Augenblick hierüber nach, sondern betrat ohne jedes Zögern die Straße.

Sein Plan war der denkbar einfachste; er wollte ohneweiters an der Thür des Russen klingeln und fragen, ob Borodino daheim sei. Nachher würde er weitersehen; für den Moment reichte dieser Plan aus.

Es währte nicht lange, so hatte er wahrgenommen, daß er behutsam verfolgt werde; der Vorsicht halber schritt er in der Mitte der Straße dahin, damit er nicht unversehens angegriffen werden könne. So gelangte er bis zu der Stelle, wo die Mauer ein wenig zurücktrat und wo Jean Dangelas vor drei Tagen seine kleine Gefährtin verschwinden sah; er mußte um die derart gebildete kleine Ecke biegen, um zum Thore zu gelangen, als er mit einemmale vor einem baumstarken Menschen stand, der einen Schritt zurücktrat und sich sofort zur Wehre setzte, indem er einen starken Prügel emporhob, den er in der Hand hielt.

Cavaroc wußte auch in dieser Kampfart trefflich Bescheid, und mit einer blitzschnellen Bewegung nahm er mit seinem Stocke eine vertheidigende Stellung ein, wie sie nur die Meister dieser Kampfweise einzunehmen verstehen. Sein Gegner erkannte im Momente, daß er es mit einem achtunggebietenden Feinde zu thun habe, und so beschränkte er sich auf die Defensive und Cavaroc that ein Gleiches.

Wer weiß, welchen Ausgang die Sache noch genommen hätte, wenn der Unbekannte nicht plötzlich seinen Stock gesenkt und im Tone der höchsten Ueberraschung ausgerufen hätte:

»Wie, Sie sind's, Herr Rittmeister?«

»Wer sind Sie und woher kennen Sie mich?« fragte Cavaroc erstaunt.

»Vor drei Jahren, als das Regiment in Lunéville in Garnison lag, war ich Brigadier in Ihrer Escadron. Erinnern Sie sich nicht?«

»Nein – und dennoch scheint es mir, als hätte ich Sie bereits gesehen.«

»Mein Name ist Marchais, Herr Rittmeister, Franz Marchais.«

»Ach ja, nun erinnere ich mich schon. Sie wollten sich nicht reactiviren lassen und verließen das neunte Kürassierregiment, gerade als Ihre Beförderung zum Wachtmeister unmittelbar bevorstand.«

»Ja, das ist wahr – ich zog es vor, den bürgerlichen Rock anzuziehen, um heiraten zu können, denn man hatte mir eine gute Stelle in Aussicht gestellt – und zwar bei der Polizei.«

»So! Sie sind bei der Polizei?«

»Ja, Herr Rittmeister. Es ist gerade keine glänzende Anstellung, aber die Bezahlung ist nicht schlecht, und dann bin ich zur Beförderung vorgeschlagen worden.«

»Das freut mich,« sagte Cavaroc kalt. »Sie befinden sich also in Ausübung Ihres Dienstes hier?«

»Ja, Herr Rittmeister; ich muß das Haus bewachen und habe zehn Mann zu meiner Verfügung, um Haus und Garten zu beschützen, wie es bei uns heißt.«

Cavaroc war vom Zufalle begünstigt worden und er machte sich die Gelegenheit zunutze, um Erkundigungen einzuziehen.

»Das ist ja sehr merkwürdig,« sagte er; »und ich bin gekommen, um dem Eigenthümer dieses Hauses, einem russischen Grafen, einen Besuch abzustatten.«

»Ich weiß nicht, ob er ein russischer Graf ist,« erwiderte Marchais; »dagegen weiß ich, daß man ihn heute Nachts aller Wahrscheinlichkeit nach hinter Schloß und Riegel setzen wird. Vorerst wird bei ihm eine Hausdurchsuchung vorgenommen und Sie können von Glück sagen, daß Sie gerade mich angetroffen haben – denn Sie wissen, Herr Rittmeister, daß in solchen Fällen ein jeder mitverhaftet wird – und ist man erst zur Polizei gebracht worden, so dauert es Stunden, bis man entlassen wird.«

»Ach, ich kenne den Grafen nur sehr oberflächlich. Was hat er denn angestellt, daß er verhaftet werden soll?«

»Das geschieht in Folge einer Geschichte, über die Sie in den Zeitungen gelesen haben dürften. Eine Frau, der man den Kopf abgeschnitten hat – der Kopf war drei Tage hindurch in der Morgue zu sehen.«

»Und das Verbrechen soll hier verübt worden sein?«

»So scheint es, Herr Rittmeister. Man brachte den Herrn heute mit einer Nichte, die er hat, in das Gerichtsgebäude, und der Richter, der ihn verhörte, behielt ihn nicht in Gewahrsam, sondern ließ ihn nur unbemerkt begleiten. Der Hase kehrte in sein Gehege zurück und seither ist das Gehege umzingelt. Würde er das Haus verlassen, so hätte er drei Agenten auf den Fersen. Ich wurde hierher geschickt, um den Oberbefehl über die Agenten zu führen und warte jetzt nur noch auf Herrn Grisaille.«

»Grisaille? Wer ist das?«

»Mein Vorgesetzter. Ein schlauer Junge das und streng im Dienste! Wenn er mich hier im Gespräche mit Ihnen anträfe, so gäbe es eine Nase!«

»Weshalb denn? Ich bin ja kein verdächtig aussehendes Subject, und würde ihm sagen, wer ich bin und weshalb ich hierher kam. Einen Officier behandelt man nicht wie einen gaffenden Civilisten, der sich in Dinge mengt, die ihn nicht zu kümmern haben. Außerdem würde ich ihm alles sagen, was mir selbst über den hier wohnenden Herrn bekannt ist, und dafür die Vergünstigung erbitten, der Hausdurchsuchung beiwohnen zu dürfen.«

»Er würde Ihnen die Bitte nicht gewähren, Herr Rittmeister, denn bei derartigen Operationen dürfen nur Leute vom Fache zugegen sein; das ist die Regel.«

Cavaroc war selbst überzeugt davon, doch hatte er es sich in den Kopf gesetzt, der Hausdurchsuchung beizuwohnen und diese Absicht wollte er nicht aufgeben.

»Ich weiß, alter Junge,« sprach er zu dem Polizeiagenten, »was ein Befehl bedeutet, den man von seinen Vorgesetzten erhält; doch werden wir uns vielleicht trotzdem verständigen können. Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen?«

»Gewiß, Herr Rittmeister, sofern ich damit nicht gegen meinen Dienst verstoße. Ihnen hatte ich ja seinerzeit meine ersten Sterne zu verdanken.«

»Und vielleicht wird mir noch Gelegenheit geboten werden, Ihnen auch in Ihrem neuen Berufe förderlich zu sein. Ich besitze so ziemlich überall gute Freunde und könnte Ihnen jedenfalls nützlich sein. Ich verlange ja nichts weiter von Ihnen, als daß Sie die Augen zudrücken, wenn ich mich unter Ihre Agenten menge. Ihr Vorgesetzter kennt dieselben nicht Alle und wird denken, daß ich zu ihnen gehöre. Sollte er aber entdecken, daß ich nicht zu seinen Leuten gehöre, so werde ich bloß angeben müssen, wer ich bin und weshalb ich gekommen, um allen Weiterungen ein Ende zu machen.«

»Meiner Treu, Herr Rittmeister, Sie bringen mich in eine peinliche Lage – ich ertheile Ihnen nur ungern einen abschlägigen Bescheid, setze mich aber einer zu großen Gefahr aus. Ich kann nichts weiter thun, als daß ich Sie Ihrem Schicksale überlasse; trachten Sie sich selbst durchzuwinden, so wie Sie es vermögen. Gelingt es Ihnen, sich einzuschmuggeln, so soll es mich freuen; werden Sie abgefaßt, so haben Sie es selbst zu verantworten. Doch beobachten Sie wenigstens die Vorsicht, daß Sie sich an die Mauer schmiegen und sich von hier entfernen; vermeiden Sie es dabei nach Möglichkeit, in den Lichtkreis einer Laterne zu treten.«

Cavaroc ließ sich dies nicht zweimal sagen, sondern entfernte sich in der Richtung der Rue Raynouard und ließ sich auf einen Prellstein nieder, den die Gasflammen ganz unbeleuchtet ließen. Es blieb ihm keine Zeit, sich daselbst in seine Gedanken zu vertiefen, denn kaum hatte er seinen Posten eingenommen, als er bereits einige Männer raschen Schrittes näher kommen sah. Bald unterschied er auch eine kleine Gruppe von fünf oder sechs Personen, die einem Herrn folgten, der die kleine, lautlos herankommende Schaar anzuführen schien. Marchais schritt derselben entgegen und begann mit ihrem Führer zu sprechen, der kein Anderer als der gefürchtete Grisaille sein konnte.

Die Unterredung währte ziemlich lange, und der Rittmeister, der derselben von weitem beiwohnte, errieth an den Geberden der Sprecher, daß sie miteinander die einzelnen Punkte der Ausführung eines schon früher entworfenen Planes vereinbarten.

Cavaroc hielt sich bereit, einen günstigen Moment zu benützen, um sich den Polizeiagenten anzuschließen; nur war er neugierig, wie sie es anfangen würden, um in das Haus zu gelangen.

Ueber die Mauer würden sie gewiß nicht klettern, denn sie hatten keine Leitern mit sich gebracht. Und würden sie die Thür mit Gewalt erbrechen, wenn man ihnen den Eingang verweigern sollte? Ein schlechtes Mittel das, um Leute zu überrumpeln, außer das Grundstück war, wie Marchais sagte, von allen Seiten umzingelt, so daß die Inwohner des Hauses, wenn sie über die Gartenmauer zu entfliehen suchen sollten, den Polizeiagenten in die Hände fallen mußten.

Nachdem sich Grisaille mit seinem Untergebenen berathen, beschloß er ganz einfach die Thorklingel in Bewegung zu setzen, wie er es bereits an demselben Tage zur Mittagsstunde gethan. Hinter ihm standen seine Leute, um sofort in das Haus einzudringen, wenn das Thor geöffnet wurde.

Diesen Augenblick machte sich Cavaroc zunutze, um unbemerkt heranschleichend, sich der kleinen Schaar anzuschließen.

Die Thür wurde nicht geöffnet, obschon die Thürglocke laut genug geklungen hatte.

Grisaille und Marchais beriethen sich halblauten Tones, und dann näherte sich Ersterer dem Thore, worauf er bemerkte, daß die in dem einen Flügel desselben angebrachte kleine Thür nicht verschlossen, sondern nur angelehnt war; man brauchte dieselbe bloß aufzustoßen, um eintreten zu können.

Grisaille war der Erste, der dies that, wie es sich in solchen Fällen für den Anführer gebührt. Die Uebrigen folgten ihm und ließen die Thür offen, so daß auch der Rittmeister eintreten konnte. In dem Hofe war es viel dunkler als auf der Straße, so daß niemand die Gegenwart eines Unberufenen wahrnehmen konnte.

»Eigenthümlich!« sprach Grisaille leise und blickte auf das in Dunkel gehüllte Haus; »hier ist niemand, in den Stallungen ist auch niemand und kein Licht hinter den Fenstern zu erblicken. Sie werden doch um diese Zeit nicht schon in den Federn liegen. – Es ist ja kaum zehn Uhr – Teufel! Teufel! – Ein schlechtes Zeichen das. Man sollte wahrhaftig meinen, der Käfig sei leer. Sollten die Vögel ausgeflogen sein?«

»Das ist nicht möglich, Herr Grisaille!« erklärte Marchais. »Alle unsere Leute sind auf ihren Posten; ich habe sie selbst aufgestellt und verbürge mich dafür, daß niemand das Haus verlassen hat.«

»Und ich weiß bestimmt, daß der Russe nach Hause kam, als er das Gerichtsgebäude verließ,« fügte Grisaille hinzu; »er muß also im Hause sein. Und seine Diener? – Er hat deren zumindest vier – wo sind denn die?«

»Wir werden sie suchen.«

»Ja. Zünden Sie eine Laterne an.«

Zwei Agenten waren mit diesem unentbehrlichen Geräthe versehen, und im nächsten Augenblicke zitterte der gedämpfte Schein der Laterne durch den Hof.

»Nun gilt es, das Haus in allen Räumen, Boden und Keller mitinbegriffen, sowie den Garten zu durchsuchen. Den Anfang machen wir mit den Stallungen, da wir schon hier sind.«

Die Thüren des Wagen- und Pferdestalles wurden geöffnet; sowohl der Wagen als auch die Pferde waren vorhanden. Den letzteren war sogar frisches Futter aufgeschüttet worden.

»Wenn der Halunke fort ist, so hat er zu Fuß das Weite gesucht,« brummte Grisaille. »Diesen Wagen sammt den Pferden werde ich morgen der Modistin aus der Rue de la Paix zeigen; vielleicht erinnert sie sich, dieselben bereits vor der Thür ihres Ladens gesehen zu haben. Was hingegen den Kutscher und den Lakai betrifft, so denke ich, sind die schon längst über alle Berge.«

Cavaroc, der etwas zurückgeblieben war, verlor kein Wort von dem, was gesprochen wurde; er sah alles, ohne selbst gesehen zu werden. Niemand dachte an ihn, nicht einmal Marchais, der der Meinung war, er habe ihn durch seine weisen Rathschläge zum Rückzuge bewogen.

»Und nun hinauf!« gebot Grisaille.

Die in das Haus führende Thür stand offen, gleich dem Hofthore; man stieg die Treppe empor, der Anführer voran und Cavaroc als Letzter die Nachhut bildend. Zufällig trug er, da er den Abend bei Jonville zu verbringen beabsichtigt hatte, einen weichen Filzhut und einen alten Ueberrock, so daß er den Agenten nicht weiter auffiel und als einer der Ihrigen gelten konnte.

Die Besichtigung des Hauses ergab das Resultat, daß die Bewohner desselben verschwunden seien, ohne daß man auf ihre Wiederkehr rechnen durfte. Grisaille constatirte, daß sie nichts als die Möbel daselbst zurückgelassen hatten.

Der Schreibtisch im Zimmer des Grafen war vollständig leer; die Fächer und Läden desselben enthielten nicht einmal mehr ein Stück Papier, und eine Casse, die in einem kleinen Schranke verborgen war, zeigte gleichfalls vollständige Leere. Der Schlüssel zu derselben stak noch im Schlosse.

Das im zweiten Stocke gelegene Zimmer, welches das junge Mädchen bewohnt hatte, schien sich noch ganz in demselben Zustande zu befinden, in welchem es Grisaille gesehen. Helene hatte es so kurze Zeit bewohnt, daß sie daselbst keine Spuren ihres Aufenthaltes zurücklassen konnte.

Auf einem Divan lag ein Morgenkleid, offenbar dasselbe, welches sie abgelegt hatte, um das griechische Costüm anzulegen, in welchem sie Vitrac malen sollte.

Im Uebrigen war das von dem vornehmen Edelmann bewohnte Haus sehr klein und bestand nur aus einigen wenigen Zimmern, die recht bescheiden eingerichtet waren. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß Borodino sich hier nur vorübergehend aufzuhalten gedachte und ein Verlassen des Hauses sehr wenig Umstände bereiten mochte.

Nachdem man auch dem Boden einen kurzen Besuch abgestattet hatte, wollte sich Grisaille in den Keller begeben; doch entdeckte man hierbei, daß ein Keller überhaupt nicht vorhanden sei. Gleich vielen Baulichkeiten in der alten Bannmeile von Paris war auch dieses Haus flach am Boden erbaut worden; man hatte sich nicht die Mühe genommen, das Erdreich auszuheben, um die Fundamente zu legen. Borodino hielt seinen Weinvorrath in einem großen Schrank, der sich im Speisezimmer befand, und als Grisaille diesen Schrank öffnete, konnte er sehen, daß der Vorrath nur ein sehr geringer war.

Die Besichtigung des Gartens konnte bei dem nächtlichen Dunkel nur eine unzulängliche sein. Bei dem mangelhaften Scheine der beiden Laternen konnte man unmöglich die Ecken und Winkel eines ausgedehnten Grundstückes besichtigen, welches mit weitästigen Bäumen, ausgedehnten Blumenbeeten und allerlei Gemüseanlagen bepflanzt war. Grisaille hielt sich denn auch nicht lange mit der Besichtigung des Gartens auf und wenn er den vorübergehend zu einem Atelier umgewandelten Pavillon auch durchsuchte, so geschah das eigentlich bloß der Form halber, denn seine Ueberzeugung stand bereits fest: Borodino war mit seiner ganzen Dienerschaft auf einem nur ihm bekannten Wege entflohen, irgend einem gewandt verborgenen unterirdischen Gange, den man des Nachts gewiß nicht entdecken konnte und wo man sicherlich niemanden mehr antreffen würde. Der verborgene Gang führte offenbar zu einer der angrenzenden Baustellen, und um denselben ausfindig zu machen, mußte man nothgedrungen den Anbruch des Tages erwarten.

Grisaille ergab sich bereits in sein Schicksal, doch schalt er im Stillen den Untersuchungsrichter Francastel.

»Hätte er mir Gehör geschenkt, so wären die Dinge anders gekommen,« sagte er sich im Stillen. »Das kommt aber davon, wenn man die Untersuchungen in moderner Art führen will. Man hätte Onkel und Nichte ganz einfach hinter Schloß und Riegel setzen sollen; dann hätte man sie wenigstens Beide gehabt, während wir jetzt das leere Nachsehen haben. – Hoffentlich werden wir aber wenigstens die Nichte noch finden,« fügte der Wackere, wie um sich selbst zu trösten, hinzu.

Zögernd ertheilte Grisaille den Befehl zum Rückzuge, um die Nachforschungen am nächsten Tage fortzusetzen. Cavaroc vernahm den mit lauter Stimme ertheilten Befehl, und damit war die Sache auch für ihn erledigt.

Da er stets darauf bedacht gewesen, sich ein wenig abseits und im Hintergrunde zu halten, so konnte er ohne gesehen zu werden, den Polizeiagenten vorauseilen und den Ausgang erreichen.

Es hatte kein Interesse für ihn, die Weisungen zu hören, welche Grisaille seinen Leuten für die Nacht ertheilen würde; er dachte nur daran, sich unbemerkt aus dem Staube zu machen und das gelang ihm auch.

Die zwei oder drei Agenten, die das Hofthor bewachten, ließen ihn anstandslos passiren, sie hätten ihn sicherlich nicht eintreten lassen, wenn er nicht die Vorsicht beobachtet hätte, sich der von seinem ehemaligen Brigadier angeführten kleinen Gruppe anzuschließen. Er bereute bereits, daß er dem Manne nicht seine Adresse gegeben, hoffte aber, daß Marchais dieselbe in Erfahrung bringen und es ihm derart ermöglichen werde, den pflichteifrigen Beamten zu belohnen.

In der Rue Berton und auf dem Quai de Passy sah Cavaroc mehrere Gestalten, die sich im Dunkel der Nacht an die Gartenmauer des Grafen schmiegten, und er konnte daraus ersehen, daß, wenn auch Borodino selbst entkommen war, sein Haus um so schärfer bewacht wurde.

Als der Rittmeister über die Seinebrücke schritt, erwog er die Frage, ob er nicht gut daran thäte, statt nach Hause, zu Jonville zu gehen und ihm über seine Erlebnisse zu berichten, doch sagte er sich, daß seine Meldung sehr spärlich ausfallen würde, und Jonville auch am nächsten Morgen die Nachricht von dem Verschwinden des Grafen früh genug erfahren würde. Jonville war ja nicht sonderlich an dem Manne gelegen und seiner jungen Schutzbefohlenen sicherlich noch weniger.

Cavaroc hatte sich zwar seit zwei Tagen eingehend mit den räthselhaften Vorfällen befaßt, welche Jonville zu ergründen bemüht war; schließlich aber berührten sie ihn nicht persönlich, denn er war weder der Freund Vitrac's, den er nur flüchtig kannte, noch war er in Helene verliebt. Für ihn war also kein Grund vorhanden, besonderen Eifer zu bethätigen, um die Lösung einer so verwickelten Angelegenheit zu beschleunigen.

Er hatte auch kein volles Verständniß für die Schwierigkeiten der neuen Lage, in die sich Jonville durch die Gastfreundschaft versetzt sah, die er einem einsam und verlassen in der Welt dastehenden jungen Mädchen angedeihen ließ, welches in ein schauerliches Drama verwickelt war, dessen Abschluß noch in weiter Ferne zu stehen schien. All diese Erwägungen bestimmten den Rittmeister, unverzüglich nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen.

Und so lenkte er seine Schritte nach der Avenue de la Motte-Picquet, ohne zu ahnen, daß seiner daselbst eine neue Ueberraschung harre.

Natürlich wohnte Dangelas in demselben Stadtviertel wie Vitrac; er war schon an dasselbe gewöhnt und es wäre ihm schwer gefallen, sich an einen anderen Ort zu gewöhnen. So wenig ein Lappländer in dem Lande leben könnte, wo die Orangen blühen, so wenig hätte sich Dangelas mit dem Gedanken zu versöhnen vermocht, auf den äußeren Boulevards oder in den Champs Elysées zu wohnen.

Seit fünf Jahren bewohnte er ein Dachstübchen in der Rue Fromentin in der Nähe der »zur schwarzen Katze« benannten Kneipe und noch näher zur Place Pigalle, wo sich das Atelier seines Meisters befand. In diesen enggezogenen Kreisen, wo er fast ausschließlich mit Berufsgenossen zusammentraf, verfloß sein Leben, und nur selten, wenn außerordentliche Ereignisse eintraten, entfernte er sich aus diesem Brennpunkte des künstlerischen Treibens. Dies war übrigens seit jener schauerlichen Ballnacht bereits zu wiederholtenmalen der Fall gewesen.

Belästigt von den Behörden, die ihn schon zweimal vor den Untersuchungsrichter beschieden hatten, verzehrt von dem Wunsche, Auguste wiederzufinden, verlassen von Vitrac und irregeführt durch den alten Cordouan, hatte der arme Dangelas gar keinen Anlaß, um mit der Lebensweise zufrieden zu sein, die er wider Willen führen mußte.

Der Sonntag hatte schlecht geendet, denn nachdem ihn Graf Borodino so zu sagen aus dem Hause gewiesen, hatte er sich mit Augusten's Großvater beinahe entzweit.

Am Montag hatte er auch in Gemeinschaft mit anderen Zeugen, die er nicht kannte, fast volle drei Stunden im Zeugenzimmer gewartet, und dann waren sie entlassen worden, ohne daß sie der Untersuchungsrichter verhört hätte. Darauf war Dangelas hingegangen und hatte seinen Kummer im Wein ersäuft, das heißt, er hatte so viele Gläser Absinth geleert, daß er ans Mittagsessen ganz vergaß und zu unerhört früher Stunde zu Bette ging.

Hieraus ergab sich die Folge, daß, als er am Dienstag Morgens mit der den Absinthverehrern eigenthümlichen Migräne erwachte, er sich nur mit großer Mühe entschließen konnte, das Bett zu verlassen. Mit dem Frühstücke hatte es keine Eile, denn er verspürte gar keinen Hunger, und er legte sich die Frage vor, was er heute anfangen solle.

Er hatte es bereits satt, Vitrac nachzulaufen, und wollte sich an seiner Thür, wo er früher nach Belieben aus- und einging, nicht wieder abweisen lassen. Einen Moment dachte er daran, Fräulein Wanda einen Besuch abzustatten, da er von ihr vielleicht erfahren würde, was bei Vitrac und anderwärts vorging. Er traute ihr aber nicht recht und sich selbst auch nicht, da er fürchtete, er werde von seinen eigenen Herzensangelegenheiten zu sprechen beginnen, während er seitens der Verlobten seines Meisters keines aufrichtig gemeinten Rathes gewärtig sein konnte.

Die Wahrheit gestanden, dachte Dangelas ausschließlich nur an Auguste, und um sie zu finden, hätte er gern darauf verzichtet, die Mörder der Frau zu entdecken, deren Kopf in der Morgue ausgestellt gewesen. Er hätte dieselben sogar in ihrem Bemühen, sich der strafenden Hand der Gerechtigkeit zu entziehen, unterstützt, wenn sie ihm nur seinen verschwundenen Liebling wiedergeben hätten können und wollen. Sein Besuch mit dem alten Cordouan bei Borodino war ein ungeheurer Fehler gewesen, denn derselbe hatte nicht nur kein Resultat ergeben, sondern hatte sogar den Mann argwöhnisch gemacht, den Dangelas in Verdacht hatte, daß er die arme Auguste mit Gewalt ihrer Freiheit beraubte.

Der Graf war jetzt gewiß auf seiner Hut, und wußte er sich wirklich schuldig, so würde er gewiß so klug gewesen sein, sein Opfer verschwinden zu lassen, damit es nicht gefunden werden könne, wenn eine Hausdurchsuchung stattfinden sollte. Dangelas ahnte freilich nicht, daß diese Hausdurchsuchung bereits stattgefunden und kein anderes Resultat ergeben hatte, als daß Borodino mit seiner Nichte und Dienerschaft verschwunden sei. Der junge Maler hatte die Folgen der freiwilligen Isolirung zu tragen, in welcher er seit dem Fastnachtsballe lebte.

An wen hätte er sich wenden können, um neues zu erfahren? Wohl wußte er, wo Jonville und Cavaroc wohnten; doch kannte er die Herren zu wenig, als daß er es sich hätte erlauben können, direct zu ihnen zu gehen und Erkundigungen bei ihnen einzuziehen. Dabei konnte man ihn keiner übertriebenen Schüchternheit beschuldigen; er war nur etwas lässig veranlagt, und vor allem recht unentschlossen, wie es fast alle Menschen sind, deren Leben keine der plötzlichen Krisen aufzuweisen hat, die einen sofortigen Entschluß erfordern, selbst auf die Gefahr hin, daß derselbe nicht zum Heile gereicht.

Aus dieser Apathie konnte ihn nur die Liebe reißen, und die Liebe war gekommen. Noch gestand er es sich selbst nicht, daß er Auguste liebe; dagegen begann er wahrzunehmen, daß es ihm sehr schwer fallen würde, wenn er ihrer entrathen müßte. Um das Maß des Unglückes voll zu machen, konnte er nicht mehr auf die Unterstützung des alten Cordouan rechnen, der vorgestern in hellen Zorn gerathen war, weil der junge Mann es in Zweifel gezogen, daß der Graf Borodino Seeräuber gewesen. Es war aber recht schwierig für Dangelas, auf die Hilfe des alten Seemannes zu verzichten, der viel mehr Berechtigung besaß, nach Auguste zu forschen, als er.

Um das ursprüngliche gute Einvernehmen mit dem Alten wieder herzustellen, mußte er denselben förmlich um Entschuldigung bitten und dies erschien Dangelas nicht sehr verlockend. Dennoch entschloß er sich, lieber dies zu thun, als die qualvolle Ungewißheit, in der er sich befand, noch länger zu ertragen, und verstand sich sogar dazu, in die Rue du Port Mahon zu gehen, obschon er nicht überzeugt war, daß er ihn dort antreffen werde.

Es blieb ihm kein anderer Weg, sich mit dem Alten auszusöhnen, denn dieser wußte nicht, wo sein Lebensretter wohnte und selbst wenn er es gewußt hätte, wäre er gewiß nicht zu ihm gekommen, denn er wußte ihm sehr wenig Dank dafür, daß ihn jener vom Erstickungstode gerettet und sein erster Zorn darüber, daß sich dieser Windbeutel erlaubt hatte, seine Enkelin auf der Straße anzusprechen, war gewiß noch nicht geschwunden.

Die Mittagsstunde war längst vorüber, als Dangelas elegant gekleidet und mit leerem Magen um die Ecke der Rue du Port Mahon bog; er wußte nicht, welcher Empfangs seiner harre und dachte darüber nach, wie er es anstellen müsse, um bei dem zornigen Großvater wieder in Gnaden zu kommen. War derselbe überhaupt zu Hause? Dangelas rechnete nicht darauf, daß er dies von der Thorwächterin erfahren werde, denn er hatte schon einmal mit ihr zu thun gehabt und wußte, wie liebenswürdigen Charakters sie sei.

Er konnte daher eine freudige Geberde nicht unterdrücken, als er Pierre Cordouan erblickte, der in einem bis ans Kinn zugeknöpften Rock, dessen Knopfloch das rothe Bändchen schmückte, mit hirschledernen Handschuhen an den Händen und einem breitrandigen Hute auf dem Kopfe aus dem Hausthore trat. Der Alte blieb stehen und blickte zum Himmel empor, um sich über das Wetter zu vergewissern, eine alte Seemannsgewohnheit das, der er auch treu blieb, als er sich nicht mehr auf hoher See befand.

Offenbar erwog Cordouan die Frage, ob er genöthigt sein werde, den mächtigen Regenschirm zu öffnen, den er in der Hand hielt.

Es regnete nicht und er schickte sich an, seinen Weg anzutreten, als er Dangelas erblickte, der mit ausgestreckten Händen und einem Lächeln auf den Lippen auf ihn zukam. Cordouan runzelte die Brauen und schien Miene zu machen, in den dunklen Thorweg zurückzukehren, um die Begegnung zu vermeiden. Dazu war es aber nicht nur schon zu spät, denn Dangelas war bereits bis auf zwei Schritte herangekommen, sondern eine unerwartete Erscheinung versperrte ihm den Weg.

Aus der Tiefe des Thorweges trat ihm die Thorwächterin, die entsetzliche Thorwächterin mit einem Briefe in der Hand entgegen und hielt die folgende kleine Ansprache an ihn:

»Das gehört Ihnen! Sie irren sich aber, wenn Sie meinen, es bereite mir Spaß, Ihnen da nachzurennen! Wenn Sie das nächstemal Ihre Briefe bekommen wollen, so holen Sie sich sie gefälligst; ich bin nicht Ihre Magd! – Befindet sich auch in einem netten Zustande, Ihr Brief da! Man sollte meinen, er sei durch die Gasse geschleift worden, und hätte ich ihn eigentlich nur mit einer Feuerzange anfassen sollen.«

»Schon gut; geben Sie nur her!« murrte der Alte und entriß ihn ihren Händen, worauf er sich zu Dangelas wandte und kalten Tones fragte: »Sie sind es! Was wünschen Sie von mir?«

»Ich wollte Sie besuchen, da ich mit Ihnen zu sprechen habe,« erwiderte Jean; »doch will ich Sie nicht stören, vorerst Ihren Brief zu lesen.«

Der Umschlag des Briefes war kothbedeckt und Cordouan betrachtete ihn aus einiger Entfernung, als wollte er ihn ungelesen fortwerfen.

»Mein Gott!« sprach er dann leise. »Ihre Schrift!«

»Wessen Schrift?« fragte Dangelas ahnungsvoll.

»Was kümmert das Sie?« fragte der Seemann rauh zurück.

»Gestehen Sie doch, daß es ihre Schrift ist! Wäre der Brief nicht von Ihrer Enkelin, so wären Sie nicht so erregt.«

»Und wenn er von ihr wäre?«

»So würde dies beweisen, daß sie am Leben ist – worüber ich sehr erfreut wäre – denn wenn sie lebt, so wird sie Ihnen sagen können, daß ich mir nichts vorzuwerfen habe. Lesen Sie den Brief, lesen Sie ihn da vor mir; ich bitte Sie darum. Ich bin überzeugt, daß derselbe meine Rechtfertigung enthält.«

Der alte Seemann schien selbst Lust zu haben, den Brief zu lesen, denn er drehte und wendete ihn nach allen Seiten, betrachtete die Aufschrift, indem er sie in einige Entfernung von seinen Augen hielt, und suchte gleichzeitig mit der anderen Hand in den weiten Taschen seines Rockes.

»Tod und Teufel!« sprach er zwischen den Zähnen; »nun habe ich meine Brille oben vergessen!«

»Ich kann Ihnen die meinige nicht leihen,« erwiderte Dangelas heiter, »da ich weder kurz- noch weitsichtig bin und darum keine Brille trage. Dagegen kann ich Ihnen den Brief vorlesen, wenn es Ihnen recht ist.«

Der Alte wollte bereits ablehnend antworten; doch besann er sich eines Besseren, und indem er den Brief dem jungen Manne unter die Nase hielt, sagte er düsteren Tones:

»Sehen Sie vorerst, ob er wirklich an mich gerichtet ist.«

»Da steht es ja ganz klar und unzweifelhaft: »Herrn Pierre Cordouan, Besitzer des Verdienstkreuzes, Paris, Rue du Port Mahon, Nummer acht.« Der Brief ist mit der Post angelangt, denn da befindet sich der Poststempel, 12. März; er wurde gestern zur Post gegeben und unterwegs ließ man ihn in den Rinnstein fallen. Ihre liebenswürdige Hausbesorgerin hatte also ganz recht; die Schrift ist mit Kothflecken bedeckt. Sehen wir einmal, woher der Brief kommt. – Die einzelnen Buchstaben des Poststempels sind beinahe unleserlich. – Ach! Nun habe ich's! Rue Pierre Guérin! Ich kenne dieses Postamt, es befindet sich in Passy; einer meiner Freunde wohnt in der Rue Mozart, er schrieb mir dieser Tage und auf seinem Briefe befand sich derselbe Poststempel. Sie werden nun zugeben müssen, daß man denn doch einen gewissen Nutzen von mir haben kann. Ihre Enkelin ging nach Passy und dort befand sie sich noch gestern, da sie daselbst gestern einen Brief zur Post gab. Und diese Entdeckung hätten Sie ohne meine Hilfe nicht gemacht.«

Diese Worte schienen auf Cordouan einen gewissen Eindruck zu machen, und Dangelas benützte den günstigen Moment, um hinzuzufügen:

»Sie werden nunmehr die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ich Sie nicht belogen habe, als ich Ihnen am ersten Tage sagte, ich hätte Ihre Enkelin in die Rue Berton begleitet. Und wüßte ich, was in diesem Briefe enthalten ist, so könnte ich Ihnen sicherlich auch sagen, wo Sie Fräulein Auguste zu suchen haben. Doch da Sie mir nicht trauen, so wollen wir nicht weiter über die Sache sprechen.«

Cordouan blickte den jungen Mann fest an, als wollte er in die Tiefe seiner Seele dringen; er zögerte und verwünschte seine Zerstreutheit, die ihn seine Brille vergessen ließ. Er hatte Lust, die fünf Stockwerke emporzuklimmen, um den Brief oben zu lesen; doch hielt er denselben bereits in der Hand und er brauchte nur ein Wort zu sprechen, um durch den jungen Maler über das Schicksal seiner Enkelin unterrichtet zu werden. Welches Interesse konnte Dangelas daran haben, ihn zu belügen oder zu hintergehen? Es unterlag keinem Zweifel, daß Dangelas mit Borodino nicht einverstanden war, und konnte er dem jungen Manne keinen anderen Vorwurf machen, als daß derselbe nicht an die Unfehlbarkeit des Seemannes glauben wollte, der behauptet hatte, daß der russische Graf eigentlich ein griechischer Seeräuber sei. Und so sagte Cordouan kurz entschlossen:

»Lesen Sie also den Brief und dann geben Sie mir denselben zurück.«

»Seien Sie ganz unbesorgt. – Doch hier auf der Straße geht das nicht gut an. Kommen Sie mit mir ins Café du Helder, und während Sie dort einen steifen Grog trinken, werde ich Ihnen den Brief vorlesen; bis dahin verwahren Sie ihn in Ihrer Tasche. Ich will ihn vor Ihren Augen erbrechen und nicht eher zur Hand nehmen, als bis wir an Ort und Stelle sind.«

»Einverstanden! Jetzt aber schnell vorwärts!«

Dangelas hatte also seinen Zweck erreicht und war ob seiner Aussöhnung mit dem Alten umsomehr erfreut, als es ihm keinen Moment zweifelhaft war, daß es ihm mit seiner Hilfe leichter fallen werde, Auguste zu retten, die offenbar von Gefahren aller Art bedroht war.

Bald waren die beiden Männer bei dem Kaffeehause angelangt, wo sie sich, da es nicht kalt war, auf der Terrasse an einem Tische niederließen. Hier konnten sie ungestört miteinander plaudern, denn zu dieser Stunde befanden sich nur sehr wenig Gäste im Kaffeehause. Dangelas bestellte zwei Gläser Grog, und um nach beendeter Lectüre durch nichts behindert zu werden, bezahlte er das Bestellte sofort, nachdem es gebracht worden.

Cordouan war nicht gekommen, um zu trinken, und übergab den Brief, den er keinen Augenblick aus den Händen gelassen, dem jungen Manne, der ihn prüfend in der Hand wog und sagte:

»Es war sehr klug, den Brief doppelt zu frankiren, da er für einen einfachen Brief zu schwer wäre; da sind wenigstens vier Bogen Papier enthalten und ich –«

»Lesen Sie doch, in des Teufels Namen!« unterbrach ihn der alte Seemann ungeduldig, denn er begann bereits zu glauben, daß sich Dangelas mit seinen ewigen Bemerkungen über ihn lustig machen wolle.

Der junge Mann erbrach das Schreiben und entnahm demselben mehrere Blätter, die aus einem Buche gerissen zu sein schienen, denn Briefpapier war das nicht.

»Aha!« rief er aus, »Fräulein Auguste schreibt auf Rechnungsformulare, die an ihrem Kopfende den Firmadruck der Putzmacherin Lucie Courtois aus der Rue de la Paix tragen.«

»Ei was! Lesen Sie!« wiederholte der alte Cordouan.

Wissen Sie aber, was das beweist?« nahm der eigensinnige Mensch von neuem auf. »Das beweist, daß Ihre Enkelin an dem Orte, wo sie sich befindet, kein anderes Papier zum Schreiben hatte und sich deshalb der Rechnungen bedienen mußte, die sie bei sich hatte. Und noch ein anderer Beweis. – Der ganze Brief ist mit Blei geschrieben – es stand ihr also weder Tinte, noch eine Feder zur Verfügung.«

»Aber die Adresse ist doch –«

»Mit Tinte und Feder geschrieben – und zwar sehr leserlich – das ist wahr.«

»Weshalb der Brief also mit Blei?«

»Ich glaube, die Adresse stand schon früher auf dem Umschlage, der einen Brief für Sie enthielt – einen Brief, den Ihre Enkelin zur Post zu geben vergaß – und den sie nachher durch diese losen Blätter ersetzte. Sehen Sie selbst: der Umschlag ist geöffnet und nachher neuerdings mit einer Oblate verschlossen worden, so daß man ihn nur mehr zu frankiren hatte.«

»Und Freimarken trug Auguste stets in einem kleinen Notizbuche mit sich, das ich ihr zu ihrem Geburtstage geschenkt hatte.«

»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihr,« sagte Dangelas, der alles bemerkte. »Ich bin ja gerade im Begriffe, Ihnen zu beweisen, daß sie am Leben ist.«

»Daß sie es gestern war; was mag sich aber seither bereits ereignet haben, und wo mag sie sein?«

»Wir haben Grund zu der Annahme, daß sie sich in der Rue Berton befindet; ist dies der Fall, so werden wir sie nicht dort lassen – das alles werden wir sofort wissen,« sagte Dangelas, indem er laut zu lesen begann.

Der erste Satz, den er las, widerlegte die Behauptung, die er zum Schlusse aufgestellt hatte.

»Wo bin ich?« Mit diesen Worten hatte Auguste ihre Mittheilungen begonnen.

Dangelas war es sofort klar, daß sie sich an einem ihr unbekannten Orte befinden mußte; doch ließ er von diesen Vermuthungen, welche der wenig Gutes verheißende Anfang des Briefes in ihm erweckte, nichts verlauten, sondern fuhr zu lesen fort:

»Ich weiß es nicht, ebenso wenig wie ich eine Ahnung davon habe, ob ich meine Freiheit jemals wiedererlangten werde. Seit drei Tagen bin ich hier und noch weiß ich nicht, was man mit mir bezweckt. Man wird mich vielleicht tödten, und was mich am meisten betrübt, ist der Gedanke, daß mein Großvater nicht glauben wird, daß ich todt bin. Er wird glauben, daß ich ihn verlassen habe; ich aber wünschte, er möchte wissen, daß ich mir dieses schwere Unrecht nicht zu Schulden kommen ließ und daß mein letzter Gedanke ihm gelten wird, da ich ihn so sehr liebe.«

»Das steht da zu lesen?« fragte der Greis und wischte sich mit dem Rücken der breiten Hand eine Thräne aus den Augen.

»O! Ich lese nur, was da geschrieben steht – und nun werden Sie ihr hoffentlich nicht mehr den Vorwurf machen, sie habe Ihnen treulos den Rücken gewendet oder sich von mir entführen lassen. – Doch hören Sie weiter.«

»Damit er dies aber wisse, werde ich alles niederschreiben, was mir widerfahren ist, seitdem ich am Freitag Morgen Abschied von ihm nahm, bevor ich ins Geschäft der Frau Courtois ging. Dann muß ich nur noch Gott bitten, er möge diesen Brief in seine Hände gelangen lassen.«

»Und Gott hat ihre Bitte erfüllt, denn der Brief gelangte richtig in Ihre Hände,« sagte Dangelas, obschon es mit seinem Gottvertrauen nicht am besten bestellt war.

»Lesen Sie! Lesen Sie!« wiederholte Cordouan, dem die fortwährenden Abschweifungen des jungen Mannes in hohem Grade mißfielen.

»Ja, bitte, sofort!« erwiderte Dangelas, der stets zur Neckerei geneigt war, im Tone eines Kellners, der dem Rufe eines Gastes Folge leistet. Und er fuhr an der Stelle, wo er seine Lectüre unterbrochen hatte, zu lesen fort:

»Wie ich es anstellen werde, um den Brief an seine Adresse zu befördern, das weiß ich nicht; schreiben werde ich ihn aber für alle Fälle. Ich hoffe, Daß sich ein Wunder ereignen wird. Selbst wenn meine Hoffnung nicht in Erfüllung gehen sollte, ficht es mich nicht an, wenn diese Aufzeichnungen in die Hände der Personen gerathen, die mein Verderben beschlossen haben. Sie werden in denselben nichts als die Wahrheit finden und vielleicht Mitleid mit mir haben, wenn sie sehen werden, wie unglücklich ich bin.

Am Freitag, gegen zwei Uhr Nachmittags, ertheilte mir meine Principalin einige Aufträge; ich sollte zuerst zu einem Blumenfabrikanten gehen, der auf der Insel Saint Louis wohnt, und von dort in die Rue Berton, um einen Hut abzugeben und den dafür entfallenden Betrag beheben. Als ich den Fabrikanten verließ, kam ich an der Morgue vorüber und von Neugierde erfaßt, ging ich hinein, was ich schwer genug zu bereuen hatte. Ich sah daselbst den Kopf einer Frau, die ich sofort erkannte, denn es war dieselbe, die den Hut bestellt und die ich in unserem Laden gesehen hatte. Darüber erschrak ich derart, daß ich fast in Ohnmacht fiel; doch befand sich ein junger Mann an meiner Seite, der mich stützte und mir seinen Arm bot, um mich hinauszuführen. Er ließ mich auf eine Bank setzen, die wir in dem kleinen Parke vor der Morgue fanden, und dort sprachen wir eine Weile miteinander. Ich hätte mich eigentlich in kein Gespräch mit ihm einlassen sollen; doch war er so treuherzig und liebenswürdig, daß ich ihm die Veranlassung meines Schreckens gestand. Ich getraute mich nun nicht mehr nach Passy zu gehen, und da erbot er sich, mich zu begleiten. Ich beging das zweite Unrecht, seine Begleitung anzunehmen; dies hätte ich nicht thun sollen, denn ich kannte den jungen Mann nicht. Und dennoch wäre es besser gewesen und würde ich jetzt nicht gefangen sein, wenn ich ihm auch weiter Gehör geschenkt hätte.

Er machte mir den Vorschlag, mich auch in das Haus der Rue Berton zu begleiten, wo ich den Hut abzugeben hatte; dies wollte ich indessen nicht gestatten, was ich schwer bereute, denn er hätte mich sicherlich vertheidigt. Ich hatte ihm meinen Namen und er mir den seinigen genannt; auch hatte ich ihm gestattet, mich am Sonntag Nachmittags bei meinem Großvater zu besuchen. Dort wird er mich aber nicht angetroffen haben, wenn er hingegangen sein sollte. Der junge Mann ist Maler und heißt Jean Dangelas.«

»Nun?« fragte Sparbüchse und blickte den alten Seemann an. »Habe ich Sie belogen?«

Der Wackere war zu gerührt, als daß er hätte antworten können; er drückte seinem Gefährten nur schweigend die Hand, und jener fuhr zu lesen fort:

»Ich ging also allein in das Haus; ein Diener hatte mir Einlaß gegeben. Ich trug die Schachtel mit dem von seiner Gebieterin, der Gräfin Irene, bestellten Hute am Arme; der Mann nahm mir die Schachtel ab und führte mich in einen durch Gas beleuchteten Salon, wo er mir sagte, daß seine Gebieterin sofort erscheinen werde, worauf er sich zurückzog.

Ich wartete sehr lange – wenigstens eine Stunde; ich war ganz allein und vernahm nicht das leiseste Geräusch. Einmal schien es mir, als glitte ein Schatten am Fenster vorüber. Der Salon befand sich im Erdgeschoße, seine Fenster gingen, glaube ich, in einen Garten. Ich war sehr ängstlich, denn ich hatte ein Gefühl, als sollte mir ein Unglück zustoßen, und ich täuschte mich auch nicht. Mit einemmale erlosch das Gas und ich befand mich in tiefer Dunkelheit.

Ich stieß einen lauten Schrei aus – aber nur einen einzigen – denn unsichtbare Hände umfaßten mich und steckten mir einen Knebel in den Mund, während man mir zu gleicher Zeit einen Sack über den Kopf zog, mich in die Höhe hob und fortschleppte.

Warum ich nicht sofort vor Angst und Schrecken starb, weiß ich wirklich nicht. Ich erinnere mich bloß, daß ich an meinen Großvater und an den jungen Mann dachte, den ich zu Hilfe gerufen hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre.«

»O, über die Halunken!« rief Dangelas aus und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß derselbe in ein bedenkliches Schwanken gerieth. »Und ich rauchte ruhig auf der Straße meine Pfeife, während sie das arme Ding so peinigten! Doch sie sollen mir dafür büßen!«

Ein flehender Blick des alten Mannes erinnerte ihn, daß derselbe angstvoll auf die Fortsetzung der Lectüre warte, und ein wenig erleichtert durch seine grimmige Aeußerung, fuhr Dangelas zu lesen fort:

»Zuerst entfernte man mich aus dem Hause. Ich fühlte, daß ich über sandigen Boden schritt, der unter meinen Füßen knirschte. Dies währte sehr lange, und wiederholt blieb ich mit dem Saume meines Kleides an tiefstehenden Zweigen oder Wurzeln hängen; offenbar befand ich mich in einem Garten.«

»Ja, ja, in dem Garten, wo wir vorgestern diesen verdammten Borodino gesehen haben!« sprach Dangelas mit zusammengepreßten Zähnen. »Vielleicht hatte er sie sogar in den Pavillon verschlossen, aus welchem wir ihn herauskommen sahen, als wir ihm begegneten. Doch sehen wir weiter.«

»Ich mußte auf abschüssigem Boden mehrmals bogenförmige Wendungen beschreiben.«

»Nein – dann war es doch nicht im Pavillon, denn dieser steht auf der Terrasse und die Terrasse ist flach wie meine Hand.«

»Endlich stieg ich eine Treppe hinab; ich dachte nicht daran, die Stufen zu zählen, doch waren es ihrer sehr viele. Und dann spürte ich keine Luft mehr, sondern nur eine dumpfe Feuchtigkeit.«

»Natürlich! Die Unmenschen hatten sie in einen unterirdischen Raum geführt.«

»Ich wollte schreien, vermochte es aber nicht. Es mußten mehrere Personen sein, die mich umgaben; doch sprach niemand ein Wort und ich vernahm bloß ihre stark wiederhallenden Schritte. Gewiß befanden wir uns unter einer Wölbung.«

»Sie verlor nicht den Kopf, da sie auf alles achtete. Das war sehr klug von ihr und sie wird uns sicherlich behilflich sein, sie zu befreien.«

»Nun hörte ich, wie man sehr vorsichtig eine Gitterthür öffnete, während mir zugleich ein frischer Lufthauch entgegenschlug. Ich hatte also das Kellergewölbe verlassen, in welches man mich hinabführte und trotzdem nicht wahrgenommen, daß wir wieder emporstiegen.«

»Der unterirdische Raum führte offenbar in einen Garten, der an den Borodino's grenzte. Die am Quai gelegenen Grundstücke befinden sich ja nicht im gleichen Niveau.«

»Was sich von da an mit mir ereignete, ist mir auch jetzt noch nicht klar. Ich wurde emporgehoben und getragen – und da verlor ich den Kopf. Ich dachte, man wolle mich in einen Brunnenschacht werfen und darüber wurde ich ohnmächtig. Ich habe nichts weiter gehört und wahrgenommen, und weiß auch nicht, wie lange ich ohne Bewußtsein blieb. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem weichen Lager – ich hatte keine Schmerzen mehr und war auch nicht mehr gefesselt; doch den Sack, in welchem mein Kopf stak, hatte man nicht entfernt. Ich sah gar nichts und wagte keine Bewegung zu machen. Ich empfand eine wohlthuende Wärme und es schien mir, als befände ich mich in einem erleuchteten Raume. Weshalb hatte man mich hierher gebracht und was wollte man von mir? Meine Gedanken verwirrten sich neuerdings – der Schlaf überwältigte mich – und ich suchte ihn nicht abzuschütteln. Ich harrte des Todes und wollte ihn lieber nicht kommen sehen. Ich schlief also ein.«

»Nun, und?« fragte Vater Cordouan, als Dangelas hier mit einemmale abbrach.

»Geduld!« erwiderte der junge Mann; »ich komme da zu einer Stelle, wo die Bleistiftschrift fast unleserlich geworden ist. Das vermag ja niemand zu entziffern – man sollte meinen, das Papier sei naß geworden. Hm! Vielleicht hat sie während des Schreibens geweint – ja, ja – hier sieht man die Spuren der Thränen. Na, na, ich werde doch nicht auch weinen? Das wäre nett!

Die Schrift ist ohnehin fast nicht zu entziffern, und wenn mir das Wasser in die Augen kommt, so ist es überhaupt gefehlt. Ich muß mir also vorerst die Augen trocknen,« schloß Dangelas und that nach seinen Worten.

Vater Cordouan weinte nicht; er ballte bloß die Fäuste und zitterte ebenso vor Zorn als Rührung. Hätte der Alte den Grafen Borodino in diesem Momente im Bereiche seiner Hand gehabt, so wäre es ihm zweifellos übel ergangen. Dangelas dagegen begann zu der Erkenntniß zu gelangen, daß das Abenteuer keinen tragischen Abschluß erhalten habe, da die Gefangene ihre Eindrücke und Wahrnehmungen ausführlich und mit freiem Kopfe zu Papier bringen konnte, ohne daß sie beim Niederschreiben gestört wurde. Die Schrift war sogar sehr fest und regelmäßig – die Schrift einer Frau, die sich wohl befindet.

»Ach, nun hab' ich's!« nahm Dangelas von neuem auf. »Die Fortsetzung befindet sich auf einer zweiten Rechnung – in der nächsten Nummer, wie es bei den Romanfortsetzungen der Zeitungen heißt – und ich brach gerade bei einer interessanten Stelle ab: »Ich schlief also ein.« Sehen wir nun, was weiter folgt.«

»Als ich erwachte, stak mein Kopf nicht mehr in dem Sacke; ich blickte um mich und da glaubte ich erst recht zu träumen. Ich befand mich in einem Zimmer, welches von zwei hohen Candelabern erleuchtet wurde, die auf einem niedrigen Schrank standen; die Wände des Zimmers waren mit rother Seide überzogen. Es war so hell um mich herum wie bei Tag, und dabei war ich allein. Ich hatte den Muth, mich zu erheben und durch mein Gefängniß zu schreiten – denn ein Gefängniß ist es. Das Zimmer hat zwei Thüren, die von außen verschlossen sind; ich versuchte sie zu öffnen, vermochte es aber nicht. Fenster sind keine vorhanden – bloß zwei runde Oeffnungen, die mit dickem, mattem Glase verschlossen sind, welche das Tageslicht nicht eindringen lassen. Im Hintergrunde des Zimmers befindet sich ein Bett und in der Mitte stand ein Tisch mit allerlei feinen Speisen darauf: Kaltes Huhn, Kuchen und Wein in einer Krystallcaraffe. Auch ein großer Waschtisch aus weißem Marmor mit allerlei Geräthen aus Elfenbein war vorhanden, und zwei große Schränke waren mit feiner Wäsche gefüllt. Man hätte meinen sollen, ich würde nun mein ganzes Leben hier verbringen müssen, und daß man hier alles vorbereitet habe, damit ich mich wohl fühle. Dies wirkte nicht beruhigend auf mich –«

»Auf mich auch nicht; im Gegentheile!« murmelte Dangelas leise, fuhr aber bei einem flehenden Blicke des alten Seemannes zu lesen fort:

»Ich berührte keine der vorhandenen Speisen und kehrte zu dem Divan zurück, wo ich geschlummert hatte. Ich harrte der Dinge, die da kommen sollten und suchte eine Erklärung für die merkwürdigen Vorkommnisse zu finden, die mir zugestoßen waren. Vergebens zerbrach ich mir aber den Kopf, ich vermochte nichts zu finden. Es schien mir, als müßte ich den Verstand verlieren, als hätte ich ihn bereits verloren; ich fürchtete mich, neuerdings einzuschlafen und bot alles auf, um wach zu bleiben. Ich versuchte zu rufen, zu schreien; doch alles war vergebens. Die dicken Tapeten dämpften meine Stimme und nun ward ich von Verzweiflung erfaßt. Ich hätte einen Selbstmord begangen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Ich suchte ein Messer auf dem zum Nachtessen gedeckten Tische; fand aber keines. Bloß Löffel und stumpfzinkige Gabeln waren vorhanden.«

»Die Halunken hatten für alles vorgesorgt!« sagte Dangelas halblaut. »Sie wußten, daß die Aermste einen Selbstmord begehen würde, wenn ihr die Möglichkeit dazu geboten wäre; das wollten sie aber verhindern. O, dieser Borodino! Wenn er mir in die Hände geriethe! – Doch lesen wir weiter.«

»Dies währte lange, sehr lange. Endlich sah ich durch eine der Thüren einen kleinen Neger hereinkommen, der so häßlich und so drollig gekleidet war, daß ich gelacht hätte, wenn meine Furcht eine geringere gewesen wäre. Er sah aber gar nicht schlimm aus und schien auch nicht älter als vierzehn Jahre zu sein; ich bildete mir aber ein, er sei gekommen, um mich zu seinem Gebieter zu führen.

Er sprach nur sehr schlecht französisch, so daß es mich Mühe kostete, ihn zu verstehen; doch wurde es mir aus seinen Worten allmählich klar, daß ich nichts zu befürchten hätte, daß mein Aufenthalt nur einige Tage währen werde, und daß es mir während dieser kurzen Zeit an gar nichts mangeln werde. Mehr vermochte ich von ihm nicht zu erfahren, und auf meine Frage, wo ich sei, gab er mir keine Antwort.«

»Nun ist's ein Neger!« murmelte Dangelas. »Borodino sagt, er sei ein Russe. Sie behaupten, er wäre ein Grieche, da hätten wir ja glücklich eine ganze Collection beisammen, und fehlt es nur mehr an einem Türken –«

Ein Blick des Großvaters ermahnte den jungen Mann, mit seinen Bemerkungen einzuhalten, und so nahm er denn seine Lectüre von neuem auf.

»An dieser Stelle brach ich gestern ab, und es thut mir leid, daß ich so viel geschrieben habe, denn ich habe nur mehr drei Rechnungen, und wenn ich auch die beschrieben haben werde, wird mein Papiervorrath zu Ende sein. Die drei Blätter, die ich noch habe, will ich dazu benützen, möglichst genaue Angaben über meinen Aufenthaltsort zu machen, damit sie zu meiner Befreiung beitragen könnten, wenn sie in die Hände meines Großvaters oder wenigstens anderer rechtschaffener Leute gerathen, die sich durch dieselben angeregt fühlen könnten, ein armes Mädchen, welches gewaltsam gefangen gehalten wird, zu befreien. Ich weiß nicht, auf welche Weise ich es anstellen werde, diese Blätter zu expediren; doch wird sich vielleicht eine Gelegenheit dazu bieten, und ich will bereit sein, um mich derselben bedienen zu können.

Es war am Freitag Abends, als man sich meiner bemächtigte und mich an diesen Ort brachte. Wie viel Tage seither vergangen seien, das weiß ich nicht, denn ich besitze kein Mittel, um die Zeitdauer zu bestimmen. Da dieses Zimmer kein Fenster hat, so vermag ich keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht zu machen. Der kleine Neger bringt frische Kerzen und Speisen – denn ich mußte dem Hunger nachgeben – und esse, um nicht von Kräften zu kommen; wenn mich die Müdigkeit übermannt, so schlafe ich. Physisch leide ich gar nicht und die Hoffnung hält mich aufrecht. Ich bilde mir ein, daß man mich befreien wird – die mich lieben, konnten mich nicht so schnell vergessen – ich will annehmen, daß sie mich suchen und alles aufbieten würden, um mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich ihnen mittheilen könnte, wo ich bin. Aber wo bin ich? Ich weiß es ja selbst nicht, Gott sei es geklagt!«

Dangelas konnte nicht umhin, seine Lectüre neuerdings zu unterbrechen und halblaut zu sagen:

»Ja, das ist es eben! Wo ist sie?«

Er hielt sich aber nicht weiter bei dieser Frage auf, die er sich selbst gestellt zu haben schien, sondern setzte fort, wo er abgebrochen hatte.

»Befinde ich mich in einem Hause? Und auf welchem Stock? Da ich getragen wurde, konnte ich nicht erkennen, ob es in die Höhe oder in die Tiefe ging; doch kann ich nicht gut denken, daß ich mich in einem unterirdischen Raume befinde. Einen Keller würde man nicht derart einrichten wie dieses Zimmer. Und ist das Haus bewohnt, sofern ich mich nämlich in einem solchen befinde? Das vermöchte ich auch nicht anzugeben.

Ich sehe nur den kleinen Neger vor mir, der stets ohne jedes Geräusch erscheint; er klopft an, bevor er ins Zimmer tritt, verschwindet aber so rasch, daß ich niemals weiß, wohin er geht. Auch höre ich ihn niemals über meinem Kopfe gehen, woraus ich den Schluß ziehe, daß er nicht von einem höheren Stockwerke zu mir kommt. Ich höre bloß einzelne Töne, die wie aus weiter Ferne und in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen an mein Ohr dringen. Es hört sich wie Trompetentöne an. Seltener vernehme ich auch ein langgezogenes Pfeifen, welches näher kommt und sich dann wieder entfernt. Die Trompetentöne vernehme ich nicht aus derselben Richtung wie das Pfeifen; dies habe ich bereits bemerkt, bin aber dadurch um nichts klüger geworden.«

»Ich auch nicht,« murmelte Dangelas.

»Ich habe ferner wahrgenommen, daß die Wände des Zimmers zuweilen krachen, als würde das Haus im Winde erzittern. Ich erinnere mich auch, daß mich mein Großvater als ganz kleines Kind einst mit sich auf einen Leuchtthurm nahm, der sich in der Nähe von Brest, an der Küste befand, und daß mir oben sehr übel wurde, denn es schien mir, als würde der Leuchtthurm schwanken.«

»Ja, das ist wahr, ich erinnere mich auch,« bestätigte der alte Cordouan; »es war der Leuchtthurm auf der Saint Mathieuspitze bei Conquet, und ein Sturm wüthete an dem Tage, daß einem Hören und Sehen verging.«

»Gut,« sagte Dangelas; »doch kenne ich keinen Leuchtthurm an den Ufern der Seine. In der Nähe des Trocadero befindet sich zwar ein kleiner Aussichtsthurm mit einer Laterne, die zeitweise angezündet wird; dort stellen die Wasser- und Brückenbauingenieure Versuche mit allerlei Beleuchtungsapparaten an. Diese Ingenieure aber haben Ihre Enkelin schwerlich entführt, und müßten wir noch nähere Angaben finden. Der Brief ist bald zu Ende, ein Blatt ist nur noch übrig und auch das ist nicht vollbeschrieben.«

Damit fuhr der junge Maler zu lesen fort:

»Ich schrieb nicht weiter, weil meine Hoffnung ganz geschwunden war; nun aber ist wieder einige Hoffnung in mir erwacht und ich fahre zu schreiben fort. Als der kleine Neger kam, sagte ich ihm, daß ich in der dumpfen Luft ersticken müßte und wenn dem nicht abgeholfen werde, so würde ich unfehlbar krank werden. Darauf versprach er mir, eine der matten Scheiben zu öffnen, welche die in der Wand befindlichen zwei Löcher verschlossen, und dieselbe erst nach zwei Stunden wieder zu schließen; dies würde seiner Behauptung nach genügen, damit das Zimmer frische Luft bekomme.

Es war mir sofort klar, daß er mit dem Oeffnen des Fensters bis zum Anbruche der Nacht warten wolle, damit ich durch das Fenster nichts erkennen könne. Das ficht mich aber nicht weiter an, da ich mir die Gelegenheit trotzdem zunutze machen werde. Ich habe zum Glücke einen Briefumschlag mit der Adresse meines Großvaters bei mir; ich trage denselben stets bei mir, damit man wisse, wohin man zu gehen hat, wenn mir ein Unglück zustoßen sollte. Ich hatte in dem Umschlage das Haar meiner Mutter verwahrt und ihn sodann verschlossen. Jetzt werde ich ihn öffnen, an Stelle der Haare diese Blätter hineingeben und verstecken, so gut es gehen wird. Frankiren werde ich ihn auch, denn ich habe einige Freimarken in meiner Börse, gleichwie etwas Kleingeld. Ich werde meinen Brief mit einem Schnurbande von meinem Schuh fest an die Börse binden, denn sonst würde der Brief vielleicht nicht zur Erde fallen, und das Ganze heute Abends, sobald ich allein bin und der Neger das Fenster öffnen wird, so weit als möglich hinausschleudern. Vielleicht wird der Brief in eine Straße fallen, vielleicht wird ihn jemand aufheben und aus Barmherzigkeit in den Postkasten werfen, die Börse aber für sich behalten. Erhält mein Großvater den Brief, dann bin ich gerettet – sonst ist jede Hoffnung erstorben in mir. – Gott stehe mir bei!«

»Unterschrieben ist der Brief ›Auguste Bernier‹,« sagte Dangelas mit einer Rührung, die er gar nicht zu verbergen suchte.

»Und was werden wir jetzt thun?« fragte der alte Seemann.

»Suchen werden wir sie, Teufel auch!«

»Aber wo, Du lieber Gott?«

»Das weiß ich noch nicht, aber finden werden wir sie, das ist einmal sicher. Lassen Sie mich vorerst über die in dem Briefe enthaltenen Andeutungen nachdenken.«

»Ueber die?« meinte der alte Mann traurig. »Die sind ja gleich null. So viel Sie auch darüber nachdenken werden, klüger wird es Sie nicht machen.«

»Was sprechen Sie da?« rief Dangelas aus. »Sie werden doch nicht die Flinte ins Korn werfen? Der glückliche Zufall hat es gefügt, daß der Brief Ihrer Enkelin einem rechtschaffenen Menschen in die Hände fiel, der ihn in den Briefkasten beförderte und nun werden Sie doch dem Betreffenden nicht zürnen, weil er die kleine Börse für sich behielt?«

»Gott bewahre! – Und dennoch hätte ich dem Betreffenden zehnmal mehr gegeben als in der Börse enthalten war, wenn er mir dieselbe überbracht hätte, denn er würde uns gesagt haben, in welcher Gegend er den Brief fand.«

»Das ist wahr – doch versuchen wir es, uns ohne ihn zu behelfen. Ich habe es errathen, auf welche Weise der Brief geschrieben worden und weshalb er mit Koth beschmutzt sei – ich errieth es, noch bevor ich den Brief gelesen. Und nun wollen wir diese Mittheilungen Punkt für Punkt durchgehen und sehen, welche Schlüsse sich aus denselben ziehen lassen. Ueber den eigentlichen Ausgangspunkt kann ein Zweifel überhaupt nicht bestehen, und er allein würde genügen, um Borodino als Thäter zu erkennen. Wenn wir wollen, können wir ihn den Behörden überlassen, aber ebenso gut können wir die Behörden auch entbehren. Es ist klar, daß dieser Strauchdieb Ihre Enkelin durch seine Leute, die auf ein Haar Banditen gleichen, entführen ließ, allerdings nicht um sie zu tödten, da sie ja gottlob am Leben ist. Der Ort, an welchem er sie verborgen hält, ist nicht sein Haus, denn man schleppte die Arme durch den Garten und dann durch einen unterirdischen Gang, der außerhalb dieses Gartens in ein nahe gelegenes Grundstück münden muß, da die ganze Reise eine viertel oder höchstens eine halbe Stunde gewährt haben mochte. Zwar nennt Ihre Enkelin diese Zeitdauer nicht; doch ist aus ihren Worten zu ersehen, daß die Sache nicht länger gedauert hat. Wir müssen also in der Nähe der Rue Berton nach der Gitterthür forschen, die sie zu passiren hatte, bevor sie in ihr eigentliches Gefängniß gelangte. Sie erinnern sich doch, daß sie erwähnt, sie habe eine Gitterthür kreischen gehört?«

»Allerdings – und nachher wurde sie getragen. Weshalb aber?«

»Möglicherweise weil man eine Straße zu passiren hatte. Man fürchtete offenbar, daß sie fallen und dadurch einen unliebsamen Aufenthalt verursachen könnte. Lassen wir diesen Umstand und befassen wir uns mit den folgenden Punkten. Als man sie emporhob, verlor sie das Bewußtsein, welches sie erst in dem Zimmer ohne Fenster wiedererlangte.«

»Dies war offenbar sehr weit von der Rue Berton der Fall.«

»Sie vergessen, daß Ihre Enkelin schreibt, sie höre die Tramway vorüberfahren.«

»Das nicht – sie schreibt bloß, daß sie Trompetentöne vernehme.«

»Nun ja – die Hornsignale der Tramway; diese Trompetentöne können ja gar nichts anderes sein. Und was das Pfeifen anbelangt –«

»Auf diese Weise ruft der Pirat seine Dienstleute, wenn er derselben bedarf.«

»Allerdings; doch ist das stets ein kurzer gellender Pfiff, während Auguste von einem langgedehnten Pfeifen spricht. Ich glaube eher, daß dasselbe von einer Locomotive herrührt. Die Gürtelbahn fährt durch Passy, wo auch die Tramway verkehrt, und es giebt daselbst viele Häuser, wo man bald die Eisenbahnzüge, bald die Tramway hört.«

»Je mehr es solcher Häuser giebt, je schwerer hält es, das von uns gesuchte zu finden.«

»Eben darum werden wir unsere Nachforschungen nicht auf gut Glück beginnen; vorerst wollen wir die Umgebung des Grundstückes besichtigen, wo der Handstreich ausgeführt wurde. Ja, ich gedenke sogar daselbst einzudringen, auch ohne die Erlaubniß Borodino's dazu zu besitzen. Zudem wird mir schon irgend ein guter Gedanke kommen, wenn ich erst vor der bewußten Gartenmauer stehe.«

Cordouan schüttelte zu all dem den Kopf; ihm schienen die ernsten Worte seines jungen Gefährten keine Zuversicht einzuflößen.

»Würden Sie es vorziehen, sich an die Polizei zu wenden?« fragte Dangelas. »Zum erstenmale gelang Ihnen die Sache nicht; heute können wir uns aber auf diesen Brief berufen. Wir können immerhin den Versuch machen, wenn Sie wollen; es ist nur das Verteufelte bei der Geschichte, daß es Polizei und Gerichte niemals so eilig haben wie wir. Bevor die Behörden der Rue Berton einen Besuch abstatten, wird der schurkische Borodino über alle Berge sein; thut er dies aber, so wird er, fürchte ich, Ihre Enkelin nicht in Paris lassen. Er weiß, daß wir sie suchen, und wird es einzurichten wissen, daß wir sie nicht finden.«

»Er wird sie tödten, der Elende!«

»Ich denke eher, daß er sie mit sich nehmen wird; ist ihm dies aber nicht möglich, so ist er zu allem fähig. Wenn wir ihm also das Handwerk legen wollen, so dürfen wir keinen Augenblick verlieren, zumal der Neger Ihrer Enkelin gesagt hat, daß ihre Gefangenschaft nur einige Tage währen wird. Auguste hat ihren Brief gestern, vielleicht sogar schon vorgestern abgeschlossen, und wer weiß, was sich seither bereits zugetragen hat.«

»Gehen wir also; ich bin bereit.«

»Sie schließen sich also meiner Ansicht an, das heißt, wir werden vorerst selbst Umschau halten und wenn wir nichts entdecken, was uns auf die Spur Ihrer Enkelin führt, die Polizei, die Gerichte und alles, was drum und dran hängt, in Bewegung setzen, wie?«

»Ich will alles thun, was Sie für gut finden.«

»Ich danke Ihnen, Herr Schwiegerpapa!« sagte Dangelas heiter, dessen eifriges, redliches Streben dem alten Herrn ordentlich zu Herzen ging, so daß er auf der Stelle erwiderte:

»Ich will gern glauben, daß Sie mich nicht zum Narren halten und wenn Sie mir meine Enkelin zur Stelle schaffen, so schwöre ich Ihnen, daß ich nichts dagegen einwenden werde, wenn sie Ihre Frau werden will.«

»Mehr verlange ich auch nicht. Hand her.«

Die breite, derbe Hand des alten Seemannes legte sich in die feine, längliche Künstlerhand des Malers und drückte dieselbe, daß sie in allen Gelenken knackte, worauf der junge Mann sagte:

»Da, stecken Sie Ihren Brief ein und nun vorwärts! Hier ist bereits alles bezahlt; den Fiaker aber werden Sie bezahlen, denn ich habe keinen Pfennig mehr in der Tasche.«

Beim Café du Helder fehlt es niemals an Miethwagen; man stieg ein und Dangelas befahl dem Kutscher, zur Jenabrücke zu fahren. Sie hatten vorgestern denselben Weg von Passy aus zurückgelegt und Beide dachten daran. Dangelas empfand sogar das Bedürfniß, einige Bemerkungen darüber zu machen.

»Wir hatten am Sonntag unsere Sache sehr schlecht gemacht,« erklärte er; »und daran waren Sie gewissermaßen schuld. Wären Sie Borodino nicht mit einer alten Seeräubergeschichte gekommen, so hätte er uns nicht an die Luft setzen lassen, so wären wir nicht Beide in Zorn gerathen und wir hätten gleich thun können, was wir erst heute thun. Fräulein Auguste befand sich schon am Sonntag in Gefangenschaft und wir hätten nach ihr geforscht. – Allerdings wußten wir damals noch nicht, was wir jetzt wissen und –«

»Ich sage Ihnen, daß dieser Mann ein Seeräuber war,« unterbrach ihn Cordouan. »Ich hätte ihn sofort denunciren sollen; doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

»Bei welcher Behörde hätten Sie ihn denuncirt? Wenn er während des Krimkrieges im Archipelmeere Seeräuberei getrieben, so hat das die Pariser Gerichte nicht zu kümmern – und dann reicht die Sache dreißig Jahre und noch länger zurück, so daß die Verjährung bereits eingetreten sein muß. Doch was thut das? Beruhen Ihre Angaben auf Thatsachen, so werden wir das zu unserem Vortheile ausnützen können. Ich denke, wir werden mit ihm eine Verständigung erzielen, wenn Sie ihm drohen, daß Sie den Beweis erbringen werden, daß er Seeräuber gewesen – wenn er Ihre Enkelin freiläßt, so werden Sie schweigen – und ich übernehme es, die Unterhandlungen zu führen.«

»Meine Enkelin!« sprach Cordouan von plötzlichem wilden Grimm erfaßt. »Was bezweckt denn der Elende mit ihr? Wenn er sie tödten wollte, so würde er nicht so lange damit zögern; oder will er sie etwa an den türkischen Sultan verschachern? Er betrieb dieses niederträchtige Gewerbe zur Zeit, als er noch Samoschraki hieß.«

»Constantinopel ist weit,« murmelte Dangelas. Er wagte aber nicht zu lachen, so phantastisch ihm diese Vermuthung auch erscheinen mochte, denn er sagte sich, daß in diesem irdischen Jammerthale alles möglich sei und man sich niemals etwas verschwören dürfe.

Vor dem Trocadero stieg man aus dem Wagen. Cordouan bezahlte denselben und wieder schritten sie den Quai de Passy entlang. Dangelas, der wahre Luchsaugen hatte, entdeckte schon von weitem eine Ansammlung von Menschen, die sich am Flußufer, ungefähr in der Richtung des Gartens, gebildet hatte, in welchem sich das Haus Borodino's befand. Eine Ansammlung von Menschen bedeutet aber nie etwas Gutes.

»Sollte man Auguste aus der Seine gezogen haben?« fragte sich Dangelas sofort.

Er ließ sich nichts von der Unruhe anmerken, die der ungewohnte Anblick der am Flußufer versammelten Menschen mit einemmale ihn ihm erweckt hatte; doch schien der alte Cordouan denselben Gedanken zu haben wie sein junger Begleiter, denn er erbleichte und beschleunigte seine Schritte, um schneller Gewißheit zu erhalten.

Zu wiederholtenmalen hatte der Maler ertrunkene Personen aus dem Wasser ziehen gesehen, wenn er dem Vergnügen der Angelfischerei oblag, und er kannte zur Genüge das Verhalten der Pariser Gaffer, die aus allen Richtungen der Windrose herbeiströmen, wenn sich ein Unglück ereignet hat, und so weissagte ihm auch diese Menschenansammlung nichts Gutes.

Näher gekommen, bemerkte er indessen, daß sich unter den Neugierigen eine größere Anzahl von Polizisten befinde, als dies bei ähnlichen Anlässen der Fall zu sein pflegt. Man hat diese ehrenwerthen Hüter der öffentlichen Ordnung nämlich nicht immer bei der Hand, wenn man ihrer bedarf; heute aber war wenigstens ein halbes Dutzend Polizisten zu sehen, die die Menge zu verhindern suchten, bis an den Uferrand zu dringen. Mehrere andere glaubte Dangelas am Eingange der Rue Berton zu sehen.

Dieses Aufgebot polizeilicher Macht gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Die Polizei arbeitet nicht mit einem so großen Apparat, wenn es sich blos um einen ertrunkenen Menschen handelt. Offenbar handelte es sich um ein wichtigeres Ereigniß. Und dieses Ereigniß hatte sich in der Nähe des vom Grafen Borodino bewohnten Hauses, wenn nicht sogar in demselben selbst, oder in dem dazu gehörigen Garten zugetragen.

Wäre Cavaroc zur Stelle gewesen, so hätte er Dangelas mit den erforderlichen Aufklärungen dienen können, nachdem ihm diese Abends vorher vom Brigadier Marchais ertheilt worden waren. So war der junge Mann aber darauf angewiesen, selbst Erkundigungen einzuziehen, indem er den Nächstbesten befragte, und nicht dieser Umstand war es, der ihm unangenehm war, denn er wußte nicht, was Schüchternheit sei, und besaß ein ganz besonderes Talent, Leute, die er noch nie im Leben gesehen, zum Sprechen zu bringen; er befürchtete aber, der alte Seemann werde ihm hinderlich sein, indem er sich gerade im ungelegensten Momente in die Verhandlung mengen wird, die er, Dangelas, mit einem der neugierigen Zuschauer anzuknüpfen gedachte. Um also diesem Umstande vorzubeugen, sagte er zu seinem alten Freunde:

»Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß unsere Aufgabe zur Hälfte bereits erledigt ist. Die Polizisten befinden sich nicht ohne Grund hier und es scheint mir, als hätten sich heute Nachts neuerliche Ereignisse bei Borodino abgespielt. Ich werde auf geschickte Weise nachfragen, Sie bitte ich aber, sich ganz ruhig zu verhalten.«

»Ich denke ja nur an meine arme Enkelin,« erwiderte der Greis.

»Vielleicht hat man dieselbe bereits gefunden, worüber wir sehr bald Sicherheit haben werden,« gab Dangelas zur Antwort und gleichzeitig begann er sich mit dem Ellbogen durch die Menge Bahn zu brechen, um möglichst nahe zum Thor zu gelangen.

Dies war nicht leicht, denn die Leute standen dicht gedrängt und waren durchaus nicht gesonnen, ihren Platz den Nachzüglern abzutreten, so daß Dangelas, der nur sehr langsam vorwärts kam, vollauf Muße hatte, die Bemerkungen zu hören, die um ihn her laut wurden.

»Eine polizeiliche Hausdurchsuchung, wie? – Und gewiß nicht ohne Grund. Es scheint, eine Frau ist ermordet worden. Wo? – In einem Hause dort unten, auf der anderen Seite des Quai. – Aber keine Spur! Falschmünzer hat man abgefaßt; die arbeiteten in einem Keller. – Das ist lauter Geschwätz, Schmuggelhandel haben sie auf der Seine getrieben. – Ihr seht doch, die Polizei bewacht die Mündung des Canales, der hier ausläuft. – Schmuggelhandel in Paris? Dummes Zeug! Dann müßte dieser Canal bis hinter die Festungswälle führen.«

Diese unzusammenhängenden phantastischen Vermuthungen klärten Dangelas durchaus nicht auf; sie bestärkten ihn nur in der Ueberzeugung, daß die Polizei bei Borodino eine Hausdurchsuchung vorgenommen habe und den falschen Grafen verhaften werde, sofern dies noch nicht geschehen. Dieser Canal, dessen hier Erwähnung gethan worden, mußte der unterirdische Gang sein, von welchem die arme Auguste in ihrem Briefe sprach.

Jetzt wendete Dangelas seine Aufmerksamkeit dem Flusse zu und er erblickte ein mit zwei Männern besetztes Boot; die Männer hatten ganz das Aussehen von Polizeiagenten und schienen auf einige höhere Polizeibeamte zu warten, die offenbar im Begriffe waren, den unterirdischen Gang zu besichtigen.

Das Ufer fiel an dieser Stelle beinahe senkrecht ab und die Polizisten hinderten die Neugierigen daran, näher zu kommen; sie konnten sie aber nicht am Sehen hindern und Dangelas sah das Boot dicht an die Quaimauer herankommen, worauf drei Herren in dasselbe stiegen, mit denen es am Fuße einer Treppe anlegte, die sie Einer nach dem Anderen emporstiegen.

Den Ersten, der zum Vorscheine kam, kannte Dangelas nicht; dagegen kannte er die beiden Anderen, vor allem den einen von ihnen, den Untersuchungsrichter Francastel. Er hatte auch Grisaille im Gerichtsgebäude gesehen, und erinnerte sich an dessen Gesicht, obschon er mit ihm nichts zu thun gehabt.

Der Erste war vielleicht der Polizeipräfect selbst. Den drei Herren folgte eine vierte Person, offenbar bloß ein einfacher Agent, denn er hielt einen Gegenstand in der Hand, den man gewiß bei der Durchsuchung des Canales gefunden: die Hutschachtel, welche die kleine Putzmacherin am Arme trug, als Dangelas sie nach der Rue Berton begleitete. Der junge Mann erkannte dieselbe sofort, so weit man bei einer Hutschachtel überhaupt vom Erkennen sprechen kann; doch hütete er sich, dem alten Manne von seiner beunruhigenden Entdeckung Mittheilung zu machen.

Wo hatte man die Schachtel gefunden? Auguste schrieb, ein Diener des Grafen habe ihr dieselbe sofort beim Eintreten abgenommen; doch konnte angenommen werden, daß der Mann die Schachtel in den Canal geworfen habe, um dieselbe nicht verbrennen zu müssen, was ihn mehr Mühe gekostet hätte.

Wie dem aber auch sein mochte, der Fund bewies zur Genüge, daß die bedauernswerthe Auguste thatsächlich in dem Hause des Russen Einlaß gefunden und dasselbe nicht mehr verlassen hatte, um zu ihrer Principalin zurückzukehren, denn diese hätte ihr einen gar unliebsamen Empfang bereitet, wenn das junge Mädchen ohne diesen Pappecarton heimgekehrt wäre, welcher gleichsam den Passirschein der Pariser Modistinnen bildet. Dieser Fund bewies zwar nicht, daß Auguste getödtet worden, wohl aber, daß ihre Peiniger nicht daran dachten, sie jemals wieder in Freiheit zu setzen.

Dangelas war zu klug, als daß er Herrn Francastel im Vorübergehen angehalten hätte, zudem ihn jener nicht einmal wahrgenommen hatte. Hier war weder der Ort, noch die Stunde, um von dem Briefe zu sprechen, den Auguste geschrieben, und hätten sich auch die Polizisten ins Mittel gelegt, wenn es dem Maler in den Sinn gekommen wäre, die Beamten in der Ausübung ihrer Pflicht zu stören. Dangelas ließ die Herren also ruhig an sich vorübergehen und sah sie in das von Borodino inne gehabte Haus eintreten, wohin er ihnen nicht zu folgen gedachte. Er wollte sich vorerst mit seinem Begleiter berathen, der von all diesen Vorgängen nichts zu verstehen schien.

In ihren Erwartungen getäuscht, begannen sich die Neugierigen allmählich zu zerstreuen, wobei sie mit ihren Bemerkungen über die Vorgänge, die sie mitangesehen, nicht im Geringsten zurückhielten, und bald waren von der ganzen Menschenansammlung nur mehr Cordouan und Dangelas zurückgeblieben.

»Ich hatte richtig gerathen; man hat sie in dieser Richtung fortgeschleppt,« sagte der Maler und deutete auf das Ufer, vor welchem noch immer das mit zwei Agenten bemannte Boot lag.

»Ja, um sie in das Wasser zu werfen,« fügte der Greis schmerzlich hinzu.

»Das ist nicht der Fall, nachdem sie Ihnen doch gestern schrieb.«

»Wo ist sie also?«

»Suchen wir sie.«

Und um besser zu suchen, schwieg Dangelas und begann eifrig nachzudenken, wobei er aufmerksam um sich blickte.

Zu seinen Füßen floß die Seine, still und langsam, und Stille herrschte auch auf dem Quai. Einige ganz besonders hartnäckige Gaffer vergnügten sich daran, die Polizisten zu betrachten, die den Eingang der Rue Berton besetzt hielten; doch hatte in diesem friedlichen Stadttheile alsbald wieder alles sein gewohntes Aussehen angenommen.

Ein Tramwaywagen kam aus der Richtung von Saint Cloud dahergefahren, und um die Passanten zu warnen, die über das Geleise schritten, stieß der Kutscher in sein Horn, welches schmetternde Töne wie eine Trompete von sich gab. Diesem Warnungssignale folgte ein anderes Geräusch, welches durchdringender und auch länger wirkte als die Horntöne der Tramway.

Ein mächtiger Remorqueurdampfer kam auf dem Flusse dahergeschwommen, mit einer langen Reihe schwerbeladener Schlepper hinter sich, und um seine Ankunft schon von weitem anzukündigen, setzte er seine Dampfpfeife in Function, so daß ein durchdringendes, langgezogenes und überaus klägliches Pfeifen laut wurde.

Dieses doppelte Concert war auf Dangelas von merkwürdiger Wirkung. Statt sich die Ohren zu verstopfen, schlug er sich vor die Stirn und ließ das berühmte Wort hören, welches weiland Archimedes gerufen haben soll:

»Heureka!«

Dies war griechisch, und der alte Cordouan, der niemals von Archimedes sprechen gehört, glaubte, daß Dangelas mit einemmale den Verstand verloren habe.

»Was sagen Sie da?« fragte er rauh.

»Ich sage ›Heureka!‹ weil ich das Gesuchte gefunden habe und ›Heureka‹ im Griechischen ›ich habe gefunden‹ bedeutet,« erklärte der Maler seinem erstaunt zuhörenden Gefährten.

»Was haben Sie gefunden?«

»Ich entdeckte, was die Halunken mit Ihrer Enkelin gethan haben.«

»Und das hat Ihnen dieses Pfeifen verrathen?«

»Gewiß, und werde ich Ihnen das sofort beweisen. Sie erinnern sich doch an den Brief Ihrer Enkelin?«

»Ja, aber –?«

»An einer Stelle desselben schreibt sie: ›Ich höre bloß einzelne Töne, die sich wie Trompetentöne anhören‹ –«

»Ja, das ist die Tramway. Doch was weiter?«

»Dann schreibt sie: ›Seltener vernehme ich auch ein langgezogenes Pfeifen, welches näher kommt und sich dann wieder entfernt.‹ Nun, hören Sie einmal diesem Remorqueur zu. Seine Dampfpfeife zerriß uns fast das Trommelfell; doch ist er bereits vorüber und wir hören ihn schon weit schwächer.«

»Und daraus ziehen Sie den Schluß, daß das Haus, in welchem Auguste eingeschlossen ist, sich in der Nähe des Flusses befinden dürfte? Das ist allerdings möglich.«

»Nein, es ist ganz gewiß. Weiter schreibt sie in ihrem Briefe: »Die Trompetentöne vernehme ich nicht aus derselben Richtung wie das Pfeifen.« Ihre Enkelin befindet sich also zwischen dem Flusse, auf welchem die Dampfschiffe verkehren, und dem Quai, welchen die Tramway durchschneidet. Das ist doch klar, wie?«

»Also an der Stelle ungefähr, wo wir uns jetzt befinden?«

»Genau an derselben! Hier, zu unseren Füßen ist die Schleuse zu Ende, und wenn wir an den Uferrand treten, so müssen wir das Gitterthor sehen.«

»Gut! Wo ist aber das Haus?«

»Das Haus ist fort!«

Cordouan glaubte wirklich, daß sich sein zukünftiger Schwiegersohn über ihn lustig mache, und wollte bereits in Zorn gerathen, als Dangelas hinzufügte:

»Erinnern Sie sich nur an den Brief! Ihre Enkelin schreibt darin: ›Ich habe ferner wahrgenommen, daß die Wände des Zimmers zuweilen krachen, als würde das Haus im Winde erzittern.‹ Und dann fügt sie hinzu: ›Dies erinnert mich an einen Leuchtthurm, den ich einst mit meinem Großvater bestieg, und der im Winde zu schwanken schien.‹«

»Ja, daran erinnere ich mich; was weiter also?«

»Wie! Sie errathen es nicht? Sie, ein ausgedienter Seemann?«

»Nein!«

»Befanden Sie sich denn niemals auf einem Ponton, wo die kleinen Ueberfuhrpropeller landen? Der Ponton kracht und schwankt in Folge des durch den Propeller verursachten Wellenschlages.«

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Alle Wetter! Haben Sie aber einen harten Schädel! Verstehen Sie denn noch immer nicht, daß man Ihre Enkelin eingeschifft hat?«

»Eingeschifft?«

»Nun ja; man brachte sie auf ein Schiff, welches dicht am Quai verankert lag, und zwar über einen schmalen Steg, der bis zur Gitterthür der Schleuse reichte, welche mit einem unterirdischen Gewölbe in Verbindung stehen konnte, dessen Zugang sich in dem Garten Borodino's befand. Können Sie jetzt noch daran zweifeln, daß es sich um ein Schiff handelt? Erinnern Sie sich nur an das Zimmer, welches Ihre Enkelin beschreibt – ein Zimmer ohne Fenster! Ein solches ist nur auf einem Schiffe denkbar!«

»Das ist wahr!« murmelte Pierre Cordouan.

»Und diese zwei runden Oeffnungen, die mit dickem, mattem Glase verschlossen sind und kaum etwas Helligkeit durchdringen lassen, wenn sie geschlossen, und kaum etwas Luft, wenn sie offen sind – wie nennt man die?«

»Luken nennt man sie.«

»Ja, Luken, ganz richtig. Und durch eine dieser Luken warf Fräulein Auguste ihren Brief auf den Quai.«

»In diesem Falle wäre der Brief ins Wasser gefallen.«

»Das hängt von der Höhe des Fahrzeuges ab. War dasselbe höher als der Quai, so konnte der Brief, der mit der Geldbörse beschwert war, sehr gut bis hierher geschleudert werden, und daß dies thatsächlich der Fall war, ist daraus zu ersehen, daß der Brief zur Post gegeben wurde.«

»Zugegeben; doch was ist mit dem Schiffe geschehen?«

»Wüßte ich das, so wäre ich ihm bereits auf der Spur. Ich denke mir nur, daß es jetzt ganz gemächlich die Seine hinabfährt und daß es sich erst vor kurzer Zeit in Bewegung gesetzt hat. Wüßten wir also, wie das Schiff heißt oder wie es aussieht, so könnten wir es noch einholen – und zwar zu Lande.«

»Es mag vielleicht schon in Havre sein.«

»Ich glaube kaum. In Folge der vielen Schleusen, die auf der Seine zu passiren sind, kommt man nicht so schnell vorwärts, und selbst gesetzt den Fall, so gelangt man mit der Eisenbahn in vier Stunden nach Havre. Wir würden noch vor Anlangen des Schiffes daselbst eintreffen und es an der Weiterfahrt zu verhindern wissen. Dies wäre der richtige Augenblick, um die Hilfe der Behörden in Anspruch zu nehmen. Ueberstürzen wir aber nichts, sondern ziehen wir vorerst Erkundigungen ein.«

»Und zwar im Hause Borodino's selbst, da sich die Polizei ohnehin bereits dort befindet. Ich werde den Brief meiner Enkelin zeigen und –«

»Das werden wir auch thun; vorher aber möchte ich mich ein wenig mit dem guten Manne besprechen, der dort unten mit seiner Angel sitzt und den Eindruck auf mich macht, als wäre er mit den Ortsverhältnissen da sehr vertraut. Ich wette, der Mann kommt täglich hierher, um zu angeln; wenn sich also ein Schiff in dieser Gegend befand, so muß er es wahrgenommen haben.«

Dangelas deutete bei diesen Worten auf einen Mann, der in einiger Entfernung auf der Erde saß und die Beine über den Uferrand baumeln ließ; in der Hand hielt er eine lange Angelruthe. Es war ein recht dürftig gekleideter alter Mann, der nicht über große Reichthümer zu verfügen schien.

Gefolgt von Cordouan, der keinen eigenen Willen mehr zu haben schien, schritt der junge Mann auf den Angler zu, um denselben anzusprechen, als ihn jener zu seinem größten Erstaunen mit den Worten anredete:

»Hehe, die Polizisten haben das leere Nachsehen! – Das freut mich – nein, ich kann's gar nicht sagen wie! Ich beobachtete sie von weitem, und als ich sie mit langer Nase abziehen sah, da mußte ich von ganzem Herzen lachen. Ach, ich kann es Ihnen gar nicht sagen, wie ich diese Polizeispione hasse! – Mehr noch wie die Uferwächter, diese Tagdiebe, die nur bezahlt werden, damit sie den armen Mann cujoniren und in Ungelegenheiten verwickeln.« Er unterbrach sich und fügte mit einem scharfen Blick auf Dangelas hinzu: »Hören Sie einmal! – Sie gehören doch nicht auch zu ihnen?«

»Zu wem?«

»Zu den Polizisten, Wetter noch einmal!«

»Sehen wir etwa danach aus?«

»Nein – das gerade nicht – und dann hab' ich Sie kommen gesehen und sofort errathen, daß Sie nicht zu der Bande gehören. Im Uebrigen scheere ich mich keinen Deut um sie – bei mir ist alles in bester Ordnung und ich sitze jeden lieben Tag da und angle für den Gasthof ›zum Fischer‹. Sie wissen doch – am Eingange zur Grenellebrücke dort. Das ist ganz nahe und wenn Sie am Abend dort speisen wollten, so bekommen Sie vortrefflich zubereitete Fische. Ich habe schon meinen Korb voll Gründlinge.«

»Meiner Treue, weshalb sollten wir nicht im ›Fischer‹ zu Nacht essen?« fragte Dangelas und blinzelte Cordouan zu, damit derselbe nicht widerspreche. Er wollte sich die Gunst des alten Anglers erwerben, so gut es möglich war, denn dieser schien thatsächlich in der Lage zu sein, ihm die gewünschten Auskünfte zu ertheilen. »Auf wen hatten es denn die Polizisten eigentlich abgesehen?« fragte er darauf mit einer möglichst unbefangenen Miene.

»Auf einen vornehmen Herrn, der in dem Hause wohnt, in welches man von der Rue Berton aus gelangt. Es scheint, daß der Mann ein schlechtes Gewissen hatte und heute Nachts Reißaus nahm.«

»Heute Nachts?«

»Vielleicht bereits gestern Abends. Ich sah ihn um vier Uhr Nachmittags in einem Fiaker nach Hause kommen, der von einem Polizeiagenten geführt wurde, während andere Agenten das Haus bewachten. Sie scheinen das aber nicht schlau genug angestellt zu haben, denn er entschlüpfte ihnen zwischen den Fingern. Am lustigsten ist's aber, daß alle seine Lakaien mit ihm entkommen sind, ohne daß man ihrer habhaft werden konnte. Ich weiß, welchen Weg sie genommen haben, und die Polizisten wissen es ebenfalls, denn sie haben den Mausweg bereits entdeckt, der vornehme Herr ist ihnen aber schon entwischt. Wenn ich wollte, könnten sie ihn aber noch abfassen.« fügte der geschworene Feind der Polizei hinzu, »ich brauchte ihnen bloß zu sagen, welcher Reisegelegenheit er sich bedient. Aber danke! Das ist nichts für mich!«

»Was für eine Reisegelegenheit das wohl sein mag?« forschte Dangelas lachend. »Reist er vielleicht per Luftballon?«

»Nein, so dumm! Der vornehme Herr liebt seine Bequemlichkeit und kann sich vieles erlauben. Er hat Wagen und Pferde und sogar sein eigenes Schiff!«

»Ein Schiff, was Sie sagen!«

»Ja, und sogar zwei Schiffe hat er!« bestätigte der Wackere. »Ein Dampfschiff und dann ein zweites, welches gezogen werden muß und zur Beförderung des Gepäckes dient. Von außen sieht der Dampfer recht unscheinbar aus; doch muß man das von innen sehen!«

»Haben Sie es bereits gesehen?«

»Nein; aber einer meiner Freunde, ein Tapezirer, hatte etwas an den Salonmöbeln zu repariren. Im Vorderdeck befindet sich nämlich ein sehr elegant eingerichteter Salon und ein Speisesaal, in welchem der Herr speist, wenn er unterwegs ist.«

»Unterwegs auf der Seine?«

»Und auch auf dem Meere.«

»Nun, auf dem Meere wird seine Yacht mit einem Lastschiffe im Schlepptau nicht weit kommen,« behauptete Pierre Cordouan.

»Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, so überzeugen Sie sich selbst!« erwiderte der wohlbestallte Angler des Gasthofes »zum Fischer« kampflustig.

Dangelas beeilte sich aber zu vermitteln, da er es mit dem Manne, der so gut unterrichtet zu sein schien, nicht verderben wollte.

»Er hat also auf dem Wasser vor den Polizeiagenten Reißaus genommen?« fragte er.

»Gewiß, und sicherlich nur, weil es ihm auf andere Weise nicht möglich war. Die Polizei hatte das Haus umzingelt, bewachte den Garten, aber an die Canalmündung dachte kein Mensch.«

»Sicherlich hat er diesen Weg genommen, aber gesehen hat ihn schließlich niemand; nicht einmal Sie!«

»Gesehen habe ich ihn allerdings nicht, denn es war zu finster und ich war zu weit entfernt.«

»Wo waren Sie denn?«

»Hier an dieser selbigen Stelle; dies ist der beste Ort, um Fische zu fangen.«

»Ich wußte gar nicht, daß man auch bei Nacht angeln kann.«

»Ich angelte auch nicht, sondern warf bloß Köder meiner eigenen Erfindung aus und das muß man drei oder vier Stunden vor Tagesanbruch thun. Kommt man dann des Morgens wieder, so hat man den schönsten Fischfang, den man sich nur denken kann.«

»Also diese Nacht war es, daß –«

»Ja diese Nacht sah ich es mit an, wie sich das Lastschiff ganz sachte in Bewegung setzte – man hatte ein Boot mit sechs Rudern ins Wasser hinabgelassen, und das zog den Schlepper zwar nicht schnell, denn er ist schwer, aber die Strömung half ihnen. Gegenwärtig dürften sie sich in der Nähe von Poissy befinden, und ich denke sogar, daß der Dampfer sie dort erwartete und ins Schlepptau nahm.«

»Und Sie glauben, die Polizei wisse von alldem nichts?«

»Ach, die weiß nichts, denn ihre Spione suchen in einer ganz anderen Richtung. So ist's ja immer; die Kerle sind strohdumm! Und selbst wenn man der Polizei jetzt Meldung erstatten wollte, so wäre es bereits zu spät. Die beiden Schiffe würden sie wohl noch abfassen, aber den Eigenthümer derselben nicht, denn der hatte inzwischen reichlich Zeit, ans Land zu steigen und seine Flucht in einer anderen Richtung fortzusetzen; darüber wäre ich wirklich sehr erfreut. Ich weiß nicht, was er verbrochen hat; doch ist es meine Sache nicht, der Polizei bei seiner Festnahme behilflich zu sein, und würde ich nicht glauben, daß er nichts mehr zu fürchten hat, so hätte ich auch Ihnen nichts erzählt.«

Dangelas wunderte sich nicht im mindesten über diese Sprache, denn er wußte aus Erfahrung, daß die niedrigen Bevölkerungsschichten von Paris stets gegen die Polizei Partei ergreifen; umsomehr ärgerte sich aber der alte Cordouan. Er dachte nur an seine Enkelin, und es fehlte wenig, so hätte er den Angler beim Kragen genommen und vor die Polizeiorgane geschleppt, die sich in dem Hause der Rue Berton befanden. Dangelas ermahnte ihn mit einem ausdrucksvollen Blicke, seinen Groll zu meistern, denn der schlaue, junge Mensch errieth, daß der Mann alles leugnen würde, wenn man Gewalt anwenden wollte, während er noch manches von ihm zu erfahren wünschte.

»Sie haben vollkommen recht und ich stimme Ihnen rückhaltslos bei,« sprach er; »die Polizeiagenten sind's nicht werth, daß man ihnen Beistand leistet. Und selbst wenn sie wüßten auf welche Weise ihnen ihr Wild entschlüpft ist, könnten sie es nicht mehr einholen, denn sie wissen ja nicht, wie die betreffenden Schiffe aussehen und wie sie heißen. Diese Fahrzeuge sehen sich alle ähnlich; sie sind breit, die Vorderspitze reicht fast bis zum Wasserspiegel und hinten haben sie ein endlos langes Steuerruder.«

»Dieses Schiff ist aber gar nicht so gebaut wie die übrigen; ich würde es auf eine Meile weit erkennen.«

»Teufel! Da müssen Sie aber ein ganz schlauer Patron sein.«

»Mag sein – aber täuschen würde ich mich nicht.«

»Wahrscheinlich ist das Schiff bedeutend kleiner oder größer als die anderen.«

»Vor allem ist es viel höher. Als es am Ufer vor Anker lag, überragte sein Verdeck den Quai und dann unterscheidet es sich auch durch seine besondere Farbe von den anderen Schiffen.«

Dangelas wollte bereits fragen, welche Farbe das sei; doch hielt er noch rechtzeitig zurück, um den der Polizei so feindselig gesinnten Mann nicht mißtrauisch zu machen.

»Sie glauben mir nicht?« fragte derselbe, als fühlte er sich in seinem Ehrgeize gekränkt. »Nun, wollen Sie um einen Liter Wein wetten, daß ich das Schiff erkenne?«

»Mir wär's schon recht,« erwiderte Dangelas lachend; »doch haben wir keine Zeit, mit Ihnen am Seine-Ufer entlang zu gehen, um das Schiff zu suchen und dann verlohnt es sich ja gar nicht für drei Personen eines Liters wegen!«

»So sagen wir vier Liter und hundert Francs obendrein. Ich könnte Ihnen das Geld sehr schwer bezahlen, wenn ich verlieren würde; doch bin ich sicher, daß ich gewinnen werde, und dann käme mir das sehr zugute, denn mit dem Verkaufe von Fischen hat sich noch niemand Reichthümer erworben.«

Dangelas war auch nicht reicher, da er seine Barschaft gänzlich verausgabt hatte, als er im Kaffeehause den Grog bezahlte; doch war der Vorschlag zu verlockend und er sagte sich, daß sich ihm eine solche Gelegenheit nicht wieder darbieten würde.

»Nun, Papa, was meinen Sie?« fragte er und stieß Cordouan mit dem Ellbogen an, während er ihm mit den Augen zuzwinkerte.

Der alte Seemann verfügte über keinen sonderlichen Scharfsinn; doch verstand er und erwiderte nach einigem Zögern:

»Das möchte ich selbst gern sehen.«

»Nun, dann zeigen Sie das Geld her,« fuhr der junge Mann fort.

»Ist gar nicht nöthig; hören Sie nur, wie es klirrt!« antwortete Cordouan und klimperte mit einigen Goldstücken, die er in der Tasche hatte.

»Also abgemacht! Sie sollen Ihre hundert Francs haben, Herr Angler! Packen Sie Ihren Kram zusammen und weisen Sie uns den Weg! Ich bin im Stande, zu Fuß von hier bis nach Poissy zu gehen, nur um meine Wette zu gewinnen.«

Der Fischer hatte seine Utensilien zusammengepackt und sich darauf erhoben; sein Gesicht zeigte aber einen ganz veränderten Ausdruck und er warf sogar Dangelas übelwollende Blicke zu.

»Nun?« fragte der junge Maler; »ist's abgemacht und gehen wir?«

Der Fischer gab keine Antwort, sondern begann die »Marseillaise« zu pfeifen, während er seine Angelschnüre zusammenwickelte, und erst als Dangelas seine Frage wiederholte, erwiderte er:

»Sie halten mich also für einen richtigen Einfaltspinsel? Sie würden mir wohl für das Zeigen des Schiffes hundert Francs zahlen, wenn Sie nicht zur Polizei gehörten? Na, ich gehöre nicht zur Polizei und leiste ihr auch keine Hilfe. Es wäre besser gewesen, wenn ich gar nicht gesprochen hätte; aber mit alldem, was Sie von mir erfahren haben, werden Sie auch nicht weit kommen, denn ohne mich werden Sie das Schiff des vornehmen Herrn schwerlich erkennen. Suchen Sie es immerhin, meine Herren; denken Sie aber nicht, daß Ihnen der alte Asticot dabei behilflich sein wird! Auf Nimmerwiedersehen!«

Er wollte den Beiden den Rücken wenden; Pierre Cordouan aber hielt ihn mit den Worten zurück:

»Aber ich hasse ja die Polizei ebenso wie Sie!«

»Papperlapapp, alter Bär!«

»Sie wollten mich nicht anhören, diese verdammten Spione, die Sie so verabscheuen! Sie haben mir ins Gesicht gelacht und mich an die Luft gesetzt, als ich sie bat, sie mögen mir behilflich sein, meiner verschwundenen Enkelin, die man mir gestohlen hat, nachzuforschen! – Ja, meiner Enkelin, einem armen unschuldigen Ding, das noch keine zwanzig Jahre alt ist! Vielleicht haben Sie auch eine Tochter, wie? – und Sie werden nicht so herzlos sein, mir Ihren Beistand zu verweigern, wenn Sie mir zu ihrer Entdeckung verhelfen können. Sie glauben, ich sei ein Polizeiagent? Aber so blicken Sie doch auf das rothe Band in meinem Knopfloche!«

Der alte Asticot nickte nur mit dem Kopfe, schien aber nicht recht überzeugt zu sein. Er gehörte zu den Leuten, die da meinen, die Polizeiagenten schmückten sich mit allen möglichen Ehrenzeichen, wenn sie es im Interesse ihrer Berufspflichten erforderlich hielten.

»Ich habe dreißig Jahre bei der Kriegsmarine gedient,« fuhr Cordouan, der immer mehr in Eifer gerieth, fort. »Soll ich Ihnen meine Papiere zeigen? Ich habe sie bei mir und will sie Ihnen zeigen, und Sie sollen nicht sagen dürfen, daß dieselben falsch sind.«

»Und Ihr Kamerad da hat wohl auch in der Marine gedient?« fragte der Angler ironisch.

Jetzt erachtete Dangelas den Augenblick für gekommen, um das Wort zu ergreifen. Anfänglich hatte er die edle Regung mißbilligt, von welcher sich Cordouan hinreißen ließ; doch konnten die Worte, die dieser gesprochen hatte, nicht zurückgezogen werden und er gedachte sogar, möglichsten Vortheil daraus zu ziehen.

Dangelas kannte die Vorurtheile und den Gedankengang der unteren Volksschichten, welchen er selbst angehörte, ganz genau, und er hatte auch bereits errathen, was sich der alte Asticot dachte und was derselbe werth war. Ein geschworener Feind der Polizei und der Behörden im Allgemeinen, mußte der alte Angler gewissen Gefühlen und Empfindungen, welchen die Pariser in den Theatern stets großen Beifall klatschen, selbst wenn sie dieselben nicht ins Praktische übertragen, zugänglich sein.

So ist unter anderem das geraubte Kind die Achillesferse so vieler Arbeiterdramen, die große Triebfeder, die auf die Thränendrüsen wirkt, und Männer, die nie Vaterfreuden gekannt, weinen mit den anderen um die Wette. Um also den alten Angler zu erweichen, brauchte man ihm bloß zu beweisen, daß Pierre Cordouan in Wirklichkeit seine Enkelin suche, die von einem reichen vornehmen Herrn entführt worden, und Dangelas übernahm es, diesen Beweis zu führen.

»Lieber Herr,« sprach er ruhig; »Sie zürnen uns und daran thun Sie unrecht. Ich bin Ihnen nicht böse, weil Sie uns für Polizeispione hielten, denn obschon wir nicht wie solche aussehen, haben wir Sie durch eine Menge Fragen geärgert. An Ihrer Stelle wäre es mir vielleicht auch nicht besser ergangen. Doch nun handelt es sich nicht mehr um diese Frage, sondern ich will Ihnen rückhaltlos sagen, wer wir sind und worum es sich handelt. Hernach können Sie thun und lassen, was Sie für gut finden. Dieser Herr hier heißt Pierre Cordouan und diente als Quartiermeister bei der Kriegsmarine, was so viel ist wie Wachtmeister bei der Landarmee, und noch etwas mehr. Er wohnt in der Rue du Port Mahon Nummer acht, wovon Sie sich sehr leicht überzeugen können. Ich bin Künstler und Schüler von Paul Vitrac, der ein berühmter Maler ist und hunderttausend Francs jährlich erwirbt. – Das erwerbe ich allerdings noch nicht; doch bin ich ein rechtschaffener Mann, der mit der Polizei niemals etwas gemein hatte. Ich wohne in der Rue Fromentin Nummer fünfzehn, wo Sie sich nach mir erkundigen können.«

»Das ist nicht nöthig, denn ich glaube Ihnen. Doch weiß ich noch immer nicht, was Sie von mir wollen.«

»Und die Sache ist doch einfach genug. Mein alter Freund Cordouan da hat eine Enkelin, die ich heiraten werde – doch hängt das von Ihnen ab.«

»Von mir?«

»Allerdings – denn wenn wir sie nicht finden, so kann ich sie nicht heiraten, und wenn Sie uns nicht beistehen, so können wir sie nicht finden.«

»Also gut! Ich habe aber von einem Schiffe gesprochen und Sie sprechen von einem Mädchen; wie hängt das miteinander zusammen?«

»Man lockte das arme Mädchen in dieses Haus in der Rue Berton und von dort brachte man es auf das Schiff, wo es gefangen gehalten wird. Verstehen Sie jetzt?« fragte der Maler.

»Noch nicht ganz. – Wie wissen Sie denn, daß sich das Mädchen auf dem Schiffe befindet?«

»Durch einen Brief, den sie an ihren Großvater schrieb, den Sie da vor sich sehen.«

»Der vornehme Herr, der sie entführt hat, gestattet ihr also, an ihre Verwandten zu schreiben?«

»O nein! Sie warf den Brief durch eine Luke des Schiffes ans Land, nachdem sie ihn um ihre Geldbörse befestigt hatte, damit er nicht davonflattere. Das kleine Packet fiel auf den Quai, wo es jemand fand, der den Brief zur Post gab. Diesen Brief erhielt Cordouan heute Morgens; wir lasen ihn gemeinschaftlich durch und eilten hierher. Sie sehen doch jetzt, daß wir keine Polizeispione sind.«

»Und was hat sie in dem Briefe geschrieben?«

»Sie schilderte, wie man sie geknebelt, gefesselt, durch einen unterirdischen Gang geschleppt und in ein förmliches Gefängniß gesperrt hatte. Wo sich dasselbe befinde, wisse sie nicht; sie sprach bloß von einem Zimmer, welches keine Fenster hatte, und wo sie von einem kleinen Negerknaben bedient wurde.«

»Den Negerknaben kenne ich; ich sah ihn oft auf dem Verdeck des Schiffes.«

»Sie sehen also, daß ich nicht lüge. Ohne es zu wissen, haben Sie uns bereits einen großen Dienst erwiesen. Wir kamen hierher, um in das Haus des Mannes, der sich Graf Borodino nennt, zu dringen und von ihm die Herausgabe des jungen Mädchens zu verlangen. Wir glaubten, er befinde sich noch in dem Hause und hatten keine Ahnung von dem Vorhandensein eines Schiffes. Sie haben uns erst die Augen geöffnet. Alles, was Sie gesagt haben, stimmt mit den Angaben des Briefes überein, und damit jeglicher Zweifel beseitigt sei, wird Ihnen Cordouan diesen Brief zeigen.«

Der alte Seemann griff in die Tasche, wo er das Schreiben seiner Enkelin verwahrt hatte; doch noch bevor er es zum Vorscheine bringen konnte, hielt ihm der Angler, der einen Moment in einem Beutel gesucht hatte, den er um die Schultern gehangen trug, einen Gegenstand mit den Worten entgegen:

»Erkennen Sie dies? Gehört dies Ihrer Enkelin?«

»Die Geldbörse!« riefen Dangelas und Cordouan zu gleicher Zeit aus.

»Ja, die Geldbörse; sie enthielt drei Francs und vierzehn Sous und so viel sind auch jetzt darin. Zählen Sie nach und überzeugen Sie sich selbst.«

»Sie haben also die Geldbörse gefunden?«

»Mein Gott, ja! – Gestern Morgens kam ich da vorüber und fand die Börse gerade vor dem Schiffe auf dem Quai liegen. Ich hätte sie bei der Polizei abgeben sollen; doch will ich mit den Leuten nichts zu thun haben. – Und so steckte ich den Brief sammt der Börse in die Tasche, und da ich in der Rue Guérin zu thun hatte, warf ich den Brief in den Kasten, ohne gar die Adresse anzusehen, wie es doch natürlich gewesen wäre.«

»Betrachten Sie den Poststempel,« sagte Cordouan, indem er ihm den Umschlag zeigte.

»Ja, ja, Rue Guérin, zwölfter März. – Das ist der Brief, den ich in den Kasten warf. Ich brauche denselben gar nicht zu lesen, denn ich glaube Ihnen.«

»Ich wußte ja, daß wir uns endlich verständigen würden!« rief Dangelas aus. »Und nun werden Sie uns Ihre Hilfe nicht mehr versagen?«

»Um den Grafen festzunehmen? Das ist nichts für mich; das ist Sache der Polizei. Aber die Kleine zu erforschen, dazu bin ich bereit.«

»Mehr verlangen wir ja auch nicht; es ist uns ganz egal, wo sich der Halunke hängen lassen wird. Wir Beide, Cordouan und ich, unternehmen es sogar ganz allein, die Gefangene zu befreien, ohne Ihres Beistandes zu benöthigen, sobald wir einmal das Schiff eingeholt haben; und was Ihre Belohnung anbetrifft –«

»Sprechen wir nicht darüber; das ist nicht der Rede werth.«

»Wann brechen wir also auf, Freund?«

»Sofort! Ich will nur erst meine Fische im Gasthofe abgeben.«

»Wir werden die Reise zu Fuß machen, wie?«

»Anders wäre es nicht möglich; wir müssen ununterbrochen am Ufer entlang gehen – und zwar sehr oft auf Wegen, wo ein Wagen nicht einmal fahren kann.«

»Wir werden das Schiff nicht einholen,« warf Dangelas ein.

»O doch – besonders wenn der Schlepper den Dampfer noch nicht erreicht hat, und der letztere befindet sich oberhalb Poissy, das ist einmal sicher.«

»In diesem Falle werden wir ihn einholen.«

»Ich hoffe auch – und inzwischen wird die Polizei das Haus des Grafen vom Giebel bis zum Keller durchstöbern. Es geschieht ihr aber schon recht!«

Sobald von der Polizei die Rede war, erwies sich der Alte von einer wilden Unversöhnlichkeit, und auch Dangelas, der dieser nützlichen Institution sonst keinen Haß geschworen hatte, war es ganz zufrieden, daß er die Hilfe der Polizei entbehren konnte, wo es sich um die Entdeckung seiner kleinen Freundin handelte.

Er dachte jetzt nur an sie. Die Angelegenheit der ermordeten Frau hatte ihm niemals sonderliches Kopfzerbrechen verursacht, und allmählich hatte er sogar jegliches Interesse an der Sache verloren. Er glaubte nunmehr selbst daran, daß Borodino ein Seeräuber gewesen und einer jeden Unthat fähig sei; er wünschte auch von ganzem Herzen, der Mann möge auf dem Blutgerüste enden, ihm zu diesem wenig ruhmreichen Ende zu verhelfen, war aber nicht seine Sache. Dies wollte er anderen, berufeneren Leuten überlassen, zumal er die so hart geprüfte Helene so gut wie gar nicht kannte.

Pierre Cordouan sprach gar nichts; sein von Wind und Wetter gefurchtes Gesicht verrieth jedoch deutlich, daß er entschlossen sei, Auguste aus den Händen des Elenden, der sie ihm geraubt hatte, zu befreien oder selbst zu sterben.

Die beiden Beschützer des jungen Mädchens und deren Begleiter traten einträchtig den Weg nach dem Gasthofe an, wo der Angler seine Fische und Angelgeräthschaften abgeben wollte. Bevor sie indessen aufbrachen, konnten sie von weitem den Untersuchungsrichter mit seinem Stabe aus dem Hause kommen sehen, wo die Behörde zu ihrem Aerger die Entdeckung machen mußte, daß ihr der angebliche Graf Borodino entschlüpft sei.


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