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I.

Der Untersuchungsrichter hatte die Erklärung des Grafen mitangehört, ohne sie zu unterbrechen und ohne mit einer Miene zu verrathen, was er sich von derselben dachte. Ein flüchtiger Blick, den er mit Grisaille tauschte, deutete vielleicht darauf hin, daß ihm die Sache wenig glaubhaft erscheine; diesen Blick hatte Borodino indessen nicht wahrgenommen.

Als Francastel mit dem Verhöre begonnen, hatte er sein Kinn mehrmals mit der flachen Hand gestreichelt, und in Gemäßheit des vereinbarten Zeichens drehte der alte Schriftführer seine Feder zwischen den Fingern, statt dieses scheinbare Verhör, welches eigentlich bloß eine vertrauliche Plauderei war, zu Papier zu bringen.

Miene und Haltung der jungen Dame blieben unergründlich, nach wie vor. Sie hatte, seitdem sie ihren Platz eingenommen, keine Bewegung gemacht, und ihr reizendes Gesicht verrieth nichts als gänzliche Gleichgiltigkeit, ihre großen Augen blickten niemanden an. Man wäre versucht gewesen, zu glauben, sie schweife in Gedanken über die Grenzen der sichtbaren Welt hinaus; – allerdings mochte die Unterhaltung kein sonderliches Interesse für sie haben, da man sich ausschließlich der französischen Sprache bediente.

»Mein Plan ist also nichts werth, das sehe ich,« nahm der Untersuchungsrichter von neuem auf, »und ich werde darauf verzichten müssen, das Fräulein zu verhören. Ich habe wirklich Unglück; stumm und ungebildet, das ist zu viel! – Geben die behandelnden Aerzte aber Hoffnung auf Genesung?«

»Ja, mit der Zeit kann eine Genesung erfolgen – oder auch in Folge der Erschütterung, welche durch eine heftige Gemüthsbewegung, etwa durch einen plötzlichen Schrecken, hervorgerufen wird.«

»In der That!« bemerkte Francastel halblaut und nickte mit dem Kopfe wie jemand, der darüber nachdenkt, welchen Vortheil er aus einer unerwarteten Mittheilung ziehen könnte.

»Die Aerzte sagen es wohl, ich zweifle aber daran.«

»Immerhin könnte man den Versuch machen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Da ich aber darauf verzichten muß, in directen Gedankenaustausch mit Ihrer Nichte zu treten, so werde ich der Reihe nach die Zeugen hereinkommen lassen, die ich mit ihr und – mit Ihnen confrontiren will.«

»Hoffentlich handelt es sich nicht um Herrn Vitrac, denn dieser kennt uns bereits zur Genüge.«

»Ich werde ihn daher auch nur später verhören. Vorerst soll die Frage des bestellten Hutes geklärt werden und da die Modistin aus der Rue de la Paix zur Stelle ist, so wollen wir sehen, ob sie das Fräulein erkennen wird.«

»Ich bin überzeugt daß das nicht der Fall sein und ihre Zeugenschaft die Sache auch nicht mit Haaresbreite fördern wird.«

»Immerhin will ich es nicht unversucht lassen.«

Auf ein Zeichen des Untersuchungsrichters ging Grisaille hinaus und kehrte gleich darauf mit einer großen starken Frau zurück, die sehr anspruchsvoll gekleidet war und einen hypermodernen Hut trug, der sehr gut als Aushängeschild für ihren Laden hätte dienen können. Sie hatte das vierzigste Lebensjahr jedenfalls bereits überschritten und dies verrieth auch ihr Gesicht zur Genüge; doch mußte sie einst sehr schön gewesen sein, denn wenn die Frische des Gesichtes mit den Jahren auch geschwunden war, so zeugten die schönen Augen und regelmäßigen Züge für die entschwundene Glanzperiode.

Uebermäßige Schüchternheit war es nicht, welche die Dame charakterisirte, denn nachdem sie eine allen Anwesenden geltende Verbeugung gemacht, ließ sie sich, ohne eine diesbezügliche Aufforderung des Untersuchungsrichters abzuwarten, auf einem Stuhle nieder und wartete ruhig, bis man eine Frage an sie richten würde.

»Betrachten Sie diesen Herrn,« sagte Francastel zu ihr und deutete auf Borodino, während er zu gleicher Zeit seine Feder eintauchte, um dem Schriftführer das Zeichen zu geben, daß er das Verhör fortan zu Protokoll zu nehmen habe.

Frau Courtois betrachtete den Grafen und sagte:

»Ich sehe den Herrn heute zum erstenmale.«

»Schön. Und nun betrachten Sie diese Dame.«

Helene ließ sich ohne ein Anzeichen des Staunens oder der Ungeduld ruhig in Augenschein nehmen. Dies währte etwas länger als beim Grafen; doch erklärte die Modistin endlich:

»Es ist merkwürdig, wie sehr die Dame der Gräfin Irene ähnlich sieht –«

»Sie ist es aber nicht?«

»Ganz gewiß nicht.«

»Und Sie kennen die Dame nicht?«

»Nein. Man mag die Beiden miteinander verwechselt haben; doch getraue ich mich zu beschwören, daß man sich getäuscht hat.«

»Das ist klar und deutlich gesprochen!« bemerkte Borodino halblaut.

»Und nun berichten Sie uns alles, liebe Frau, was Ihnen selbst über die Gräfin bekannt ist,« nahm der Untersuchungsrichter von neuem auf.

»Ich weiß ja selbst so viel wie nichts. Die Gräfin fand sich zweimal in meinem Laden ein; sie fuhr immer in derselben Equipage vor, die von zwei schönen Pferden gezogen wurde.«

»Sprach sie französisch?«

»So gut wie ich – mit einer etwas fremdartigen Aussprache.«

»Etwa wie –«

»Das vermöchte ich nicht genau anzugeben, denn es war weder die Aussprache einer Deutschen, noch einer Engländerin; sie dehnte die Worte am Ende, und ich dachte mir, daß sie eine Russin sei. Uebrigens weiß ich nicht einmal, ob sie eine wirkliche Gräfin war; eher sah sie so einem Mittelding ähnlich.«

»Sie meinen, die Dame sei eine Abenteurerin?«

»Das gerade nicht – aber auch keine wirklich vornehme Person. Doch konnte ich mich auch geirrt haben, denn die vornehmen Russinnen sind oft sehr excentrisch. Sicher ist, daß sie sehr reich sein mußte; für sie schien das Geld gar keinen Werth zu haben. Ich verlangte für den Hut, den sie bestellte, um die Hälfte mehr als er werth war, denn ich dachte, daß sie feilschen werde; davon war aber gar keine Rede, und sie sagte sogar, daß das recht wohlfeil sei.«

»Und nun sprechen Sie,« sagte der Untersuchungsrichter, »von Ihrer verschwundenen Arbeiterin.«

»Sie meinen Auguste? Nun, die macht mir wahrlich keine Sorge.«

»Sie glauben also nicht, daß ihr ein Unglück widerfahren ist?«

»Ein Unglück? Keine Spur! Sie wird eben einen reichen Gönner gefunden haben, der ihr den Hof macht,« erwiderte die offenbar sehr skeptisch veranlagte Putzmacherin.

»Woher wissen Sie das?« fragte Francastel strengen Tones.

»Nun, mitgetheilt hat sie es mir allerdings nicht, aber errathen kann man es leicht.«

»Das junge Mädchen war aber durchaus ehrbar, wie Sie selbst bei Ihrem Verhöre ausgesagt haben.«

»Ehrbar! Das sind sie ja zu Beginn Alle – bis zu dem Tage, da sich ihnen eine günstige Gelegenheit darbietet. Es ist ja wahr, daß es nichts sonderlich Verführerisches hatte, mit einer großen Hutschachtel am Arme durch die Straßen zu traben und dünne Kattunkleidchen zu tragen, wenn man sich das Leben mit leichter Mühe schöner und sorgloser gestalten kann.«

»Ersparen Sie sich diese Auseinandersetzungen, Zeugin,« sprach der Richter, da ihm der leichtfertige Ton mißfiel, welchen diese durch und durch pariserische Modistin in den strengen Amtsräumen anschlug. »Dieselben sind ganz und gar unpassend und stehen meines Wissens auch gar nicht im Einklange mit dem bisherigen Verhalten Ihrer Arbeiterin; ich rathe Ihnen, dieselben in Gegenwart ihres Großvaters nicht zu wiederholen.«

»Ich würde mir, meiner Treue, auch in seiner Gegenwart keinen Zwang auferlegen. Der alte Seebär ist ja ein durchaus rechtschaffener Mann, aber auch sehr einfältig. Wenn man eine bildhübsche Tochter oder Enkelin hat und sie auf dem Pfade der Rechtschaffenheit erhalten will, so steckt man sie nicht in einen Putzmacherladen, wo sie Gänge besorgen muß. Der Alte war auch bei mir, um Erkundigungen einzuziehen; doch sagte ich ihm, daß er selbst an allem schuld sei.«

»Sie glauben also, daß der junge Maler –«

»Der? O nein! Der lange Bursche ist ja arm wie eine Kirchenmaus, und die Kleine wird nicht so dumm sein, sich von solchen Leuten den Kopf verdrehen zu lassen! Der junge Mensch hat die Wahrheit gesprochen; er hat sie nach Passy begleitet und ihr unterwegs allerlei Artigkeiten gesagt, und während er auf der Straße auf sie wartete, hat sie in einer anderen Richtung das Weite gesucht.«

Borodino entging kein Wort dieser phantastischen Ausführungen, die, wie man zu sagen pflegt, Wasser auf seine Mühle waren. Die gute Frau Courtois förderte nach Kräften seine Rechtfertigung, und man konnte ihn nicht einmal des Einverständnisses mit ihr zeihen, da sie ihn – was nicht bezweifelt werden konnte – heute zum erstenmale sah.

Es war dem Untersuchungsrichter ohneweiters klar, daß er von dieser Frau nichts weiter in Erfahrung bringen könne und daß es an der Zeit sei, es mit anderen Mitteln zu versuchen. Eines derselben, welches er sorgfältig vorbereitet hatte, schien ihm besonderen Erfolg zu verheißen; nur galt es, einen entsprechenden Uebergang zu finden und diesen auf natürliche Weise herbeizuführen, ohne daß der Onkel oder die Nichte etwas ahnen könnten.

Der Untersuchungsrichter dachte über einen Vorwand nach, um zu seinem Ziele zu gelangen, als ihm Borodino selbst diesen Vorwand lieferte.

»Herr Untersuchungsrichter,« sprach er, »ich denke, Sie wissen nunmehr die Stichhaltigkeit der gegen mich erhobenen Anklagen zu würdigen. Die eine derselben ist nicht länger zu halten, und was die andere betrifft –«

»Ich habe noch mehrere Zeugen zu vernehmen.«

»Und Sie wünschen das in meiner Gegenwart zu thun; dies ist ganz in der Ordnung und ich stehe Ihnen zur Verfügung. Nur bitte ich Sie, mit Helene Erbarmen zu haben.«

»Erbarmen! Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen, daß meine arme Nichte an einem mehr nervösen Uebel leidet; sie wäre auch nicht länger im Stande, ein wenn auch indirectes Verhör zu bestehen, und wenn sich die Dinge in die Länge ziehen sollten, so ist ein Nervenausbruch mit Sicherheit zu gewärtigen. Könnte sie sprechen, so würde sie Ihnen selbst sagen, was sie empfindet – ich sehe ihrem Gesichte deutlich die Erschöpfung an – sie ist fieberhaft erregt.«

»Ich habe das zwar noch nicht wahrgenommen, bin aber bereit, die erforderlichen Maßregeln zu treffen, um die von Ihnen angedeutete Krisis zu verhüten. Ich kann das Verhör allerdings nicht aufschieben, kann es aber für eine Viertelstunde unterbrechen.«

»Es würde ja genügen, wenn sich Helene ausruhen könnte, während Sie die übrigen Zeugen vernehmen. Ihre Gegenwart ist dabei ganz überflüssig, da sie kein Wort von allem dem versteht, was da gesprochen wird und die Confrontirungen betreffend, glaube ich –«

»Ich lege nur auf eine Confrontirung besonderes Gewicht; ich möchte nämlich, Herr Dangelas, der Schüler des Herrn Vitrac, möge das Fräulein in der Nähe sehen. Doch habe ich vor diesem Herrn noch andere Zeugen zu vernehmen, und so kann sich Ihre Nichte in das hier anstoßende Nebengemach zurückziehen, wo sich ein Divan befindet, auf welchem ich zuweilen der Ruhe pflege. Das Fräulein kann daselbst ganz bequem ruhen, und da sie bloß durch einen Vorhang von uns getrennt ist, so brauchen Sie sie nur bei ihrem Namen zu rufen, wenn der Zeuge Dangelas erscheint.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr,« erwiderte der Graf, worauf er in griechischer Sprache einige Worte an seine Nichte richtete, die sich wie von einer Feder bewegt erhob. Noch hatte sie kein Zeichen von Ungeduld gegeben; doch sah man es ihrem Gesichte deutlich an, daß sie sich schon gern entfernt hätte.

Francastel war aufgestanden und sagte heiteren Tones:

»Ich werde das Fräulein führen, denn in meinem Boudoir, wie ich es nenne, ist es ziemlich dunkel, da die Läden geschlossen sind, und muß ich sie öffnen, damit es hell werde.«

»Ich möchte Sie nicht gern bemühen,« fiel ihm Borodino ins Wort, da er den Raum, in welchem der Untersuchungsrichter die junge Dame unterzubringen gedachte, offenbar erst besichtigen wollte.

Frau Courtois fand, daß dieser Untersuchungsrichter ein sehr liebenswürdiger Mann sei, und es gewährte ihr eine gewisse Befriedigung, daß sie wieder einmal constatiren konnte, daß selbst die ernstesten und gewichtigsten Persönlichkeiten für eine hübsche Frau stets besondere Rücksicht haben. Grisaille fand sogar, daß sein Chef deren zu viel habe; doch machte er hierüber keinerlei Bemerkung, sondern spitzte bloß die Lippen und runzelte die Augenbrauen. Der alte Schriftführer dagegen rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her und verrieth deutlich die sich seiner bemächtigende Aufregung; vielleicht weil er in Bezug auf die geheimen Absichten des Untersuchungsrichters besser informirt war als Grisaille.

Borodino, der neben seiner Nichte stand, sprach mit gedämpfter Stimme zu ihr, als hätte er gefürchtet, die Anwesenden würden mit einemmale das Griechische verstehen, und Helene antwortete ihm durch Zeichen, wobei sie ihn fest anblickte.

Francastel schob den auf einer Stange laufenden Vorhang, welcher sein Arbeitszimmer von dem Raume trennte, den er scherzweise sein »Boudoir« nannte, zurück, und lud Borodino mit einer Handbewegung ein, näherzukommen. Jener beeilte sich aber nicht sonderlich, und man hätte meinen können, daß ihm die Sache nicht recht geheuer dünke. Dennoch entschloß er sich, seine Nichte bis zu dem Eingange des schwarzen Gemaches – dies war der richtigste Ausdruck, denn man sah so wenig daselbst wie in einem Keller – zu geleiten; dort blieb er aber stehen.

»Fürchten Sie nicht, näher zu treten,« sagte der Untersuchungsrichter zu ihm; »ich werde sofort hell machen. Hierher, Herr Graf! – Das Sopha befindet sich zu Ihrer Rechten – Sie brauchen mir bloß zu folgen. – So, nun sind Sie da. – Bloß einen Moment noch –«

»Ein sonderbarer Gedanke das von Ihrem Untersuchungsrichter, mit seinen Zeugen Versteckens zu spielen!« sagte die Putzmacherin lachend, die sich nicht enthielt, laut zu denken.

Grisaille warf ihr einen zornigen Blick zu, und er hätte ihr gewiß Schweigen geboten, wenn er über die sich jetzt abspielenden Vorgänge nicht selbst sehr erstaunt gewesen wäre. Pilois, dessen Erregung mit jeder Secunde zuzunehmen schien, starrte vor sich hin, während sein Ohr angestrengt auf jedes Geräusch lauschte.

In dem dunklen Cabinette war Stille eingetreten; Helene schwieg aus guten Gründen und ihr Onkel und der Untersuchungsrichter schwiegen ebenfalls. Ersterer wartete offenbar darauf, daß Francastel hell mache, wie er es versprochen hatte, und man verhält sich instinctiv ruhig, wenn man sich in Dunkelheit befindet. Francastel dagegen, der das Geheimniß, welches die Vorfälle der letzten Tage umgab, so gern gelüftet hätte, beeilte sich durchaus nicht, die Fensterläden zu öffnen.

Endlich vernahm man das Zurückschieben der Riegel und Francastel sagte:

»Nun müssen nur noch die Läden zurückgestoßen werden – und wir werden sofort in einem Meere von Licht schwimmen.«

»Soll ich Ihnen helfen?« fragte der Graf mit einer Stimme, die seine Ungeduld deutlich verrieth.

»O, ich danke – das ist ganz unnöthig – die eisernen Riegel sind ein wenig verrostet, da sie fast niemals geöffnet werden – doch vermag ich sie noch zu meistern – und sie müssen nachgeben, ob gutwillig oder nicht. – Ah, endlich!«

In der That waren die widerspenstigen Fensterläden unter dem Drucke der wiederholten Stöße endlich gewichen; unter lautem Krachen flogen sie zurück und das voll hereinfluthende Tageslicht drang durch die offen stehende Verbindungsthür bis in das Zimmer des Untersuchungsrichters.

Eine Secunde später vernahmen die daselbst zurückgebliebenen Personen einen durchdringenden Schrei, wie ihn nur eine Frau in höchstem Entsetzen ausstoßen kann. Grisaille, Pilois und Lucie Courtois fuhren in die Höhe, und der Geheimpolizist und die Putzmacherin eilten zur Thür, während sich der Schriftführer tief aufathmend auf seinen Stuhl zurückfallen ließ. Der Schrei hatte ihn erschüttert; doch war er auf denselben gefaßt gewesen, und er wußte, was er davon zu halten habe.

In der Meinung, man wolle das junge Mädchen ermorden, welches der Gräfin Irene so ähnlich sah, langte die Putzmacherin in dem kleinen Cabinette an, fest entschlossen, die Arme zu vertheidigen, und was sie dort sah, konnte sie nur ungenügend beruhigen.

Helene lag bewußtlos in den Armen des Untersuchungsrichters, und ihr Onkel schien es durchaus nicht eilig zu haben, ihr zu Hilfe zu kommen. Er kehrte ihr sogar den Rücken zu und starrte wie versteinert auf den Kopf der Todten, der in der Mitte des Cabinettes auf einem säulenartigen Sockel unter einem Glassturze stand, wie man sie früher zu Kaminuhren verwendet hatte.

Als die Fensterläden mit einemmale geöffnet wurden, fiel das hereindringende Tageslicht voll auf den farblosen Kopf, so daß die Wirkung desselben eine noch mächtigere war als in der Morgue. Grisaille erblickte den Kopf sofort und brauchte nicht erst eine Erklärung für die Ohnmacht des jungen Mädchens zu suchen. Ihm war die Sache augenblicklich klar und er bewunderte die Geschicklichkeit des Untersuchungsrichters, der die Ueberraschung sorgfältig vorbereitet hatte und im richtigsten Augenblicke zur Geltung kommen ließ.

Frau Courtois dagegen hatte bloß Helene gesehen, die bewußtlos dalag, und sie eilte zu ihr hin, um ihr beizustehen, wie es nur Frauen verstehen, wenn es sich um eine Geschlechtsgenossin handelt.

»Ueberlassen Sie sie mir! Ich weiß in solchen Fällen sehr gut Bescheid!« rief sie dem Untersuchungsrichter zu, dem es ganz recht war, daß sie ihm zu Hilfe kam. »Sagen Sie nur dem Alten, der wie angenagelt auf seinem Platze sitzt, er möge mir Wasser bringen, während ich ihr die Kleider öffne.« Und wie mit sich selbst sprechend, fügte sie hinzu: »Die ist ja vermummt wie im Carneval. – Wenn ich nur die Knöpfe und Oesen finden werde. – Ein Mieder trägt sie nicht, das trifft sich noch glücklich.«

»Ich bitte Sie, nicht hier!« fiel ihr Francastel in die Rede. »Das Zimmer meines Collegen ist frei – im Corridor, die Thür gegenüber – Grisaille, rufen Sie den Diener und helfen Sie ihm das junge Mädchen hinübertragen; darauf schicken Sie nach einem Arzte – die Dame wird Sie begleiten – ich bedarf ihrer nicht mehr.«

In diesem Momente erblickte auch Frau Courtois den Kopf der Todten und erschrocken rief sie aus:

»Schauderhaft! Da ist's freilich kein Wunder, wenn die Kleine unwohl geworden – und ich will auch nicht länger hier bleiben. Gewiß werde ich heute Nacht davon träumen.«

»Sie können sich entfernen; aber Sie, Herr Graf, bitte ich zu bleiben, da ich noch einige Fragen an Sie zu richten habe, nach deren Beantwortung ich Sie nicht länger zurückhalten werde.«

Der Graf verneigte sich schweigend; er war sehr bleich, hatte aber seine Kaltblütigkeit nicht verloren, und äußerte nicht einmal den Wunsch, seine Nichte zu begleiten, die man soeben hinaustrug.

»Sie werden sehr bald wieder bei ihr sein,« bemerkte der Untersuchungsrichter.

Als die Herren in das Zimmer des Letzteren, wo sich nur noch der Schriftführer befand, zurückgekehrt waren und ihre Plätze eingenommen hatten, wartete der Graf die Fragen des Richters nicht ab, sondern hub trockenen, zuversichtlichen Tones zu sprechen an:

»Gestatten Sie mir, Herr Untersuchungsrichter, gegen das Verfahren zu protestiren, dessen Sie sich aus einem mir unbekannten Grunde soeben bedienten, denn ich kann nicht gut annehmen, daß Sie die Absicht hatten, meine Nichte zu tödten – und sie war nahe daran, aus Furcht zu sterben. Daß Sie mir die sinnlosesten Verbrechen zur Last legen und mich in einer Weise verhören, als wäre ich ein Verbrecher, kann man schließlich auf Ihre Machtbefugniß als Untersuchungsrichter zurückführen – doch haben Sie diese Ihre Machtbefugniß jetzt einer jungen Dame gegenüber geltend gemacht, die meines Wissens weder eines Mordes, noch einer Entführung beschuldigt wird. Sie hatten diese schauerliche Ueberraschung sicherlich vorbereitet.«

»Ich gebe es zu, und Sie selbst erweckten den Gedanken in mir, mich derselben – im Interesse Ihrer Nichte zu bedienen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie mir nicht vorhin selbst gesagt, daß eine starke Erschütterung ihr die Sprache, die sie durch einen heftigen Schrecken verlor, wiedergeben könnte? Und da kam mir denn der Gedanke, den Versuch zu machen.«

»Und nur dieses Versuches halber ließen Sie den Kopf jener Unglücklichen hierher bringen?«

»Ja; und auch um zu sehen, ob Ihre Nichte die Todte kannte. Das ist nunmehr erreicht worden.«

»Und weil das arme Kind bei dem Anblicke des Kopfes ohnmächtig wurde, glauben Sie, Helene habe die Todte zu deren Lebzeiten gekannt? Das wäre doch zu vorschnell geurtheilt, mein Herr Untersuchungsrichter! Helene wurde vor Schrecken und Abscheu ohnmächtig, und ich selbst, der ich doch ein Mann bin, habe die Augen geschlossen, um dem schauerlichen Anblicke zu entgehen.«

»Sie haben die Ermordete aber auch nicht gekannt, denke ich?«

»Nein.«

»Aber die Aehnlichkeit derselben mit Ihrer Nichte ist Ihnen doch aufgefallen?«

»Ich habe den Kopf kaum angeblickt und nur an Helene gedacht.«

»Im Uebrigen können Sie mit dem Resultate des Versuches zufrieden sein, denn Ihre Nichte ist geheilt und nicht mehr stumm.«

»Herr, wollen Sie sich über mich lustig machen?« fragte Borodino in hellem Zorne.

»Da sei Gott vor, Herr Graf! In der Ausübung meiner Amtspflichten erlaube ich mir niemals einen Scherz. Doch erkläre ich Ihnen, daß Fräulein Helene gesprochen hat – allerdings nicht sehr laut, so daß Sie es nicht hören konnten, da Sie etwas entfernt von ihr standen; aber ich, der ich sie in meinen Armen hielt, ich habe die Worte, die sie sprach, deutlich vernommen!«

»Wirklich? – Und was sagte sie denn?«

»Verstanden habe ich sie nicht, denn sie bediente sich einer Sprache, die ich nicht kenne – offenbar war es ihre Muttersprache; aber die Worte habe ich mir gemerkt und ich hoffe, daß Sie mir dieselben erklären werden. Sie sprach sehr rasch und schwachen Tones, aber vollkommen deutlich –«

»Was denn?«

»Sie sagte: I adelphi mou – drei Worte – weiter nichts – und die bedeuten?«

»Die bedeuten gar nichts – Helene ließ, bevor sie in Ohnmacht fiel, einige röchelnde Töne vernehmen und da glaubten Sie, sie habe gesprochen.«

»Ich glaube mich nicht geirrt zu haben – und es scheint mir, als wäre das griechisch gewesen, adelphi hat ein entschieden griechisches Gepräge.«

»In London giebt es ein Adelphi-Theater – und in den Vereinigten Staaten befindet sich die Stadt Philadelphia,« spottete Borodino; »doch bin ich überzeugt, daß meine Nichte weder von dem einen, noch von dem anderen sprechen hörte.«

»Sobald sich Fräulein Helene erholt hat, werden wir wissen, woran wir sind; ich werde Sie bitten, sie zu befragen, und dann werden wir sehen, ob sie Ihnen antwortet.«

»Sehr wohl, Herr Untersuchungsrichter,« sagte Borodino, der seine flüchtige Verlegenheit bemeistert hatte; »und je früher das geschehen kann, je lieber wird es mir sein. Wenn Sie Helene noch mit anderen Personen zu confrontiren haben, so bitte ich Sie, das an einem anderen Tage zu thun, denn Helene ist gegenwärtig so nervös und erschöpft, daß sie neuerlichen Erschütterungen nicht gewachsen wäre.«

»Ich will Ihrem Begehren nachkommen, Herr Graf, und die weiteren Verhöre morgen vornehmen, so daß Sie sich mit Ihrer Nichte entfernen können, sobald sich dieselbe zur Genüge erholt hat. – Doch da kommt ja Grisaille, der uns über sie berichten wird. Nun, wie geht es?« fragte Francastel den Agenten, der ihm zur Antwort gab:

»Die Sache ist ganz belanglos. Der Arzt, der bei ihr ist, versichert, daß sie in einer Viertelstunde vollständig hergestellt sein wird. Dagegen scheint sich ein Wunder vollzogen zu haben – das Fräulein spricht nämlich.«

»Nun, Herr Graf, sagte ich es Ihnen nicht? Ich wußte ja, daß ich richtig gehört habe!«

»Nur versteht sie niemand,« fügte Grisaille hinzu.

»Morgen wird auch diese Schwierigkeit behoben sein, denn ich werde einen Dolmetscher zu Hilfe rufen, und Herr Borodino wird die Richtigkeit der Uebersetzung controliren. Für heute wären wir fertig – Grisaille, Sie werden den Herrn Grafen mit seiner Nichte in die Rue Berton zurückbegleiten.« Und da Borodino bei diesen Worten eine schiefe Miene machte, fügte Francastel hinzu: »Ich lege Gewicht darauf, Herr Graf, daß Sie sich nicht ohne Begleitung entfernen; doch bitte ich Sie, daran keinen Anstoß zu nehmen. Es ist das bloß eine Formalität, zumal ich mir über die beiden Angelegenheiten bereits mein Urtheil gebildet habe. Es bleibt uns aber noch eine Viertelstunde, während welcher ich noch zwei oder drei Fragen an Sie richten möchte.«

»Ganz nach Belieben,« erwiderte Borodino ziemlich unfreundlich.

»Die Auskünfte, die ich von der russischen Botschaft erhielt,« sagte der Untersuchungsrichter jetzt, »gaben mir Aufschluß über Ihre Vergangenheit.«

»Sie schenken also den Worten dieses alten Narren, der behauptet, er habe mich vor dreißig Jahren in Griechenland gekannt, und der, wenn ich seine Worte, die er gestern bei mir gesprochen, richtig verstanden habe, mich beschuldigt, ich sei einstmals Seeräuber gewesen, keinen Glauben?«

»Es ist sehr leicht möglich, daß ihm der Schmerz den Verstand trübte, und werde ich Sie mit ihm erst confrontiren, wenn er ruhiger geworden ist. Für den Moment bitte ich Sie bloß nur, mir die Personen namhaft zu machen, die Sie in Paris kennen.«

»Ich glaube Ihnen bereits gesagt zu haben, daß ich hier mit niemandem verkehre, außer etwa mit dem Bankhause, bei welchem ich meine laufende Rechnung habe. Mit meinen Landsleuten verkehre ich nicht, ebenso wenig wie in den Pariser Kreisen, und zwar nur meiner Nichte wegen, deren Gebrechen jeden Verkehr ausschloß.«

»Sehr richtig – Ihre Dienerschaft besteht ausschließlich aus Russen?«

»Ja, und meine Leute sind schon seit vielen Jahren in meinen Diensten. Ich habe sie mit mir gebracht und werde sie wieder mit mir nehmen, wenn ich Frankreich verlasse. Sie können die Leute auch verhören; doch glaube ich nicht, daß Sie etwas erfahren werden, was Sie nicht schon wissen.«

»Ich hoffe, Sie werden bei uns bleiben,« sagte der Untersuchungsrichter mit einem Lächeln, welches ebenso zweideutig war wie der Sinn seiner Worte. Gerade wollte er in seinem Jargon fortfahren, als leise an die Thür geklopft wurde.

Grisaille öffnete und führte einen Herrn herein, den Francastel mit den Worten begrüßte:

»Nun, Doctor, wie geht es Ihrer Kranken?«

»Sie ist vollkommen wiederhergestellt. Es war nichts weiter als eine kleine Ohnmacht, wie sie bei nervösen jungen Mädchen nicht selten ist, und ohne jede Bedeutung. Sie ist noch ein wenig aufgeregt und plaudert wie ein Staar, doch –«

»Sie spricht also wirklich?«

»Noch dazu ohne Unterlaß.«

»Das nenne ich frohe Botschaft, Herr Graf!« wendete sich der Untersuchungsrichter zu Borodino, der keine sonderlich erfreute Miene zeigte.

»Nur versteht niemand, was sie spricht,« fügte der Arzt hinzu.

»Ja – sie spricht griechisch.«

»Ich glaube nicht; eher schien es mir deutsch zu sein.«

»Die Hauptsache ist, daß sie nicht mehr stumm ist.«

»Stumm? – Doch nicht von Geburt aus, denn –«

»Nein, nur seit drei Jahren, in Folge einer durch einen plötzlichen Schrecken hervorgerufenen Lähmung, die durch eine nicht minder heftige Erschütterung mit einemmale behoben wurde.«

»Das wäre äußerst merkwürdig!«

»Wie! Sie glauben das nicht?«

»Nicht im entferntesten! Mir ist ein solcher Fall noch niemals untergekommen, und so lange ich nicht vom Gegentheile überzeugt werde, kann ich die Möglichkeit eines derartigen Wunders nicht zugeben.«

»Sie sind ja nicht unfehlbar, lieber Herr,« meinte Borodino, der seit wenigen Minuten sehr unruhig geworden war.

»Wir können die Wahrheit sehr leicht in Erfahrung bringen, indem wir die Kranke selbst befragen,« schlug der Untersuchungsrichter vor.

»Und ihren Angaben Glauben schenken?« sagte der ungläubige Doctor ironisch. »Ich muß Sie hierbei aufmerksam machen, daß hartnäckiges Lügen ein charakteristisches Symptom der Hysterie ist.«

»Thut nichts; ich will die junge Dame verhören. Bitte, Grisaille, führen Sie sie herein. Der Frau Courtois können Sie sagen, daß ich ihrer nicht mehr bedarf.«

»Entschuldigen Sie, Herr Francastel,« sagte der Doctor; »doch haben sich bereits Beide entfernt. Zuerst ging die ältere und etwa fünf Minuten später folgte ihr die jüngere Dame.«

»Und Sie ließen das ruhig geschehen?« rief der Polizeiagent aus.

»Sie hatten mich ja nicht beauftragt, die Beiden zurückzuhalten!« gab der Arzt trocken zur Antwort. »Ich selbst schickte die Frau fort, da ich derselben nicht mehr bedurfte, und das scheint mir auch ganz richtig gewesen zu sein, denn Herr Francastel sagte Ihnen soeben selbst, Sie mögen sie entlassen. Die jüngere aber gab mir durch Zeichen zu verstehen, daß man sie unten erwarte, und ich hatte keinen weiteren Grund, sie zurückzuhalten.«

»Sie muß plötzlich wahnsinnig geworden sein!« rief Borodino aus, als er dies hörte. »Ich kann sie unmöglich allein durch die Straßen einer Stadt irren lassen, in welcher sie sich nicht zurechtfinden kann, denn sie verließ immer nur mit mir das Haus und auch da stets zu Wagen. Wie wird sie nun den Weg nach Hause finden?«

»Sie wird sich schon zurechtfragen, da sie nunmehr sprechen kann. Unter den Personen, die sie unterwegs fragen wird, wird sich gewiß jemand finden, der des Deutschen mächtig ist.«

»Aber das ist ja nicht wahr, der Herr Doctor hat sich geirrt! Helene kann ausschließlich nur Griechisch. Und dann bedenken Sie, eine junge Dame, welche allein durch die Straßen irrt, welchen Abenteuern sie ausgesetzt ist?«

»Ach was!« sagte Grisaille etwas barsch. »In ihrem rothen Rocke und der goldgestickten Kapuze wird man sie nicht weit kommen lassen. Der Carneval ist vorüber und Maskenanzüge sind auf der offenen Straße verboten. Man wird sie festnehmen und zur Polizei bringen.«

»Das wäre noch das Beste für sie!« behauptete der Arzt. »Hätte ich mich mit ihr verständigen können, so hätte ich ihr gesagt, daß sie sich einer Menge Fährlichkeiten aussetze. Außerdem glaubte ich, daß sie in einem Wagen gekommen sei und der Wagen unten auf sie warte.«

»Herr Untersuchungsrichter,« sagte der Graf hastig und erhob sich von seinem Sitze; »ich bitte Sie, mich zu entlassen, damit ich meiner Nichte nacheilen könne. Sie kann noch nicht weit sein, ich werde sie vielleicht einholen, und inzwischen wollen Sie Ihre Agenten gefälligst anweisen, nach ihr zu fahnden.«

»Das soll geschehen, Herr Graf, und ich gestatte Ihnen gern, sich zu entfernen,« erwiderte Francastel. »Indessen bitte ich Sie, sich zu meiner Verfügung zu halten, denn ich werde Sie noch einem Verhöre unterziehen müssen und Sie sehr bald wieder zu mir bescheiden lassen.«

»Ich werde Ihnen stets zur Verfügung stehen, Herr Untersuchungsrichter,« erwiderte der Graf, indem er sich der Thür näherte.

Grisaille hatte nicht übel Lust, ihn unterwegs festzuhalten. Nach alledem, was vorgefallen war, erschien ihm diese Entlassung ganz unbegreiflich; doch ein Blick des Untersuchungsrichters bannte ihn an seinen Platz, und Borodino schritt hinaus, ohne eine Secunde zu verlieren.

Kaum hatte er die Thür hinter sich geschlossen, als Francastel den Polizeiagenten in das kleine Cabinet zog und dort leise zu ihm sagte:

»Nun haben wir ihn.«

»Noch lange nicht, da Sie ihn unbehelligt entlassen haben,« erwiderte Grisaille.

»Wie viel Mann haben Sie unten?«

»Vier; doch haben dieselben keine Weisung, ihn anzuhalten, und so werden sie ihn unangefochten lassen, gleichwie sie es offenbar bei der Nichte gethan.«

»Eilen Sie hinab, so schnell Sie können! Sie werden noch vor ihm unten anlangen. Zwei Ihrer Agenten sollen ihm folgen, doch möglichst auffallend; ich will nämlich, daß er es bemerke, denn wenn er sieht, daß er verfolgt wird, so wird er nicht zu einem Bahnhofe zu fahren wagen, sondern nach Hause gehen. Ist er einmal in seiner Wohnung, so heißt es jeden eintreten und niemanden heraus lassen. Eilen Sie und erstatten Sie mir sodann Bericht.«

Grisaille besaß eine schnelle Auffassungsgabe und flinke Beine.

»Ich verstehe,« sagte er und in der nächsten Secunde war er verschwunden; der Untersuchungsrichter aber kehrte zu dem Arzte zurück und sprach heiteren Tones:

»Sie ahnen gar nicht, mein lieber Doctor, daß Sie dem Gerichte jetzt einen sehr bedeutenden Dienst erwiesen haben.«

»Wie das?«

»Indem Sie constatirten, daß das junge Mädchen nicht stumm ist; hoffentlich werden Sie später Gelegenheit haben nachzuweisen, daß es niemals stumm gewesen ist. Vorderhand bitte ich Sie aber um Ihre Discretion; niemand darf eine Silbe von alledem erfahren, was hier vorgefallen ist.«

Der Doctor gelobte Stillschweigen und entfernte sich, um seinen Berufspflichten nachzugehen.

»Pilois,« sagte der Untersuchungsrichter jetzt zu seinem Schriftführer, »ich gehe nach Hause. Bedeuten Sie den Zeugen, die ich noch nicht vernommen habe, sie mögen morgen um zehn Uhr Vormittags wiederkommen.«

Auf der Treppe begegnete Francastel den Polizeiagenten, der langsam die Stufen heraufkam und, sich die Hände reibend, sagte:

»Ich bin noch zu rechter Zeit gekommen. Auf dem Boulevard du Palais nahm Borodino einen Wagen, dessen Kutscher zu meinen Agenten gehört, und befahl diesem, nach der Rue Berton zu fahren. Die Uebrigen, denen ich bereits die erforderlichen Weisungen ertheilt habe, folgen in einem zweiten Wagen. Allerdings hat man es unterlassen, dem jungen Mädchen zu folgen; doch das thut nichts, wir werden sie schon finden und den ›Onkel‹ halten wir schon fest.«

Polizeiagent und Untersuchungsrichter täuschten sich gleicherweise; weder die Nichte, noch der Onkel befand sich noch in ihren Händen.


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