Helene Böhlau
Verspielte Leute
Helene Böhlau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Er steigt im »Elefanten« in Weimar am Markte ab, läßt die Geschenke der Mutter dort und geht schweren Herzens der Marstallstraße zu.

Auf dem ganzen Weg sieht er Loris bleiches Gesicht, die riesig lebendigen Augen vor sich und hört ihre Stimme so eigen herb vom Glücke reden.

Sie hatte sich stark abgefunden. Sie war schon ganz bereit, den dunkeln, großen Schritt zu thun – und mit einemmal dies Uebergossensein von Lebensseligkeit! Wie ihn das ergreift!

Er geht langsam, um die Bilder, von denen seine Seele ganz erfüllt ist, ausgenießen zu können.

Es ist ein so rührendes Schauspiel, das Glück in diese lebenabgewandte Seele einziehen zu sehen.

Er denkt, sie soll die Lebensfreude doch noch kennen lernen!

Jede gute Stunde soll für sie eine Freuden- und Feststunde werden.

Wie ihn das über sich selbst hinaus erhebt – dieses hinsterbende, weise junge Geschöpf froh machen zu wollen!

Und immer sieht er sie unter hohen Bäumen im 60 Sonnenlicht in einem Garten mit duftenden Sommerblumen, Beerensträuchern und beladenen Fruchtbäumen, und sieht immer den Ausdruck, mit dem sie ihn empfängt – so eine süße Leidenschaft – so unirdisch – und so dürstend nach Irdischem zugleich – nach Sonne schmachtend – wie ein schon abgeschiedener Geist.

Wie war sein Leben, als er an diese Stelle kam, da Lori in seinem Schicksal auftauchte, fein gesponnen.

Seine Füße hatten ihn wie im Traum vor das Haus getragen, in dem er einer qualvollen Stunde entgegensehen mußte, einer harten, demütigenden Stunde.

Er war entschlossen.

Er mußte jetzt mit Sophia sprechen. Sie mußte einsehen, daß sie nicht zu einander paßten, daß sie unglücklich mit ihm werden würde. Und wenn es keine Lori auf der Welt gäbe, dachte er, sein Entschluß war und blieb fest. Lori hatte nichts dazu und davon gethan.

Auf der sich lang hinstreckenden Chaussee zwischen Weimar und Jena, da hatte es ihn gepackt in jener Mondennacht; da war es ihm zur Unmöglichkeit geworden.

So stand er und überdachte noch einmal alles und jedes und starrte versunken vor sich hin.

Vom zweiten Stock aus beobachtete ihn das rosige Gesicht mit dem weißen Toupet. Das preßte sich an die Fensterscheibe und schaute eifrig auf ihn hinab. Endlich ermannte er sich und faßte den Thürklopfer. Und wieder war es das rosige alte Gesicht unter dem weißen Toupet, das ihm zuerst zunickte, als er eintrat.

Der Großvater sagte: »Ohalalla – Geliebter – Betrübter – was ist mir denn mit dir? Willkommen – willkommen – So–viehchen!« rief er. »Sie sind heut rein des Kuckucks. – So–viehchen!« rief er wieder. »Heinerich wäre da!«

61 Sie gingen miteinander die Treppe hinauf, da hörte Heinrich ein dumpfes Summen, wie von einem Bienenschwarm.

»Was ist da?« fragte er düster.

»Im Hinterzimmer sind sie.«

In dem Augenblick thut sich eine Thür auf, und Söphchen erscheint im weißen Kleid, das sich eng um die junge volle Gestalt schmiegt, das blonde Haar kunstvoll in die Höhe gekämmt und von einem hohen goldenen Kamm gekrönt. In den Augen einen eigentümlich befriedigten Ausdruck, die Wangen rot – ein Bild des Lebens.

»Heinzemann!« sagt sie, läuft auf ihn zu und küßt ihn ohne alle Umstände, ganz gleichmütig und sachgemäß. Sie riecht nach Kuchen und Rahmtörtchen und schluckt noch einen Bissen, den sie aufgespart und während des Küssens in der Hand gehabt hat.

»Heinzemann, heut gibt's was zu sehen. Du hast ja drei Tage nichts von dir hören lassen? Na, wir hatten auch alle Hände voll zu thun. Heut kommst du aber wie gerufen!«

Sie zieht ihn mit sich.

»Laß das, Sophia! – Was ist denn? Sind Leute bei euch?«

Sie antwortet nicht auf seine Frage. »Komm nur,« sagt sie, »komm nur.«

Der Großvater schleicht ihnen wie auf Socken nach und macht ein ganz verschmitztes Gesicht.

»Ohalalla!« sagt er, als Söphchen die Thür aufmacht, hinter welcher der Bienenschwarm ganz gewaltig summt.

»Sophia!« ruft Heinrich und will sich von ihr losmachen. Sie lacht aber und zieht ihn ins Zimmer hinein mitten in ein Durcheinander von Frauenzimmern. Ein Geschnatter sondergleichen! Hohe Haarfrisuren mit 62 Riesenkämmen auf dem Wirbel schwanken in einer Atmosphäre, die nach Rahmtörtchen riecht – nach Malagawein und frischem Leinen – eine so süßliche, frauenzimmerliche Atmosphäre. Bloße Hälse und Arme, Sonnenschein im Zimmer und ein Stimmengewirr. Zwischen diesen Hälsen und Armen und Frisuren und engen Kleidern machte Frau Schnaase sich Bahn und stand vor ihrem zukünftigen Schwiegersohn und streckte ihm beide Händchen entgegen – und eine Dame mit süßem Lächeln praktizierte ihm einen Teller, auf dem ein Rahmtörtchen lag und ein Glas Malaga stand, in die Hand und sagte: »Zur Aussteuer gehört auch der Bräutigam, damit die Ausstellung perfekt ist.«

Da sah er erst eine Tafel mit ganzen Stößen von Leinenzeug, alles mit rosa Seidenbändern kreuzweis überbunden: Türme, gebaut aus Tisch- und Bettzeug, fest gepreßt und gefügt – ein Wasserfall von bebänderten Nachthauben, ein großer Wellenschlag von Spitzen und Frisuren, ein Gebirge von Nachtkamisolen und Hemden, ganze Wälder von schwebenden und hängenden Unterröcken, ein gewaltiges Geröll von Hunderten zusammengerollter, schneeweißer Strümpfe. Von der Decke herab hing an einem rosa Band eine große Riesentroddel, die bestand aus lauter blütenweißen Strumpfbändern, und alle die Basen und Muhmen, Freundinnen und Feindinnen starrten und musterten und aßen Rahmtörtchen und nippten Malaga und verwunderten sich und lobten und zischelten und überhäuften die gute Schnaase mit Lobesausbrüchen und witzelten mit Söphchen und lachten, wenn sie errötete, und stürzten sich auf Heinrich Oelwein und kamen von einer Ueberschwenglichkeit in die andre.

Sie waren alle von dem Anblick der ungeheuren Masse von Leinenzeug wie berauscht – und von alledem, was sich darum und daran knüpfte.

Söphchen benahm sich wie eine Königin. Sie war 63 es, die das alles beherrschte. Sie fühlte sich beneidet. Sie war die Ausgezeichnete, und sie legte ihren Arm in den des Bräutigams, gewissermaßen um das Tableau vollständig zu machen.

Es war alles so satt.

Heinrich Oelwein aber fühlte ein innerliches Erstarren.

Es war ihm, als wenn Felsen aus dem Erdboden herauswüchsen und sich um ihn her auftürmten und ihn eng und enger einschlössen – und diese Felsen bestanden aus lauter blütenweißem Leinenzeug und wuchsen und wuchsen und nahmen ihm Luft, Licht und Atem, die Freiheit der Bewegung. Es erstickte und bedrückte ihn.

»Herr Gott! – ist denn das möglich, daß der Mensch so viel braucht!« entrang es sich seinen Lippen.

Da schlugen die um ihn her Stehenden ein gewaltiges Gelächter auf.

»So ein junger Mann hat doch vom Leben keine Ahnung,« sagte eine alte Mamsell und faltete die Hände und starrte auf das Leinenmeer – und alle sagten etwas.

Heinrich Oelwein stand wie im Fieber mit wirren Gedanken.

Ein Klopfen an der Thür – und herein traten in die überfüllte Stube die fünf Näherinnen, alle in schneeweißen großen Schürzen.

Sie sollten in der Küche mit Kaffee und Kuchen traktiert werden und wollten sich im voraus bedanken. Zwei von ihnen trugen einen großen Waschkorb und setzten ihn mit feierlicher Miene nieder.

»Der Brautstaat,« sagte Tante Heimlich.

»Ah!« erscholl es gedämpft von aller Lippen, und Tante Heimlich nahm das weiße Tuch vorsichtig vom Korb.

Die Hälse reckten sich. – Ein tiefes Schweigen – und vor Heinrich Oelweins Augen und vor aller Augen 64 lag, im Korbe ausgebreitet und doch zusammengefaltet, ein weißes, duftiges Gewand und ein noch duftigerer gestickter Schleier. Da standen ein Paar weiße Atlasschuhe – da hingen am Korbrand ein Paar seidenschimmernde Strümpfe, ein Paar zarte, wie aus Spitzen gewebte Handschuhe.

»Die ganze Braut,« sagte Tante Heimlich.

Söphchen stand satt und hochbefriedigt und ließ alles anstaunen und aß am Arme ihres Verlobten ein Rahmtörtchen ums andre.

»Sophia,« sagte er trotz alledem tapfer, wenn auch mit gepreßter Stimme, »wir müssen miteinander reden.«

»No!« sagte Söphchen erstaunt, »warum denn nich?«

Jetzt wurde die Thür zum Nebenzimmer aufgemacht, und Tante Heimlich rief: »Da liegen nun noch die Bettstücke und von den Möbeln, was noch nicht verpackt ist.«

Sie drängten alle nach der Thür.

Der alte Onkel, der immer aussah, als wäre er in seine gewaltige Halsbinde gerutscht, der Onkel mit dem blauschwarz gefärbten Toupet, der heute mit unter die Frauenzimmer geraten war, schwang sein Gläschen. »Hoch lebe die glückliche Familie!« toastete er, und niemand achtete auf ihn. – Söphchen sagte nicht wie sonst, wenn der Onkel das Schnaasesche Familienglück berief: »Dreimal geschnippelt und dreimal geschnappelt!« Der Großvater rief nicht: »Holz anfassen, Kinderchen!«

Es war zum erstenmal, daß niemand dem Onkel ins Wort fiel.

Sie waren alle wie besessen.

Und der Alte lachte sich ins Fäustchen, denn er hatte immer einen großen Aerger darüber gehabt, daß Schnaases so abergläubisch waren.

Das ganze Schnaasesche Haus war heute in einer freudigen Gärung begriffen. Die Frauenzimmer mit ihren 65 Angelegenheiten hatten es völlig in Besitz genommen und feierten schon seit Stunden eine wahre Leinen- und Ausstattungsorgie. In der Küche repräsentierte Schnaases alte Köchin die Ehre der Familie vor den fünf Weißnäherinnen, braute ihnen Kaffee in solchen Massen, als wollte sie damit sagen: Was ist uns Kaffee! Den Kuchen schnitt sie ihnen in solch vorsintflutlichen Brocken und Püffen vor, daß den Näherinnen zu Mute wurde, als wären sie ins Schlaraffenland geraten.

Es war ein Rausch- und Ehrentag und es wurde erst spät zu Mittag gegessen, denn der Frauenzimmerzustrom war ein ganz ungeheurer.

Die Kunde von Söphchens reicher Aussteuer ging von Mund zu Mund, und alle, die irgend Veranlassung nehmen konnten, zu Schnaases zu kommen, wollten sie gesehen haben.

Heinrich Oelwein aber wußte nicht, wo aus und wo ein. Eine Herzensangst ergriff ihn, wie sie einen Menschen fassen mag, der jeden Augenblick tiefer in einen grundlosen Sumpf versinkt. – Bei allem Mut und aller Unwiderruflichkeit seines Entschlusses – wie sollte er in diesem großartig behaglichen Durcheinander die Minute finden, um eine Bombe in dieses satte, seelenruhige Treiben hineinplatzen zu lassen.

Das, was er vorhatte, war in dieser Umgebung zum brutalen Eingriff geworden, das sah er voraus.

Waren denn die Leinenmasse, die Stöße von Tisch- und Bett- und Leibwäsche – zum Sakrament geworden, das sich drohend und unübersteiglich vor ihm aufgerichtet hatte? Er sah und fühlte alles wie im Fieber.

»Wir müssen miteinander reden, Sophia,« sagte er noch einigemal hastig, glaubte es wenigstens zu sagen. – Und erhielt zur Antwort: »Na ja,« oder: »Was hast du 66 denn?« oder: »Wart doch – siehst du denn nicht, daß ich jetzt nicht fortkann?«

So kam das späte Mittagessen heran. Heinrich Oelwein gab vor, er hätte einen notwendigen Geschäftsweg zu dieser Stunde, und nach langem Kampfe ließ man ihn endlich fort.

Söphchen maulte, denn es aßen heute verschiedene ihrer Freundinnen mit, denen sie sich im vollen Glanze hätte zeigen mögen.

Der Großvater schaute ihn bedenklich an und sagte: »Ohalalla!« Frau Schnaase bejammerte einen Gänsebraten, der zu Ehren des Schwiegersohnes noch extra aufgetragen werden sollte. – Aber er kam frei und ging mit langen Schritten den Parkanlagen an der Ilm zu.

Unter den hohen Bäumen des Sternes, die wie Säulen in einer Riesenkirche stehen und ihre Kronen ineinander wölben, da ging er auf und nieder.

Keine Menschenseele war um diese stille, sonnendurchleuchtete Stunde dort zu sehen. Er kam wieder zu sich selbst und wurde ruhiger.

Söphchens Leinengebirge, das ihm wie ein Alp auf der Brust lag, schrumpfte in der stillen großen Natur zu einer Lächerlichkeit zusammen.

Herr Gott! Laßt euch nicht verblüffen! dachte Heinrich Oelwein. Aufs Ganze schauen, nicht aufs Einzelne!

Und er schaute auf das ganze Bild der Menschheit, die seit ungezählten Jahrtausenden hier auf Erden ihr Wesen trieb. Söphchen, Schnaases mit samt der gewaltigen Aussteuer, dem Wellenschlag von Frisuren und Spitzen, dem Geröll von Hunderten von Strümpfen, den Hemden, Bett- und Tischwäschgebirgen, den Wäldern von Unterröcken, der Strumpfbandtroddel, den festlichen rosa Bändern, dem wohlgepackten Möbelwagen, den fünf Weißnäherinnen, den 67 aufgeblähten Bettstücken, dem Familienbewußtsein, das alles und er selbst mit inbegriffen, alles, was ihm so gewaltig und beängstigend erschienen war, verschwand, als er es mit hineinschüttete in das ungeheure Meer der Begebenheiten, wie ein unsichtbares Schäumchen, das mit bloßen Augen nicht zu erkennen war, und es wurde ihm ganz leicht dabei ums Herz.

Und wieder ein andres Bild läßt er in seiner Seele auftauchen, während durch die tiefgrünen Baumkronen über ihm die Nachmittagssonne ihre Pfeile schießt: die Erde eine Käsekugel, – bedeckt mit Milben. Er schaut darauf hin Jahr für Jahr, Tag für Tag und Stunde für Stunde, unaufhörlich. Und da kommt es ihm vor, daß auf der kleinen Kugel immer dieselben Milbchen ihr Wesen treiben. Es wimmelt und krabbelt immer gleichmäßig. Er bemerkt gar nicht, daß, während er auf die Kugel schaut, die Milben schon unzähligemal gewechselt haben. Ihm scheinen sie immer dieselben zu sein. Es sind aber Generationen für ihn unmerklich gekommen und gegangen, haben Schicksal gehabt, ihr Keimen, Wachsen, Welken und Sterben. –

Er hat nichts davon wahrgenommen, trotzdem er aufmerksam beobachtet hat. Es ist im Grund ungeheuer unbedeutend, ganz unmerklich, was auf dem Käseball geschieht.

Jetzt denkt er an Lori – und sein ganzes Herz steht gleich in Flammen. Diese unsichtbaren Begebenheiten im Milbenhaufen sind unheimlicher Art – nicht wahrzunehmen von dem, der das Milbenbällchen beschaut – und für jede einzelne Milbe ins Riesenhafte gehend. Was ist so einer Milbe das ganze Weltall. Es wiegt das Milbenbewußtsein nicht auf. Jedes Bewußtsein ist größer als alles, was besteht. Mit jeder Milbe stirbt die ganze Welt.

Damit war er so weit wie zuvor.

Er wollte einschrumpfen lassen, was ihn beängstigte, 68 während ihm das aber gelungen zu sein schien, wuchs das, was ihn beglückte, ins Ungeheure.

Das Leben und das Fühlen unter sich zu bekommen, ist keine Kleinigkeit. Es geht damit so zu, als wollten wir ein Riesenfederbett in ein kleines Faß zwängen. Ein Teil ist glücklich darin, wir stampfen's ein, das andre, was übersteht, wird schon auch noch hineingehen – das hat sich inzwischen aber zur Unmöglichkeit aufgebläht, je mehr wir den einen Teil einzupressen versuchen.

Verflucht, denkt er, und wenn es mir auch gelänge, die ganze Schnaasesche Größe und Herrlichkeit einschrumpfen zu lassen, wenn Schnaases nicht mitthun, was ist damit geschehen?

So beschloß Heinrich Oelwein, nicht auf das Bild der Menschheit, oder besser der Milben, zu schauen, sondern sich nur mit Schnaases zu beschäftigen, und zwar mit den Schnaases, wie sie sich selbst erschienen, mit den vortrefflichen, hochangesehenen Schnaases, mit den Schnaases, die mehr Wert in ihren eigenen Augen hatten, als das ganze Weltall, mit den Schnaases, mit denen das Weltall ein-, zwei-, drei-, vierfach – nein fünffach (Tante Heimlich) zu Grunde gehen würde.

So wandelte er im Stern auf und nieder. Die hohen Baumkronen rauschten und flüsterten leise, kaum hörbar, und die runden Sonnenbilder auf dem dunklen Erdreich zitterten und flirrten.

Wenn er in der stillen Natur einsam seinen Gedanken nachhing, war er immer ganz er selbst. Seine Gedanken machten unbehindert ihre Sprünge und er war unbeeinflußt.

So auch jetzt.

Er war wohl tief erregt, aber er kam nicht aus der Fassung, sondern war gewissermaßen sein eigener Zuschauer. Ganz anders den Menschen gegenüber, da war er 69 augenblicklich beeinflußt, fremd berührt, wurde stumpfer im Denken, verwirrt, seiner besten Kraft beraubt.

Nur bei einem Menschen nicht. Mit seinem Freunde fühlte er sich ganz unverkürzt. Eins aber wußte er: wenn er jetzt zu Schnaases ging, gab es nur ein einziges Ziel für ihn ohne Umwege. Wie er das erreichte, war Sache des Augenblicks; da gab es kein Erwägen vordem. Erreicht werden aber mußte es. Eine tiefe Abneigung war in seiner Seele gegen die Blondine aufgestiegen. – Ihr Betragen riß ihn an seinen Nerven.

Nein, er war ganz und gar wach geworden, da war auch nicht ein Faden mehr, der ihn mit ihr verband.

So machte er sich zum zweitenmal zu Schnaases auf den Weg. Diesmal aber ohne rechts und links zu sehen.

Diesmal mußte er reden ohne Wahl des Augenblicks, denn die Zeit verstrich. Und wenn das Schnaasesche Behagen ihm ellenhoch über den Kopf ging, er wollte durchwaten.

Er fand Schnaases beim Kaffee, und als er eintrat, trat durch die andre Thür zu gleicher Zeit der Großvater ein, der erst vom Mittagsschläfchen kam. Er sah rosig und etwas aufgedunsen aus – blieb in der Thür stehen und starrte wie verschlafen und wie verworren auf Heinrich Oelwein, und sah sich dann verblüfft alle der Reihe nach an.

»Kinderchen, Rinderchen,« sagte er verschlafen und gedankenlos. »Ja – ja – ja – ja – ja! Was is mir denn das, Heinrich? Was is mich denn mit dir –? Was machst du für Geschichten?«

Er stand immer noch in der Thür und starrte seine Leute wie verwundert an.

»Vaterchen?« fragte Frau Schnaase.

»Laß! Laß – laß – laß!« wehrte er heftig ab, als störte sie ihn im Grübeln, als hasche er nach etwas, was sich in seinem Hirn nicht gestalten wollte.

70 »Bestes Väterchen, was willst du denn?«

Der Großvater sagte, wie erwacht: »Ohalalla – ich denke, du hast dich erschossen, mein Lieber – he? – Siehste – siehste.«

Heinrich Oelwein schaute verblüfft auf.

»Und siehste,« – der Großvater sprach wie im Schlaf, undeutlich, greisenhaft – »wie du lagst – Geliebter – Betrübter.« Des Großvaters Blick richtete sich wie nach innen. »Siehste – siehste – den Kopf nach unten und – – – ja – ja – ja – ja – zeige mal her.« Er ging schlürfend, auch wie im Schlaf, auf Heinrich Oelwein zu, den es bei dieser Annäherung sonderbar schauervoll durchfuhr. »Weiß Gott, dasselbe superfeine Batisthemd!« Der Großvater griff mit hartem Griff nach Heinrich Oelweins Jabot. »Das war aufgerissen auf der Brust, Lieber! Ha–a–alsbinde? – Halsbinde?« sagte er langgedehnt. »Halsbinde fehlte – fehlte – – wohl. Der Adamskrips stand dir heraus.«

Der Großvater strich sich selbst bedächtig und nachdenklich über die Kehle.

»Ja – ja – ja – ja – der stand dir heraus, mein Freund. Da war der Kopf hinten übergefallen – mitten in Buntes hinein – in Buntes – ja, in Buntes.«

Wieder der merkwürdig nach innen gekehrte Blick.

Das Benehmen des Großvaters war sonderbar – unheimlich.

»Und wo denn, mein Lieber? In 'ner Stube? – Nee – Gott bewahre.« Er grübelte. »In 'ner Stube nicht. – Rot – etwas Rotes – Buntes – Buschiges. Ja – wart nur. – Ja – ja. – Wart – wart!« sagte er hastig. Der Großvater streckte den Arm vor, um Störung abzuwehren. »Ein Riesenbusch Pfingstrosen – daneben ein Beet voller Sommerblumen – alles 71 durcheinander – Reseda – Flox – spanische Wicken – ein Duft. – Ein Garten! – ein Garten! – ein Garten! Ja – ja – ja – ja!« Jetzt hatte er's. »In den Kopf warst du aber nicht geschossen – nein – so hier herum.« Der Großvater fingerte auf seiner Brust. »Na – ganz deutlich. Geliebter, Betrübter.«

Heinrich Oelwein durchschauerte es. Es war wie irre Reden. Und dies greisenhaft Undeutliche!

»Mit dem Kopf mitten in die Reseda und den Flox hineingefallen! 'nen Stuhl hattest du auch noch umgerissen – 'nen grünen Stuhl. – Ja – ja – grün; – 'nen Gartenstuhl. – Du warst über den Stuhl hergefallen – und dann waret ihr miteinander umgepurzelt.«

Heinrich Oelwein fuhr wieder ein Schauer über den Rücken. – Was war denn mit dem Alten?

Der brummte so vor sich hin und trat an den Kaffeetisch und trommelte mit den Fingern auf der Tischdecke.

»Ohalalla! Das war der Gänsebraten,« sagte der Großvater, »da träumt man schlecht.«

Söphchen lachte.

»Heinzemann,« sagte Söphchen. »Was fällt denn dem Großvater ein?«

»Ach, geh, Vater!« sagte Frau Schnaase. »Hast du denn so was geträumt am hellen lichten Tag?«

Der Großvater sagte: »Jawohlchen – du mit deinem Gänsebraten, geh! Hab' ich dir's nicht gesagt? – Das nächste Mal läßt du mich das Schenkelwerk nicht essen.«

»Ach Gott, Vaterchen, das nimmst du dir ja doch,« sagte Frau Schnaase. »Uebrigens da kann man Ihnen gratulieren, Herr Schwiegersohn, wird einer tot gesagt – –«

»Schenk nur Heinzemann ein,« meinte Söphchen seelenruhig.

Der Großvater sagte: »Ohalalla, das war wohl ein 72 dummer Traum, Söphchen. – Mit Respekt zu sagen: Sind Rahmtörtchen schwer?«

»Da mußt du Söphchen fragen, die müßte das wissen,« sagte Frau Schnaase.

»Eins ist leicht,« antwortete Söphchen, »zwei sind schon schwerer.«

Der Großvater sagte: »Hört das Kind an!«

Dem Großvater schien alles bemerkenswert, was Söphchen sprach.

Heinrich Oelwein war unangenehm von der Scene erregt. Er trank eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Zucker und Milch. Den Kaffee aber mußte er trinken, er fühlte eine sonderbare Schwäche in sich. Eigentlich wollte er im Schnaaseschen Hause keinen Bissen und keinen Tropfen mehr anrühren. Es erschien ihm wie Verrat.

Und die Stunde kam.

Söphchen legte ihren Arm in den seinen und sagte: »Komm, Heinzemann, nach dem Trasch heut wollen wir ein bißchen im Garten verschnaufen.«

Sie gingen miteinander.

Der Tag hatte sich schon dem Ende zugeneigt, die Abendsonne leuchtete golden warm über die Bäume, die den Brunnen im Marstallhof beschatteten.

Sie gingen stumm nebeneinander auf und nieder.

Söphchen schaute ihren Verlobten an. Er kam ihr so sonderbar vor, so bleich.

»Bist du denn krank, Heinzemann?« fragte sie.

»Nein.«

»Was ist dir denn?« fragte sie weiter, etwas gelangweilt.

»Wir müssen jetzt miteinander reden,« sagte er.

»Schon wieder! Was hast du denn nur?«

»Sophia,« begann er und faßte ihre Hand. Sie traten miteinander in die Laube. »Sei klug und gut.«

73 »Na–nu?«

»Es ist eine sehr ernste, schwere Sache für dich und mich, Sophia. Willst du mich anhören?«

»Heinzemann, was denn nur?«

»Siehst du, es ist das, wir haben uns jetzt näher kennen gelernt – und wir sind doch einander nicht näher gekommen. Wir werden nicht glücklich miteinander.«

Das Mädchen war aufgestanden und starrte ihn mit den etwas hervorstehenden Augen an – so, als wäre er plötzlich vor ihren Augen tobsüchtig geworden.

»Sophia! Hör' mich!« sagte er fest. »Was ist ein größeres Unglück, wenn wir beizeiten einsehen, daß wir nicht füreinander passen – oder – denke an das lange Leben – an das Aneinander-gekettet-sein. – Frage dich selbst – liebst du mich denn? – Nein – nein – und heilig nein! – das thust du nicht!« sagte er heftig.

Sie starrte ihn immer noch an: »Nu hör' aber auf!« rief sie. »Was glaubst du denn! Machst du dich über mich lustig oder was? – Du bist schon den ganzen Tag so mit mir gewesen, daß die Tiburtsiussen gefragt hat: ›Was hat er denn wohl nur?‹«

»Sophia!« sagte er, »verstehst du mich denn?«

»Nein,« antwortete sie, »gar nicht. Und ich rate dir, verschlaf deine schlechte Laune, glaubst du, ich will mich hier von dir anraunzen lassen, wie neulich? Ich geh' jetzt hinein.«

»Bleib!« rief er. »Verstehst du denn nicht, um was es sich handelt?«

»Nein! Will auch gar nicht!«

»Herr Gott! Wie soll ich dir's sagen?«

»Was willst du denn nur?« erwiderte sie ratlos und weinerlich.

»Gib mich frei, Sophia!«

Da war es ihr, als könnte möglicherweise doch etwas 74 dahinterstecken. Da drang es wie ein unartikulierter Schrei von den Lippen des Mädchens. Ihre Finger krampften sich an den Tischrand und sie starrte ihn wieder an – ganz stumm.

»Sophia,« sagte er, »ich glaubte dich zu lieben, aber . . .«

»Nun, was gefällt dir nun nicht mehr an mir?« kam es gepreßt heraus.

»Davon ist keine Rede, von Gefallen und Nichtgefallen.« –

Das war der Anfang des Kampfes zwischen zwei Menschen – so ungeschickt und unbeholfen – so zitternd und bebend vor Erregung. Auf der einen Seite Unvermögen, sich auszudrücken, auf der andern starres Verblüfftsein – ein Hören wie im Traum und darauf kein Jammer, kein bitteres Weh. Erbitterung und kräftige Empörung.

»Du willst mich in der Leute Mäuler bringen,« sagte Söphchen, als sie ganz gehört und ganz verstanden hatte – als sie sein heißes Flehen um Freiheit schon begriffen hatte.

Sie stand mit glühendem Kopf, hoch aufgerichtet vor ihm – nicht gedemütigt und nicht gebrochen.

»Wenn wir in Frieden auseinandergehen, Sophia, es mit uns allein abmachen, wer hat das Recht, dreinzureden? Wir sind freie Menschen!« unterbrach er sie.

»Wir gehen aber nicht auseinander.« Sie sah ihn fest an. »Für was hältst du mich?«

Er schwieg.

Sie kämpften weiter, er mit bleichem, tief erregtem Gesicht, sie hochrot.

»Du willst mich mitten in meiner Aussteuer so sitzen lassen? – so mitten drin zwischen den Wäschestücken? – so recht zum Hohn für alle? Alles aufgestapelt fix und 75 fertig – die ganze Stadt ist voll davon – und dann –!« Und mit erhöhter Stimme: »Weißt du, das ist ja scheußlich von dir. Da hättest du dir dazu wen anders suchen sollen. Glaubst du, wir sind deine Narren?«

Das stürzte ihr nur so von den Lippen, und diesen Worten nach stürzten die Thränen.

»Nein,« schluchzte sie, »alles – alles – aber das nicht! Nie und nimmer!« schrie sie gepreßt auf. »Nein – nie und nimmer!«

Er hatte ganz recht gehabt: Jede Milbe, jeder Menschenwurm trägt die ganze Welt in sich – und wenn er sich verteidigt, verteidigt er die ganze Welt, die er in sich trägt. Deshalb die schweren, schweren Riesenkämpfe unter den Milben.

Und dennoch hatte Heinrich Oelwein gedacht, der Stolz und die Schamhaftigkeit des jungen Weibes wären größer und überwüchsen alles.

Jetzt schluchzte Söphchen herzbrechend: »Nun war alles so schön – und so fix und fertig – und die Leute beneideten uns. – Herr Gott, mit Fingern würden sie ja auf mich zeigen! Nein, Heinzemann!« Sie streckte ihm die Hand hin, in die er nicht einschlug. »Was nun einmal ist, das ist. Ich geb' dich nicht frei, wie du sagst – ich – kann nich – – un ich will nich. Thu, was du willst!«

Sie weinte und schluchzte wie ein Kind.

Heinrich Oelwein saß steif und regungslos, die Arme auf den Tisch gelegt, da – und fühlte sich in der Hölle.

Da kam der Großvater angeschlichen.

»Verliebte Leutchen – verliebte Leutchen!« rief er von weitem.

»Der Großvater!« schluchzte Söphchen auf. »Das könnte sein Tod sein!«

Sie hauchte auf ihr Schnupftuch und tupfte auf die 76 Augen und verbarg ihr Gesicht, und als der Großvater in die Laube lugte, sagte sie: »Bitte, Großchen, laß uns allein.«

Der Großvater sagte: »Ohalalla!«

Und sie kämpften weiter in der Laube – einen der großen Kämpfe, dessen Resultat immer ist, daß das weiche das feste Herz erkennt und vor ihm zittert.

Sie war eine durch und durch robuste, naive Blondine, die sich zu wehren wußte. Und sie führte alle Aeußerlichkeiten ins Feld, und er kämpfte um den Kern, den kleinen Kern, den die Aeußerlichkeiten erst zur Frucht machen, den die Aeußerlichkeiten erst mit Fleisch und Schale umgeben, den achtlose Leute gleichgültig wegwerfen, und doch steckt darin das einzig wahre Leben. Und er kämpfte erbittert und verachtete sie im Kampfe. Und dachte kühl mitten in seiner Empörung: Möchte doch wissen, wie weit so ein Weib in seiner Gier, den Mann zu halten, es treibt, in seiner armseligen Menschenfurcht und Dumpfheit. – Zudringlich wie eine Klette. – Ekelhaft!

Trotzdem er im Unrecht war und sich im Unrecht fühlte, verachtete er sie.

Entartetes Weib! Das hatte er schon einmal empfunden.

»Gut, also wir heiraten, mein Schatz!« sagte er lachend, als die Dämmerung schon tief herabgesunken war. »Verlaß dich darauf, wir heiraten –!« Das stieß er bleich und zornig heraus. »Zu deinen Füßen hab' ich um meine Freiheit gebeten. Vergiß das nicht! Du! – Also einverstanden, Mamsell?« schrie er, als sie auf seinen Hohn nicht antwortete. Er wußte nicht, was er sprach. Er war sinnlos. Seine Augen glühten, seine Stimme bebte. Er hätte das blonde Geschöpf zerreißen können.

Und er hielt ihr die Hand jetzt hin, damit sie einschlagen sollte.

77 Sie fürchtete sich aber.

»So, also bekomm' ich den Handschlag nicht?« fragte er höhnisch.

»Ach, Heinzemann!« schluchzte sie bebend.

»Laß dein verfluchtes Heinzemann!« sagte er hart.

»Söphchen! – Heinz!« rief Frau Schnaase durch den Garten. »Zum Abendessen, flink! Wir müssen eilen. Heut abend soll noch fertig gepackt werden.«

»Also, Mamsell,« sagte er und stand auf, »packen Sie Ihr heiliges Sakrament in die Wäschekisten, denn das ist's ja doch, was uns zusammenleimt. Und seien Sie meiner Hochachtung versichert.«

»Ach Gott – ach Gott!« schluchzte sie. »Wo ist nun alles Nette hin!«

»Rasselos!« knirschte er zwischen den Zähnen.

»Ißt du denn nich mit zu Abend?« fragte sie zitternd.

»Herr Gott noch einmal! Nein! Gott segne deinen Appetit!«

»Ich bin ja nicht hungrig, Heinzem . . .,« schluchzte sie erschreckt; »aber was soll ich denn machen, wenn es Abendbrotzeit ist – alle warten.«

»Sö–ö–ö–phchen!« rief Frau Schnaase.

Heinrich Oelwein stürzte davon und überließ es Söphchen, über ihr verweintes Gesicht Auskunft zu geben.

 


 << zurück weiter >>