Helene Böhlau
Die leichtsinnige Eheliebste
Helene Böhlau

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Sechstes Kapitel

Der Freiherr kommt in den türkisblauen Saal und hört dort eine leichtfertige Geschichte. Der junge Herzog unterm Tisch. Ein sterbender Bauer weiß mehr von des Herzogs jungem Dichter und von Einsiedel als diese selbst. Einsiedels Herz erwachte ihm, als er ein Büchlein liest.

Im Wittumspalais sollte vorgelesen werden. Der junge und der alte Hof war versammelt. Friedrich Hildebrand von Einsiedel, der Kammerherr, hatte durch gnädige Einladung ihrer Durchlaucht der Herzogin Anna Amalie seinen Bruder einführen dürfen, und so sah am zweiten Tag unser Freiherr in das Zentrum des Lebens dieses so wunderlichen Nestes, durch das er mit seinem Schecken über halsbrecherisches Pflaster staunend geritten war, an Hütten, Sümpfen, Misthaufen, Brandstätten, kleinen Bürgerhäusern und wenig Wohnlichkeit vorüber, von ruppigen Kötern verfolgt, von Gänserichen angezischt.

Wieder mit Staunen befand er sich nun in einem türkisblauen, weiten Gemach, das von so lieblicher Farbe war, daß man in ihrem Leuchten wie in aufgelöstem Türkissteinlichte sich empfand. Die zierlichen Möbel, die 94 Seidenbezüge der Stühle, die Bilder, die zarten Dinge, die da lagen und standen, alles seelenvoll, ganz durchdrungen von dem Wesen einer Persönlichkeit. So schien es ihm, er wäre von dem zentifolienfarbenen Haus in das türkisfarbene geraten.

Tante Amarelle war wie ein süßes Vorspiel für eine volltönende Musik, die ihn jetzt umklang. In dieser emaillenen gepflegten Welt des Geschmackes einer königlichen Frau bewegten sich Menschen, die August von Einsiedels Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Die Fürstin, bei der er zu Gaste war, die Herrin dieses anmutvollen Palais, war nicht so lieblich wie Amarelle, aber auch ganz von geistigem Leben bewegt, die starken schönen Augen in dem prächtigen Gesicht, Herrscherinnenaugen, die aber gütig und lebendig blickten voll Lachen und Geist, und die unsäglich fein gebildeten Hände der edlen alten Rasse.

Diese Frau war es, nach deren Sinn diese einzig köstliche Mischung türkisblauer Farbe den Wänden gegeben worden war, in deren Licht sich alle wohlzufühlen schienen. Ihr Wesen umhüllte so in der Farbengebung des Raumes alle, die hier versammelt waren. Sie standen wie unter einem Einfluß, waren darin festgehalten und sahen schön und vorteilhaft aus. – Die regierenden Fürstenkinder in ihrer großen Jugend, der Herzog mit dem knappen Gesichtsschnitt, der Energie in der jungen 95 eckigen Gestalt, mit dem hellen, starken Blick, die schlanke Säule Luise, die wie aus einem Gekräusel und Gebausch duftender Kleider sich hob, streng und zart, ganz in sich abgeschlossen, der ganze Troß der Kammerherren und Damen, der Oberhofmeisterinnen beider Hofhaltungen, zumeist gute Gesichter, gute Rasse und jung, jung. Die zierliche Baronin von Stein mit ihren dunklen Sternenaugen, ihrer reizenden Art sich zu kleiden, ihrem federnden Schritt und ihrem leichten Sichbewegen – eine Tante Amarelle! – Wie sie ihn anzog, unseren Freiherrn; – und alle jung – alle jung.

Die Herzoginmutter, Ende der Dreißig, die kleine bucklige Gesellschafterin, Fräulein von Göchhausen, trug ihr Buckelchen gleichmütig durch all die geraden, schlanken Leute. Eine kleine bewegliche Gräfin Werthern fiel unserem Freiherrn hier auf. Friedrich Hildebrand sagte, sie sei ein ganz famoses Weibchen, leider etwas zu enthusiastisch und schöngeistig, was ja aber schließlich hier eigentlich kein Fehler sei.

Der Freiherr sah, wie sie bald mit diesem, bald mit jenem angelegentlich plauderte und im Übereifer des Gesprächs einen ernsten Kammerherrn von Seckendorf an einem Knopf seines gestickten Galakleides festzuhalten suchte, was diesem nicht ganz einwandfrei zu sein schien; doch duldete er es als tadelloser Kavalier durchaus gelassen, trotzdem seine elastische Gestalt allerhand nicht 96 zum Ausdruck kommende Versuche zu machen schien, den Eifer der hübschen Dame zu sänftigen. Ein Blick auf seinen Knopf, als dieser endlich frei geworden, sprach von einiger Besorgnis.

August von Einsiedel betrachtete sich alle genau und dachte an den scharlachnen Buckel auf Schloß Lumpzig, dessen lange Buckelarme ihn als Kind oft zärtlich getragen hatten. Wie sonst auch oft, kam es ihm jetzt in den Sinn, daß ihm der Buckel von jeher gesagt hatte, wenn er ihm von dem Land seiner Heimat erzählt hatte: »Freiherrliche Gnadden sollten sich aufmachen, wenn groß sein, un in armes Achmed sein Land gehen. Gutt is da! Serr gutt! Freiherrliche Gnadden müssen Grüße bestellen von armes Achmed, was ganz verloren gegangen is.«

Voll Glut hatte der Alte ihm erzählt von schwarzen samtenen, fröhlichen Männern und samtigem Weibervolk, das lachen konnte, wie Menschen hier nie lachen, mit Zähnen wie Lichter, mit Augen wie Sonnen, daß sie einen damit verbrennen können, und von ihrem Treiben in der großen Sonne unter heißem Himmel und raschelnden Palmen, köstliche Früchte schmausend, und von gewaltigen Tieren hatte er erzählt – von der Gewalt des Tieres hier auf Erden.

Eine tolle Welt, dachte der Freiherr, und wozu dies Durcheinander, diese Phantasie in der Erscheinung? – Welche Kraft liegt in dir, riesenhafte Natur. – Was 97 denkst du dir aus, unerschöpflich, wie du bist. – Hier dieses feine, feine Volk – und das unter heißem Himmel. Des Drängens und Treibens dieser Welt fast müde, möcht' ich meinen Wanderstab schon weiter setzen und so lange herumziehen, bis ich einen Ort fände, wo mir Menschen und Klima gefallen, und das wäre nicht in unseren leidigen kultivierten Staaten, sondern wo noch unbefangene, planlose, nicht herrschen noch gehorchen wollende Menschheit ist – ohne Gottangewöhnung, ohne Dienstbarkeit.

Er war nun einmal der Freiherr von Einsiedel, der seinen eigenen Gedanken, so kraus sie waren, gerne nachhing.

Die Lakaien reichten auf silbernen Platten den einzelnen Gruppen der Gesellschaft Tee, feines Gebäck und Konfekt, und schmale Hände und Händlein griffen danach und führten die zarten Tassen und Bissen den wohlerzogenen Lippen zu, von denen sich niemand außer dem Freiherrn hier vorstellen konnte, daß diese Lippen im eigentlichen Sinne da waren, um alles, was lebt auf Erden, zu verschlingen. Der Freiherr aber hatte trotz aller Eindrücke von Rasse und guter Tradition festgestellt, daß er hier im türkisfarbenen Gemach ganz ursprüngliche Gäkslaute echt Weimarscher Art vernommen hatte, auch Doppel-ääs, die mehr sächsischer Natur waren, da war kein Zweifel; dessen war er sicher, auf nichts reagierten seine Ohren so untrüglich.

98 Ja, er konnte auch darauf schwören, daß eine feudale Stimme deutlich etwa so geklungen hatte: »Da gennen Durchlaacht vollgommen iwer mich verfiechen.«

Um des Freiherrn Mund spielte ein sonderbares Lächeln. Die Lakaien erschienen ihm in der vollkommenen Aufgelöstheit ihrer menschlichen Wesenheit gegenüber der außerordentlichen Ausgebildetheit und Differenziertheit derer, die sie bedienten, wie Wesen, denen alles Leben entflohen war, die nur noch wunderlicherweise das Bewußtsein der Dienstbarkeit hatten.

Widerlich waren sie ihm. Doch noch widerlicher wären sie ihm gewesen, hätten sie sich in dieser Verfassung neben die Herren und Damen gesetzt als Gleichberechtigte, und noch widerlicher, wenn sie es frech und unflätig getan hätten. Wie kam er darauf? Sicher war es, daß niemand hier so fühlte, wie er. Er war isoliert.

O Amarelle, dachte er, weshalb hast du mich gehen lassen! – Bei dir war's gut. Deine Art war mir recht, du liebe Gottheit, die alle bösen Splitter der Welt aus sich heraus eskamodiert hatte, wo nichts inkommodierte, wo mir's übermenschlich wohl war. Bei dir hörte alle Unruhe des Schauens auf, alle Vielheit. Mit dir möcht' ich das böse ewige Rechenexempel der Welt, das so viel Unheil geschaffen, umwandeln: Das »Aus zweien werden Drei« zu dem »Aus Zweien werde Eins« – und so feierte der Freiherr im Geiste das Fest der Einswerdung und 99 versank in die beglückende Auflösung der Zwei in Eins – der seligen Fortschmelzung des armen Menschengeschlechts, das durch Hochzeiten dahinsinken würde. Eine schöne Art, die Menschheit aus der Welt zu schaffen.

Der Spießer, dachte der Freiherr und erinnerte sich an das Gespräch zwischen Amarelle und ihm, wo ist er denn?

In des Freiherrn lebhaftem Geist waren diese Ideen, Beobachtungen, Einfälle und Absonderlichkeiten so schnell vor sich gegangen, daß er sich, nachdem er seine Reverenzen gemacht, noch nicht einmal ordentlich umgesehen hatte; sonst wäre ihm gewiß der einzige etwas ältliche Mann aufgefallen, der mit seinen scharf ausgeprägten, freundlich sinnenden Zügen mit liebenswürdigem Ausdruck die Gesellschaft überblickte.

»Das ist so einer! – aber nicht Amarellens, mit dessen Büchern sie mich ehrgeizig machen wollte. Da, aber – das ist er sicherlich.« Er sah auf einen hageren jungen Mann mit schönen dunkeln Augen, der saß gleichgültig, wie in sich selbst verkrochen, nicht besonders ausgezeichnet durch Schönheit, aber doch ein Mensch, der sich sehen lassen konnte, auch in der Kleidung durchaus anständig und angemessen.

Wie der sich nun aber zu ihrer Durchlaucht der Herzoginmutter neigte, ohne die Kunst und Wissenschaft der Devotion erlernt zu haben – alle Achtung! Ein Erzengel könnte das etwa so machen, wenn man ihn in Gala zur 100 Cour befehlen würde. Mein Gott – was sind das alles jetzt für Fratzen – diese hübschen jungen Leute hier! – Wer denn bist du, Herr Spießer? – Wer hat dich denn so hergestellt? – Woher hast du diese reine Stirne? – Die samtenen, wilden Weiber, erzählte Achmet, haben Augen wie Sonnen. – – Nun, und deine Augen? Und vordem, ehe du sprachst, sahst du ausgelöscht wie alle anderen aus. – Also gibt's so etwas? – Bist du ein Wilder? – Zahmes Geflügel auch am besten Hühnerhof hat so etwas nicht, da muß man schon zu den Auerhähnen gehen, mein Lieber.

Himmel, bist du einer! Auerhahn – oder Erzengel! – was gleich ist. Daß man doch nie vom Übersinnlichen loskommt! Solche wie du haben den Erzengelbegriff in die Menschheit gebracht – und nun holen sie ihn sich zum Gleichnis wieder da herunter, wohin sie ihn hinaufprojiziert haben.

Einerlei. – Solche Kerle hat es wahrscheinlich also öfter gegeben? – Denn wir haben alles aus der Natur, jeden Begriff und jede Ahnung. – Respekt vor der Menschheit! – Sie ist sich selbst übersinnlich geworden durch ihre eigenen Wunder und Geschehnisse. – Man sollte es nicht glauben. Das Pack im großen und ganzen ist wahrlich nicht Gott und Erzengel gebärend – und doch – mit dem Menschenvolk kenne sich einer aus. So dachte und spielte der Freiherr.

101 Der Abend verlief im türkisenen Licht gar anmutig. Der ältere Mann mit den freundlichen, ausgeprägten Zügen las aus seinen Dichtungen eine zierlich frivole Liebesgeschichte vor, etwas gespreizt, aber graziös, lebendig und geistig bewegt.

Der Freiherr aber spürte in der Pause und nach der Lesung beim Teetrinken und Plaudern, als ginge durch die glänzende Gesellschaft eine verborgene Unruhe.

Auf das liebenswürdigste wendete sich die Herzoginmutter an den Dichter, nachdem er geendet, und sprach mit ihm mit einem ganz eigenen Zauber und einem schönen Drang nach Wahrheit über das Gehörte.

Sie sprach wie jemand, der eine Sache durchaus ernst nimmt, sprach wie über eine Staatsangelegenheit, sachlich, mit allerlei Einwendungen und feinen Zustimmungen über die leichtfertige Geschichte. Der Dichter seinerseits entgegnete mit Grazie, doch auch mit viel Ernst und Würde.

August von Einsiedel in seiner Welt- und Literaturfremdheit war verwundert, daß eine im Grunde so unwichtige und etwas anrüchige Geschichte, über die man im Leben diskret hinweggegangen wäre, so zu einer allgemeinen und feierlichen Angelegenheit gemacht wurde.

Aber es war nun einmal so, und so nahm er es hin als ein Fremdling und Uneingeweihter.

Jetzt stand der außerordentliche Spießer in seiner Nähe und die zarte Säule Luise sprach zu ihm, wie eine schlanke 102 weiße Säule aus dem edelsten Stoff wohl sprechen würde mit einer kleinen aristokratischen Kristallstimme: »Lassen Sie doch andere Dinge lesen, lieber Goethe; – weshalb dieses?«

Der Freiherr trat ehrerbietig etwas zurück; aber er hörte dennoch weiter, denn die Stimme war trotz ihrer Zartheit durchdringend wie die meisten hocharistokratischen Frauenstimmen.

»Halten Sie mich nicht für prüde, mir tut's in der Seele weh, wie so manches andere auch. – Oh, sagen Sie mir etwas Schönes und Gutes.«

Die helle Kristallstimme, die aus einem erregten Herzen drang, wurde leise und zarter wie verlöschend.

Da neigte sich der, über den August von Einsiedel sich seine Gedanken gemacht hatte, mit einem Ausdruck großer Güte und Ergebenheit dem zarten Wesen zu und sprach mit einer weichen Stimme, als wollte er ein armes Kind beruhigen und einschläfern:

»Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest!
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!«

103 Dann war Stille. Eine kleine Hand hob sich ein wenig wie schlaftrunken aus dem hellen Spitzengekräusel und Gebausch und suchte nach dem Händedruck des Mannes neben ihr.

Ein stummer Dank.

Dem Freiherrn war wie damals zumute, als Amarelle in der Hochwaldgrotte die feierlich schönen Worte vor sich hingesprochen hatte, und wie damals dachte er wieder: Wie Waldesrauschen, wie ein Feuer auf dem Felde ist Poesie – ein schönes Wunder.

Während der schlanken Herzogin, noch bewegt von dem Trost aus einer anderen Welt, ein zartes Lächeln um die Lippen sich bildete, trat ihr Gemahl knabenhaft hastig zu seinem Freund, dem Spießer: »Nun, wann werden wir endlich frei sein, Klinger und Lenz und Gott weiß wer warten – und wir halten uns hier unnütz auf! Ich ersticke!«

»Geduld, Durchlaucht. Geduld – alles kommt und geht.«

So brannten die Herzen des jungen regierenden Paares wie an einem Fels im Vertrauen und Überschwang des Lebens.

August von Einsiedel konnte die Augen nicht von dem schönen, fremdartigen und ihn so anziehenden Menschen wenden. Er sah ihn in freimütigem Verkehr mit den Anwesenden, nicht nach eingelebter Höflingsart, aber 104 durchaus gelassen. Seine gehaltenen Bewegungen zeugten von starkem inneren Leben. Es war nur ein kleiner Teil seines Wesens, der nach außen drang.

Eine Freude durchrann aber August von Einsiedel, als er Amarellens Dichter neben der Baronin Stein sah. Da leuchtete das ganze Wesen so unverhohlen, so unmöglich zu verbergen, da trat er wie aus sich selbst heraus, ein Seliger, ganz von Frohmut Erfüllter, und stellte alles in Schatten, was um ihn her war.

Und wahrhaftig, der ganze Hof beugte sich vor der großen Freude, die er den Mut hatte, leuchten zu lassen. Sie sahen es wohl kaum, verstanden es kaum, es war ihnen ein Rätsel, wie einer so ganz ohne Diebslaterne gehen konnte und seine Fackel freimütig offen trug.

*

So war der Abend für den Freiherrn dahingegangen mit Schauen – und nun befand er sich mit seinem Bruder in Gesellschaft vom Herzog und dessen Freund und noch einigen anderen in den dunkeln Weimarischen Gassen.

Zwei Lakaien gingen mit Laternen vor ihnen her. Es hatte geregnet, das Pflaster war glatt und glitschig, die Luft stark und frisch wie Wald- und Gebirgsluft. Sie hatte etwas Reines, Gutes.

Man hörte Goethes und des Herzogs Lachen. Der junge Herzog lachte jung, jubelnd und stark wie ein Knabe, 105 der vor Lebenslust und Frohmut sich nicht lassen kann. Im Fackelschein konnte man sehen, daß er seinen Freund im Gehen fest umschlungen hielt.

Und es war im Stadthaus am Markte nahe dem »Elefanten«, wo des Freiherrn Gaul im Stalle stand, da kehrte die lachende Gesellschaft ein und wurde in einer großen Stube von einigen jungen Männern jubelnd empfangen.

»Herrgott noch einmal!« rief der junge Herzog. »Jetzt spring' ich aber in die ganze Herrlichkeit mitten hinein! Wo bleiben die Bratwürschte, in drei Deifels Namen! –« Wie durch einen Zauber herbeigerufen, in Wirklichkeit durch vortreffliche Regie, stand der Wirt vor ihm, beladen mit einer gewaltigen Schüssel mit langen Weizenbroten, die voneinander geschnitten jedes eine lange, knusprige Rostbratwurst in sich barg, die an beiden Enden des schmalen Brotes noch ein gut Stück hervorsah und gewürzig duftete. Der Herzog griff danach und war im Nu mit seiner Wurst unter dem mächtigen runden Tisch verschwunden.

»Mir nach!« rief er, »wer Freiheit, Gleichheit und Gott weiß was liebt! Lang genug aßen wir vom Tisch! Heute nun einmal so!«

Auf höchsten Befehl waren alle, jeder mit seiner Wurst, unter dem Tisch um ihren Herrn versammelt. Der Wirt reichte Krüge mit Wein mit beschwerlichen Verbeugungen 106 hinab. Auch die Gäste unter dem Tisch genossen einer beschwerlichen Freiheit im engen Raum, genossen sie geduldig; der Herzog nahm sich nun einmal seine Freiheit, wie und wo er sie fand, und badete und watete darin nach Herzenslust. Und jetzt stimmte er auf dem Bauche liegend, mit dem Kopf unter dem Tisch, die Beine in die Stube gestreckt, ein Lied an, worin Graf Stollberg den Untergang aller Könige und Fürsten besang, ganz erstaunlicherweise das Tyrannenlied des zwanzigsten Jahrhunderts, und alle fielen ein, außer dem Freiherrn, dem diese neue Mode des Weimarischen Hofes noch nicht bekannt war. Sie sangen, und es dröhnte gewaltig unter dem runden Deckel hervor, der über sie gestülpt war.

Der Tyrannenrosse Blut
Der Tyrannenknechte Blut!
Der Tyrannen Blut!
Der Tyrannen Blut!
Der Tyrannen Blut!
Färbt deine blauen Wellen
Deine Felsen wälzende Wellen!

»Gibt's etwas Erbärmlicheres als Hofluft!« rief der Herzog. »Herrgott, weshalb nicht schlicht und einfach wie Natur – weshalb Künstelei – Verstellung! Weshalb muß man erst unter den Tisch kriechen, um wieder Mensch zu werden?« Damit kroch er aus seiner unbequemen Lage 107 hervor, reckte und dehnte sich und mit ihm lachend, alle anderen, und der Herzog griff nach einer neuen Wurst und biß hinein.

Ein derber, schlanker Mann in abgetragener Wertheruniform trat auf ihn zu, schlug ihm auf die Schulter: »Bruderherz«, und bot ihm seinen Krug zum Trunk. Des Herzogs Freund aber wehrte ihm mit einer gelassenen und sicheren Bewegung. »Nicht so, Klinger – nicht so.«

Ein eisiger Ton. – Der junge Herzog bemerkte es wohl kaum in seinem Freiheitstaumel, aber alle Anwesenden spürten einen Schauer. Die geheiligte Person des Fürsten stand vor ihnen, an die niemand Hand legen durfte, und neben ihm der Erzengel mit dem feurigen Schwert, und ein taktloser, roher Bursche, der das tolle Spiel des jungen Herrschers mißbraucht hatte.

Eine frostige Stimmung, als wäre ein kalter Luftzug in die große Stube gedrungen, legte sich über alle.

Stühle wurden gerückt, und man setzte sich, ein jeder vor seinen Weinkrug.

»Nun ja,« sagte Klinger trotzig, aber sehr gedämpft zu einem kleinen Männchen mit einem Wellenprofil, die Stirn eine rundliche Welle, das Näschen eine kleine, die Lippen Wellchen und das Kinn wieder eins, und die Wellchen verliefen sich in ein Hälschen, weich und bubenhaft und über der Stirn ein wenig blonder Schaum.

108 »Nu ja, so gefährlich ist's doch nicht; wenn's im zwanzigsten Jahrhundert erst losgehen soll, können heute im achtzehnten die Tyrannen doch wahrlich singen, was sie wollen, können unter den Tisch kriechen, wenn es ihnen beliebt – sehe nicht die geringste Gefahr!«

»Das Symbol,« sagte das Männchen, »das Symbol! Er meinte, du hättest mit einem Symbol nicht so umspringen sollen.«

»Ach was, Symbol! Dreck! Für was Symbol? – Bin auch Symbol – du auch.«

»Na ja.«

Das war so ein kleiner Gesprächswind, der sich heimlich erhob und unbeachtet verlöschte.

Da hob Friedrich Hildebrand von Einsiedel sein Glas, stieß mit seinem Bruder an und sagte unvermittelt: »Zum Wohl der Tante Amarelle! Tante? Oder? Wie belieben Herr Bruder?«

»Was meinst du?«

»Ich meine gar nichts.«

August von Einsiedel erblich und gedachte der Stiefmutter, die einen geschwätzigen Brief geschrieben haben mochte.

»Unsinn,« sagte er kalt.

Der andere schwieg, denn um seines Bruders Mund erschien der scharfe Zug, den alle in der Familie fürchteten.

109 Der große Anlauf zur Freudigkeit, die Erwartung des jungen Herzogs nach einem gehörigen Austoben heute nacht mit den Genossen, die zum Teil seine Gäste waren, mit all dem schien es nichts werden zu wollen. Getrunken und gegessen wurde zwar ganz erklecklich, aber der übermütige Geist wollte nicht aufkommen, obwohl der kleine Dichter Lenz mit dem Wellenprofil sich's nicht verdrießen ließ, allerlei Kapriolen zu machen, und der Dichter Klinger, gerade weil er eine Rüge empfangen, gewaltig bramarbasierte.

Da – was war das? – Ein hohles Geläut, ruckweise Glockenschläge, die aufreizend und doch wilder Lust gleich klangen, wie das Volk es liebt, über Unheil zu reden, sensationslüstern und gierig.

Draußen auf dem Markt tutete der Nachtwächter, auch mächtig froh, lärmen zu dürfen. »Feurio! Feurio!« heulten Brüllstimmen auf der Straße. Ein Volksfest vom Himmel gefallen! Alle hohen Festlichkeiten des Volkes: Leichenbegängnisse, Unheil aller Art, Revolutionen, Hinrichtungen, Mord, Raub, Feuersnot hoben das Haupt.

Spektakel, Aufregung, wildes Gefrag, eifrige Antworten in den stockdunklen Straßen. Grobe Nerven wachten auf. Grobe Burschen wurden munter.

Ein Lakai erschien und referierte untertänigst seiner Durchlaucht, daß es in Mellingen brenne.

110 Auch dem durch edle Generationen ältester Rasse durchgesiebten jungen Herzog fuhr das urweltliche Schreckensgetös wie ein Freuden- und Feuerstrom durch die Glieder. Er sprang auf; der Urweltsmensch, der nie verschwindet, dem Gefahr und Not Leben bedeuten, regte sich auch in ihm. Tatenlust, brach liegende Kräfte, alles schäumte auf; auch der Freund war aufgesprungen, und es wurde beschlossen, aufzubrechen. Man erwartete die Pferde und zwei berittene Husaren. Der Herzog forderte August von Einsiedel auf, mit an die Brandstätte zu reiten.

Währenddem hörte man das Rasseln der Feuerspritze auf dem holprigen Pflaster. Es tutete und läutete immerfort und vom Stadtkirchenturm blies der Türmer Feuerlärm.

*

So ritten der Herzog, der Freund und August von Einsiedel, begleitet von zwei Husaren, dem Dorfe zu, in dem ein mächtiges Feuer wütete. Sie überholten hie und da dunkle, nächtliche Gestalten, die Abenteuerlust hinaus in die Nacht getrieben hatte, dem Feuer entgegen. So ritten sie an dem Gartenhaus vorüber, das Karl Augusts Freund gehörte, das Stückchen Erde und die einsame Hütte, die im Ilmtal ihn festhielt, fester vielleicht als Freundschaft, Liebe, Lebensglanz und Ehre. Ein Licht leuchtete durch ein niederes Fensterlein aus der Dunkelheit und warf einen lichten Schein in die Nacht.

111 »Da wacht Philipp und wartet noch auf mich.« Der dies sagte, hielt sein Pferd an und mit ihm alle anderen. – »He, hallo! Geh schlafen! – Ich komme heut nicht!« Das Fenster klang, eine Gestalt verdunkelte den kleinen, hellen Lichtquell. – »Ja, geh nur schlafen!« Und im Trab ritten sie weiter in die Dunkelheit hinein, die von der Fackel, die ein Husar ihnen voraustrug, zuckend und rauchend durchglüht wurde.

Vor ihnen lag bald ein Stück brennender, schwelender Nacht. Es war, als brenne die Nacht selbst.

Zuerst nur eine wogende Röte, der sie zustrebten, dann, je näher sie kamen, hoben sich aus der Glutwolke Flammen, die bis in dunkles Gewoge hineinschlugen, dann tauchten glühende Linien auf, abgedeckte Giebel und Sparren, ein feines, zartes Werk, von dem das Feuer Stroh und Moos hinweggeleckt hatte. – Glühende Bäume ragten um ein Flammenmeer. Der Wind trieb rotes Laub von ihnen fort, als wäre es im Herbst.

In den Straßen des Dorfes war heller Aufruhr. Sieben Häuser brannten. Brüllendes Vieh, geretteter Hausrat, Weiber mit riesigen Bettbündeln, Kindergeschrei. Wasserschlepper, Spritzen, Wasserfluten und eine wehende Glut, die, wenn ein Windstoß kam, den Atem raubte.

Der junge Herzog und seine Begleiter ließen die Pferde in Obhut der Husaren und mischten sich unter die bei den Spritzen Beschäftigten. Der Herzog sah mit praktischem, 112 klarem Blick, wo eingegriffen werden mußte, gab seine Orders fest und ruhig, ließ sich den Bürgermeister des schwergeschädigten Ortes kommen, ging mit ihm von Spritze zu Spritze, schalt und lobte, gab Befehle und betrug sich voll Einsicht und Ruhe – mit gutem, angeborenem Feldherrn- und Herrschergeschick; der ausgelassene, mutwillige Fürstensohn von vorhin war nicht wiederzuerkennen in seiner jungen Männlichkeit. Die schwer arbeitenden Leute gehorchten. Seine Stimme hatte etwas Zwingendes und Durchdringendes. In die Löscharbeiten kam Klarheit und Sicherheit. Er war der Herr, die Arbeit wurde erfolgreicher, ja es war, als gehorchte ihm auch das wilde Element, die anfachenden Windstöße legten sich mehr und mehr. Die Blicke der mutlosen, verzweifelten Menschen, die um ihren armen Besitz jammerten, drangen nach der Richtung, wo aus Rauch und Dunkelheit die Stimme des jungen Herrschers klang, in der sie einen Schutz und Halt in ihrer Not zu hören glaubten.

*

Die beiden anderen Nachtreiter hatten sich mitten in das Lösch- und Rettungswerk gestürzt. Jeder gab, was er konnte. Der junge Herzog diente mit dem Erbe seiner tapferen Ahnen, das ihm lebendig und bereit im Blute lag, und die beiden anderen schafften, was sie konnten, auch sie gaben, was sie an Mut und Kraft zu geben hatten.

113 Der junge Dichter und August von Einsiedel standen miteinander auf einer Leiter und reichten den Feuerlöscheimer, trieften vor Nässe und dampften in der Glut.

Ein dumpfes Gemurmel aber erhob sich aus der Dunkelheit und drang bis hinauf zu denen, die ihren Löscheimer von Hand zu Hand bis hinauf ans Dach hoben, um ihn von da in die Flammen zu schütten. Ein schauerliches Gerücht pflanzte sich fort unter den keuchenden Männern – einer sollte den Feuertod in den Flammen erleiden – ein alter Mensch, dem durch Menschenhilfe nicht mehr zu helfen war – den sie in ihrer Angst und Not vergessen hatten – und nun vergessen wollten, der an der Bodenluke eines hohen, brennenden Hauses, nachdem er lange um Hilfe gerufen, stumm stand, seinen Tod erwartend.

Da waren zwei, die machten sich auf, und was das Bauernvolk nicht zuwege gebracht, was verschwiegen in der Nacht von allen dumpf gewußt wie ein Verhängnis vor sich ging, dem sollte entgegengeschafft werden.

Burschen wurden kommandiert, Leitern wurden zusammengebunden und verschnürt, Äxte herbeigeschafft, und Karl Augusts Freund mit Einsiedel schleppten mit den Burschen die langen Leitern zu jenem Haus, das innen brannte, dessen Dach in Flammen stand.

Im obersten Speicher, der noch unberührt, aber von Flammen umwallt war, sah man einen Menschen am offenen Speicherfenster stehen in Glut und Rauch – 114 stumm und bewegungslos. Stumm geschah auch die Arbeit, die den Unglückseligen in letzter Stunde noch retten sollte.

Im Hause brachen Balken und stürzten in die Tiefe. Wie ein Wunder ragte der Giebel mit seinem Fenster und dem Raum, der hinter dem Fenster sich befand, in die Luft.

Und wie ein Wunder geschah es, daß zwei junge Männer, jeder mit einer Axt, auf schwankenden Leitern, die von Bauern gestützt und gehalten wurden, aufwärts klommen, das schmale Fenster, das vom Fensterkreuz verengt wurde, erweiterten, die Flügel herausrissen und mit vereinten Kräften einen Körper aus dem Todesrachen zogen.

An den Größten, Stärksten von den beiden klammerten sich ein paar alte Hände, und auf dem Rücken trug der eine Last die notdürftig verlängerte, zusammengebundene Leiter hinab. – Einsiedel auf der Nachbarleiter stützte diese Last und Hände griffen von unten her, soweit es möglich war, das schwanke Gerüst noch zu belasten.

So brachten zwei Mutige durch Glut und Rauch, mit Gefahr ihres eigenen Lebens, einen alten armen Menschen hinab auf sicheren Boden, hoben ihn auf und trugen ihn miteinander fern vom Untergang nach einem unversehrten Baumgarten, der in der ersten Morgendämmerung still und kühl lag. Nur hin und wieder trug der Wind heiße Schwaden durch das frische Laub.

115 Der Alte lag nun im hohen Gras vor den beiden, ein Mann mit schöner Stirn, tiefliegenden Augen und einem verfallenen, gutgeformten Gesicht. Ein Zugezogener, hatten die Burschen gesagt, einer, der zu niemandem gehörte, der einmal ins Dorf gekommen sei, kein Mensch wußte recht woher – und geblieben war, der Schränke und Truhen für die Bauern in der ganzen Umgegend malte und sich so sein Brot verdiente. So ganz richtig war's nicht bei ihm im Oberstübchen, hatten die Burschen gesagt.

Jetzt schlug der Alte die Augen auf und sah in grüne Baumwipfel statt in den glühenden Tod, die im Morgendämmerlicht weich und voll in die graue Luft ragten.

Ein tiefer Atemzug hob die Brust.

Des Herzogs Freund kniete sich neben ihn, faßte seine Hand und sprach freundlich, um ihm zu helfen, sich wieder zurechtzufinden.

Da schaute der Alte ihn forschend an.

»Ich weiß es,« sagte er ernst und langsam, »du bist's, der mich vom Kreuze nahm.« – Noch langsamer und in sich hineinhörend und sinnend: »– Ich kenne dich. – Deine Augen waren's, die mich anblickten, als Gott mich verließ.«

Der Alte hatte sich aufgerichtet und saß nun und stützte sich auf seine Arme. Einsiedel kniete neben ihm und hielt ihn, denn er schwankte, als wollte er vornüber fallen.

116 »Ich kenne dich wohl,« wiederholte der Alte noch einmal feierlich. Seine Augen blickten starr und wie durchleuchtet, wie die Augen Sterbender blicken können.

»Ich kenne dich wohl,« sagte er ernst. »Du bist das ewige Geheimnis, der Unergründliche. – Keiner wird kommen, der dir gleicht – du wirst allein bleiben.« –

Eine lange, schwere Pause. Der Tod zeichnete das Gesicht mit seinem untrüglichen Zeichen.

Schwer redend: »Du bist wie der Mann in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen einzigen zu tragen imstande ist. – Du bist der Bleibende. – Alle andern versinken. Du bist das große Geheimnis, dir selbst und anderen. – Du bist der Wiederkehrende.« –

Und feierlich: »Wo ist der, der mit dir war? – Auch dich kenne ich. – Du bist der Anfang der langen Kette – einer schweren Kette von Leid – Verwirrnis, die kommen wird – Gott sei mit dir. Mag sein, daß du erlöst wirst.«

Der Alte sank schwer in Einsiedels stützende Arme. Sein Auge starrte gebrochen – der Unterkiefer sank herab. Einsiedel hielt erschüttert einen Toten im Arm.

Die jungen Männer knieten vor der Leiche. Der Morgen zog heller herauf, bleich und kalt. Geheimnisvolle, schwere Worte umrauschten sie noch.

Das letzte Licht eines fremden Lebens hatte sie wie ein Strahl aus einer anderen Welt berührt.

117 Keiner sprach ein Wort. Der, der von dem Sterbenden der Geheimnisvolle genannt worden war, neigte sich über den Toten und drückte ihm die Augen sanft zu.

Leise sagte er: »Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst.«

*

Dann erhoben sich beide, die so seltsam vereint und geschieden durch des Alten Worte waren, und gingen Hand in Hand stumm durch den weiten Baumgarten. Sie schritten durch das taufrische Gras, wie träumend, – der eine rein und dumpf erfüllt vom eigenen unausdenkbaren Geheimnis, das ihn wie Verheißung still bewegte – der andere in wunderlicher Erregung. Was bedeuteten jene Worte? – Wer war das, der da neben ihm ging? Ein Verkündeter, von dem die Sterbenden sprachen? – Und er? – Wer war er selbst? – Er durchforschte mit großem Blick sein eigenes Wesen und sah einen Menschen, der weder sein Diesseits heiß liebte, noch nach einem Jenseits Verlangen trug, der aber dennoch im Diesseits Fuß fassen wollte, denn er klagte im tiefsten Herzen über Isolierung. Wir sind nun einmal in unserem Jahrhundert darauf gestellt, daß wir in anderer Menschen Meinung existieren – und ich will keine Ausnahme von der Regel sein, denn die Existenz in uns selbst ist ein höchst fragliches, ungewisses Ding.

118 Wie er so über sich nachdachte, traf er sich als einen, der das Los der Menschheit als etwas sehr Übles empfand, und eine Notwendigkeit war es ihm, daß diese verruchte Erde und Menschheit zu äußeren, besseren Zuständen kam. Sie konnte in ein Paradies verwandelt werden, wenn alle Kräfte sich aufs Leben richteten und endlich einmal alles, was Religion hieß, überwunden sein würde, diese große Lähmung der Menschheit.

Ja, das mochte sein Glaube sein. Oder – war es das nicht? Glaubte er fest an eine Neuschaffung der Menschheit – oder glaubte er es im Grunde nicht? Was aber war dann sein Zentrum? Augenblicklich die Liebe zu Amarellen. Möge sie anhalten; noch weiß ich ja nicht, welche Dauer solch ein glücklicher Zustand im günstigsten Falle haben kann. Es ist aber angenehm, mit einem Zentrum zu leben, hat etwas Geordnetes. Man weiß, wohin man gehört in diesem Chaos.

So gingen sie in heiliger Morgenfrühe als Totenwacht für den Unbekannten, der still und gelassen, wie Tote liegen, auf der grünen Erde ruhte. Jeder wandelte tief versunken in die Begebenheit der letzten Stunde.

Ein Busch Rosen blühte im Baumgarten, ganz von hohem Kraut und Gras überwuchert. Halbverwildert trug er doch ein paar der köstlichen Blumen, die des Lebens Höhe bildlich deuten. Wie solch ein Strauch blüht, auch verwildert oder in voller Kraft, zur Stunde der Liebe, zur 119 Stunde des Todes, und des jungen Herzogs teurer Freund brach eine eben aufgeblühte Rose, die voll Tau in den ersten Strahlen der Morgensonne wie ein Kleinod funkelte, und er legte sie auf die Brust des Toten und sagte:

»Wenn wir so in dunkler Wärme im Leben stehn, wie schön und groß ist das.«

Einsiedel, in dem die Worte des Sterbenden nicht zur Ruhe kamen, den das geheimnisvoll Angedeutete bedrängte, hörte, was jener wie zu sich und dem Toten sprach, und er fühlte, daß dieser Mensch alles, was er tat, in königlicher Weise tat und von tiefer Güte belebt. »Wir müssen für ihn sorgen, daß sie ihn nicht zum zweitenmal vergessen.«

Und so geschah alles liebevoll und bedacht. Der gute Mensch ruhte nicht eher, bis der Tote würdig geborgen war.

Einer alten Frau gab er einiges Geld, daß sie bei ihm wachen sollte bis zur Beerdigung und auch die besprach er eingehend mit dem Bürgermeister. Ruhig, tätig und zuverlässig erschien dem Freiherrn die Art, wie er dies alles betrieb.

Der Herzog war inzwischen mit dem einen Husaren zurückgeritten und der andere überbrachte diese Botschaft, führte die Pferde vor, und so ritten auch die Zurückgebliebenen im strahlenden Frühmorgen der Stadt wieder zu.

120 Vor dem Gartenhäuschen im stillen, weiten Ilmtal, das mit grauem Dach und blinkenden Fenstern in lieblicher Schlichtheit mitten in einer Wucht von Grün und Frische lag, wurde gehalten. Der junge Hausherr lud den Freiherrn zu einem Morgenimbiß und zu ein paar Stunden Ruhe nach der durchwachten Nacht ein, schrieb ein Zettelchen an den Herzog und übergab auch die Pferde dem Husaren.

Dann schritten sie über Stufen durch eine weiße Pforte in ein Asyl des Friedens, unschuldigster Genügsamkeit und sanfter Naturschönheit.

»Meine Gedanken, Pläne und Zeiteinteilung sind mir nun zum Teil mitverbrannt – so wollen wir es uns wohl sein lassen. Ich danke Gott, daß ich in Feuer und Wasser den Kopf oben habe und erwarte sittsam starke Prüfungen.«

Das sprach der Hausherr so offen, rein und voller Unschuld und ganz zeitlos, wie der Freiherr noch keinen Menschen hatte reden hören.

Der Diener Philipp kam ihnen froh entgegen, und er wurde beauftragt, Eierkuchen zu backen und Kaffee zu kochen.

»Den sollte man nicht trinken, aber nach solch einer Nacht ist er gut. Und jetzt legen wir uns und schlafen etwas – hier Sie,« er wies auf ein Ruhebett in einem kleinen, einfachen Stübchen – »und ich lege mich auf die Altane.«

Der Freiherr streckte sich gehorsam aus. Er konnte den lieben schönen Menschen von seinem Ruheplatz aus sehen 121 und sah, wie der sofort ganz unvermittelt in einen tiefen Schlaf fiel, als trüge er in seinem Herzen weder Sorge noch Zweifel und fühlte sich ganz sicher und wohlgeborgen. Und der Freiherr mußte ihn hin und wieder anschauen und dabei denken, daß ein Sterbender in grauer Morgenstunde von diesem Menschen als von einem unergründlichen Geheimnis gesprochen hatte.

August von Einsiedel konnte aber nicht zur Ruhe kommen. Seine nervöse Konstitution, das erregbare Blut seiner Art wurde von großer Müdigkeit nicht überwältigt, sondern überwältigte diese. Er fand keinen Schlaf, schaute sich im Stübchen um, sah da wenig Komfort, allergrößte Einfachheit, ein eisernes Windöfchen, das sonderbar gespreizt dastand, schmale, weiße Gardinen über den niederen Fenstern, einen tannenen Schreibtisch, auf dem wohlgeordnet einige Bücher und allerlei Schreibgerät und Papier lagen. Eine Silhouette hing an der Wand, ein lieblich schönes Profil, das der Freiherr gar wohl erkannte.

Auf dem Schreibtisch lag unter anderem ein Büchlein, das ihn anzog. Da er den Schlaf nicht zu sich zwingen konnte, erhob er sich leise, nahm das kleine Buch und blätterte darin. – Werthers Leiden – von Wolfgang Goethe.

Von ihm! – Und mit einer Spannung, mit der er noch nie das Werk eines Literatoren, gegen die er ein tiefes Mißtrauen in sich fühlte, zur Hand genommen hatte, las er – und las.

122 »Das ist ja, als ob er von sich selbst redete, als wenn er ganz unschuldsvoll, wahrhaftig und rein wäre; als dürfte jedes Auge wie in die Natur in seine Seele blicken.« Wäre Amarelle dem Freiherrn nicht begegnet, würde er diesen Eindruck wohl kaum empfunden haben. Amarelle war auch unversteckt und durchsichtig, war wohl auch Tiefe. Sehnsucht ergriff ihn. Wie konnte er ohne sie sein! Wie hatte er es übers Herz bringen können von ihr zu gehen! Unfaßbar! Sein eigenes Herz erwachte ihm, als er im Büchlein las. – Es war, als wenn ein Lebensstrom sich in ihn ergösse vom Büchlein aus. – Ein Bewußtsein, daß diese Erde liebend umspannte, ihn in unbekannte Fernen trug, die er nie empfunden hatte – über diese Welt hinaus in ewige Räume, die er im eigenen Herzen fand. – Welches Wunder – welches Geheimnis! Sein schroffes, ablehnendes Wesen wurde wie durch Liebe weich, aller Hoffnung, allen Glaubens voll.

Und er blickte auf und sah den tief Schlafenden. Da erklang ein Glöckchen, und wie ein Kind so leicht tauchte sein Gastfreund aus dem Schlafe auf, war wach und frisch:

»Philipp ist fertig, das wird gut tun! Kommen Sie!«

Und beide saßen nun unter hohen Bäumen und blickten auf grüne, weite Wiesen. Von den schattigen Ufern der Ilm kam lebendiger Luftstrom.

Wundervoll schmeckte es nach der anstrengenden Nacht, nach allen Eindrücken und Begebnissen.

123 Der Mann mit dem Buch, aus dem Leben in die Welt hinausströmte, aß mit viel jungem Genuß – er beging essend ein fröhliches Fest.

Sie sprachen mancherlei über die Armut des Hoftreibens und der Sozietät überhaupt. Vom Herzog sprach er warm und liebend. »Außer ihm ist niemand im Werden. Er ist es, der lieb und rein ist, die andern sind fertig. Er kommt mir näher und näher und wir halten unsere Fackel aufrecht. Nur Werdendes lebt. – Was ist Sozietät für mich! Tritt man aus seinem Haus, geht man auf lauter Kot!«

Sie sprachen über die jungen Männer von gestern abend. Der Freiherr erkundigte sich nach ihnen. Wie kann der Herzog solche Leute um sich ertragen?

»Der fischt und sucht – und wird sich bescheiden mit dem, was er hat; aber noch hofft er auf Wunder. Der kleine Lenz ist unter uns wie ein krankes Kind, Klinger wie ein Splitter im Fleisch, er schwärt und wird herausschwären. Er kann nicht mit mir wandeln, er drückt mich.«

Keiner von beiden wollte und konnte das frühmorgendliche Erlebnis berühren – jeder trug es verschwiegen im Bewußtsein.

Als aber nach langen Zeitläuften der junge Freund des Herzogs alt und tief wissend geworden war, seine eigene Unergründlichkeit ahnend – schrieb er die Worte jenes Sterbenden tief erschüttert an einen Freund: Ich werde allein bleiben. Ich komme mir oft vor wie ein Mann in 124 einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen einzigen zu tragen imstande ist. Dieser eine nur rettet sich.

Heute aber, im klaren Morgenlicht, unter rauschenden Bäumen, nach einer stark tätigen Nacht, war die Verkündung des Sterbenden wie ein Traum – und er sich selbst seines ungeschauten Geheimnisses dumpf und rein bewußt, in wahrer Demut Unerforschliches nicht zu berühren – und wäre er selbst das Unerforschliche.

Der Freiherr fragte: »Ist es etwas so Großes, zu sagen, was uns beglückt, was uns bedrängt, was wir schauen und was in uns sich regt und lebt?

Antworten Sie mir oder antworten Sie mir nicht. Ich las, während Sie schliefen, in ihrem Buch, das ich auf dem Schreibtisch liegen sah. – Dem, was man Literatoren – Geschmackssachen und Kunst nennt, bin ich sehr fern. Ja, mir scheinen diese Dinge, gegen die Wissenschaft gehalten, eines Mannes nicht ganz würdig. – Aber Sie müssen mir verzeihen, daß ich das sage.«

Und er bekam zur Antwort: »Es ist etwas Großes, vielleicht das einzig Große. Ungezählte sterben stumm dahin, und wenigen ist's vergönnt zu sagen, was sie leiden, was sie schauten – erkannten, was Gott ihnen offenbarte. Ohne sie wäre alles stumm.

Solch einer ist zum Strom des Lebens geworden, an dem Ungezählte schöpfen und trinken.« 125

 


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