Helene Böhlau
Die alten Leutchen
Helene Böhlau

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Die Delikaleßhändlerin war ruhig, ihm viel zu ruhig. Er hatte sich die Wirkung seiner Botschaft anders vorgestellt und stand der Frau nun betroffen gegenüber, wollte ihr etwas zum Troste sagen, fand aber nichts und stützte die Hand auf die Lehne des Stuhles, auf dem sie saß, und beide schwiegen abermals. Endlich stand die Frau auf, knüpfte ihr Halstüchelchen ab und hing es, wie sie es jeden Abend zu tun pflegte, an den Schlüssel eines Wandschrankes, der neben der tiefnischigen Tür eingelassen war. Indem sie das tat, blickte sie schmerzlich auf ihren Mann und sagte: »Den alten Schrank, werden sie mir den auch mit einreißen? Das hatte ich nie gedacht. So Abend für Abend hängt mein Tuch an dem Schlüssel.« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, wie ich bei unserem ersten Mittagessen einen Blumenstrauß da herausholte und ihn auf den Tisch stellte und du lachtest? Den hatte ich von der Madame Kirsten damals bekommen. Die ist nun auch schon lange tot«, fügte sie gelassen hinzu: »so geht es!« – Da traten ihr die Tränen in die Augen und liefen ihr über die Wangen; sachte griff sie nach ihrem Schürzenzipfel und ging ganz gebeugt durch die Kammertür.

Das geht ihr nahe, dachte Herr Balduin, da trägt unsereins es anders, wenn denn etwas einmal so sein soll.

Als die Frau schlaflos die Nacht in ihrem Bette lag, kam ihr nicht der Gedanke, daß ihrem sehnsuchtsvollen Herzen jetzt vielleicht eine Pforte geöffnet werden sollte. Angstvoll und schwer lag die neue Erfahrung auf ihr, jede Hoffnung ertötend, das einzige Zukünftige, was sie vor sich sah: hoch aufwirbelnder Staub, öde Fenster, verworrenes Dröhnen, Stürzen, Sinken, ihres Wohlbekanntesten Vernichtung. Mit Entsetzen sah sie eine glatte Straße da, wo vor kurzem noch ihr festes, dunkelwinkeliges Nest stand, und fühlte ungehindert über den dumpfig eingeengten Platz, auf dem der Fliederstrauch stand, frische Luft streichen und Sonnenlicht wogen. Dem Strauche aber kam das nicht zugute; als sie die Mauern fallen sah, rissen sie ihm die lieben Wurzeln und Würzelchen aus dem Grund, und er lag im Staub zwischen Trümmern. – Das war eine böse Nacht, die sie beide durchmachen mußten: denn Herrn Häberlein wollte der Schlaf auch nicht kommen.

Am anderen Morgen, als sie wortkarg beieinander über ihrem Kaffee saßen, begann Herr Balduin nach längerem Schweigen mit würdiger Miene: »Wenn alles wird, wie ich mir denke, stehen wir mit einer hübschen Hand voll Geld da und können in aller Behaglichkeit zusehen, wo sich für uns etwas auftun will. So gut wie einer könnte ich jetzt einen Laden im besten Stadtviertel übernehmen. Wir dürften schon daran denken, es uns hin und wieder bequemer zu machen. Du solltest Hilfe haben und nur gerade soviel tun, als es dir recht und angenehm wäre.«

»Das laß doch jetzt«, unterbrach ihn die Frau abwehrend und schaute traurig in ihre Tasse. »Du lieber Gott, nun soll man alles wieder neu beginnen!« Da stützte sie den Arm auf und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Herr Balduin sah sie kopfschüttelnd an. »Nimm doch Vernunft an, Frau. Wir können uns doch nicht so ohne Weiteres begraben lassen, wenn die alte Bude aus den Fugen geht, und außerdem ist das Geld, das wir durch den Verkauf haben, wahrhaftig nicht zu verachten. Ich hätte nicht geglaubt, daß das Ding so viel wert ist; einfach deshalb nicht, weil ich nie darüber mir so recht klar geworden bin. Diese Einnahme zu unserem Kapital geschlagen, gibt eine anständige Summe. Mit der würde ein anderer sich irgendwo zur Ruhe setzen und den Herrn spielen, darauf verlaß dich.«

»Ja, das möchte man, zur Ruhe kommen«, sagte die Frau wehmütig vor sich hin.

Da stand Herr Balduin auf und ging bedächtig im Zimmer auf und nieder, schaute hin und wieder auf die Frau, die ganz versunken in sich dasaß und auf nichts als auf ihre wehmutsvollen Gedanken achtete.


Als nach diesem Morgen Wochen hingegangen waren und sich der Verkauf des Häuschens für die Leutchen äußerst günstig gestaltet hatte und beide trotzdem dem bestimmt kommenden Tage, wo sie es verlassen mußten, sorgenvoll und ängstlich entgegensahen, da standen sie gegen Abend miteinander im Gewölbe. Die Frau zündete eben die Lampe an und fuhr dann mit einem Tuche über den Tisch, polierte die Büchsen blank, die darauf standen, und richtete alles, was sich im Laufe des Tages verschoben hatte, gefällig zurecht. Sie hielten das Lädchen wie immer äußerst liebevoll, aber jetzt wehmütig in Ordnung und erwiesen ihm mit schwerem Herzen die letzten Ehren. Wie sie so schweigsam, aber einander durch ihre Gedanken nahe verbunden, jedes sich ruhig behende etwas zu schaffen machten, tat sich die Ladentür auf und herein trat Salome, wie es schien, sehr erregt. Sie war seit der Nachricht, daß sie aus ihrem behaglichen Unterschlupf unter Häberleins Dache wieder vertrieben werden sollte, so unruhig wie ein Zugvogel, wenn der Herbstwind sich einstellt. Das arme Weib hatte sein Lebtag schon in einer guten Zahl verschiedener Kammern und Stübchen gesteckt, von Not und Hilflosigkeit war es aus einem ins andre getrieben worden. Die Delikateßhändlerin aber ließ es sich recht angelegen sein, für die gute Freundin ein neues Unterkommen zu finden, ehe sie daran dachte, wo sie und Herr Häberlein die alten Tage beschließen würden. Das wußte Salome, auch daß sie sich umtaten, Leander in ein anderes Geschäft zu bringen, da Häberleins selbst noch nicht wußten, was sie beginnen würden, und den Burschen nicht ins Unbestimmte hinein halten konnten. Sie fühlte sich deshalb soweit ganz gut versorgt und hatte nur die Unruhe in den Gliedern und machte der kleinen Frau bei jeder Gelegenheit das Herz schwer, so daß diese einen wahren Schreck bekam, wenn Salome bei ihr eintrat.

So auch jetzt. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und fragte zaghaft: »Nun, was gibt es?« »Was es gibt?« erwiderte sie. »Wer weiß? Hat Herr Häberlein jetzt Zeit?« wandte sich die rüstige Schneiderin an den Händler, der von ihr nicht Notiz genommen hatte und unter seinen Büchsen und Kistchen wirtschaftete. Er blickte, für sie wenig ermutigend, einen Augenblick zu ihr hin, aber Salome verstand, daß er bereit sei. »Ich komme von Rats«, sagte sie eifrig, »und wollte nur sagen, daß ich etwas erfahren habe.«

»Was denn?« fragte Häberlein.

»Ich sprach mit Jungfer Funzelchen«, fuhr sie erklärend fort.

»Mit wem?« fragte Herr Balduin unwillig.

»Ich weiß schon«, unterbrach die Frau, »mit der Jungfer, die bei Rats in Diensten steht. Ich hätte das Mädchen gern einmal zu sehen bekommen, denn Salome macht einen Erhebs von ihr, was für eine tüchtige und artige Person das sei.«

»Ja, und da ist nichts Unwahres daran«, fuhr Salome fort: »da könnte man suchen, ehe man so etwas fände.«

»Was soll's mit der?« fragte Balduin.

»Ja, wie ich heute bei Rats sitze und Jungfer Funzel gerade den Kaffeetisch für die Kinder und uns deckt, kommen wir doch, wie es sich so macht, auf Herrn und Frau Häberlein zu reden. Ich habe ihr schon oft herzlichst all die Güte und Liebe, die ich bei Häberleins erfahren, mitgeteilt.«

»Laß Sie das!« unterbrach sie Herr Balduin.

»Ich wollte nur sagen«, nahm Salome den Faden wieder auf, ohne sich irre machen zu lassen, »Die Jungfer weiß, was ich hier erfahren habe, und Ihr steht bei ihr im besten Renommee. Und weil wir so ins Reden gekommen sind, mit einem Mal geht es ihr doch wie die liebe Sonne übers Gesicht, und sie fährt sich so mit den Fingern durch die Flatterlöckchen. Ich sehe sie mir an und denke: Was hat die? Da sagt sie: Hört, Eure Leute sollten sich doch das hübsche Häuschen in Jena, das unserem gerade gegenüberliegt und schon seit vorigem Sommer auf Verkauf steht, ansehen; wer weiß, ob es ihnen nicht gefiele, und ich glaube, der Kauf wäre auch vorteilhaft. Seht‹, sagte sie, ›wenn ich mir denke, ich käme einmal zu Geld, da könnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als dort an dem Ufer zu wohnen, und der Garten am Haus und unten der Fluß.‹ Da schaute die Jungfer ganz wehmütig vor sich hin.› Und Eure Leute haben das Geld und könnten sich solches Glück kaufen und tun es am Ende nichts.‹ Sie lächelte, als sie das sagte, und wie ich wieder hinschau, stehen ihr die Augen voll Tränen. ›Nun, Jungfer‹, sag' ich, ›was gibt es denn? Ich dächte gar, das Weinen laßt doch anderen, das paßt sich ja für Euch nicht.‹ – »Frau Salome«, antwortete sie mir darauf, ›das ist für jedermann, und es ist gut, daß es so ist; denn allein durch Sonnenschein wächst nichts, es will seinen Regen haben.‹ Gerade kamen da die Kinder herein, und nun gab es zu tun, denn so kleines Volk ist nicht satt zu machen. Aber jetzt hättet Ihr sie sehen sollen in ihrer Munterkeit. Ich wollte es selber nicht glauben, daß ihr den Augenblick vorher die Tränen nur so die Wangen herabgelaufen waren. Sie trieb ihren Scherz mit der Gesellschaft und hielt sie hübsch in Zucht, daß es eine Freude zu sehen war. Dem kleinsten Mädel von Rats«, fuhr Salome fort, »spielte ein Bruder übel mit und nahm ihr das Brot weg, als sie es eben einschieben wollte. Da gab es Jammer, die Kleine rutschte von ihrem Stuhl und versteckte ihr Gesicht in Funzels Rockfalten, ›Ja, Schreiliese‹;, sagte da die Jungfer und mit einem so guten Tone, daß es mir ganz weich ums Herz wurde, ›wer wird sich gleich so anstellen? Komm, sei still‹;. Sie nahm das Kind in die Höhe und setzte es wieder auf seinem Stuhl zurecht, und es dauerte nicht lange, da lachte es. Darauf wandte sie sich zu mir und sagte: ›Sehet, Frau Salome, so weint man in seiner Dummheit das Leben lang. Wenn Ihr heute heimkommt‹;, fuhr sie fort, vergeßt doch nicht, zur Frau Häberlein zu gehen, und sagt es mit dem Haus. Ich dächte, wenn die in ihrem dumpfen Löchelchen, in dem sie immer gesessen haben, von so etwas hören, müßten sie sich vor Sehnsucht kaum lassen können. Sagt auch, daß in dem Garten hinter dem Haus die besten Obstsorten stehen. Sie sollen sich nur bei Rats erkundigen, die wissen Bescheid.‹; »Und so bin ich denn gleich hierhergelaufen«, sagte Salome, »um ja nichts zu versäumen.«

Die kleine Frau war Salomes Redeschwall andächtig gefolgt. Sie hatte schon oft an den Erzählungen von der Jungfer Funzel ihre Freude gehabt und hätte das Mädchen gar zu gern kennengelernt. Es war ihr ein angenehmer Gedanke, daß die für sie Fremde so liebevoll ihrer gedachte, und wie ein Stern hob sich mit einemmal eine wunderbare Hoffnung in ihrer Seele. Nie hatte sie bis jetzt an so etwas für sich zu denken gewagt. Das Herz klopfte, und ihr war zumute wie einem Kinde um Weihnachten. Salome und Herr Balduin sprachen noch eine Weile miteinander, aber die Frau setzte sich auf die Stufe, die zur Ladentür hinaufführte, hörte und sah nichts weiter, als was in ihr selbst vorging. Und als die Tür klang und eine Kundin eintrat, erhob sie sich und ging sachte hinauf in die Ladenstube; dort setzte sie sich an ihren alten Platz am Fenster, legte die Hände auf den Knien übereinander und schloß die Augen. Da war es ihr, als sei es wieder derselbe Abend, an dem sie in Leanders Buch das Lied gelesen, das ihr das ganze Wesen bewegt hatte. Fast unbewußt flüsterte sie mit tiefer Innigkeit vor sich hin: »Rausche, rausche, lieber Fluß!« lehnte den Kopf zurück und flüsterte es noch einmal. Das waren die einzigen Worte, die ihr haften geblieben waren, aber der ganze Zauber, den sie damals empfunden, wogte wieder um sie her, nur lebendiger, noch schöner und faßbarer. Und als sie sich bewußt wurde, was sie so innig empfand, waren es die ersten Schimmer einer heiteren, sonnigen und freien Zukunft.

Während die Frau in sanfter Schwärmerei halb träumte, halb wachte, ging Herr Balduin im Laden auf und nieder, knöpfte den Rock sich würdevoll von oben bis unten fest zu und sagte zu Salome, die sich noch immer erwartungsvoll in seiner Nähe aufhielt: »Es wird zu überlegen sein, Frau Thorspeck. Leute in unserer Stellung könnten sich schon ein sorgenfreies Alter gönnen, weshalb nicht. Soweit sind ja die Mittel da.«

»Das bezweifle ich nicht, Herr Häberlein; überlegt es noch«, erwiderte die Mieterin süßlich und schickte sich an zu gehen.

Herr Balduin aber bemerkte kaum ihr Verschwinden, so warf er sich in die Brust und ließ sich das Gefühl, ein wohlbestallter Mann zu sein, der unter seiner Lebensrechnung einen Strich machen könne, um darunter zu setzen: »Gewonnen«! etwas zu Kopfe steigen. Er fühlte sich aufs äußerste friedlich und unabhängig und rieb sich vergnügt die Hände. Als er in die Ladenstube trat und seine Frau so andachtsvoll sitzen sah, lachte er und sagte: »Dazu werde ich wohl nicht kommen, eine vernünftige Alte zu haben; so wie sie mit zwanzig war, so ist sie mir geblieben. Nun sage mir, was denkst du jetzt?« Er klopfte ihr im Gefühl seines Wertes auf die Schulter und sah sie voller Güte und Freundlichkeit an. »Was meinst du denn, wenn ich morgen zu Rats ginge und mich erkundigte, und daß wir dann die Sache so langsam weiter betrachteten.«

»Ach«, erwiderte die Frau unter Tränen, »solches Glück kann unmöglich für uns sein.«

»Weshalb nicht?« fragte Herr Balduin; »so gut wie für andere auch für uns. Es ist ja noch kein Schritt weiter getan, wenn ich mich morgen über dieses und jenes unterrichte. So einen Plan habe ich schon mit mir herumgetragen.« Er nickte bedächtig vor sich hin, rieb mit der Hand ein paarmal über die Tischfläche und sagte: »Ja, ja, Alte, so geht es!«

Als der Abend noch weiter vorrückte, saßen die beiden Leute bei einem Fläschchen Wein sich gegenüber, das Herr Balduin im Drange der Gefühle aus dem Keller geholt hatte, und sie tranken sich bedächtig zu und besprachen die Zukunft. Wehmut und Hoffnung bewegten die Seele der kleinen Frau so mächtig, daß sie alle Augenblicke mitten im besten Bereden mit dem Schürzenzipfel über die Augen fahren mußte und nicht weiter sprechen konnte. Das war an einem vierten Februar, als die beiden so beieinander saßen und Zukünftiges dämmernd über ihnen lag.


Anfang Mai stand vor Häberleins Laden ein mächtiger Möbelwagen; da gab es in dem Hause ein Hin und Her, eine Unruhe in öden Räumen. Das Gewölbe war leer. Herr Balduin hatte alle die Apfelsinen, Zitronen, seinen Kalmus, Pfeffer, Räucherwerk, seine Nüsse und seinen Ingwer an einen Abnehmer soweit vorteilhaft verkauft, und was ihm noch davon übriggeblieben war, hatte er für sich selbst behalten. Da wurde in den Tagen altjähriger Staub aufgerührt vom Keller bis zum Boden, kein Nagel blieb unbetrachtet, kein Gerümpel unbemerkt. Man erstaunte über das, was sich angesammelt hatte und was man, ohne es zu wissen, besaß. Es waren böse Zeiten, die das alte Haus zu seinem Untergange vorbereiteten.

Frau Häberlein schaffte in dumpfem Eifer unten und oben. Manchmal drückte sie Schmerz und Grauen, wenn sie daran dachte, was sie seit Tagen mit größter Hingebung tat, schwer auf das Herz und ließ sie mit klaren Augen sehen, wie sie selbst Hand anlegte, mit aller Kraft ihr wohlgepflegtes Teuerstes zu zerstören. Dann wieder, wenn sie in ihrer Hast und Regsamkeit einmal aufschaute und die warme Maisonne durch trübe Fensterscheiben in den aufgewirbelten Staub scheinen und flimmern sah, da zog es wie Sehnsucht und Ungeduld in sie ein, und der Wirrwarr um sie her, in dem sie steckte, und die dumpfen, dunklen Ecken und das Enge, nie Durchfrischte, das ihr Leben lang sie umgeben hatte, lastete schwer und erstickend auf ihr. Es waren die härtesten Tage ihres Daseins, und ein Übermaß von Gefühlen, die in ihrer regsamen Seele durch den nahen Abschied wachgerufen wurden, beunruhigte sie.

So kam die letzte Stunde heran, welche die Leutchen in ihrer Heimat zu verbringen hatten. Die Frau ging noch einmal in ihrem Sonntagsstaat, im dunkelgrünen Wollkleid, das sie eng und zierlich umschloß, in einer weißen Mütze mit braunem Band, durch alle leeren Räume bis hinauf auf den Boden. Dort lehnte sie sich an ein Dachfensterchen und schaute in den schönen Maitag hinaus. Auf allen Dächern lag goldener Sonnenschein, die Schwalben flitzten blauglänzend und zwitschernd an ihr vorüber, hinein in ein Meer von Licht, von Luft und Wärme. Das war der letzte Blick, den sie von ihrem Besitztum aus tat, und wie sie so Umschau hielt, da hafteten ihre Augen an einem Erkerfensterchen, vor dem ein grünes Brett befestigt war, das einen über und über blühenden Rosenstock trug. Ihr Lebtag mochte sie wohl nicht aus der versteckten Dachluke geschaut haben, und so zu allerletzt vom nah Bekanntesten aus etwas Neues zu gewahren, machte einen wunderlichen Eindruck auf sie. Sie blickte, in Erinnerungen versunken, durch den Maisonnenschein auf den Rosenstock in allertiefster Wehmut, dann schloß sie den grauverwitterten Holzladen und hatte, indem sie das tat, die Empfindung, daß hier alles zum letztenmal behutsam berührt werde, zum letztenmal vor der Zerstörung. Vom Boden aus tat sie noch einen Blick hinunter in das dämmerige Höfchen, ihren lieben Aufenthalt. Das stand gedrängt voll Gerümpel, voll alter Kisten, Bretter und Kasten, aber aus allem Wust hob sich frisch und unbeschädigt der Fliederstrauch. Das ging ihr zu Herzen; langsam und sachte machte sie sich auf den Rückweg. Unten in der Küche wartete auf sie zum letztenmal der Kaffeetopf auf dem alten Herde. Sie nahm aus einem Korbe zwei Tassen, trug sie in das verlassene Ladenstübchen, stellte sie sorglich auf eine hohe Kiste, zwei wackelige Stühle davor, nahm aus dem Korbe einen runden Kuchen und holte die Kanne vom Feuer. Dann rief sie Herrn Balduin, der sich in allen Ecken noch etwas zu tun machte, herein, und die beiden Leutchen verzehrten die letzte Mahlzeit in ihrem Hause, ohne viel dabei zu reden oder Betrachtungen zu machen, aber mit ernster Feierlichkeit.

Nicht lange darauf hielt ein leichter Einspänner vor der Tür. Sie machten sich auf, Balduin schloß das Haus hinter sich ab und händigte Salome, die sich zu guter Letzt eingefunden hatte, den Schlüssel ein. Die reichte der Frau auch ihren Korb in den Wagen und benahm sich bei dem Abschied gefaßt, hatte aber die schönsten und erbaulichsten Redensarten bis zuletzt in Bereitschaft.

Die Alten stiegen ein, der Wagen setzte sich in Bewegung, und es ging erst über das rasselnde Straßenpflaster zur Stadt hinaus, dann an blühenden Gärten vorüber. Die Apfelbäume waren noch im vollsten Flor, rosig und weiß hingen die Blüten gehäuft an den Ästen, und über das grüne, aufschießende Korn strich der sanfte Maiwind. Die Birken schimmerten im hellsten Grün, und Tannen und Kieferngehölze, an denen sie vorüberkamen, standen auch im frischen Schmuck. In den Dörfern sorglose Kinder, – Hühner und junges Gänsevolk in den knospenden Obstgärten, – überall Leben, Wachsen und Frische. Die Frau saß wie träumend neben Herrn Balduin. Mit der Zeit wagte sie es, sich in dem Wagen behutsam zurückzulehnen, und beschaute sich beglückt die erfreulichen Dinge, an denen sie vorüberkamen. Je weiter sie fuhren, je mehr Frühlingsluft an ihnen hinstrich, desto mehr wurde von den beiden ein Lebelang alltäglichster Tätigkeit und Dumpfheit fortgeweht. Salome und Leander und die Zahl der Kundinnen fielen von ihnen ab, in den großen Raum der Vergangenheit hinein. Die kleine Frau atmete so frei und unbehindert wie ein Kind und sagte zu Herrn Balduin: »Wie müssen wir alten Leute dankbar sein, daß der liebe Gott uns das gegönnt hat. Ebensogut hätte er auch eins von uns abrufen können oder uns Krankheit schicken, statt daß wir nun so wunderschön dahinfahren.«

In der Alten regte sich das, was man Lebenswonne nennt. Was sie nur je unklar gehofft und geträumt, das wollte sich ihr jetzt schön erfüllen. Sie vergaß die langen, ihrer Natur nicht angemessenen Jahre, in denen ihr der überflüssige Reiz des Lebens nicht Zuteil geworden war, und saß da wie eben erwacht, voller Ahnungen. Ihre neue Heimat hatte sie noch nicht zu sehen bekommen und näherte sich ihr jetzt zum erstenmal. Der Wagen fuhr einen Weg hinauf zwischen Gartenmauern hin, über welche Blütenbüsche niederhingen. Sie hörten die Vögel in den verborgenen Gärten singen und Zwitschern, und die Sonne lag voll auf den hellen Steinmauern. Da sagte Herr Balduin: »Nun kommt es bald, dort fangen schon die ersten Häuser an.« Darauf schaute die Frau mit klopfendem Herzen vor sich hin, und nicht lange, so hielt der Wagen vor einem Haus, das mit seiner Reihe grüner Fensterläden unter hohem Dache freundlich dreinschaute.

»Da sind wir, Alte«, bewillkommnete sie Herr Balduin mit einem Ausdruck, dem man anhörte, daß ihm die Sache schon wohl vertraut war, und half seinem bewegten Frauchen aus dem Wagen. Er hatte schon ein paar Tage lang hier gehaust, um, während die Frau in der alten Wohnung hantierte, die neue, so viel wie für ihn tunlich, instand zu setzen.

Die Frau nahm ihren Korb an den Arm und trippelte Herrn Balduin, der die Haustür öffnete, zaghaft durch den schmalen, mit roten Backsteinen gepflasterten Vorraum nach, dann in die Stube, deren Fenster zur Landstraße hinaus auf ein gegenüberliegendes Haus blickten. In der Stube standen die alten Möbel aus dem Ladenstübchen, dazu ein wunderschönes, neues Sofa und ein prächtig polierter Schrank. »Ach, du mein Gott!« flüsterte die Frau und ließ ihre Gefühle noch nicht so recht aufkommen, vielleicht in der Empfindung, als könne sie davon erwachen. Sie setzte ihren Korb auf die Diele, beschaute die schönen, weißen Vorhänge und schüttelte ganz versunken den Kopf. »Komm, Alte, erst wollen wir den Garten besehen«, sagte Herr Balduin.

Nun gingen sie wieder beide hintereinander her durch den Hausflur. Herr Balduin öffnete eine grün gestrichene Tür, und sie traten hinaus in die volle Pracht. Gleich vor dem Haus stand ein junger, kräftiger Apfelbaum, der so über und über blühte, daß es eine Freude war. Von der Tür aus führte ein schnurgerader Weg bis an das Ende des schmalen, etwas abfallenden Gartens, und dieser Weg hatte eine Einfassung von den schönsten, weißen Narzissen, deren dichte Blätterbüschel kräftig aus dem Erdreich aufgeschossen waren und die Blumensterne frisch umgaben. Blühende Bäume und überall hellstes Grün, noch unbepflanzte, gelockerte Beete, allerlei Keimendes, das sich eben erst aus dem Boden herauswagte, Buschwerk und Beerengesträuch, am Wege ein paar knospende Rosenstöcke, – alles das sah das Frauchen in ihrer nächsten Umgebung und empfand das frische Leben, das jedes Blatt und jede Handbreit Erde ausströmten. Sie bückte sich, um von einer schönen, schneeweißen Narzisse ein Schnecklein abzulesen, und indem sie das tat, wurde sie rot vor Beschämung, denn man könnte meinen, sie täte sich wichtig als Eigentümerin, und behutsam schaute sie auf, ob Herr Balduin auf sie achtete.

Aber der ging würdevoll und schweigsam vor ihr her und empfand es jedenfalls als unnötig, da zu reden, wo jedes Schöne sich selbst erklärte. Endlich drehte er sich um und sagte: »Alte, was meinst du?« Da reichte ihm die kleine Frau die Hand, die hellen Tränen standen ihr in den Augen, und ihr gutes, überschwenglich volles Herz ließ sie zu keinem Worte kommen. Das war ein Augenblick, den sie in ihrem Leben nicht vorgesehen hatte, und alles, was sich an diesem Tage weiter begab, erschien ihr wunderbar, wie eben erst geschaffen: die Abendsonne, deren rote Strahlen den lockenden Garten übergossen; ein Gesang, den sie auf der Straße hörte; die Leute, die ihr am Fenster vorübergingen. Und ihre Freude hatte sie, als sie aus den Kisten und Kasten das Bettzeug räumte und hin und wieder bei der Arbeit aufschaute und ihr Blick auf das gegenüberliegende Haus, das dem Herrn Rat gehörte, fiel. Der war für die Sommerzeit ihr Nachbar geworden, und Herr Balduin hatte ihr gesagt, daß jetzt schon die Jungfer Funzel mit den Kindern dort eingezogen sei, gerade als er mit seiner Sache so weit fertig geworden, um wieder zu gehen. Das war ihr ein angenehmer Gedanke, und sie beschäftigte sich mit der neuen Nachbarin. Am anderen Tage in der schönsten Stunde traten die Alten wieder aus ihrem Hause, sie hatten schon allerlei miteinander geräumt und gewirtschaftet und wollten in der schönen Frühzeit sich einmal draußen umsehen. Das Frauchen pflückte jetzt schon im Gehen von dem Überfluß ein paar der weißen Narzissen und einige purpurrote Aurikeln, auch einen Goldlackstengel, der am Grasrand blühte, einen Zweig helles Stachelbeerlaub und trug ihren Strauß vor sich her, so behutsam und glücklich wie ein junges Mädchen.

Am Ende des Gartens war in die Mauer ein Pförtchen eingelassen. Das öffnete Herr Balduin, und sie gingen über einen morgendlich feuchten Weg in das Buchenwäldchen, welches sich bis knapp an das Flußufer hinzog. Schlängelnde Pfade führten zwischen den schlanken Stämmen hin. Da wandelten die beiden Alten unter dem maifrischen Laub und dachten nicht an sich, sondern nur an das Schöne, das sie genießen durften, und nie mochte wohl auf einem Menschenpaar das Alter so wenig drückend aufgelegen haben wie auf den beiden Leuten an jenem schönen Morgen. Die Frau wenigstens vermochte sich nicht von der Jugend um sie her zu unterscheiden. Sie ging mit ihren Betrachtungen nicht wie die, die mit Anstrengung sich selbst überwinden mußten, um genießen zu können, von einem schmerzlichen Punkte aus, sondern genoß sanft und sich ganz hingebend, legte ihre Hand in die des Herrn Balduin und hatte in ihrem Alter das volle Glücksbewußtsein. Sie setzten sich nebeneinander auf eine Bank, die abseits vom Wege mitten im Grünen fast versteckt stand, die aber die Frau mit ihren Umschau haltenden Blicken gleich entdeckt und für ein wunderschönes Plätzchen erkannt hatte. Herr Balduin steckte sich in aller Zufriedenheit seine Pfeife an, und die Frau holte aus den Falten des grünen Wollkleides ihren Strickstrumpf hervor. Das Knäuel rollte ihr, während sie emsig Nadeln und Finger regte, mitten in blühendes Kraut zwischen Gras und Blätterwerk hinein, und als sie ihm nachschaute, erstaunte sie von neuem über den großen Reichtum um sich her. Die Zeit verging ihnen sachte und angenehm. Ein leiser Wind fuhr hin und wieder durch die obersten Wipfel. Aus Herrn Balduins Pfeife hoben sich Rauchwolken, kräuselten sich bläulich, zogen durch die stille, klare Luft und leuchteten hin und wieder in den schwankenden Sonnenlichtern, die das dichte Laub durchdrangen, hell und wunderlich auf.

Wie sie so nebeneinander saßen, hörten sie Schritte. Die Frau bog einen Zweig zurück, um aus ihrem grünen Versteck heraus auch sehen zu können, was ginge und käme. Es dauerte nicht lange, da sah sie auf dem Wege, der an ihnen vorüberführte, ein junges Mädchen kommen, in einem dunkelblauen Leinenkleid, einen Jungen an der Hand führend. Wie sie das Mädchen genauer betrachtete, welches mit dem Kinde ihr gegenüber etwas stehen blieb, weil das Bürschchen ihr in einem Gefühlsausbruch von Zärtlichkeit die tüchtigen Ärmchen um die Knie schlang, meinte sie, daß auf der Welt kein Geschöpf in dieses schöne Wäldchen so wohl hineinpassen möge als gerade diese junge Person. Sie hatte einen kleinen, festen Kopf und sonnige Augen, einen blonden, glänzenden Zopf knapp in einen Knoten festgesteckt, um die Stirn aber die lustigsten Flatterlöckchen, die man sich denken kann. Ihre Gestalt war nicht gerade schlank zu nennen, aber angenehm und beweglich.

»Sieh nur!« flüsterte die Frau Herrn Balduin zu und lehnte sich zurück, damit auch er den hübschen Anblick haben sollte.

»Das ist ja die Jungfer bei Rats«, sagte Balduin.

Indem er das bemerkte, machte sich der Junge von der Jungfer los und bog in den Pfad ein, der auf die Bank zuführte, um zu entwischen. Sie lief ihm nach, und im Augenblick darauf standen sie vor den beiden Alten. Herr Balduin erhob sich, griff nach seinem Käppchen, und die Jungfer schaute etwas betroffen auf, reichte ihm aber gleich die Hand hin. »Nun, wir kennen uns«, begann sie munter und reichte ihre Hand auch der Frau hin. »Ich wünsch' allen Segen zum Einzug.« Das sagte sie mit einem so liebevollen Tone, daß es der Frau war, als hätte sie vorher mitten in ihrer Freude gerade solch einen Willkommen vermißt.

»Hier ist noch ein Platz neben uns«, sagte die Alte und wies auf die Bank.

»Wir haben Eile«, erwiderte die Jungfer, »wir müssen noch hinunter und Milch bestellen. Aber ich dachte, daß die Nachbarn hier herum zu treffen sein würden, und wollte doch meinen Gruß anbringen. Die Frau Häberlein habe ich schon vom Fenster aus heute wirtschaften sehen. Wenn man mit etwas behilflich sein kann, ich tu's gern«, fügte sie hinzu und nahm die Hand des verdutzt um sich schauenden Jungen, um zu gehen.

»Wir begleiten Euch ein Stückchen«, sagte Frau Anna, und sie machten sich miteinander auf den Weg. Unterwegs erzählte ihnen Funzel, daß sie vorerst mit den drei Kleinsten hier allein wohne, um alles herzurichten. Sie hatten einen schweren Winter hinter sich. Die Kinder wären alle an den Masern krank gelegen und sollten sich nun hier vollends erholen. Die Frau Rat würde in ein paar Tagen wohl nachkommen, aber der Herr mit den beiden Ältesten erst in den Pfingsttagen. Dann sprachen die beiden Alten ihre Dankbarkeit gegen sie aus, da sie es ja sei, die ihnen zu ihrem Glücke so recht eigentlich verholfen habe.

»Ja, nicht wahr«, sagte die Funzel darauf, »es ist schön hier, und das ist erst das Rechte, wenn man sich so im Freien fühlt. Mir wird es auf die letzten Wochen, die wir in der Stadt bleiben müssen, immer ganz beklommen zumute. Mein Lebtag könnte ich es dort gar nicht aushalten, keinen Mund voll frischer Luft bekommt man«, fuhr sie lachend fort und schwenkte das Bürschchen, das ihr jetzt ganz bedächtig an der Hand ging, etwas hin und her, gab ihm einen kleinen Stoß, daß es mitten in das schönste Gras wie ein Käfer auf den Rücken fiel und um sich her strampelte. Dann zog sie es wieder in die Höhe und sagte: »Das ist ein großer Schelm, man glaubt es gar nicht. Die anderen beiden sind bei der Magd, aber diesen muß man immer selbst in Obacht haben. – Aber der beste ist er von allen«, wandte sie sich leise an Frau Häberlein, »dem kommt kein unwahres Wort über die Lippen; und gut ist er! – Nicht wahr, Schlingel?« sagte sie.

»Funzel, das war eine Amsel, dort ist sie hinein!« rief der Junge und zeigte auf dichtes Buschwerk.

»War sie schwarz?« fragte Funzel, »hatte sie einen roten Schnabel und gelbe Beine?«

»Ja«, sagte er im höchsten Eifer.

»Dann war's eine«, meinte die Jungfer.

»Nun?« fragte er, als sollte noch etwas kommen.

»Nun?« sagte Funzel, »das andere weißt du ja. Sie hat in dem Busch ein Nest und freut sich, daß sie so schnell entwischen kann.«

So plauderte sie in aller Munterkeit, daß es Frau Häberlein leid tat, als sie wieder voneinander Abschied nahmen. Aber beide luden die Jungfer ein, doch mit den Kindern zu ihnen zu kommen, und gingen durch ihren schönen Garten wieder in das Haus zurück.


Man darf auf Erden nicht vom Glück reden, da es leicht durch ein Aussprechen verscheucht werden kann. Deshalb mag ich nicht sagen, daß die beiden Alten glücklich waren; und dennoch getraute ich es mir fast. Die Frau wenigstens möchte ich so nennen, da sie ihr Lebtag in Sehnsucht nach halb Geahntem, Ungekanntem hingebracht und alles sich ihr jetzt im Alter noch in Staunen und Dankbarkeit gelöst hatte; und was wünscht man mehr?

Herr Balduin mochte nicht viel nach Glück gestrebt haben; ihm war mit Befriedigung gedient, und die kannte er wie irgendeiner. Wäre ein Überfluß von Glück über ihn hereingebrochen, würde auch nur Befriedigung und weiter nichts in dem Händler erweckt worden sein. Von dem Jubel aber, der in seiner kleinen Frau lebte, ahnte er nichts, so wenig er sie in ihrem Verlangen nach dem, was nun gekommen war, je verstanden. Und dennoch hatte sie ihm die Erfüllung ihrer kleinen, leidenschaftlich entstandenen Wünsche zu verdanken bis auf dies letzte schön Erreichte.

Die ersten Wochen waren dem Paare in seiner neuen Heimat rasch vergangen. Die Obstbäume im Garten setzten prächtige Früchte an. Die Beete waren alle bepflanzt worden und standen im besten Gedeihen. Auch die Freundschaft mit der Jungfer Funzel und das gegenseitige Gefallen aneinander blühten allerschönstens. Unsere gute, kleine Frau stand eines Tages vor der Türe ihres hübschen Hauses und blickte die Straße entlang, da sah sie einen Wagen an der Ecke halten, einen offenen Korbwagen, wie ihn die Metzger haben, wenn sie über Land fahren, und daraus kletterten ein paar dürre, sparrige Gestalten. Frau Häberlein beobachtete dies neugierig und aufmerksam. Sie sah, wie die Gestalten mit einem verzweifelten Sprung von dem hohen Trittbrett hinabstolperten, zuerst ein langer, hagerer Gesell, der mit den Armen greulich in der Luft hantierte, als er der zweiten Gestalt, einer langen Frauensperson, beim Aussteigen behilflich sein wollte.

Als sich beide dem Hause näherten, erkannte Frau Häberlein in ihnen Salome Thorspeck und Leander, deren Jüngsten. Herr du mein Gott, was wollen die! dachte Frau Häberlein, und je näher ihre beiden alten Hausgeister ihr kamen, um so beklommener wurde es ihr zumute, und sie blieb befangen stehen, wo sie stand, bis zur Begrüßung.

Frau Salome Thorspeck überschüttete ihre Freundin mit einem Wortschwall, und der alten Häberlein war es, als umgehe sie wieder die dumpfe, unerfreuliche Atmosphäre ihres vergangenen Lebens, als lege sich ihr etwas schwer auf die Brust. Salome und der Jüngste wurden von ihrer Wirtin in das Haus geführt. – In der stattlichen Stube nahmen alle drei Platz, und Salome erzählte, daß Leander eine Schreiberstelle in Rudolstadt angenommen habe, und daß sie eben beide dahin auf dem Wege seien. – »Leander«, wie sich Salome ausdrückte, »behufs längeren Aufenthalts.« Sie selbst hingegen hatte die Fahrt unternommen zur Auffrischung heruntergekommener Kräfte – »vermittelst deren«, wie sie zierlich fortfuhr, »sie in harter Arbeit und Treppensteigen behindert würde.«

Frau Häberlein beklagte das: aber nicht herzlich, wie es sonst wohl ihre Art gewesen, sondern zerstreut und kühl: ihre Augen waren mißtrauisch bei allen Berichten Salomes, fast ununterbrochen auf den früheren Lehrling und Hausgenossen gerichtet. Dieser trug noch dasselbe widerwärtige, gleichgültige Wesen wie ehedem Zur Schau, das Wesen, das der Delikateßhändlerin jedem Ding, auf das er seine Blicke richtete, allen Wert nahm. Er hatte den wunderlichsten Einfluß auf sie ausgeübt, einen schrecklichen und geheimnisvollen Einfluß, dem sie sich nicht hatte entziehen können. Die sonderbarsten Beispiele, wie alles sich unter den Augen des Hausgenossen widerlich verwandelte, waren ihr wohl im Gedächtnis geblieben.

Da hatten sie einst einen wundervollen, frischen Lachs bekommen, ein wahres Ungeheuer von Pracht, der lag auf Eis in seiner ganzen Schönheit und war frisch wie eine Schneeflocke und untadelhaft.

Frau Häberlein bemerkte, wie der Lehrling an dem schönen, würdigen Tier auf eine verächtliche Manier roch und es wie nichts Gutes umdrehte und auch die andere Seite beroch, gedankenlos und gelangweilt.

Von dem Augenblick an halte sich der Lachs verändert, Frau Häberlein war es so gewesen, als hätte er sich verändert und wäre aus einem wertvollen, herzerfreuenden Fisch zu einem toten, der Verwesung anheimgefallenen Vieh, zu einer Abscheulichkeit, zu einem Kadaver geworden, so daß es der Händlerin angst und bange geworden war, was mit ihm geschehen sollte. – Leander brauchte, wie gesagt, anzuschauen was er wollte, so war es ihr verleidet. – Wenn er schnüffelte, was seine Angewohnheit war, meinte sie, die Luft wäre erstickend und schlecht, und begriff nicht, wie man es darin aushalten könnte. Blickte der Lehrling Herrn Balduin auf seine unverschämte Weise an, ging es ihr wie ein Stich durch das Herz, und sie hätte dem Miserabelen eins überziehen können – denn auf Herrn Balduin ließ sie von keiner Menschenseele etwas kommen.

Jetzt, nachdem der schlimme Hausgeist mit seiner Mutter in die neue, schöne Heimat eingedrungen war, beobachtete Frau Häberlein den Widerwärtigen befangen und bemerkte, daß er genau so an dem Kaffee und frischen Brot und Kuchen, den sie den Gästen vorsetzte, herumschnüffelte wie damals im Ladenstübchen, das er ihr ganz mißliebig gemacht hatte. –

Er sah sich in der freundlichen Stube um, als wollte er sagen: Das ist auch weiter nichts. – Frau Häberlein führte Mutter und Sohn in den Garten, und auch dort wich dieser Ausdruck nicht aus den Zügen von Salomes Jüngstem. – Nur als Herr Balduin zu ihnen trat, gewahrte sein Weib, daß der schreckliche Lehrling dachte: Ihr seid schön alt, ihr Narren, es ist nicht mehr der Mühe wert, daß ihr euch noch hier in dem Garten festgesetzt und es euch bequem gemacht habt; wie lange wird's dauern, dann hat der Spaß ein Ende. Der Delikateßhändlerin war es, als zöge ein dunkler, kalter Schatten über die schöne Gegend, die hoffnungsreichen Obstbäume, die blühenden Rosen, die Bienenstöcke und Spargelbeete. – Sie seufzte tief auf – und die Stunden, in denen Salome und der Sohn sich bei dem Ehepaare aufhielten, vergingen träge, wie noch nie Stunden in der neuen Heimat vergangen waren.

Erst als es an das Abschiednehmen ging, atmete die Frau auf, wünschte Salome und Leander alles Gute, forderte sie aber mit keinem Worte auf, wiederzukehren. – Als ihre Gäste die Straße entlang gingen und das Paar ihnen vom Fenster aus nachblickte, fiel die kleine Frau Herrn Balduin um den Hals und sagte: »Gott Lob, daß sie fort sind, die lassen wir nicht wieder herein, du.«

»Siehst du, ich habe es dir immer gesagt, du sollst dich mit der Gesellschaft nicht abgeben, es ist etwas Unausstehliches an ihnen; wer aber nicht hörte, warst du.«

»Ja, ja, ja«, sagte das gute Weib. »Ich habe es auch gebüßt.«

»Gott behüte einen jeden«, sagte Herr Balduin, »vor solchen, die am Leben herumnörgeln, die einem die Dinge verekeln, die großpatzig und unzufrieden dreinschauen. Gott behüte einen vor solchen –«

Sie gingen in den Garten hinaus, und es währte nicht lange, da war die volle Freude wieder eingezogen. – »Und soll eins von uns heute davon«, sagte die Delikateßhändlerin weich, »so hatten wir uns doch – und unser Garten gehörte uns auch – und das Haus und jeder schöne Tag – und jede Stunde. – Sollen ihrer nicht mehr viele sein – wie Gott es will!«

Diesen Abend kam Funzel, als die Kinder zu Bett gebracht waren und Herr Balduin im »Goldenen Engel« unter den Honoratioren saß, herüber zu Frau Häberlein gelaufen und verschwatzte ein Stündchen mit ihr. Da gingen sie miteinander hinaus vor die Tür; im Garten unter den Apfelbaum setzten sie sich und strickten. Funzel hatte eine allerliebste Stimme und sang der Alten vor, was sie nur immer wußte.

Rings im weiten Umkreis hörte man die Heimchen um diese Stunde zirpen; und wenn sie ganz still beieinander saßen, glaubten sie den Fluß rauschen zu hören. Da erzählte ihr einst das Frauchen von dem wunderschönen Lied, das sie im Winter aus dem Buche von Salomes Sohn gelesen, und wie alles zugegangen sei, daß sie es gerade an dem Abend gelesen, an dem sie das erste von dem Verkauf des Gewölbes gehört, und daß alles, was sie empfunden, nun in Wahrheit eingetroffen sei. »Das ist hübsch«, sagte Funzel darauf: »ich meine auch, man sollte an solche Dinge glauben; wenn sich gar so etwas Bestimmtes in einem regt und man kann nicht darauf kommen, weshalb, so ist es sicher für Zukünftiges. Ach, du mein Gott«, sagte sie munter, »ich wollte, mir träumte es auch einmal so. Aber das wird bei mir wohl ausbleiben. Nun, es ist gut«, setzte sie nach einer Weile eigentümlich ernst hinzu, »es geht auch anders. So viel Glück gibt es nun einmal nicht, als daß alle etwas davon abbekommen könnten.«

»Was meint Ihr denn, Funzel?« fragte die Alte. »Euch kann doch nichts fehlen. Euch doch zu allerletzt.«

»Ja«, sagte Funzel und lachte, »mir glaubt es niemand, wenn es mir auch übel geht. Deshalb laß ich es ruhig bleiben mit dem Gesichterziehen; was ich durchzumachen habe, mache ich durch, und wenn ich lache, wo ich vielleicht auch weinen könnte, da ist weiter kein Verdienst dabei. Der eine hält es so, der andere so.«

»Ja, Funzel, was fällt Euch denn ein?« rief das Frauchen erstaunt und schaute sie an. Funzel fuhr sich über die Augen, als wollte sie die Tränen verbergen, und sagte in einem bewegten Tone, der aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt zu sein schien, halb verlegen und wehmütig und dennoch munter und lebendig, nachdem sie wieder klar um sich blickte: »Hier am Orte habe ich meinen Schatz, Euch will ich es sagen, den jungen Hilfslehrer Severin. Wißt Ihr, Herr Häberlein sprach gestern, daß er ihn kennengelernt hätte.«

»Ja, du mein Gott!« rief die kleine Frau in freudigem Erstaunen.

Da lachte Funzel, nahm ihre Arbeit, die sie hatte ruhen lassen, wieder zur Hand und sagte: »Ja, der Severin ist mein Schatz, und keinen Augenblick bereu' ich's, denn er ist ein guter Mensch.«

»Das glaub' ich«, sagte Frau Häberlein lächelnd, »aber ich meine, das wäre das wenigste, was man von seinem Liebsten sagen kann.«

»Ja, wenn alles glatt und gut geht«, erwiderte Funzel, »dann wohl; wir aber haben viel miteinander durchzumachen, Severin ist ein unruhiger Kopf, mir ist das Herz oft schwer. Er ist schon seit Jahren hier Hilfslehrer und kommt zu nichts Rechtem, so daß wir gar nicht absehen können, wie lange uns der Brautstand noch dauern wird. Das mag wohl auch auf ihn drücken. Und nun kommt dazu, daß er bei seinen Vorgesetzten nicht so recht in Gunst steht, wie wir es beide wohl möchten. Nun, das würde sich geben, denn er ist tüchtig, und sie könnten mit der Zeit schon ein Einsehen haben. Aber seit einem Jahre hat er sich etwas in den Kopf gesetzt, wovor mir angst und bange wird, und ich weiß auf der Welt nicht mehr, wie ich es ihm ausreden soll.«

»Nun?« fragte Frau Häberlein und blickte teilnahmsvoll auf das Mädchen.

»Er will nach Amerika«, sagte Funzel kurz und so, wie es jemand tut, der über das, was er ausspricht, eine vollkommen absprechende Meinung hegt, »und will mich überreden, gleich mitzugehen«, fuhr sie fort, »damit wir dort als Mann und Frau unser Glück versuchen könnten. Das spielt seit einem Jahre, so daß ich nichts zu tun habe, als abzureden und zu verweigern. Mein bißchen Erspartes ginge fast allein auf die Reise auf, und dann säßen wir dort, wer weiß in welchem Elend; denn ob sich für ihn so ohne weiteres etwas fände, das ist nicht ausgemacht. Er ist nicht der Mann, sich vorzudrängen, und seine Gesundheit hält auch nicht allzuviel aus. Sehen Sie, die Unruhe, zu etwas zu kommen, ist es, die ihn zu solchem Entschluß verleitet, und der arme Kerl plagt sich damit. Wenn ich so bedenke, ich habe vom fünfzehnten Jahre an gedient und mir es sauer werden lassen, habe zurückgelegt, wo ich nur immer konnte, und gemeint, daß ich es meinem Mann einmal zubringen würde, und habe mir oft ausgemalt, wie hübsch es sein müßte, ein eigenes Heim zu haben. Wenn man immer im Dienst gestanden hat, da macht einem der Gedanke doppelte Freude«, setzte sie hinzu, »das glaubt nur. Und nun fällt es ihm ein, daß wir uns so mir nichts dir nichts fortstehlen sollen, hinaus in die Fremde, als wäre kein Platz für uns im Lande. Ich habe keine Verwandten mehr, aber ich bringe es nicht über das Herz, aus der Heimat zu gehen, wenigstens nicht, solange ich nicht deutlich vor mir liegen sehe, daß es sein Glück ist. Und es ist nicht sein Glück. – Wenn Ihr wüßtet, wie es mir manchmal zumute ist«, fuhr sie fort, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. »Und ich erlebe es, daß wir noch auseinander kommen!« Damit stützte sie sich mit der Stirn auf den grünen Gartentisch, vor dem sie saßen.

Die Frau legte ihr die Hand auf die Schulter und wußte nicht recht etwas zu sagen.

»Ich warte ja ruhig und mit gutem Mut, bis es ihm besser gelingt«, fuhr Funzel fort und hob wieder gefaßt den Kopf, »und es wird ihm hier gelingen, wenn er in Ruhe vorwärts geht und nicht alle Welt von seinen absonderlichen Plänen hört, denn dergleichen schwätzt sich herum, man weiß nicht wie, und schadet mehr, als man sich vorstellt. – Wenn ich so an die große Welt, die um einen her liegt, denke«, sagte sie nach einer Weile, »und an die vielen Geschöpfe, ich meine, da müßte man im allertiefsten Herzen demütig werden. So unendlich viele haben nicht Aussicht auf Glück gehabt und mußten es sich gefallen lassen, ihr Leben in Freudlosigkeit hinzubringen. Ich weiß nicht, ich habe nie den Mut gehabt, so recht ausbündig nach Glück für mich zu verlangen; da kommt mir immer der Gedanke: Du lieber Gott, weshalb soll denn gerade für dich etwas so allerbestes zurecht gelegt sein, und gar danach zu jagen, wie mein Schatz es tut, das kommt mir wie ein rechtes Unrecht vor, und ich möchte ihn zurückhalten.«

So sprach die bescheidene Seele, und indem sie es tat, schaute sie wieder klar in ihrer hellen Lieblichkeit vor sich hin.

»Armes Kind«, sagte das Frauchen voller Güte, und strich ihr sanft über die Wangen, »daß du solche Not hast, das sollte man nicht denken.«

»Mich hat der liebe Gott auch nicht zum Klagen geschaffen«, fuhr Funzel lebendig fort. »Zehnmal am Tage freue ich mich meines Lebens, auch wenn es mir nicht so geht, wie ich wohl möchte. Ich nehme Gutes und Böses in Kauf, wie es jeder hier tun muß, und bin nicht furchtsam. Sollte aber etwas zwischen mich und meinen Schatz kommen, das würde mir nahe gehen. Ich habe ein festes Leben und bin hart gewöhnt. Ich müßte bei meiner Arbeit bleiben und alles hübsch lebhaft und gutes Mutes weiter schaffen, denn wollte ich mürrisch und trübselig werden, da stände es schlecht um mein Fortkommen.« Dann setzte sie mit von Tränen erstickter Stimme hinzu: »An Krankwerden oder gar an Sterben wäre bei mir nicht zu denken, wenn mich mein Schatz verließe. Ich habe ihn jetzt schon seit ein paar Tagen nicht zu sehen bekommen und weiß gar nicht, was das bedeuten soll.«

»Beruhigt Euch, Funzelchen«, sagte die Frau, »bis dahin soll es nicht kommen. Verlaßt Euch nur auf uns, das geben wir nie zu. Mein Mann hat ja den Herrn Severin kennengelernt, und mir schien, als hätten sie Gefallen aneinander gefunden.«

»Meint Ihr?« sagte Funzel.

Und beide blieben in Gedanken versunken sitzen, sahen den Mond hinter dem Wäldchen auftauchen und saßen länger als gewöhnlich zusammen, trotzdem sie kaum ein paar Worte noch miteinander wechselten. Frau Häberlein griff in ihrer Herzensbewegung nach Funzels Hand und hielt sie fest in der ihrigen, als wollte sie damit sagen: Warte nur, ich habe dich in meinen Schutz genommen, wir wollen es schon gut miteinander machen.

Als das Mädchen sich von ihr verabschiedet hatte, ging die Frau in das Haus, zündete ihr Lämpchen an und wartete auf Herrn Balduin. Sie war durch das Vertrauen, das ihr die junge, schöne Person erwiesen, beglückt und hatte das Gefühl, als brächte das Leben ihr immer mehr und immer besseres zu, als würde jede Sehnsucht in ihr gelöst und jeder Wunsch erfüllt. Im Herzen empfand sie solch eine schöne Liebe zu dem Mädchen, wie sie sich die Liebe zu einer Tochter nur je geträumt hatte. Und sie meinte, nun liege es ihr ob, für das Kind zu sorgen und alles dafür einzusetzen, hier Glück zu schaffen. Es war ihr fast recht, daß es der Funzel nicht zum besten ginge, und daß sie etwas zu helfen und zu bedenken bekommen hatte. So saß sie, und die Zeit verging ihr unmerklich.

Als Herr Balduin zurückkam, fragte er beim Eintreten: »Ist Funzel bei dir gewesen?«

»Jawohl«, erwiderte die Frau, »die war hier.« Und es dauerte nicht lange, da wußte Herr Häberlein, daß der Liebling mit dem Hilfslehrer Severin versprochen sei, und wußte alle Leiden und Nöte des jungen Pärchens, die ihm die kleine Frau lebhaft zur Anschauung brachte. Mit allergrößter Teilnahme ließ sich Frau Häberlein darauf erzählen, daß Severin ihren Mann bis an die Haustür begleitet habe.

»Das ist ein netter Kerl«, sagte Balduin, »mir gefällt er recht gut. Wäre damals statt des langen Schlappses so einer wie Paul Severin bei uns in das Geschäft eingetreten, das hätte ich mir gefallen lassen. Und für Severin wäre es auch besser gewesen, als daß er hier sitzt, an seiner Hilfslehrerstelle nagt und davon nicht satt und froh wird. Ich habe ihn gebeten, er soll einmal bei uns vorsprechen. Ja, Alte, mag man sagen, was man will«, fügte Herr Balduin wehmütig hinzu, »ein frisches, gesundes Geschäft hält Leib und Seele zusammen. So schön es hier auch sein mag, und so wenig ich es mir anders wünschen möchte, mir ist es manchmal gar nicht, wie es mir sein sollte, da fehlt es mir an allen Ecken. Es ist eben schwierig, ehe man von der lieben Gewohnheit loskommt.«

Die Frau schaute ihren Mann besorgt an. »Balduin«, erwiderte sie, »davon hast du ja nie etwas gesagt.«

»Ja, es ist einem selbst nicht recht klar, bis man sich einmal ausgesprochen hat«, fuhr Herr Balduin fort. »Als ich vorhin mit dem jungen Severin nach Hause zu ging, machte es sich so im Gespräch. Es wird sich auch wohl geben. – Du fühlst nichts dergleichen?« wandte er sich an die Frau. »Wenn du aufstehst, ist es dir nicht, als wüßtest du nichts zu tun und zu schaffen und könntest gerade so gut liegen bleiben?«

»Daß ich nicht wüßte«, erwiderte das Frauchen bedenklich, »eher im Gegenteil; ich kann es kaum erwarten, bis es so weit ist, daß der Tag wieder neu beginnt. Mir ist die kleine Wirtschaft jetzt auch gerade recht.«

»Ja, ja«, unterbrach sie Herr Balduin, »du warst von jeher leichtsinniger, als es gut sein mochte, und hattest deinen Sinn auf allerlei Allotria gerichtet. Ich habe dir das genug gesagt, nun stellt es sich wieder heraus. In so einem Frauenzimmer steckt kein Lot Anhänglichkeit!«

»Was fällt dir ein?« sagte das Frauchen, das seinem Manne erstaunt zugehört hatte. »Verlange nicht etwa, daß ich mich darüber erboßen soll; so eine alte Frau ist dankbar, wenn es ihr gut geht und wenn sie in ihrem Alter Grund hat, glücklich zu sein. – Ich dächte, du besännest dich beizeiten«, fuhr sie fort, »du hast den Garten vor der Tür, wo es jetzt mehr zu tun gibt, als dir lieb ist, und beklagst dich, daß nichts zu schaffen wäre.«

»Weißt du auch«, sagte der Alte nach einer Weile, »daß heute unser Gewölbe daran muß? Der Apotheker war in der Stadt und erzählte, daß sie angefangen haben.«

»Du mein Gott!« erwiderte die Frau, sah vor sich hin, stand dann auf und machte sich etwas in der Stube zu tun.

»Ja, ja«, seufzte Herr Balduin und ging langsam und bedrückt in die Schlafkammer.

Der andere Tag war sonnig und heiter, und in dem Herzen der Delikateßhändlerin wollte die Wehmut nicht recht eindringen, als sie sich vergegenwärtigte, daß jeder Augenblick ihr altes Haus in der Stadt seinem Ende näher brächte. daß jetzt aus den leeren, ihr wohlbekannten Fensterhöhlen der Staub wirbelte; daß Balken stürzten und alles in Auflösung begriffen sei. Aber jeder Blick, den sie auf ihren schönen Garten tat, ließ sie die beängstigenden Bilder vergessen, und Funzel Quittenbaums Geschichte und die mütterliche Liebe zu dem Mädchen beschäftigten sie mehr, als irgend etwas Vergangenes es jetzt hätte tun können.

Das Altchen war so ganz in ihr Element geraten, daß sie kaum um sich blickte, sondern immer voller Behagen und in aller Annehmlichkeit weiter wandelte; meinte, aller Welt müsse es wohl zumute sein wie ihr, so daß Herr Balduin, der schon in den ersten Jahren ihrer Ehe bei der Frau den Hang nach Wohlleben gewittert haben wollte, fast recht behielt. Er hatte sich nie ganz sicher gefühlt und das Frauchen oft damit gekränkt, daß er sein Mißtrauen für sie zur Anschuldigung machte; jetzt schienen seine bösen Ahnungen wahr werden zu wollen. Durch ein allzu langes Bereden der von ihm gefürchteten, gefährlichen Eigenschaft seines Weibes hatte er sie endlich, wie es schien, heraufbeschworen. Denn so besorglich und pflichttreu die Delikateßhändlerin den Mann ihr Lebtag gepflegt und trotz aller Geschäftigkeit immer Zeit gefunden hatte, getreulich auf sein Aussehen und seine Mienen zu achten, so sehr fühlte er sich jetzt von ihr vernachlässigt. Tag für Tag lebte sie in ihrem Leichtsinn und in Zufriedenheit hin, war so von erfreulichen Angelegenheiten erfüllt, daß sie nicht im geringsten darauf achtete, daß Herr Häberlein schon seit einiger Zeit durchaus nicht bester Laune zu sein schien.

An einem schönen Tage vor Sonnenuntergang gingen sie miteinander durch den Garten. Die Rosen standen in allervollster Blütenpracht, und für den Abend hatten sie die beiden, Funzel und den jungen Severin, mit dem Herr Balduin große Freundschaft geschlossen, eingeladen.

Die Frau blieb, als sie neben ihrem schweigsamen und etwas verdrießlich dreinschauenden Gatten unermüdlich auf und nieder gegangen war, vor einem Rosenstocke stehen, bog einen Zweig herab und sog den Duft andachtsvoll in sich ein.

Herr Balduin betrachtete sie eine Weile, wie sie, um ihn unbekümmert, wie ein Bienchen an der Rose sog; endlich sagte er ärgerlich: »Das ist recht, laß dir einen Käfer in die Nase kriechen, überhaupt ist das eine ganz verfluchte Einbildung, hinter die man kommt, wenn man die Sache einigermaßen mit Verstand betrachtet, daß eine Rose so besonders riechen soll. Ich sage dir, ein Käse, ein rechter echter und reifer, riecht mir angenehmer, kräftiger und besser. Es hat auch eine solidere Bewandtnis damit; denn eine Rose ist im Grunde doch ein sinnloses Ding.«

Frau Häberlein schaute erstaunt und erschreckt zu Herrn Balduin auf und fand, daß dieser eine griesgrämige und wenig muntere Miene zu seinen sonderbaren Redensarten aufgesetzt hatte.

»Was soll das heißen, Balduin?« fragte sie.

»Ja, was es heißen soll?« murmelte der Alte vor sich hin, legte die Hände mit einer schnellen Bewegung auf dem Rücken zusammen und marschierte dem Hause zu.

Frau Häberlein ging ihm kopfschüttelnd nach. Ihr war auch heute das Herz nicht leicht, denn nächster Tage stand ihr die Trennung von Funzel Quittenbaum bevor. Die Frau Rat mit den Kindern zog wieder in die Stadt, und sie kamen erst im September noch auf ein paar Wochen vor Wintersanfang in das Landhaus zurück.

Heute war vielleicht schon der letzte Abend, an dem sie das gute Mädchen längere Zeit bei sich haben durfte, und zugleich der erste, an welchem sie das junge Pärchen zusammen sehen würde. So besorgte sie bewegten Herzens die Zurüstung zum Abendessen und vergaß in ihrer Geschäftigkeit die wunderliche Äußerung und Übellaunigkeit des Herrn Balduin, der in der Dämmerung, weil er nichts Besseres zu tun wußte, die Straße hinabgeschlendert war. Funzel kam, so früh sie sich hatte losmachen können, schon vor ihrem Verlobten und suchte Frau Häberlein in der Küche auf; sie trug ein hell leinenes Kleid und hatte sich frisch und zierlich herausgeputzt, sah aber nicht so munter wie gewöhnlich drein.

»Nun, Funzel?« fragte Frau Häberlein und schaute sich das Mädchen an. Für Funzels Seelenstimmung hatte sie einen feinen Blick. »Nun, dir ist es heute nicht besonders wohl zumute.«

»Ja, wenn der Abschied nicht wäre«, sagte Funzel und drehte in leichter Befangenheit am Küchenschrankschlüssel; »und Severin ist auch nicht bester Laune. Wenn es nun in ein paar Tagen fortgeht und ich wieder in der Stadt sitze, dann kommen erst die dummen Gedanken. Ich gehe diesmal mit schwerem Herzen, und wenn die Kinder nicht wären, ich hielt's nicht aus; Ihr wißt es ja, daß es bei meinen Leuten nicht gerade heiter zugeht. Der Rat und die Frau machen sich das Leben schwer genug. Manchmal ist mir's, als hätten die ihren Verstand nur deshalb bekommen, damit sie ja auch alles Böse im Leben aufspüren können, und das Gute und Fröhliche werfen sie, so ist es mir oft, wenn ich es mit ansehe, wie Scherben beiseite. Manchmal«, sagte sie aufseufzend, »vergeht eine Woche, ohne daß man auch nur ein frohes Gesicht zu sehen bekommt. Und die großen Buben treiben es auch schon so, zerren sich den lieben, langen Tag mit ihrem Schulwerk mürrisch herum, haben an ihrer Arbeit keine Freude und ziehen widerwärtige Gesichter, wenn es etwas setzt. So geht es Tag für Tag, und da will es schon etwas heißen, munter zu bleiben.«

»Ja, ja«, seufzte das Frauchen, »und ich weiß auch nicht, wie ich mich ohne Euch behelfen soll. Jetzt ist mir's erst, als ob ich Einsamkeit kennenlernen müßte.«

Da ging die Haustür, und Herr Balduin trat mit dem jungen Severin, dem er entgegen gegangen war, ein.

»Da kommen sie«, sagte Frau Häberlein, »wir wollen sie vorausgehen lassen.« Sie band ihre Schürze ab, wischte noch geschäftig über ein paar Teller und ging dann mit Funzel den beiden in den Garten nach. Wie diese die Schritte der Frauen hinter sich hörten, wandten sie sich um, und Funzel sagte, als sie ihren Verlobten auf sich zukommen sah, mit leuchtenden Augen zu dem Frauchen: »Ist er nicht ein lieber Mensch?«

Severin hatte ein gutes und solides Ansehen, gehörte entschieden zu der Sorte Leute wie Herr Balduin und hatte eine behende Gestalt, die in ihrer mäßigen Hagerkeit den künftigen Einflüssen des Alters, ohne viel Veränderung zu erleiden, standhalten konnte. Er hatte muntere Augen und dichtes, dunkles Haar. Sein Benehmen war durchaus würdig, und er schien mit dem Schritt sich seiner Verpflichtungen gegen den alten Gönner bewußt zu sein, als er seiner Braut entgegenging.

»Wart du!« sagte Funzel, lief auf ihn zu und warf ihm eine Hand voll Rosenblätter, die sie im Vorüberstreifen von einer verblühten Rose gepflückt hatte, ins Gesicht. Er schüttelte erst unwillig den Kopf, nahm aber dann ihren Arm in den seinigen und ließ sie huldvollst neben sich herwandeln.

Darauf schaute Funzel nach den beiden Alten, die miteinander hinter ihnen hergingen, und sagte: »Man sollte gar nicht meinen, daß er zu Zeiten so abenteuerliche Gedanken im Kopfe hat, wenn man ihn so hübsch ehrbar gehen sieht, und daß er solche Not machen kann. Nicht wahr?« lachte sie und schaute schelmisch zu ihrem Schatz auf.

»So laß das doch!« flüsterte er ihr zu. »Was willst du jetzt?«

Sie achtete aber nicht auf seine Einwendung, immer nach rückwärts gewendet fuhr sie fort: »Habt Ihr ihm den Kopf ein wenig zurecht gesetzt, Herr Häberlein? Ich wollte nur bitten, daß ich ihn Euch in Erziehung geben dürfte, wenn ich nun gehen muß.«

Herr Häberlein lachte über das ganze Gesicht, denn er hatte an der hübschen Funzel Quittenbaum seine Freude.

»Ist schon besorgt, Jungfer Funzelchen. Ganz umsonst sitzen zwei so mäßige, vorzügliche Leute, wie wir sind, nicht miteinander den Abend im ›Goldenen Engel‹;. Schon deshalb nicht, weil es immerhin einen guten Eindruck macht, wenn ein munterer, junger Mensch es mit einem alten Manne hält. – Ja, und er versteht mich, fragt ihn nur«, fuhr Herr Balduin fort, »ich sage besser wie meine gute Alte.«

Da blieben sich die vier gegenüber stehen. Severin lächelte, und die kleine Frau schaute verdutzt und betroffen zu ihrem Gatten auf.

»Ja, er versteht«, fuhr Balduin fort, »daß es einem alten Manne schwer wird, von seiner gewohnten Hantierung zu lassen, und daß alle Schönheit und alles Allerliebste, und was so den Leuten behagt, ihm seine gute Tätigkeit nicht ersetzen kann. Mit dem Frauensvolk, da ist das anders, – die sind mit ihrem Leichtsinn zu jeder Zeit auf das Wohlleben aus, und mag es kommen, wann es will, früh oder spät, sie lassen sich davon den Kopf verdrehen. Da ist nichts dabei zu machen. Vor den Augen wird einem die eigene Alte fremd und hört und sieht nicht mehr, wenn ihr das geschieht, wonach sie verlangt hat. Nun, nichts für ungut«, sagte Herr Balduin wohlwollend, als das Frauchen rat- und hilflos um sich her sah und nicht recht wußte, worauf hinaus das, was sie gehört hatte, zu gehen schien. Er faßte ihre Hand und schüttelte sie. »Seht, Herr Severin, die Frauensleute muß man nehmen, wie sie sind.«

»Ja, ja«, seufzte Funzel, »das ist schon recht, wenn man die Männer nur auch so nehmen könnte; aber da hat man seine liebe Not!«

»Der Tausend, Severin«, rief der Alte und wies auf Funzel, »Ihr habt eine Böse erwischt! Gott behüte Euch vor dem Schwatzwerk!«

»Das nimmt man mit in den Kauf«, erwiderte Severin und schaute das Mädchen zärtlich an.

Balduin aber klopfte Funzel auf die Schulter und sagte: »Du Prachtmädel du!«

Frau Häberlein pflückte noch einen schönen Blumenstrauß still zusammen, um ihn auf den gedeckten Tisch zu stellen. Und als sie miteinander bei dem Abendessen saßen, da wurde Herr Balduin immer munterer und aufgeräumter, wie sein Frauchen sich seiner kaum erinnern konnte. Severin und er sprachen von dem schlechten Zustande, in dem sich die Geschäfte im ganzen Ortsumkreise befänden, und in Jena selbst keine wahrhaft vernünftige Handlung, in der die Leute ihren Kaffee und Zucker und was wirklich Feines erhandeln könnten.

»Hier könnte, wenn es recht angefangen würde, solch ein Geschäft seinen Mann ernähren.«

Sie sprachen immer eingehender und erregter. Severin entwickelte eine ganz eigentümliche Sachkenntnis, die Funzel nie bei ihm vermutet hätte, und Frau Häberlein ging sachte über den Gemütszustand ihres Mannes ein Licht auf. Herr Häberlein hielt nicht mehr Ruhe, in ihm regte sich ein lang bewährter Tätigkeitstrieb, und jetzt wußte sie, was die beiden, Severin und ihr Mann, allabendlich so eifrig zu bereden gehabt hatten. Sie und Funzel hörten noch eine gute Weile geduldig zu, und Frau Häberlein hatte ihre Freude daran, wie frisch und heiter Balduin sprach.

Es war auch in Wahrheit ein guter Augenblick, wie der Alte sich wieder kräftig in das Leben einzudrängen versuchte, wie er Hoffnung und Erfahrung lebendig durcheinander sich bewegen ließ, wie er mit dem Jungen erwog und besprach, der jungen Kraft Vorteile zumaß, indem er sich über manche Dinge, von denen Severin unterrichtet zu sein schien, fragend an ihn wandte und doch zu gleicher Zeit das vornehm Herablassende des Alters ihm gegenüber beibehielt. Wie seine gute Frau voller Hingebung ihm zuhörte, sich an ihm freute und jeden Augenblick in Dankbarkeit und Liebe bereit war, ihrem Gatten, wie es auch sei, zu helfen. Dann die junge Funzel Quittenbaum, die dem Gespräch unsicher, ahnungsvoll folgte, über das Vertrauen, das der würdige Alte ihrem Verlobten schenkte, erstaunte und sich freute und nicht recht wußte, was die allgemeine Erregung in jedem der drei Gesichter vor ihr zu bedeuten habe, bis aus dem lebensvollen Bewegen um sie her für sie eine beglückende Hoffnung sich erhob.

Das Altchen war aufgestanden, hatte die Hand auf die Schulter ihres Mannes gelegt, der sich halb erstaunt nach ihr umwandte, und sagte: »Mir ist es gar zu recht, wenn du das tust, was dir lieb und angenehm ist, das glaube nur. Das ist wahr, ich bin eine leichtsinnige Frau, habe ich mir doch heute gegen Abend, als wir miteinander an dem Rosenstocke standen, gar nichts bei dem gedacht, was du sagtest.« Sie sprach mit lebhaft erregter Stimme und fuhr fort: »Mir ist es lieb, beginne hier etwas Neues, Balduin. Hier in der Vorderstube bauen wir den Laden aus, und den Herrn Severin nimmst du in das Geschäft.«

Da fuhr Balduin fast unwillig auf und sagte: »Das wäre mir das Rechte, in meinen alten Tagen mir ein Geschäft über den Kopf wachsen zu lassen. Nicht wahr, Severin, was meint Ihr?« Die Empfindungen zogen über die alten Züge des Frauchens und brachten im Vorüberziehen einen wunderbaren Jugendschein über sie. Sie blickte sich im Kreise um, und ihre Augen ruhten so voller Liebe und Glanz einen Augenblick auf Funzel, daß es dieser ganz wunderlich zumute wurde. Herr Balduin wollte reden und lehnte die Hand vertrauensvoll auf Severins Arm. »Ich weiß am besten«, fuhr er fort, »daß ich mit Herrn Severin gern etwas unternähme – aber –«

»Zu viel Ehre!« unterbrach ihn Severin. »Wie sollte ich zu dergleichen kommen. Bedenken Herr Häberlein meine völlige Mittellosigkeit.«

»Ta – ta – ta!« sagte Herr Balduin und machte eine bedeutungsvolle Handbewegung. »Das würde sich finden; was braucht ein Gehilfe fürs erste Mittel zu haben. – Da meint die Alte«, begann er wieder in scherzendem Ton, »so etwas ließe sich über das Knie brechen. Wenn ihr es in den Kopf fährt, glaubt sie, es sei schon da und hergerichtet. So ist sie und so war sie.«

Severin schaute gespannt auf Funzel, deren Blicke an dem Frauchen hingen, die immer noch hinter Herrn Balduins Stuhl in Gedanken versunken stand. Unmerklich aber, ohne daß es eines Wortes von seiten der Alten zum Einlenken bedurft hätte, ging die Unterhaltung der zwei Männer ihren Gang, und zwar waren sie, ohne daß sie recht wußten, wie es geschehen, vom unbestimmten Allgemeinen auf das Allerpersönlichste, Eingeschränkte und Sichere gekommen, und das Bächlein der Unterhaltung lief da, wo es laufen sollte.

Die Frau hörte andachtsvoll mit einem unbeschreiblichen Lächeln auf den schmalen Lippen zu, wie die beiden immer eifriger wurden. Sie berieten miteinander den Ausbau der Unterstube, den die Delikateßhändlerin vorgeschlagen hatte, und sie mußten ihn für gut halten, denn sie besprachen die Sache mit der Art Befriedigung, als wäre diese Idee aus ihrem eigenen Kopfe entsprungen.

Herr Balduin hörte dem jungen Hilfslehrer offenbar mit Wohlgefallen zu, wenn der seine Vorschläge machte, und stimmte bei, als Severin außerordentlichen Wert auf Viehsalzverkauf legte. Herr Häberlein sprach ihm gegenüber, zum Staunen der kleinen Frau, das aus, was außer ihr nie ein Sterblicher zu hören bekommen: nämlich die Quelle, von der er seine Kaffees bezogen hatte. Und er tat es mit einer gewissen weihevollen Feierlichkeit, reichte Severin die Hand dabei hin und sagte: »Es wäre schon gut, wenn wir beieinander bleiben könnten, Herr Severin!« Und Severin schlug mit einem verbindlichen, verlegenen Lächeln ein.

Die Frau nahm sachte die Teller und Reste vom Tische. Funzel half ihr, und beide Frauen schlichen, die Arme voll Schüsseln, zur Tür hinaus; ohne von den in ihre Pläne vertieften Männern bemerkt zu werden und ohne ein Wort zu reden, setzten sie ihre Last in der Küche ab und gingen in den Garten, in den vollen Mondschein hinaus. Da hielt Frau Häberlein unter dem Baume ihre liebe Funzel in den Armen, und die Nacht war still und mild, die Gefühle der alten Frau glichen ihr in diesem Augenblick an ruhiger Schönheit.

Ein Teil ihres sanften Friedens bildete die Dankbarkeit gegen ihren Mann. Durch dessen Einsicht und Klugheit war sie zu ihrem Glück gekommen, und jetzt verschaffte ihr sein neues, kräftiges Aufstreben die Aussicht, das junge, liebe Geschöpf, das ihre ganze Freude war, den Rest der alten Tage nahe behalten zu dürfen. Zu aller Erfüllung war eine Hoffnung zuletzt noch über sie gekommen, und die Vorzüge des stillen Alters, das aus jeder Lebensstufe einen wünschenswerten Teil zurückbehalten, verbanden sich mit dem Glücke, das von außen her sie umgeben hatte.

Ihre Natur, die ein Leben lang nach der ihr angemessenen Umgebung sich gesehnt und unbewußt geschmachtet hatte, durfte vor ihrem Hinschwinden rein ihre ganze Freudekraft empfinden.


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