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Nachfolgende Geschichte spielt in einer der vielen kleinen freien Städte, die späterhin von den großen süddeutschen Staaten verschluckt worden sind, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges aber jede für sich noch eine Art von kleinem Staat bildeten so gut wie Hamburg, Bremen und Lübeck bis auf den heutigen Tag. Wer aber frei sein will, muß sich nötigenfalls seiner Haut wehren können, und das war in jenen unruhigen Zeitläuften sehr viel häufiger erforderlich, als heutigestags. Diese kleinen Städte hatten damals ihre Wälle und Wallgräben, ihre Mauern und befestigten Thore; sie besaßen etwas Geschütz und Handwaffen zur Verteidigung für die Bürger; und manches kleine Nest, an welchem heute noch nicht einmal die Eisenbahn für der Mühe wert hält, guten Tag zu sagen, hat sich gelegentlicher Ueberfälle von Kriegshaufen mit Erfolg erwehrt – große Heere gaben sich um solcher Spielschachtelfestungen willen nicht die Mühe, eine lange Belagerung abzuhalten, der sie natürlich nicht auf die Dauer zu widerstehen vermocht hätten. Immerhin hatten sonach die Verteidigungsmittel dieser kleinen Städte ihren gar guten Zweck und Nutzen.
Solches war auch die Meinung des Schmiedes Bürgli in der engen Pfaffengasse, welcher an einem Sommerabend auf dem Steinsitz vor seinem Häuschen ausruhte und sich mit seinem Nachbar von drüben, dem Schlossermeister Zwick, über das Kriegselend unterhielt, das im Reiche angehoben hatte.
»Nun,« sagte er, »ich verhoffe und wünsche, daß unsere gute Stadt niemals nötig hat, zu erproben, was ihre Befestigungen wert sind, Nachbar; denn die Mauern und Wälle und Böller allein thun es nicht, sondern die Leute darauf und dabei, und wir Bürger sind jetzt des Kriegshandwerks gar ungewohnt. Es ist freilich eine erschreckliche Sache, daß der Schwede schon so weit in das Reich heruntergekommen ist, daß er gar schon in Nürnberg seinen Einzug gehalten hat, wie die Nachrichten besagen; aber es gibt doch noch manchen guten Kriegsmann zwischen Nürnberg und uns, der geschworen hat, sein Leben daran zu wagen, daß sie mit blutigen Köpfen umkehren, dahin, von wannen sie gekommen sind.«
Aber Meister Zwick schien die Zuversicht des Nachbarn und Freundes nicht teilen zu wollen. Er schüttelte den kurzgeschorenen Graukopf und meinte: »Es ist gar ein eigen Ding um eine siegreiche Armee. Die hat starken Mut und Zuversicht, welches allein schon aus einem Kriegsmann zwei macht. Ich wollte nichts sagen, wenn es unordentliche Haufen wären, was daher käme. Die würden in der Siegesfreude lässig und würden allgemach die Vorsicht verabsäumen. Aber es soll unter den Schweden gar gute Mannszucht sein, besonders wo der König Gustav Adolf selber ist; und scharfe Umsicht und Wacht! Dazu hat man uns von Reichs wegen ihm preisgegeben, weil der Kaiser meint, er sei sich selber der Nächste und müsse am ersten seine Erblande schützen, die der Sachse bedroht. Ja, wenn der Wallensteiner noch im Felde wäre, dann möchten die Sachen anders gelaufen sein!«
»Glaub's nicht,« schüttelte der Schmied. »Der Wallensteiner wäre wohl des Kaisers Freund, aber dem Kurfürsten ist und bleibt er spinnefeind und hätte die Schweden erst recht in das bayrische Land hineingelassen. Ich vertrau' dem Tilly noch am meisten. Der Schwede hat ihn zwar geschlagen und dahergetrieben; aber er ist doch ein großer General, und er wird alles daransetzen, die Scharte auszuwetzen und seinem Namen eine neue Glorie zu machen. Ich meine, auch die Heerhaufen unter ihm werden sich hier anders schlagen, wo sie gleichsam an die Wand gedrückt werden und wegen schwerlichen Ausweichens mehr denn je in Gefahr stehen.«
Der Schlossermeister bedachte sich.
»Es betrübt mich,« sprach er dann, »wenn ich sehe, wie es bei uns schon Leute gibt, welche heimlich sich von dem Ruhm des Schwedenkönigs das Herz abgewinnen lassen. In der Zunftstube gab es gestern gar schon einen Zank, weil einer die Meinung verfocht, der Gustav Adolf sei der größte Kriegsheld dieser Zeit und seine Soldaten hielten sich so ordentlich, daß die Kaiserlichen wie Räuber dagegen seien. Mein Bube, der Nazi, hat mir erzählt, daß schon unter den Kindern in der Klosterschule sich unnütze Rangen fänden, die für den Schwedenkönig eiferten und nichts Besseres erwarteten, als daß er siegreich heruntergezogen käme. Die frommen Väter sollten besser mit Streichen und Staupen sorgen, daß unser grünes Holz nicht so unnützliche Schosse treibt.«
Das Geräusch eines Wägeleins, welches über das holperige Pflaster fuhr, unterbrach das Gespräch. Der Wagen war ein sehr elendes wackeliges Gemächt, nämlich zwei Räder und ein Kasten darüber, mit Sand gefüllt. Vor den Wagen war eine jämmerliche Mähre gespannt, ein Schimmel mit kahlem Schwanz und hängender Zunge, dem alle Knochen aus dem Leibe standen; und nicht viel weniger alt und dürftig sah sein Herr aus, der nebenher ging oder vielmehr schlich: eine gebückte Gestalt mit wackelndem Kopfe und verwittertem, blödem Gesicht, in geflicktes graues Linnen gekleidet, mit Lappen um die Füße und einer Zipfelmütze auf dem struppigen weißen Haar. Die Fahrt ging sehr langsam vorwärts, denn alle zehn Schritte stand der Schimmel still, als könne er nicht weiter. Dann blieb auch der alte Mann stehen und nickte und murmelte; und jetzt verstand man: »Halt, ruh dich aus, Viecherl braves! die Knochen wollen ja nimmer so vorwärts. Ja, die Jahre, die Jahre! – Hü, so ist's recht, nun geht's wieder. Guten Abend auch!«
»Geht's immer noch, Fabian?« sagte der Schmied Bürgli. »Ihr müßt doch in die Neunzig sein?«
»Ich weiß es nicht. Der Pfarrer von Sankt Katharinen hat mir's neulich gesagt; aber ich vergeß immer wieder,« sprach der alte Sandfuhrmann mit schwerer Zunge. »Es ist mir nur um den Buben, den Pankraz, den ich zu ernähren hab'. Die Barmherzigen wollen ihn mir abnehmen, aber der Bub will nicht.«
Die Straße war seither ziemlich menschenleer gewesen. Sie war so eng, daß die Häuser schier mit den Köpfen zusammen rannten. Plötzlich wurden da, wo sie umbiegend den Blicken entschwand, Kinderstimmen vernehmbar, welche bald laut riefen, bald durcheinander schwirrten. Die beiden Männer wandten sich der Richtung zu, während der Schimmel eben wieder anzog und der Alte ein Stück weiter neben ihm her zu schwanken begann. Jetzt sprangen Fensterflügel auf, und des Schlossers Frau, welche an die Thür getreten war, blieb mitten im Schelten: wo nur der Bub, der Nazi, heute wieder stecke? halten und reckte ihre hagere Gestalt verwundert aus.
»Maria Joseph, was bedeutet denn das?«
»Es ist eine Schlacht geschehen, bei Rain am Lech. Der Kurfürst ist geflohen, nach Ingolstadt; der Tilly ist tot.«
Ein Schwarm Kinder erschien und rief vielstimmig die Schreckensbotschaft in die Gasse. Vorweg sprang ein schlanker, kräftiger Blondkopf, dessen Locken um ein gebräuntes Gesicht mit blitzenden blauen Augen flogen. »Großvater, Großvater!« schrie er, und der alte Sandfuhrmann, dem, wie es schien, sein Ruf galt, blieb wieder stehen und sah nun auch herum.
Die beiden Nachbarn waren aufgesprungen. Die Hausfrau des Meister Zwick rief jammernd: »Ach, du heiliger Antonius von Padua – Pankraz, ist der Nazi bei euch?«
»Dort kommt er, Frau,« erscholl es im Vorbeistürmen.
»Das walt Gott, daß sie den Buben ein Märlein aufgebunden haben,« sprach kopfschüttelnd der Schlosser. »Ich hab's zwar prophezeit, Nachbar, aber ich wollt' schon, ich wäre ein schlechter Prophet gewesen.«
Der Schmied war über die Straße herübergetreten. Einer der Buben, ein rundliches Bürschchen mit kurzgeschorenem schwarzem Haar und einem Gesicht wie ein Apfel blieb vor der Gruppe stehen, schielte einen Augenblick nach dem mütterlichen Gesicht und behielt die zuversichtliche Miene bei, als er merkte, daß er heute wohl der Strafe für sein langes Ausbleiben entgehen werde.
»Es kam ein Kurier nach München hier durch; beim Ochsenwirt ist er vom Pferde gestiegen und hat einen Trunk gethan; der hat es erzählt, danach ist er schnell weitergeritten, zum Sixtusthore hinaus.«
»Wem hat er es erzählt?«
»Allen Leuten, die daherkamen.«
»War niemand vom Rat darunter, Nazi?« fragte der Vater weiter.
»Der Ratsschreiber; der ist im Ochsen beim Bier gesessen. Sonst habe ich keinen gesehen. Der Ratsschreiber hat ihn ordentlich ausgefragt.«
»Aber wie soll das nur möglich sein!« rief hier der Schmied ganz zornig. »Wie lange ist's her, daß der Schwede noch zu Nürnberg war, und jetzt soll er schon eine Schlacht am Lech gewonnen haben! Er müßte schon hexen können, wenn er das hätte fertig bringen wollen!«
»Ja, das sagte der Ratsschreiber auch. Aber der Kurier meinte, wir müßten hier wie die Maulwürfe sitzen, daß wir nicht wüßten, wie gar lange die schon Donauwörth belagert und eingenommen hätten.«
»Und der Tilly tot! Das ist ja erschrecklich. Wer soll ihnen da noch widerstehen?« murmelte der Schmied. »Hat er nicht gesagt, wohin der Schwede zieht?«
»Er werde wohl Ingolstadt belagern. Dort sei der Kurfürst, und dort sei auch der Tilly gestorben. Der Kurfürst aber will nicht in Ingolstadt bleiben, sondern nach dem Oesterreichischen hinziehen. Nun wird der Schwedenkönig wohl das ganze Bayrische erobern.«
»Ich will dir was erobern!« sagte die Mutter und verabreichte ihm eine wohlgezielte Ohrfeige. »Du wirst dich noch gar freuen, wenn das Elend über das ganze Land kommt. Daß Gott, da läuten sie schon die Ratsglocke! Marsch, in das Haus mit dir! Geht doch auf den Markt, Männer! Sie werden doch keine Narren sein und den Schweden trotzen wollen, daß sie uns die Häuser einschießen und danach uns ausplündern und aufspießen? Das Elend, das Elend!«
In der Straße war es indessen lebendig geworden. Die ehrsamen Bürger liefen wie aufgestörte Ameisen durcheinander, hier und dort zusammenstehend; dazwischen schwatzten und kreischten Weiberstimmen. Der ganze Menschenhaufe verlief sich allmählich in der Richtung nach dem Markte zu.
Der alte Sandfuhrmann Fabian allein blieb ruhig. Die aufregende Nachricht hinderte ihn nicht im mindesten, mit seinem Gaul den gewohnten langsamen Gang fortzusetzen, und Pankraz, sein Enkel, der mit blitzenden Augen und geröteten Wangen neben ihm ging, trippelte vor Ungeduld, wenn wieder einmal Halt gemacht wurde.
»Nichts kann ihm widerstehen, Großvater. Du sollst es erleben, daß er die ganze Welt erobert wie Alexander, von dem der Pater Crescentius uns erzählt hat. Er sagt zwar, der Schwede sei der Antichrist, und wenn er siegte, ginge die Welt unter. Aber das glaube ich nicht. Die Schweden sind fromm und beten, wenn sie in die Schlacht gehen wollen; das hat im Ochsen der Weinfuhrmann erzählt, der den Schwedenkönig in Nürnberg gesehen hat. Vor dem Ochsen hat es die eine Magd gesagt, als wir vorhin um den Kurier gestanden haben.«
»Hm, hü! So geht's in der Welt. Alleweil bunt,« sagte der Alte mit dem Kopf wackelnd und so schwerzungig, als ob er dabei einschlafen wollte. »Das rauft sich. Nachher, wenn man erst so alt ist, wie ich, da fragt man nichts danach. Aus ist's und in den Himmel geht's. Steh, Pferdel! So ist's recht; jeder muß wissen, was ihm not ist.«
»Großvater, glaubst du auch, daß die Schweden nicht in den Himmel kommen?«
»Weiß ich nicht. Wenn ich in den Himmel kommen sollte, will ich einmal zuschauen. Wenn ich ›nein‹ sagte, könnte ich mich irren, und wenn ich ›ja‹ sagte, auch. Ich habe mir schon manchmal etwas ganz gewiß gedacht, und nachher war's halt doch anders.«
»Ich möchte auch ein Kriegsmann werden, aber so einer wie der Schwedenkönig. Befehlen kann ich schon. Wenn wir Krieg spielen, bin ich immer der Oberste auf der einen Seite. Heute haben wir alle in die Flucht geschlagen und eine Menge gefangen, die wider uns standen.«
»Hm, hü! Junger Hahn will kratzen und junger Most gären. Krieg ist ein gefräßig Ding, frißt Menschen und Häuser zusammen. Behüt uns Gott allewege!«
Der Schmied und der Schlosser waren inzwischen mit einem Menschenschwarm, der sich aus jeder Quergasse vergrößerte, dem Marktplatze zugeeilt, auf welchem bereits Gruppen von Leuten standen, eifrig disputierend, mit Gesichtern, auf denen sich Schrecken, Besorgnis, Unglaube, kurz die verschiedenartigsten Stimmungen malten, wie sie die Lage der Dinge in dem einzelnen erzeugte.
Der Markt war nicht sonderlich groß. Die Häuser, welche ihn einfaßten, hatten Lauben, das heißt: die oberen Stockwerke ragten über das Erdgeschoß so weit vor, daß sie, durch Pfeiler gestützt, einen verdeckten Rundgang um den Platz bilden halfen, der nur durch die vier einmündenden Straßen unterbrochen ward. Das Rathaus war ein alter Bau an einer Straßenecke; hier befand sich über dem unteren Pfeilergang noch ein zweiter, und das Pfeilerwerk beider war mit kunstvoller, durchbrochener Steinhauerarbeit verziert. Auf dem Türmchen oben mit dem Wetterhahne wimmerte das Ratsglöcklein, und durch die Männer, Weiber und Kinder drängten sich eilfertig die ersten Mitglieder des Rats in ihren schwarzen Kappen und schwarzen langen Kragenmänteln. Hier und dort rief man ihnen zu – die widersprechendsten Meinungen. Am meisten hatte der kleine hagere Ratsschreiber seine Not, bis zum Rathause durchzudringen: jedermann wußte, daß er mit dem Boten gesprochen hatte, und da er eine zahlreiche Verwandtschaft in der Bürgerschaft zählte, wurde er überall angehalten, um Fragen zu beantworten. Geschmeidig, wie ein Aal, versicherte er hier: es ist keine Gefahr; dort: die Schweden seien nur noch zwei Meilen von der Stadt entfernt, und war schon wieder hinter einer anderen Gruppe verschwunden, ehe man sich von der Freude über die tröstliche Nachricht oder von dem Schrecken über die andere erholt hatte, um weiter zu fragen.
Auf dem Markt gruppierten sich allmählich Haufen, deren Mittelpunkte die verschiedenen Zunftmeister bildeten. So kamen Meister Bürgli und Meister Zwick auseinander, denn der eine stand bei den Schmieden, der andere bei den Schlossern. Die Frauen hielten sich zu ihren Männern, um sie rechtzeitig zu zupfen und zu ermahnen, ihrer Ansicht zu sein. Denn die Zunftmeister bildeten einen zweiten Rat, der mit seiner Meinung auch dreinzureden hatte, wenn es galt, für die ganze Stadt einen Beschluß zu fassen. So wurde hin und her erwogen und gestritten, ob es besser sei, sich den Schweden zu ergeben, wenn sie ankämen, oder ihnen Widerstand zu leisten, und die Heißsporne verfochten ihre Meinung, daß man recht wohl eine Belagerung und Bestürmung aushalten könne, ebenso hartnäckig, wie die Zaghaften und Vorsichtigen bei der entgegengesetzten blieben.
In der gewölbten Halle, welche aus dem oberen Laubengange des Rathauses ihr Licht erhielt, ging es nicht ganz so lebhaft zu. Der Saal war eigentlich nur Bankettsaal für Feste; aber in heißer Sommerzeit, wie jetzt, hielten die Ratsherren auch ihre Sitzungen in demselben ab, da er besonders kühl war. So saßen sie denn, der hochmögende Bürgermeister an der Spitze, auf der Estrade an dem großen Eichentische, und dem Oberhaupt gegenüber machte der Ratsschreiber Pelizäus den Beschluß. Doch schrieb derselbe zur Zeit nicht, sondern stand da und erzählte dem hochlöblichen und wohlweisen Rat in fließender Rede, was er von dem Kurier erfahren hatte, welcher auf seinem Eilritt nach München beim Roten Ochsen gehalten. Es war nicht viel mehr, als was in der Pfaffengasse durch die Kinder bekannt geworden war.
»Und ich glaub's nicht!« rief der Stadtkämmerer Zingele, ein hitziger Herr mit hohem kahlem Schädel und einem Gesicht wie von Leder. Er zischte, wenn er ein S auszusprechen hatte, denn er besaß nur noch einen Zahn im unteren Kiefer, welcher unverhältnismäßig groß war und um den seine Rede fuhr, wie der Wind um eine Säule. »Ehe wir der Stadt Säckel angreifen, müssen wir gewissere Kunde haben als von einem durstigen Reitersmann, der seinen Uz mit Euch gehabt hat, Ratsschreiber!«
»So seht beizeiten zu, daß Ihr Gewisseres erfahrt,« meinte der Ratsschreiber achselzuckend, »sonst könnte es der Stadt Säckel ein Stück Geld mehr kosten, als bei zeitiger Vorsicht nötig wäre.«
»Walt's Gott – das ist eine schwere Nachricht, die Ihr da aufgefangen habt, Herr Ratsschreiber!« sagte der Bürgermeister und faltete die rundlichen Hände über dem rundlichen Leib, zu dem die güldene Kette von kostbarer Arbeit niederhing. »Ich meine, wir müssen gewißlich vor allen Dingen Sorge tragen, daß wir erfahren, ob an der Sache Wahres ist. Aber nebenbei wollen wir für alle Fälle eine feste Meinung erlangen, was wir beginnen, wenn die Schweden in Wahrheit im Anzuge sind. Denn möglich wäre es immerhin, daß sie, wenn sie gegen München ziehen würden, an unsere Stadt kämen, und das möchte, wenn des Ratsschreibers Nachrichten auf Wahrheit beruhen, gar bald geschehen.«
Er sah sich unter den Ratsherren um und begegnete überall zustimmendem Kopfnicken.
»So bin ich weiter der Meinung, daß Herr Bartholomäus Schinner heute noch Kundschafter aus den Stadtknechten in das Land sendet, nach der Gegend hin, wo die Schlacht stattgefunden haben soll. Jetzt aber möge er uns Bericht erstatten, wie es um die Befestigungen und das Kriegszeug beschaffen ist, damit wir ermessen, ob wir uns getrauen dürfen, den schwedischen Kriegshaufen die Stirn zu bieten, oder nicht.«
Herr Bartholomäus Schinner war aus ritterlichem Geschlecht und hatte eine reiche Kaufmannstochter aus der Stadt geheiratet, und da er in seiner Jugend das Waffenhandwerk erlernt, war er zum Haupt der Stadtverteidigung erwählt worden, ohne daß er seither Gelegenheit gefunden, seine Kunst gegen einen Feind der Stadt zu bewähren. Obwohl schon bei hohen Jahren, war er doch noch ein stattlicher Herr, welcher die Stadtknechte in guter Zucht und Uebung zu halten verstand und ein kräftiges Wörtlein zu reden wußte.
»Ein löblicher Rat wisse,« sprach er, »daß Mauern, Türme, Wälle, Gräben, Zugbrücken, Thore und Rüstkammer in guter Ordnung sind, also daß wir mit der Bürger Hilfe, wenn ein jeglicher seine Schuldigkeit thut, nicht scheuen dürfen, uns unserer Haut zu wehren. Und ich achte, das sei unsere Pflicht und der Vernunft gemäß. Denn so der Schwede gegen uns anrennen würde, so könnte das nicht anders geschehen als im Vorüberziehen und wird ihm nicht einfallen, um unserer guten Stadt willen eine lange Belagerung zu veranstalten. Vielmehr wird er, wenn er ernstlichen Widerstand findet, weiter gen München ziehen. Lassen wir ihn aber ohne Schwertstreich in die Stadt, so müssen wir uns der Plünderung und aller Unbill versehen. Darum, wiewohl ich nicht versäumen werde, Kundschaft auszusenden, geht doch mein Rat dahin, daß wir keinen Augenblick verabsäumen, uns in wehrhaften Stand zu setzen, als Leute, die für Weib und Kind und Habe mit der Faust einzustehen wissen.«
Vielfaches Murmeln des Beifalls zeigte, daß der ritterliche Herr die Ansicht der meisten getroffen. Dazwischen aber rief eine dünne Stimme: »Das ist nicht ausgemacht, daß sie die Stadt nicht doch anrennen, so sie Widerstand finden. Man soll mit ihnen verhandeln, wenn sie kommen!« – und ein kräftiger Baß sagte dahinter: »Die Schweden sind keine Mordbrenner, sondern halten gute Mannszucht.«
»Wenn sie gute Mannszucht halten, geschieht's wohl eben auch, so sie unser nach ritterlicher Wehr Meister geworden,« rief Herr Schinner. »Wollen sie uns belagern, so nützt es des Kaisers Sache, wenn wir sorgen, daß sie recht lange vor unseren Mauern liegen.«
»Was Kaiser!« meinte der Baß dawider. »Der Kaiser ersetzt uns nichts, wenn uns Schade an Leib und Gut durch thörichten Widerstand erwächst. Ob der Schweden Mannszucht vorhält, wenn wir sie übermäßig reizen, will ich dahingestellt sein lassen.«
»Der Henker traue den Ketzern!« – »Wir wissen nicht, ob wir nicht Verräter im eigenen Lager haben.« – »Oho!« – »Ja ja!« – ging es durcheinander.
Der Bürgermeister gebot Ruhe.
»Soviel ich ersehe,« sprach er, »gehen die Meinungen dahin, daß man erstlich rüsten solle, daß man zum anderen mit den Schweden verhandeln solle, und zum dritten, daß man den billigsten Weg wählen solle, um aus dem Handel zu kommen. Somit können wir einen Beschluß dahin fassen, daß wir aufs beste uns vorbereiten, Widerstand zu leisten, aber erst Anzug und Bedingungen der Schweden abwarten, ehe und bevor wir ihnen den Eintritt versagen. Ist dies aller Gegenwärtigen Meinung?«
Es schien, daß man mit der Auskunft allerseits zufrieden war.
»So wollen wir in Gottes Namen die Zünfte herzurufen. Ich achte, der Ratsdiener wird nicht weit nach ihnen zu suchen haben.«
Auf dem Markt war es inzwischen kraus zugegangen. Aus einem der Klöster waren zwei Bettelmönche erschienen und hatten, jeder auf einer anderen Seite, zu predigen begonnen. Ihre tönenden Stimmen mühten sich zeitweise vergebens, den Lärm des Zudrängens und der Meinungsäußerungen, welche die Reden unausgesetzt begleiteten, zu durchdringen.
Sie waren für den bewaffneten Widerstand. Es gab kein Laster, welches sie den ketzerischen Feinden nicht zuschrieben. Wer sein Leben im Kampfe wider sie einbüße, erbe den Himmel.
Diejenigen Zuhörer, welche ihrer Ansicht waren, vollführten den meisten Lärm. Aber die anderen, denen es nicht darum zu thun war, sich das Anrecht auf den Himmel in dieser Weise zu erwerben, bildeten die Mehrheit. Die Prediger in der Wüste ließen noch immer ihre Stimmen erschallen, nachdem das Ratsglöcklein durch abermaliges Läuten die Zunftmeister aus dem Gewirr losgelöst und in den Saal geführt hatte, nicht ohne daß ein zahlreiches Gefolge, besonders von Frauen, mit lebhaftem Zuspruch ihnen bis an die Rathausthür das Geleit gegeben.
Man brauchte nur Minuten auf ihre Rückkehr zu harren. Der Beschluß des Rates sagte beiden Teilen zu: die Kriegslustigen konnten ja nun rüsten, die anderen behielten die Aussicht auf gütliche Ordnung der Sache – jedem blieb die stille Hoffnung, daß es am Ende nach seinen Wünschen gehen werde. So stimmte man denn, da der Ratsschreiber Pelizäus das Protokoll verlesen, nach kurzer Umfrage durch des Obmanns Mund bei und verließ alsbald den Saal, um der herbeiströmenden Menge Nachricht zu geben.
Die Bettelmönche sahen sich bald von Zuhörern verlassen; sie zogen es endlich auch vor, sich Bericht von dem, was beschlossen, zu holen, und verloren sich danach mit den übrigen. Die Wirtshäuser und Zunftstuben füllten sich – die meisten Bürger fühlten den Trieb, der inneren Unruhe noch in Rede und Widerrede Luft zu machen. Die Kinder gingen mit den Müttern nach Hause. Auch die Ratsherren traten jetzt in eifrigem Disput aus dem Rathausportale.
Nur der Bürgermeister und Herr Bartholomäus Schinner kamen nicht mit. In dem hohen Bankettsaale gingen sie auf und nieder und erwogen, was zu thun sei, erstlich um genauere Nachricht über den Weg der Schweden zu erhalten, zweitens um im Notfalle dem Feinde die Stirn bieten zu können.
Unter der Jugend der freien Reichsstadt brachte die drohende Gefahr und das kriegerische Aussehen der nächsten Zukunft kaum mindere Aufregung hervor, als unter den Erwachsenen.
»Der Schwede kommt!« war das Schreckwort gewesen, mit dem unartige Kinder schon eine Zeitlang bedroht und in Zucht gehalten worden waren. Für die erwachseneren hatte der Ruf freilich bereits seine Wirkung vielfach eingebüßt, ja der Wunsch, die Schweden und vor allem ihren sieghaften König einmal zu sehen, war nicht mehr vereinzelt unter ihnen lebendig, seit sich über das Auftreten des nordischen Kriegsvolkes unbefangene und kundige Stimmen im geraden Gegensatz zu der landläufigen Ansicht ausgesprochen hatten, als seien die Schweden schlimmer denn Heiden und Türken.
Dennoch gab es wenige unter den Stadtkindern, welche die Nachricht: »Der Schwede kommt wirklich!« nicht gleich den Eltern in Fieber versetzt hätte. Die Bestürzung der Erwachsenen, die Thränen und jammernden Prophezeiungen der Furchtsamen, das hastige Treiben, um Geld und Kostbarkeiten in dem rasch aufgerissenen Fußboden des Hauses, unter dem Herd, irgendwo im Garten, in einer Mauer in Sicherheit zu bringen, das Bekanntwerden der plötzlichen Flucht einiger Familien, die unruhigen Vorbereitungen zur Verteidigung – alles das weckte ein Gefühl, als ob der jüngste Tag mit seinen Schrecken im Anzuge sei. Das junge Volk empfand dies doppelt beängstigend, weil ihm in seiner Beklemmung nirgendwo eine Stütze ward. Vater und Mutter kümmerten sich kaum um sie; höchstens daß eine jammernde Mutter eines oder das andere ihrer Kinder an sich riß und den Himmel anflehte, ihr dies oder das zu lassen und nicht zu leiden, daß eine schwedische Pike oder Kugel seinem jungen Leben ein Ziel setze, welche Rede wahrlich nicht dazu angethan war, die armen Geschöpfe zu ermutigen.
Aber Kinderangst hält nicht lange vor, wenn das Gefürchtete verzieht, einzutreffen. Unter den kriegerischen Anstalten, dem Ausrüsten der Männer mit Wehr und Waffen, der Wälle mit Holz und Pech, mit Mordinstrumenten der verschiedensten Art, wie sie das städtische Zeughaus aufbewahrte, tauchten die alten Spiele wieder auf; die kindliche Neugier fand reichliche Nahrung und konnte ihr so ungestört nachgehen, wie nie in friedlicher Zeit. Von Schulunterricht, wie ihn sonst ein Teil der Kinder genoß, war keine Rede mehr, die elterliche Aufsicht kaum noch zu spüren. Man konnte in gehöriger Entfernung zusehen, wie die Böller vorbereitet wurden, die Posten verteilt, das Mauerwerk untersucht, wie das Wasser des nahen Flüßchens durch den geöffneten unterirdischen Kanal in die Wallgräben strömte und sie allmählich füllte – kurz alle die Einzelheiten beobachten, welche das Aussehen der Befestigungen wie der Männer immer kriegerischer gestaltete; höchstens gab es ein rauhes Wort, ein paar Stöße für Unvorsichtige. Endlich bemächtigte sich auch der männlichen Jugend eine kriegerische Stimmung. Vielmehr kehrte diese kriegerische Stimmung nur zurück.
Die Buben hatten schon zuvor, in »Kaiserliche« und »Schweden« geteilt, widereinander gestanden und harte Kämpfe ausgefochten, und nur die unerwartete Erscheinung der rauhen Wirklichkeit in nächster Nähe hatte das kindische Spiel auf Tage unterbrochen. Jetzt hatten sie unbeschränkte Zeit und ließen sich in ihrem Eifer kaum mehr durch die heimische Hausordnung binden, welche ohnehin in den Familien vielfach durchbrochen war. Die tapfersten Parteihelden steckten sich früh Fourage für den ganzen Tag in die Tasche und verzehrten sie in einer Waffenstillstandspause, und wenn sie abends daheim Schelte oder Strafe grüßte, reichte der Eindruck selten über die Nacht hinaus. Am Morgen benutzten sie den ersten unbewachten Augenblick, um ihre Heldenglieder wieder in den Kampf hinauszutragen, bewaffnet mit einem Knüttel, einer Schleuder, einem Bogen mit Pfeilen, irgend einem blechernen Topfdeckel, der als Schild diente, oder anderen dergleichen kriegerischen Vorrichtungen.
Wollten besorgte Eltern ihrer Söhne habhaft werden, so war das nicht so leicht. Früher hatte es vor dem Sixtusthore einen günstigen Kampfplatz gegeben, auf dem sich fast ausschließlich die Heldenthaten der städtischen Jugend abgespielt hatten. Dort befand sich, kaum zehn Minuten von der Stadt entfernt, abseits des Weges ein morastiger Froschteich mit brauntrübem Wasser, welcher durch eine Rinne mit dem Flüßchen in Verbindung stand. Hohle alte Weiden umstanden die häßliche Pfütze; zu beiden Seiten der Rinne wucherte eine Strecke sumpfigen Bruchlandes, und hinter dem Teiche erhob sich der Boden mit einem lehmigen Abhange, auf dessen Kopfe ein paar große, halb in der Erde vergrabene Steinblöcke ragten: als »Festung« die wichtigste militärische Position.
Jetzt war »um der Ordnung willen«, wie es hieß, der Jugend das Schweifen vor den Thoren untersagt worden. In der engen Stadt aber, wo man mit freiem Platz geizte, fesselte keine bestimmte Kampfstätte: die Plätze um die Kirchen, der Hopfenmarkt, die Gegend, wo die Scheunen der Ackerbürger beisammenstanden und wo eine Art Koppel sich befand, welche an Viehmärkten das Vieh einhegte – die Hofgebäude des Gasthofs zum Roten Ochsen standen hart dabei und hatten eine Ausfahrt dahin – bald dies, bald das wurde bevorzugt, oder die wilde Jagd ging mit Geschrei von Straße zu Straße.
Es war bei der genannten Koppel, daß der Ratsschreiber Pelizäus, der trotz der Not der Zeit im Roten Ochsen tagtäglich sein Bier weiter trank, weil die Heerstraße das nahe Heuthor berührte und dem Wirtshause die neuesten Neuigkeiten zuführte – von dem Lärm angelockt, der Sache einmal zusah.
Er bog, Neugier auf dem klugen, schmächtigen Gesicht, in das Heugassel ein. Hinter dem letzten Stalle des Gasthofs begann die Einfriedigung der Koppel und lief bis zur ersten Bürgerscheune. Ein halb Dutzend dieser Scheunen – die eine abgebrochen und im Neubau begriffen, welcher freilich jetzt ruhte – ferner Gebäudewände und Gemäuer des Roten Ochsen schlossen den mit kurzem Rasen bewachsenen Platz ein. Die Scheunen standen auf erhöhtem Terrain, zu welchem eine Böschung sich ziemlich steil hinaufschwang. Ueberall an der Umwandung hin wucherten hohe Nesselstauden, jetzt an vielen Stellen von Kinderfüßen niedergetreten. Irgend ein Besitzer des Gasthofs hatte diesen ehemaligen Gartenteil seiner jetzigen Bestimmung gewidmet und zum Dank – da alles, was mit Viehhandel zu thun hatte, fortan im Roten Ochsen einkehrte – samt seinen Erben und Nachfolgern reichlichen Nutzen daraus gezogen.
Es war Spätsommer, und ein leuchtend roter Himmel färbte den Rasen. Bei dem verlassenen Scheunenbau bewegte sich ein buntes Getümmel; zappelnde Knabenarme und -beine, endloses Schreien. Der kleine Ratsschreiber lehnte sich auf die Einfriedigung und beobachtete mit stillem Vergnügen.
»Das Volk hat gut Krieg führen!« sagte er für sich. »Wenn's weiter nichts dabei gäbe, als Striemen, Beulen und blaue Flecke, wollt' ich auch dafür stimmen, daß wir den Schweden von den Mauern wehrten.«
In dem Neubau schlug man sich; die eine Partei wurde, wie es schien, über die brusthohe Mauer gedrängt: diesseits, auf der Böschung, lärmte eine Anzahl, welche durch Ueberkletternde immer mehr anschwoll, obwohl manche nachmals wieder die Mauer erkletterten und, wenn nicht zurückgestoßen, drüben verschwanden. In das Geschrei der jugendlichen Kehlen klapperten Stöcke, klang geschlagenes Blech, mischte sich das Rasseln von Kindertrommeln, Pfeifen und Trompeten. Jetzt sprangen zwei der Rückzügler unvorsichtig herüber und rollten den kurzen Abhang herunter, der eine einen Genossen mit sich reißend, dessen Beine er vergebens als Halt gewählt hatte. Der Ratsschreiber mußte das ergötzlich finden, denn er schüttelte ein wenig den Kopf und lächelte.
Plötzlich verdoppelte sich das Geschrei; ein Dutzend Kämpfer kamen fast zugleich über die Mauer gesprungen, eine Panik schien die diesseitige Partei zu überfallen, und die Mehrzahl wendete sich zur Flucht über den Platz, gerade auf den Beobachter zulaufend.
»Feiglinge!« krähte ein kleiner Bursche an der Mauer, »soll unser Ruhm gar dahin sein, daß wir wieder zu Schiff müssen und umkehren in unser kaltes Nordland?«
Der Ratsschreiber schüttelte sich vor Lachen. Der Zuruf schien in der That zu verfangen, einige kehrten um, dann mehr und mehr.
Ein Knabe war bis zu dem Ratsschreiber gelangt, den Kopf nach dem Schlachtfelde gewendet. Er schien nicht die Absicht zu haben, den anderen zu folgen, und schlenkerte nachlässig eine lederne Schleuder.
»Heda,« sagte der Ratsschreiber jetzt, »hast du keine Kourage mehr, Bub?«
Der Knabe wandte sich erschreckt um.
»Ich muß nach Hause,« sprach er.
»Wer bist du?«
»Ein Schwede,« war die stolze Antwort.
»Ihr scheint mir heute nicht viel Glück zu haben,« meinte der Ratsschreiber schmunzelnd.
Der Blondkopf mit dem erhitzten Gesicht warf einen verlangenden Blick nach dem Gefechtsfelde, das er verlassen; in der That war der Bestand vor der Mauer eher vermehrt als vermindert.
»Weil unser König nicht da ist,« sagte er verächtlich. »Wenn der nur dabei wäre, dann ginge es anders.«
»Wer ist denn euer König?«
»Dem alten Fabian sein Pankraz.«
»Siehe da, was aus einem armen Knaben werden kann! Also der Pankraz ist solch ein gewaltiger Feldherr?«
»Ich mein's schon! Der weiß, wie man kommandiert. Der macht gleich einen Hinterhalt oder so etwas.«
»So so! – Wer kommandiert denn auf der kaiserlichen Seite?«
»Der Lenz vom Herrn Bürgermeister. Wenn der nicht so viele Soldaten hätte, brächt' er's heute auch nicht zuwege.«
»Was? Der Lenz? Ist der Bub so ein Raufer?«
»Raufen kann er wohl, aber ein rechter Feldherr ist er darum nicht.«
»Wo ist denn der Pankraz? Warum ist er nicht hier?«
»Ich weiß nicht gewiß. Es heißt aber, er sei mit den Stadtknechten auf Kundschaft gegangen.«
»Der verwegene Bub!« rief der Ratsschreiber. »Nun will ich dir einmal einen Rat geben: was steht ihr Narren da vor der Mauer und schreit und könnt doch denen dahinter nicht beistehen? Lauf hin und sage, daß sie heimlich davonschleichen, über den Zaun und um die Scheune, so mögen sie wohl dem Feind unerwartet in den Rücken fallen und ihn von zwei Seiten fassen.«
Der Blondkopf sah ihn einen Augenblick überrascht an, dann sprang er davon.
Ehe der Ratsschreiber Pelizäus wieder in den Roten Ochsen ging, sah er lächelnd, daß man seinen Rat befolgte.
In dem Herrenstübchen fragte er, ob jemand mit angesehen habe, wie die Stadtknechte ausgezogen seien? Ein Holzhändler berichtete darauf, seine Knechte hätten es mit angesehen und erzählt, daß ein halbwüchsiger Bub mit ihnen gezogen sei.
Der Ratsschreiber aber sagte nicht, warum er gefragt habe. Er wollte nicht Ursache geben, daß man den Knaben ihr Vergnügen störe, weil die einen den Landesfeind vorstellten.
Aber richtig war es: der Pankraz war mit den Stadtknechten auf Kundschaft gegangen. Erst hatten die drei alten Gesellen in Sturmhaube und Harnisch nichts danach gefragt, was der Bursche wolle, der mit ihnen in aller Nebelfrühe das Thor verlassen und über die Brücke gegangen war. Und als er nach einer Viertelstunde noch immer hinter ihnen drein lief und sie ihn angerufen hatten, da hatte ihnen der lebhafte, hübsche Knabe mit seinen schneidigen Antworten gefallen, welcher meinte, »er käme näher als sie an die Schweden heran, auch, wenn es not thäte, schneller als sie wieder nach Hause,« und »Fürchten sei seine Sach' nicht, er sei nicht von Espenholze«. So hatte ihm einer seine Hellebarde aufgepackt und versprochen, ihn dafür zu verköstigen. »Das thät' deswegen nicht nötig, er hätte so viel Brot mit sich, als auf ein paar Tage genug wäre, und Wasser gäb's allerorten.«
Weshalb war er mitgezogen?
Er wollte die Schweden sehen. Womöglich den König. Vielleicht kamen sie ja wohl vor die Stadt, vielleicht aber auch nicht, und dann hätte er sie nicht zu Gesicht bekommen.
Die vier wanderten die Heerstraße entlang, welche in der Richtung nach Ingolstadt führte. Die drei Stadtknechte verkürzten sich die Zeit mit Erzählungen aus ihrer kriegerischen Vergangenheit: der eine war in Italien gewesen, der zweite in Frankreich, der dritte hatte sogar wider die Türken gekämpft. Ihre Stimmung ward immer mutiger, und endlich hob der eine gar mit rauher Stimme zu singen an:
»Kein schönrer Tod ist in der Welt,
Als wer vorm Feind erschlagen
Auf grüner Hald, im freien Feld
Darf nicht hör'n groß Wehklagen.«
Pankraz sollte das Lied lernen und der alte Kriegsmann, dessen Hellebarde er trug, gab sich alle Mühe mit ihm. Nach anderthalb Stunden stießen sie auf ein Dorf. Da gab es große Aufregung. Bepackte Wagen mit Rindern und Pferden davor fuhren allerlei Habe, Weiber und Kinder dazu. Zwischen dem Hausrat, besonders Betten in Menge, lag Geflügel mit gebundenen Beinen und Flügeln. Hier schnatterte, dort krähte es, dazwischen brüllten Kühe, bellten Hunde, knallten Peitschen und schrieen Menschenstimmen. Die Leute fuhren in den eine halbe Stunde entfernt liegenden Wald, um sich da zu verbergen. Wo die Schweden zögen, wie weit sie gelangt seien, wußte niemand zu sagen. Die Männer waren in großem Ingrimm und schwuren, wenn ihnen Schweden in die Hände fielen, so sollte es denen übel ergehen, die sie bewältigen könnten. Im Dorfe begegneten sie einem Wagen mit zwei kräftigen Rossen davor, auf welchem es gar absonderlich aussah: Prozessionsfahnen waren aufrecht an die Wagenleiter gebunden; dazu Kisten und Kasten, welche vermutlich Kirchengut enthielten; auf einem großen lederüberzogenen Stuhl saß der Pfarrer, ein alter Mann mit griesgrämigem Gesicht. Vor dem Dorfwirtshaus wurden Fässer aufgeladen; in der Kopflosigkeit, welche hier herrschte, war es den drei Stadtknechten nur mit Mühe möglich, einen Trunk für sich zu finden.
Je weiter die vier Kundschafter auf der Landstraße hinkamen, desto belebter ward sie von Flüchtlingen, welche auf dem Wege nach dem Walde waren; allein erst bei dem dritten Dorfe erfuhren sie etwas Genaueres über die Schweden. Da hielt ein versprengter Trupp bayrischer Reiter beim Wirtshause, welche erzählten, daß der Feind sich verteilt habe und in Schwärmen, wie ein ausgegossenes Wasser in allen Vertiefungen auseinanderläuft, das Land überschwemme. Ein Teil sei weithin auf Landshut zugegangen, und hüben streiften die Entferntesten in der Richtung auf Augsburg. Aber das sei gewiß, in München wollten sie zusammenkommen. Sie selber wollten sich über München hinaus salvieren und hätten Eile, daß sie nicht eingeschlossen würden, denn die schwedische Vorhut sei wohl kaum einen Tagemarsch weit hinter ihnen. Sie schalten und wetterten greulich wider die Schweden. Der böse Feind sei ihr eigentlicher Heerführer; ein Teil ihrer Kugeln sei Freikugeln, wie denn eine solche auch Tilly getroffen und ihm das Bein zerschmettert habe; jeder zehnte Mann von den Gefangenen werde dem Bösen geschlachtet.
»Das ist nicht wahr,« sagte Pankraz und trat mit blitzenden Augen vor den Anführer des Trupps hin. »Der Schwedenkönig ist ein großer Feldherr und er hat tapfere Soldaten, welche niemand ohne Not Leids zufügen.«
»Du Grasaff', grünschnäbliger,« rief der Anführer zornig und sein rotes Gesicht wurde noch röter, »willst etwa den Spion für sie machen? Ich lange dir eine herunter, daß dir's vergeht, mich Lügen zu strafen, du nichtsnutziger Fratz, der du bist!«
Vielleicht hätte der schnauzbärtige Reiter die Drohung wahr gemacht, wenn sich nicht die drei Stadtknechte ins Mittel gelegt hätten und für des Pankraz Unverstand gebeten. Auf ihre Frage, wohin denn der Schwedenkönig seinen Weg genommen, wußten die Reiter nichts Sicheres zu antworten. Sie meinten indes, daß er wahrscheinlich mit gegen Landshut gezogen sei. Danach setzten sie sich auf und ritten eilig weiter.
Es war inzwischen Mittag geworden. Die vier Kundschafter stärkten sich, und die Stadtknechte berieten, ob es nicht das Rechte wäre, wenn sie umkehrten. Etwas Genaueres würden sie doch nicht erfahren, und es sei sicher anzunehmen, daß die Schweden schon am anderen Tage vor die Stadt kämen, wenn sie überhaupt kämen.
Nur Pankraz widersetzte sich dem Entschlusse. Er wolle die Schweden erst sehen und Kundschaft holen, wieviele ihrer des Weges hier zögen, ob der König dabei sei, und ob sie wohl wider die Stadt anrennen würden.
»Du bist närrisch, Bub,« rief der graubärtige Knecht mit der Türkensäbelschmarre, welche dick und rot über die Nase und beide Wangen lief. »Das werden sie dir just auf die Nase binden! Gib acht, daß sie dich nicht als Kundschafter mit einer hänfenen Schlinge zieren! Nachher kannst tanzen, wenn der Wind auf dich pfeift.«
»Sie thun mir gewiß kein Leid,« sprach Pankraz zuversichtlich, »und ich bin einmal neugierig.«
»Laßt ihn laufen,« meinte der französische Stadtknecht; »ich glaub's selber nicht, daß sie solch einem Buben übel mitspielen, und wenn er etwas zu Nutzen der Stadt erfahren kann, so wär' es gescheit.«
Und während sie den Rückweg antraten, ging der Pankraz wirklich weiter.
Pankraz war für seine dreizehn Jahre ein merkwürdig selbständiger Knabe. Er war das zumeist darum geworden, weil die einzige Aufsicht, unter der er herangewachsen war, nämlich diejenige seines Großvaters, ihn beinahe völlig sich selber überlassen hatte. Da er ein warmes gutes Herz und einen klugen, hochstrebenden Sinn mit auf die Welt gebracht hatte, war ihm dies nicht zum Schaden ausgeschlagen. Lebhaften Geistes und von kräftigen und geschmeidigen Gliedern, hatte er frühe schon Spielkameraden in großer Zahl um sich gesammelt, welche willig seiner Leitung folgten. In der Schule des Pater Crescentius hatte dieser durch Schüler davon gehört und ihn mitbringen heißen, und er war sein Liebling geworden. Bald stak sein Kopf voll von Heldengestalten und Heldenthaten, welche der feine beredte Mund des Paters aus alten Schweinslederbänden geschöpft hatte. Eine Zeitlang war er Cyrus, Alexander, Cäsar oder sonst irgend ein alter Heide gewesen; nunmehr war er Schwedenkönig. Er kannte sowohl die schiefe wie die keilförmige Schlachtordnung, und jetzt hatte er eine aufgelöst schwärmende Reiterei aus den hervorragendsten Schnellläufern seiner Truppen gebildet. Seine Gegner, meist Patriziersöhne, welche sich dem Enkel des Sandfuhrmanns nicht unterordneten und durch unzufriedene und gekränkte Ueberläufer verstärkt wurden, fochten unter dem Bürgermeistersohne mit mehr gutem Willen als Glück. Dieser Blondkopf mit den feurigen blauen Augen, welcher nun barhäuptig und barfüßig, in engen Lederbeinkleidern und blauem, verschossenem Wams die Straße hinwanderte und zeitweise trottete, wollte durchaus und mit brennender Begier die Sieger in so vielen Schlachten sehen.
»Wenn doch nur der Schwedenkönig dabei wäre!« sagte er immer wieder aus seinen Gedanken heraus.
Je weiter er gelangte, desto einsamer wurde der Weg. Ein Dorf, auf welches er stieß, war völlig wie ausgestorben. Mit Dunkelwerden gewahrte er wieder ein Dorf und jenseits desselben Rauchwolken und, wie ihn bedünken wollte, den Widerschein von Feuer in der Luft. Das Herz klopfte ihm und die Müdigkeit, die sich allmählich seiner bemächtigt, war plötzlich verschwunden. Lagerten dort die Schweden im Biwak?
Seine Zuversicht ließ die Flügel hängen. Der wirkliche ernsthafte Krieg trat vor ihn; Leute, welche schwere Wunden geschlagen und wohl auch empfangen hatten, das waren andere Kämpen als seine leichtfüßige Truppe. Der Tod rührte mit seinen Schauern an seiner Seele. Dort lagen, wenn seine Vermutung recht hatte, leibhaftige Welteroberer! Er war in seinen Gedanken bisher höchst kameradschaftlich mit solchen umgegangen; in den Büchern eroberte sich die Welt so leicht und stürmisch an ihrer Seite! Nun standen sie mit einemmal so hoch und fremd und ehrfurchtgebietend da, diese Schweden.
Waren das Schweden, da?
Aus dem Dorfe klang fernes Singen und Pferdegetrappel, und auf der Straße erkannte sein ungetrübtes Kinderauge die Silhouetten von Pferden und Reitern, welche sich nicht rührten, und weiter drüben, auf dem hohen Acker, ebensolche.
Er hatte nicht den Mut, die Straße weiter zu verfolgen. Ein Wiesenweg zog sich an niedrigem Gebüsch entlang nach einer rechts ziemlich weit abliegenden Holzung. Er schlug ihn ein. Vielleicht konnte er vom Holze aus, wenn er am Waldrande unter den Bäumen hinging, eine gute Aussicht auf die Feuer gewinnen, welche wohl das etwas hoch liegende Dorf und die von ihm zum Walde abziehende Bodenwelle verdeckte. Die Nacht konnte er im Walde schlafen.
Sein Plan begegnete keinen Schwierigkeiten, bis er ein Stück im Walde hingegangen war. Da vernahm er seitwärts ein Rascheln und Schnaufen – richtig, am Waldrande ein Mann auf einem Pferde. Er schlich tiefer in die Stämme – es gab nur Kiefern da mit dem leisen Nadelboden darunter. Er kam über die Bodenwelle hinaus – dort lag es, was er ersehnt: flackernde Biwakfeuer, Soldaten, Zelte, im Rauch verschwindend und wieder auftauchend. Darüber eine klare Sternennacht.
Neues Herzklopfen. Er blieb stehen und riß die Augen weit auf, bis nichts Neues mehr sie fesselte. Ihm ward groß zu Mute. Aber er mußte näher, besser sehen. Das war bequem zu ermöglichen, wenn er weiter ging, das Lager zog sich bis an den Wald, aus dem man Holz zu schleppen schien.
Von Zeit zu Zeit schreckte ihn ein neuer Posten tiefer in die Stämme – immer wieder suchte er den Waldrand auf und vertiefte sich in das Bild, und immer deutlicher sah er.
Plötzlich richtete sich eine Gestalt hart neben ihm vom Fuße eines dicken Stammes her auf. Er sah das schwache Blinken einer Muskete. Bevor er sich von seiner grenzenlosen Bestürzung erholen konnte, hatte ihn eine Faust im Nacken gepackt und eine rauhe Stimme sagte:
»Wäs ist däs? Aen Knäbe? Ich will dich spionieren lehren, män Sohn!«
»Ich will nicht spionieren, ich will nur die Schweden einmal sehen und ihren König.«
»Sö? däs kännst du häben, män Sohn, es känn dir äber ach Kopf ond Kragen kosten.«
Und die kräftige Faust drückte Pankraz auf den Boden nieder und ihr Inhaber setzte sich zu ihm.
»Nun bläb mäl hier, män Sohn, bes die Ronde kömmt ond erzähl mir mäl, wer du best ond wo du herkömmst.«
Der Posten, von dem im Dunkel nicht viel zu erkennen war, hatte in seiner Sprache nichts Furchtbares für den Knaben, dessen Aufregung sich rasch legte. Er erzählte, erst stotternd, dann allmählich dreister von seiner Heimatstadt und der Rekognoszierungsfahrt mit den Stadtknechten.
»Däs ist gläublich, äber ich moß dech doch hier hälten, bes die Ronde kömmt. Du kännst froh sän, daß die glorräche Mäjestät Gostävos Aedolfos em Läger est. Säne Feldherrn machen necht älle so viel Federlesens wie er.«
»Der König ist hier?« rief Pankraz in freudiger Ueberraschung.
Der Mann bestätigte es und fing an, von ihm zu erzählen. Das wurde ein Gespräch, so harmlos, daß Pankraz völlig seine Lage vergaß. Gelegentlich fragte er, wie es denn käme, daß der Kriegsmann deutsch spräche? Oder ob die Sprache der Schweden so ähnlich dem Deutschen sei? Da lachte der Mann und sagte, er sei kein Schwede, sondern ein Braunschweiger, und es seien viele deutsche Soldaten im Schwedischen Heere. Als er im besten Zuge war, von seinen Schicksalen vor Ingolstadt zu berichten, wie er gesehen, daß die Stückkugel den jungen Markgrafen von Baden neben dem König in Stücke gerissen, und daß der König selber mit einemmal zu Boden gelegen, weil eine Kugel das Pferd unter ihm getötet – da klirrten Waffen in der Nähe, der Erzähler richtete sich strack auf und riß Pankraz am Wamskragen mit sich empor.
Die Runde kam.
»Aech häbe den Borschen hier gefangen,« sagte der Braunschweiger und rapportierte, was er im Gespräch von Pankraz erfahren.
Der Offizier sprach ebenfalls deutsch. Er befahl zweien der Soldaten, den Knaben zwischen sich zu nehmen, und nun ging es im Walde von Posten zu Posten, dem Lager immer näher, bis sie in das Freie traten, zu den nächsten Feuern. Hier lagen große Haufen abgehauener Aeste, und Soldaten waren beschäftigt, sie zu zerkleinern. Dumpf verlief sich der Widerhall der Axtschläge in den Kiefernstämmen des Waldes. Die fertigen Vorräte wurden von ab und zu strömenden Leuten fortgeholt. Weiterhin am Waldessaume stand eine große Reihe Wagen, bei denen es lebhaft zuging – Pankraz fand nicht Zeit, sich alles genauer anzusehen, in scharfem Schritt ging es vorwärts von Feuer zu Feuer, zwischen schwatzenden oder träge daliegenden Leuten in bunten Trachten, zwischen Fähnlein, blinkenden Waffen und Zelten. Mancher neugierige Blick haftete auf dem Knaben, welcher beklommenen Herzens, und doch ganz Auge, einherschritt.
Bei einem großen Zelt wurde Halt gemacht; nur der Offizier trat hinein. Angepflöckte Pferde stampften seitwärts und schüttelten sich. Feuerschein und das Geräusch der Bewegung im nächsten Umkreise belebten das Bild. Pankraz, mit dem niemand ein Wort sprach, wunderte sich, wie ruhig es doch unter so vielen Soldaten herging. Nach einiger Zeit kam der Offizier wieder heraus und winkte Pankraz. Er schlug das Zelttuch zurück und hieß ihn eintreten.
In Rauch und Feuerschein saß ein halb Dutzend Offiziere: braune Gesichter mit Schnauzbärten oder Knebelbärten. Einer, welcher die Beine mit den mächtigen Stulpstiefeln von seinem Feldstuhle weit hinaus streckte, rief Pankraz zu sich. Er musterte ihn aus dem langen dunklen Gesicht unter hochgezogenen Brauen hervor so scharf, als schnitte und steche er mit einem Messer an ihm herum; aber als der ihn so frank und blitzäugig ansah, ließ er ab und fragte:
»Woher des Wegs, Bursche?«
Pankraz wiederholte, was er schon dem Braunschweiger erzählt.
»Wozu sind die Stadtknechte ausgeschickt?«
»Zu sehen, ob die Schweden kämen und wieweit sie noch entfernt seien.«
»Hast du gesehen, ob die Bürger Widerstand leisten wollen?«
»Sie haben gerüstet; aber sie wollen erst unterhandeln, ehe sie kapitulieren oder sich wehren, hat der Rat beschlossen.«
»Wieviel Bürger sind in der Stadt?«
Pankraz besann sich.
»Ich weiß nicht.«
»Wieviel Zeit braucht man, die Stadt zu umgehen? Eine Stunde?«
»Ich glaube: nicht ganz.«
»Also kurfürstliche Truppen sind nicht in der Stadt?«
Pankraz zögerte. Hing vielleicht für die Stadt viel davon ab, ob er ja oder nein antwortete? Man fragte ihn hier aus; vielleicht, daß er nun Dinge sagen sollte, welche zu wissen dem Feinde nützte, zum Schaden seiner Heimatstadt.
»Nein,« sagte er verwirrt.
Der Offizier runzelte die Brauen.
»Lüge nicht und verheimliche nichts!«
»Es ist die Wahrheit.«
»Es wird keine Not sein um die Stadt,« sprach die Stimme eines anderen Offiziers durch den Rauch. »Ein Krämernest mit ein paar alten Böllern und viel Geschrei; von weitem werden sie uns anknurren wie ein Straßenköter, der den Schwanz einstreicht, wenn man näher kommt.«
Der Offizier, welcher Pankraz verhörte, drehte sich ein wenig herum. »Du magst recht haben, aber es muß gemeldet werden.« Dann, sich wieder Pankraz zuwendend, sagte er: »Du wirst die Nacht im Lager bleiben und morgen mit uns vor die Stadt ziehen.«
Er gab dem am Zelteingang harrenden Offizier einen Wink. »Herr Fähndrich, Ihr haftet für ihn. Bringt ihn unter und dann kommt wieder.«
Sie verließen das Zelt, Pankraz und sein schweigsamer Führer. Sie gingen etwa fünfzig Schritte hin, auf angepflöckte Pferde zu. Im Flammenschein blinkten in nächster Nähe Kürasse, sauber in Reihen gestellt; die Reiter saßen und lagen bei den Feuern, braun, bärtig, narbig, die Augen vom Licht funkelnd; das Geflacker gab ihnen etwas so Wildes und Unheimliches! Ein alter Knasterbart bei dem vordersten Feuer schalt heftig auf einen der Reiter ein, der ihm gegenüber saß und verdrießlich vor sich hinsah. Jetzt blickte der letztere auf und bemerkte die Ankömmlinge, worauf er, sichtlich erleichtert durch die Störung, dem Alten eine Bemerkung zurief. Der Alte erhob sich.
»Oldekop, der Bursche hier steht unter deiner Bewachung,« sagte der Offizier. »Er wird morgen früh mit uns marschieren.«
In diesem Augenblick erschollen langgezogene Töne weither aus dem Lager, Signale offenbar, denn die Leute sprangen sämtlich auf. Pankraz fühlte Herzklopfen – drohte etwa ein Ueberfall? Aber ebenso rasch, wie es gekommen, schwand sein Herzklopfen wieder. Niemand griff zu den Waffen: die Leute blieben in abwartender Haltung stehen; der Alte, dem er übergeben worden, faßte ihn ruhig im Genick und schob ihn vor sich. Da tauchte bei den Pferden eine schwarze Gestalt mit weißer, radartiger Halskrause auf; die Reiter falteten die roten, schwieligen Hände, und der schwarze Mann, welcher langsam herbeischritt, hub im Gehen einen Ton zu singen an, in welchen plötzlich die Soldaten einfielen. Mit einer schauderhaften Raspelstimme sang der Alte hinter Pankraz, daß er jedes Wort verstand:
»Ein' feste Burg ist unser Gott,
Ein' gute Wehr und Waffen,
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns itzt hat betroffen.«
Eine geraume Weile dauerte das Singen. Dann betete der Schwarze mit lauter Stimme. Es war dabei von Sünden und Vergebung und Glauben und reinem Evangelio die Rede, und das Ende war eine Bitte um Sieg für die Waffen der Streiter Gottes. Der Schwarze ging wieder, die Soldaten legten sich auf die Erde und hantierten mit Bedeckungen, offenbar in der Absicht, um sofort einzuschlafen. Pankraz stand einen Augenblick verlassen. Weithin scholl noch Gesang bei lodernden, qualmenden Feuern: ein wundersames, feierlich stimmendes Wesen in der wilden, kriegerischen Umgebung. Die Rückkehr des Alten, der zu den Pferden zurückgegangen war, störte ihn. Er warf ihm eine braune, haarige Decke zu und sagte:
»Leg dich op din Ohr, min Jong. Et duert nich lange.«
Pankraz that, wie ihm geheißen. Er lag fest in die stark nach Pferden riechende Decke gewickelt und fühlte im Einschlafen, wie die Wärme behaglich von dem Feuer herüberstrahlte. Da war es ihm, als ob sich eine Anzahl der Soldaten regten und als ob gesprochen würde. »Blivt liegen, Jongs, dat is usem allergnädigsten Herrn Gustavus Adolfus dat Believteste,« hörte er jetzt den Alten halblaut neben sich sagen. Ein Gedanke kam Pankraz, der ihm die Augen wieder aufriß und den Kopf hoch hob.
Der König – war er da? Wo war er?
Kaum dreißig Schritt entfernt wandelten zwei Gestalten in Mäntel gehüllt, große Schlapphüte mit herabwallenden Federn auf dem Kopfe. Der eine hielt in der Nähe eines Feuers an und schaute wie prüfend um sich. Ein langes Gesicht mit Knebelbart – ein gelber Lederkoller – große Stulpstiefeln – jetzt wandte er sich wieder ab und schritt weiter.
»Ach Herr, war das der König?« fragte Pankraz mit bittendem Tone zu dem Wächter hin.
»Ja, min Jong!«
»Der kleinere von beiden?«
»Der nämliche. Nu swieg!«
Die drei Stadtknechte waren gegen Abend in die Stadt zurückgekehrt und hatten zuerst dem Stadthauptmann, dem edlen Herrn Bartholomäus Schinner, Meldung gethan über das Ergebnis ihrer Sendung. Die Sache war zu wichtig, um so einfach abgethan zu werden: so ward der Rat berufen, und die alten Haudegen mußten in dem großen Bankettsaale noch einmal haarklein berichten.
Es ergab sich als so gut wie sicher, daß die Schweden vor der Stadt vorsprechen würden.
»Nebenbei gesagt: seid ihr mit einem Buben ausgezogen?« fragte der Ratsschreiber Pelizäus.
»Ja.«
»Ist er mit zurückgekommen?«
»Nein. Der vorwitzige Bub ist weiter gegangen, um bis hart an die Schweden zu kommen und genaue Kundschaft einzuziehen. Er wollte keinen Rat noch Vermahnung annehmen.«
»Wer ist der Bub?« fragte es vielstimmig aus der Versammlung.
»Der Enkel des Fabian, des alten Sandfuhrmanns.«
»Die Buben der Stadt sind ein verwegen Volk geworden und es ist schon arg mit ihrem Raufen,« rief der Stadtkämmerer Zingele und seine lederfarbene Stirn war rot geworden vor Zorn. »Sie haben mir gestern einen Knüttel an das Bein geworfen, daß ich's die ganze Nacht gespürt habe. Wenn wir der Schwedenplage ledig sein werden, wollen wir dazu thun, daß der Verwilderung gesteuert wird.«
Er fand im Augenblick keine sonderlich geneigten Ohren für seine Beschwerde. Die Köpfe waren allzusehr erregt von dem Gedanken an das, was nunmehr wahrscheinlich der nächste Tag bereits bringen sollte. Der alte Streit fing trotz der festgesetzten Absprache unter den Ratsmitgliedern von neuem an, ob man sich wehren, ob man sich ergeben solle. Er fand sein Echo auf dem Marktplatze, wohin die Nachricht, daß die Stadtknechte Bestimmtes von dem Heranzug der Schweden erfahren, wieder alles, was Beine hatte, gelockt. Die Scene war hier um so verwirrter, als sich eine Anzahl Wagen von Flüchtlingen aus dem umliegenden platten Lande aufgestellt hatten, welche mit hochgetürmtem Gerät wie Inseln aus der Menge ragten und sie stauten. Auch etliche Mönche hatten sich wieder eingefunden, und sie boten – vermutlich in Furcht, daß sie von den Ketzern am schlechtesten behandelt werden würden – alles auf, um den kriegerischen Sinn zu entflammen.
Der Rat ging ratlos auseinander. Nur daß man die Bedingungen der Schweden vor dem Entscheid hören wollte, stand noch fest. Herr Bartholomäus Schinner war entschlossen, nichts zu versäumen, um für jede Entscheidung gerüstet zu sein, und die ganze Nacht war es auf den Mauern lebendig und eilten Boten ab und zu. Aber auch in den Bürgerhäusern und besonders in den Wirtshäusern wollte keine Ruhe werden. Die Kinder ausgenommen, mochten in dieser Nacht wenige in der Stadt den Schlaf finden.
Der Tag graute – bleiern zogen sich die Stunden der Erwartung hin. In der gotisch durchbrochenen Turmspitze der Pfarrkirche von Sankt Katharinen, von wo man die weiteste Aussicht in das Land hinein hatte, war alles von Menschen vollgestopft, so viele ihrer die Leitern zu tragen vermochten – man hatte mit Gewalt wehren müssen, daß nicht mehr sich hinaufdrängten und ein Unglück anrichteten. Nach dieser Spitze waren, je weiter der Tag vorschritt, desto gespannter die Blicke der Stadt gerichtet, denn da, ganz oben, wußte man einen Dachdecker, welcher es übernommen, ein rotes Fähnlein zu schwenken, sobald er des Feindes ansichtig wurde.
Und da – da flatterte es. Im Turm schrie es auf und wie ein Schrei ging es durch die ganze Stadt.
»Sie kommen, sie kommen! In einer Stunde sind sie da.«
Was für eine Stunde! Ein Ameisengekrabbel, ein Hasten und Streiten, aufgeregte bleiche und gerötete Gesichter. In der ersten Hälfte der Zeit waren die Aussichten der Kriegspartei durchzudringen so schwache, daß der Ratsschreiber, welcher auf Wunsch des Bürgermeisters gegangen war, die Stimmung zu sondieren, mit bedenklichem Gesicht in die seit früh tagende Ratsversammlung zurückkehrte und offen sagte, er halte es bei dem, was er gehört und gesehen, für gefährlich, die Stadt zu verteidigen, denn es könne Aufstand und Meuterei geben.
Da begannen mit einemmal die Glocken der Pfarrkirche zu läuten, die Glocken von Sankt Ulrich und Sankt Sebastian fielen ein, alsbald kamen auch diejenigen der drei Klöster mit ihren feinen Stimmen hinzu. Ein gewaltiger Chorus von Erzgetön brauste und wogte durch den sonnigen warmen Spätsommerhimmel. Die Ratsherren sahen sich an – man wußte nicht recht, was das bedeutete. Sie traten hinaus auf den Gang mit dem durchbrochenen Pfeilerwerk und spähten aus. Eine Weile war da nichts zu sehen als die Köpfe der Menge, welche sich um die aufgefahrenen Wagen bewegte, und die neugierig aufgeregten Gesichter in den Fenstern der Häuser. Es war zu sehen, daß man auch da unten über das Geläute stutzig war. Nicht lange aber währte es, so kam eine Strömung von Leuten aus der Marktgasse her und drängte es wiederum vom Markte dahin. Näher, immer deutlicher ertönte ein melodisches Summen, und endlich bog es feierlich singend um die Ecke: Chorknaben in Weiß und Schwarz, Weihrauchfäßchen in den Händen, Kruzifixträger, eine Art Wägelchen mit einer Puppe darauf, welche in der Sonne von Gold und Silber flimmerte – die heilige Katharina der Pfarrkirche – dahinter der Dechant unter dem Baldachin, in der Hand die goldene, edelsteinbesetzte Monstranz, weiter die gesamte Geistlichkeit der Pfarrkirche, von Sankt Ulrich und Sankt Sebastian, die Dominikaner, die Franziskaner, selbst die Ursulinerinnen, ein erhabener, prunkvoller Zug, alle Gesichter ernst und bekümmert, eintönig eine Litanei singend. Prozessionsfahnen begleiteten den Zug, von der niederen Geistlichkeit getragen.
Was wollten sie? War das nur ein Bittgang durch die Stadt, welcher vom Himmel die Abwehr der Schwedengefahr erflehen sollte? Rechneten diese Leute auf ein Wunder? Oder wollten sie durch ihr Erscheinen den Haß des Volkes wider die Schweden aufstacheln?
Die Menge fiel auf die Kniee. Langsam näherte sich der Zug dem Rathause. Jetzt wären die Herren vom Rat gern zurückgetreten in den Saal, aber schon ruhten seit einer Weile die Augen auf ihnen, und unschlüssig blieben sie stehen. Da hielt vor ihnen der Baldachin des Dechanten. Die Menge drängte sich eng herzu, und jetzt hob der Dechant die Monstranz und sprach mit lauter Stimme:
»Hochlöbliche, edle und wohlweise Herren! Es liegt nunmehr vor Augen, daß wir in große Not und Gefahr kommen. Die Heerhaufen der Ketzer und Abtrünnigen ziehen heran in der klaren Absicht, die Heiligtümer zu berauben und zu zerstören und die Gläubigen dieser Stadt an Leib und Gut und, so es anginge, auch an der Seele zu schädigen. Es gibt allhier Thoren, welche des nichtsnutzigen Vertrauens sind, durch Nachgiebigkeit die Kinder der Lüge und Bosheit zur Milde stimmen zu können. Ihr aber, deren Weisheit das Wohl und Wehe dieser Stadt anvertraut ist, sorget, daß nicht das Heilige den Hunden gegeben werde, so wird sich zeigen, daß ihre Waffen nichts vermögen wider die Fahnen des Glaubens, so werden jene Verblendeten bald ein besser Vertrauen gewinnen und wird unsere Stadt ein leuchtendes Beispiel sein vor Kaiser und Reich. Das walte Gott mit allen seinen Heiligen. Amen!«
Der Dechant schwieg. Die Ratsherren oben machten verlegene Gesichter und steckten die Köpfe zusammen. In der Menge aber erhob sich Murren und Murmeln. Ein Mann stieg auf einen der Wagen, kletterte auf einen Schrank und schrie: »Nieder mit den Ketzern! Kocht Pech, kocht Schwefel! Sie sollen sich die Köpfe an unseren Mauern einrennen!« Ein großer Lärm folgte. »Kein Einlaß für die Mordbrenner! Nicht öffnen! Zu den Waffen! Auf die Wälle!« – so scholl es in wildem Durcheinander. Es war deutlich, daß die ganze Erscheinung der Prozession und die Rede des Dechanten, welche bei der lautlosen Stille vorher sehr weithin verstanden worden war, ihre Wirkung nicht verfehlten. Man drängte sich zu den Prozessionsmitgliedern, küßte ihnen die Gewänder, hob die Hände in die Luft – wenn in diesem Augenblicke die Schweden angefragt hätten, ob man ihnen die Stadt übergeben wolle, so wären ihre Boten schwer vor der Erregung der Menge zu schützen gewesen.
Auf dem Pfeilergange oben stand der Ratsschreiber neben der rundlichen würdevollen Gestalt des Bürgermeisters, welcher die Kappe von dem kurzgeschorenen Haupt genommen hatte und sich die Stirn trocknete.
»Gestrengen,« mahnte er eindringlich, »es wird nicht wohl angehen ohne einiges Nachgeben, wenn auch ein Häkchen dabei gemacht werden sollte, an welches nachher ein anderer Beschluß gehängt werden kann. Es könnte ohnedies sein, daß dieser Leute Meinung in einer halben Stunde eine gar viel andere ist.«
»Ihr habt recht,« nickte der Bürgermeister. »Es scheint, daß die geistlichen Herren uns nichts anderes übrig lassen wollen.« Er wandte sich zu den Ratsherren: »Ich bitte Gehör, ihr Herren: so niemand etwas dawider hat, will ich eine beruhigende Versicherung geben, damit wir dem Drang und Zwang entrinnen, ohne uns zu einem Entschlusse zu verbinden.«
Kein Widerspruch wurde laut, und der Bürgermeister trat vor und winkte hinab. Eine Weile dauerte es, bis Ruhe drunten wurde, dann scholl seine Rede auf den Markt hinab:
»Wir haben, hochwürdige Herren, im Angesicht dieser schweren Not und Bedrängnis, welche uns naht, nichts verabsäumt, um allewege das Beste dieser Stadt wahren zu können. Wir ersuchen nun jedermann, zu rüsten, was zur Abwehr des Feindes dienen kann, und sich damit unserem Hauptmann, dem edlen Herrn Schinner, darzustellen, maßen wir fest entschlossen sind, eine Schädigung der Personen und Gegenstände, welche unserer allerheiligsten Religion dienen, wie auch der Bürger abzuwehren, dafern solches zu besorgen ist. So bitten wir denn die hochwürdigen Herren, des Weges weiter zu ziehen und in eifrigem Gebet des Wohles der Stadt sich anzunehmen, bis die Gefahr zu gutem Ende gekommen sein wird, uns aber zu vertrauen, daß wir den Wunsch und Willen der Bürgerschaft in weislicher und williger Erwägung halten werden.«
Damit trat er zurück und ging in den Saal, und die Ratsherren thaten desgleichen.
Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Kaum war der größere Teil davon in der Fruchtstraße verschwunden, so kam von der Marktgasse her ein Trupp Männer gelaufen und rief: »Sie sind da! Sie lagern sich – draußen, eine Viertelstunde weit vor dem Sixtusthore.«
»Wie viele sind ihrer?« fragte es aus dem zusammenströmenden Haufen.
»Ein ganzes Heer! Man sieht die Böller und Feldschlangen. Wenn sie uns einschließen wollen, kommt keine Maus aus der Stadt.«
Die Nachrichten liefen über den Markt hin. Es gab wieder Jammern und kleinlaute Mienen. Aber im ganzen hielt die kriegerische Stimmung an.
»Wir wollen warten, bis der Schweden Botschaft kommt.«
Von den Schweden war noch nichts unterwegs. Aber ausersehen waren die Abgesandten bereits, welche der Stadt Uebergabe fordern sollten.
Die Reiter, neben denen Pankraz den beschwerlichen Weg hatte machen sollen, waren barmherzig gewesen. Nach der ersten Viertelstunde hatte ihn einer der Männer auf das schwere Tier hinaufgenommen, welches er ritt, und als derselbe des Nebenreiters vor ihm müde geworden, hatte ihn ein anderer zu sich gehoben. Pankraz war unbeschreiblich stolz, und den Männern hatte es gefallen, wie der Junge mit offenem Munde und blitzenden Augen alles bewunderte, was er sah und hörte. Immer wieder hatte man ihm den König zeigen müssen, und er wußte bereits die Namen der meisten hohen Offiziere, welche ihn begleiteten. Als die Stadt in Sicht gekommen, hatte er selber den Erklärer abgeben müssen für die Kirchen und Thore.
Die Reiter lagerten in der Nähe des Flusses. Man war kaum abgestiegen, so kam ein Offizier in Koller und Federschlapphut gesprengt. Es war derselbe, welcher Pankraz am Abend zuvor ins Lager gebracht hatte und den der Knabe tagsüber beständig in der Nähe des Königs gesehen. Sein braunes, schmales, ernstes Gesicht mit dem dünnen Knebelbart spähte, bis der Blick auf Pankraz haften blieb. Jetzt winkte er ihn heran.
»Du wirst mich zum König begleiten. Rede freimütig, wenn er mit dir spricht, aber hüte dich zu lügen!«
Pankraz ward erst blaß, dann feuerrot. Zum Könige! Er! Nun sollte er mit dem größten Helden der Welt reden!
Der Offizier hatte kehrt gemacht und ritt langsam vor, dann und wann einen Blick zurückwerfend, ob der Knabe nachkam. Neugierige Gesichter auf dem Wege verursachten Pankraz ein Gefühl, als müsse er Spießruten laufen. Dort hielt auf einem prachtvollen Schecken – das war er, der König, der Feldherr, der Sieger!
Mit schüchterner Bewegung sah Pankraz zu ihm auf, nur undeutlich hatte er nebenbei einen Eindruck von den Gestalten der Umgebung. Einen Augenblick schwamm es ihm vor den Augen.
Da sprach jemand zu ihm – es war nicht der König, der nur mit großen, hellen, nicht unfreundlichen Augen zu ihm herunter sah. Pankraz erblickte denselben Offizier, der ihn gestern abend im Zelte verhört hatte.
»Du stehst vor Seiner Majestät dem Könige, Junge! Ich wiederhole die Fragen, die ich gestern an dich gerichtet. Antworte nichts wider die Wahrheit!«
Und nun fragte er wirklich noch einmal, und Pankraz antwortete diesmal ohne Zaudern und Zögern. Ein Offizier neben dem Könige dolmetschte die Antworten in einer fremd klingenden Sprache, so schien es Pankraz. Dann nickte der König, und sie schienen zu beraten.
»Du wirst mit dem Parlamentär in die Stadt zurückkehren,« beschied der Frager kurz zu Pankraz hinab. »Du wirst den Leuten sagen, daß wir keine Mordbrenner und Räuber sind, sondern eines gütigen Königs christliche Soldaten, welche nur denen ein Leid anthun, welche uns mit den Waffen in der Hand dazu zwingen. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Willst du das thun?«
»Ja.«
Pankraz hatte die Befangenheit überwunden. Er stand und sah den Schwedenkönig so unverwandt an, daß dieser es bemerkte. Er sagte lächelnd etwas, was Pankraz nicht verstand. Wie klug und wohlwollend zugleich sah dies lange knebelbärtige Antlitz mit den merkwürdig großen Augen aus!
»Nun, hast du noch einen Wunsch?« fragte der große starkknochige Offizier, der heute minder barsch war als gestern im Zelte.
»Nein,« antwortete Pankraz und hob sich ordentlich. »Ich will nur recht lange den ansehen, der ein Held ist, wie Alexander der Große und Hannibal und Cäsar.«
Die Offiziere lachten hell auf und sprachen dann durcheinander. »Was der Junge für vornehme Bekanntschaften hat!« hörte Pankraz den einen sagen. Da plötzlich bog sich der König Gustav Adolf, der einem Offizier aufmerksam zugehört hatte, vom Pferde und reichte dem Knaben die Hand hin, eine Hand in langem ledernen Stulphandschuh, und Pankraz rieselte es vom Scheitel bis in die Zehenspitzen hinab, als diese Hand die seinige faßte und schüttelte.
»Des Königs Majestät meint, du würdest nicht ruhen, bis daß du auch ein General würdest. Da wir dies jedoch hier jedenfalls nicht abwarten können, so gehab dich wohl und laß den Junker da nicht länger warten!«
Diese Worte weckten Pankraz aus seiner Erstarrung, in welcher er dem Könige nachblickte, als derselbe nach einem freundlichen Nicken kehrt machte, um dann, von den Offizieren gefolgt, langsam wegzureiten. Jetzt wandte auch der, welcher mit Pankraz geredet, sein gewaltiges Roß: ein paar Sätze, und er war bei den übrigen – Staubwolken verhüllten bald die Gruppe.
Der überselige Pankraz sprang zu dem Führer hin, der bisher sich ernsthaft schweigsam gehalten hatte, wie der Knabe ihn schon kannte, und die beiden setzten sich in Bewegung. Fünfzig Schritte weiter stießen noch zwei Berittene zu ihnen, ein Trompeter und einer, der ein weißes Fähnlein hielt. Man ritt langsam vorwärts, doch mußte Pankraz traben, um mitzukommen. Bald waren sie aus dem Bereiche des Kriegsvolks heraus – die drohend aufgefahrenen Geschütze waren das Letzte, was an die Schweden erinnerte. Doch warf Pankraz noch manchen Blick rückwärts – denn der Weg ging ansteigend und das Lager blieb in Sicht – und dann und wann besah er wieder seine Hand, diese glückliche Hand, welche in derjenigen eines Königs gelegen.
Diese glückliche Hand war sehr unsauber, wie Pankraz bemerkte. Er gelobte, sie so oft wie möglich zu waschen, und den ganzen Pankraz dazu. Er war jetzt etwas Vornehmes.
Sie hatten das Sixtusthor vor sich mit dem schwerfälligen Stadtturm drüber. Ueber die Mauerköpfe reckten sich rechts und links neugierige Gesichter, zwischen denen hier und dort ein Böller den dunklen Hals vorreckte. Jetzt wurde Halt gemacht, der Trompeter blies in drei kurzen Absätzen, dann rief der Offizier: »Ein Gesandter Seiner Majestät des Königs von Schweden begehrt Einlaß in diese Stadt!« Kreischend leierte sich die Zugbrücke nieder, zugleich ging das schwere eiserne Fallgitter hoch, und gleich darauf öffneten sich knarrend die aus schweren Eichenbohlen gefugten, eisenbeschlagenen Thorflügel.
Herr Bartholomäus Schinner stand vor den Einreitenden. Man hielt an, und eine höfliche Begrüßung ward gewechselt. Menschen kamen von den Wällen herab, Menschen strömten die Straße herab, Männer, Weiber, Kinder. Die Stadtknechte, welche der Stadthauptmann bei sich gehabt, hatten Mühe, den Raum umher etwas frei zu halten. »Pankraz! Pankraz!« riefen Stimmen. Es waren die von Kameraden. Pankraz nickte nur. Etwas sonderbar war ihm doch zu Mute, jetzt, da ihn alles wie ein Wundertier begaffte. Aber er blieb bei den Pferden.
»Gefalle es euch, mit mir zu kommen. Ich werde euch zum Rathause geleiten,« sagte Herr Schinner ernst.
Die drei Schweden stiegen ab – der Offizier war auch ein richtiger Schwede, obwohl er deutsch sprechen konnte.
»Ich habe hier einen Knaben aus der Stadt, welcher sich in unserem Lager betreffen ließ. Seine Majestät unser glorreicher König hat geboten, denselben in das Geleit zu nehmen und euch zu überliefern.«
Herr Bartholomäus Schinner besann sich.
»Du wirst mit uns kommen,« befahl er endlich kurz, zu Pankraz sich wendend.
Gedränge vor, Gedränge hinter sich, durch an die Mauern der Häuser gedrückte Menschen ging es die schmale Straße hinauf. Von den Schweden führte einer sein Pferd hinter dem anderen. Die Menschen verhielten sich ruhig, nur halblaut wurde gesprochen. Der Stadthauptmann begleitete vorn den Offizier, Pankraz ging hinten mit einem halben Dutzend Stadtknechten.
Vor dem Rathause wurde Halt gemacht. Der Stadthauptmann winkte Pankraz heran: er solle sich bei den Pferden halten. Dann schritt er mit dem Offizier in das Portal und treppauf.
Im großen Bankettsaale fanden sie den Bürgermeister mit dem ganzen Rat in Erwartung.
»Graf Wachtmeister, Abgesandter Seiner Majestät des Königs von Schweden, begehrt Gehör,« sprach der Stadthauptmann.
»Wir heißen den Boten Seiner Majestät willkommen und sind seines Auftrags gewärtig,« sagte der Bürgermeister feierlich.
Da hob der Offizier an:
»Im Namen Seiner sieghaften Majestät fordere ich Uebergabe dieser Stadt, darin zu schalten und zu walten, wie es ihm beliebt.«
Unter den Ratsherren war eine Bewegung merklich.
»Dagegen sichert er zu und verspricht,« fuhr der Abgesandte fort, »daß keinem der Bürger ein Leid geschehen soll, weder an Leib und Leben, noch an Hab und Gut, wofern von Stadt wegen zehntausend Goldgulden, fünfzig Rinder und ebensoviel Säcke Mehl gestellt, auch, insoweit es begehrt wird, die Waffen ausgeliefert werden.«
»Und so wir uns des weigern?« fragte der Bürgermeister.
»So wird die Stadt mit Gewalt beschossen und berannt werden und Seiner Majestät Ungnade der Stadt auflegen, was sie reuen machen wird, die Gnade verschmäht zu haben,« war die ernsthafte Antwort.
»Zehntausend Gulden – zehntausend Gulden,« knurrte halblaut eine Stimme. »Plünderung! Plünderung bis auf die Haut!« Es war die Stimme des Stadtkämmerers. Er sah krebsrot im Gesicht aus und wie einer, der aus der Haut fahren möchte, aber nicht damit zustandekommt.
»Mit Verlaub, das sind keine billigen Bedingungen,« sprach der Bürgermeister. »Das bedünkt mich eher eine Forderung an eine eroberte Stadt.«
Der Offizier zuckte die Achseln.
»Eine so gestellte Sache will wohl überlegt sein. Wie lange Bedenkzeit wird uns gestattet?«
»Morgen zu Ende der sechsten Stunde spätestens soll der Bescheid in das Lager gebracht werden.«
»So sorget, edler Herr, daß der Bote wohl geleitet aus dem Thore kommt,« wandte sich der Bürgermeister an den Stadthauptmann. »Alsdann schafft, daß wir Eures Rates nicht entbehren. Gehabt Euch wohl, Herr Graf!«
Der Gesandte verneigte sich kurz und schritt aus dem Saale. Hinter ihm aber brach der Aufruhr in der Ratsversammlung aus. Der Stadtkämmerer hatte lange genug mit seinem Zorn an sich gehalten, jetzt konnte er ihm ungehindert freien Lauf verstatten.
»Wir werden ausgeraubt. Mordbrenner sind sie, Banditen! Sie wollen, daß wir ›nein‹ sagen sollen, damit sie ungehindert mit dem Schein Rechtens schießen, sengen, brennen und plündern können. Wo nehmen wir zehntausend Gulden her? Ich habe sie nicht, ich will sie nicht haben; mag dieser Stadt Kämmerer sein, wer da Lust hat, wofern dieses Geld den schwedischen Höllenhunden in die Klauen gegeben werden soll. Die Stadt ist bettelarm auf Kinder und Kindeskinder!«
»Recht so, Herr Zingele!« – »Wir geben das nicht, mögen sie kommen!« – »Mögen sie sich das Geld selber holen!« – so rief es tumultuarisch zwischen die Worte des Stadtkämmerers. Und wieder von anderer Seite her: »Ruhe, ihr Herren, Ruhe! Wir müssen erwägen!« Endlich setzte sich Herr Zingele, stützte die Arme auf und fuhr sich verzweifelt über den hohen kahlen Schädel.
»Mit Beihilfe einer gerechten Steuer auf die Bürger wäre das Geforderte wohl zu schaffen, ohne den Stadtsäckel ganz arm zu machen,« sprach eine Stimme.
»So, so, Herr Canisius?« fuhr der Kämmerer wieder auf. »Habt Ihr das Huhn, das goldene Eier legt, im Hause? Wir nicht, wir gar nicht.«
»So wir willig sind, erläßt man morgen vielleicht auf inständiges Bitten und Vorstellen einen Teil,« rief ein anderer.
»Ihr Herren,« sprach der Bürgermeister jetzt mit starker Stimme, »gebt mir Gehör! Mit Hitze läßt sich der Sache nicht wohl beikommen. »Mich dünkt, es sei recht und billig, daß die Bedingungen der Bürgerschaft zu wissen gethan werden, und daß wir dieserhalb die Zünfte einberufen. So mag sich ein jeder die Sache mit seinen Leuten überlegen –«
»Das ist gut gesagt zu den Mäusen: Sollen wir die Katzen schlachten?« unterbrach ihn Herr Zingele. »Den Schaden haben wir, die Vermögenden, zu tragen. Die kleinen Bürger kommen wohl aus dabei. Aber wer glaubt, daß die Räuber sich genügen lassen, wenn wir ihnen zu Willen sind und Thür und Thor dazu öffnen? Sie kommen herein, und was wir ihnen noch nicht gegeben haben, nehmen sie.«
»Die Kirchen, die Klöster mögen das meiste steuern!« rief ein anderer. »Für sie wird's am übelsten auslaufen, wenn die Schweden mit Gewalt Herren hier werden.«
»Wenn der Schwedenkönig im Lager ist, wird Mannszucht gehalten!« ertönte eine dritte Stimme.
Wieder brach ein Lärm los, daß niemand sein eigen Wort unterscheiden konnte. Der Bürgermeister war unvermögend, dem zu steuern. Das dauerte so lange, bis Herr Bartholomäus Schinner in den Saal trat, und er brachte jemand mit: Pankraz!
»Den Buben haben uns die Schweden zurückgesandt. Ein Stadtkind, ihr Herren, das sich in der Schweden Lager vorgewagt hat.«
Ueber das Gesicht des Stadtschreibers Pelizäus lief ein Blitz der Erinnerung. Er dachte an den Kampf der Buben, den er mit angesehen, und an das, was der Blondkopf von Pankraz berichtet. Er stand plötzlich neben dem Knaben, der seine Hand auf der Schulter fühlte und sich umwandte.
»Bist du des alten Fabian Pankraz?«
»Ja, Herr Stadtschreiber.«
Die anderen Ratsherren drängten sich auch herzu.
»Was hast du bei den Schweden gethan? Wie bist du hingekommen zu ihnen?« fragte es um ihn her. Der Knabe geriet einigermaßen in Verwirrung.
»Laßt ihn, ihr Herren, er wird erzählen,« rief der Stadtschreiber.
»Erzähle!«
Und Pankraz erzählte, von seiner Wanderung mit den Stadtknechten »aus Neugierde«, um die Schweden zu sehen für den Fall, daß sie nicht zur Stadt her kämen, von seiner Gefangennehmung und seinen Erlebnissen im Lager. Als er berichtete, wie sie gesungen und gebetet hätten, wurden einige Beifallsbezeigungen laut.
»Sie sind nicht so schlimm, ich sag's; manche von den katholischen Truppen könnten sich ein Beispiel nehmen,« sagte einer.
Man entließ Pankraz endlich und kehrte zu den Plätzen zurück. Nur der Stadtschreiber hielt den Knaben auf.
»Halt dich unten beim Rathause!« flüsterte er ihm zu; »ich will nachher etwas mit dir reden.«
Pankraz sah den kleinen Mann verwundert an und nickte endlich.
Es gab noch ein langes unentschiedenes Verhandeln; endlich drang des Bürgermeisters Meinung durch: man beschied die Zünfte. Die Ratsglocke läutete; allmählich füllte sich der Saal – die Männer kamen zum Teil von den Wällen, wo die scharfe Wacht nicht unterbrochen ward. Die schwedischen Bedingungen waren bald mitgeteilt. Um Mitternacht sollte alles wieder zur Stelle sein, um den Bescheid an die Schweden zu beraten.
Pankraz wartete lange drunten auf den Ratsschreiber. Er hatte seither das dem Schwedenkönig gegebene Versprechen redlich gehalten, nämlich seinen Landsleuten Gutes über die Schweden zu berichten; solches wurde ihm leicht genug, denn er war beständig von Leuten umringt, welchen er erzählen sollte, und was er zu erzählen hatte, war ja nur Gutes. Mit Kopfschütteln hörte es der Haufen. Aber die Stimmung wurde doch den Schweden immer günstiger.
Die Rückkehr der Ratsherren und der Zünfte auf den Markt lenkte die Aufmerksamkeit von ihm ab. Der Markt war schon ziemlich dunkel. Plötzlich stand Herr Pelizäus neben ihm und zog ihn mit sich.
»Du bist ja auch so eine Art Schwedenkönig,« sagte er lachend. »Einer von deinen Soldaten hat es mir erzählt, wie du sie wider des Bürgermeisters Lenz kommandierst. Wer siegt denn da?«
»Wir zumeist,« sprach Pankraz stolz.
»Sage mir: wenn du ebenso viele Soldaten hast, wie der Lenz, und ihr finget an, euch zu schlagen, glaubst du, daß du die Schlacht gewinnen würdest?«
»Ja, das weiß ich.«
»So komm mit mir! Ich will mir von dir die besten deiner Soldaten nennen lassen und ihre Namen aufschreiben und wo sie wohnen.«
Sie gingen durch die engen, trübfinsteren Gassen. Als sie in die Wohnung des Ratsschreibers kamen, sagte er zu der Magd, welche ihm geöffnet hatte – er war nicht verheiratet –: »Rüste noch ein Bett! Der Bub wird diese Nacht im Hause schlafen.«
Sie saßen, und der Ratsschreiber schrieb. Inzwischen trug die Magd Essen auf und brachte Bier, und die beiden thaten den Speisen und dem Getränk nebenbei alle Ehre an.
»So,« sagte Herr Pelizäus endlich. »Nun wirst du ein wenig schlafen. Es ist möglich, daß du sehr früh geweckt werden wirst.«
Es ward Mitternacht. Pankraz schlief wie ein Toter.
Im Rathaussaale, der von Kerzen erhellt war, hatte sich alles eingefunden, was da mitzusprechen hatte. Auch der Markt war von Menschen angefüllt. Die Aufregung hielt das Volk munter – mit einer Handvoll Schlafs hatte in dieser Nacht auch der Faulste genug.
Sie hatten die Stunden her gestritten und beraten – bei den Wällen, auf den Zunftstuben, straßauf, straßab, die Männer – die Weiber nicht minder. Auch die Geistlichkeit, soweit sie in dieser Nacht nicht den Gottesdienst zu versorgen hatte, welcher unausgesetzt mit Hochamt und Messen gehalten ward, war unermüdlich unterwegs gewesen, um die Sache nach ihrem Willen zu lenken.
Jetzt sollte es zu einer Entscheidung kommen auf dem Rathause, in dem kerzenhellen Saal.
Aber wie da entscheiden!
Soviel Köpfe, so viel Sinne. Jeder hatte einen anderen Vorschlag. Als man wenigstens ermitteln wollte, wer für volle Ablehnung wäre, da fand sich kaum ein halbes Dutzend Leute, welche den Mut hatten, dies zu verantworten. Dieselben behaupteten: wenn die Schweden bis sieben Uhr keine Antwort hätten, würden sie abziehen. Diese Nacht hätten sie ohnehin irgendwo lagern müssen, und da es sich hier getroffen, versuchten sie noch eine Beute mitzunehmen. Andere sagten dawider: wenn dem so wäre, hätten sie die Bedingungen wohl einladender gestellt. So fragte man denn herum: wer auf alle Fälle mit den Schweden paktieren wolle? Wiederum fand sich kaum ein halbes Dutzend dafür. Dann redete wieder alles durcheinander, jeder suchte sich mit seiner Meinung Gehör zu verschaffen.
Der Bürgermeister hatte beständig das helle Wasser auf der Stirn und fuhr sich wieder und wieder ratlos mit dem Tuche darüber. Da näherte sich ihm der Ratsschreiber Pelizäus und begann ihm in das Ohr zu flüstern. Der Bürgermeister nickte und gebot Ruhe. Wirklich ward es stiller, nur halblaut fuhr man hie und da fort zu streiten.
»Der Herr Ratsschreiber Pelizäus hat der hochlöblichen und ehrbaren Versammlung einen Vorschlag zu machen. Herr Ratsschreiber, sprecht!«
»Ich achte,« hub die feine, aber scharfe Stimme des Ratsschreibers an, »wir werden, so wir eine Einigung mit deutlicher Meinung erzielen wollen, noch drei Tage hin und her raten, und werden doch am Ende der Zeit so weit sein wie jetzt. Nicht Menschenwille kann hier Entscheidung schaffen, so bleibt nur übrig, daß wir ein Gottesurteil anrufen. Es ist nun allhier unter den Knaben der Stadt ein alter Streit und wird durchgefochten alle die Wochen her, wie ich bemerkt habe, nämlich daß sie in zwei Hälften, welche sich Kaiserliche und Schweden benamsen, den großen Krieg gleichsam in nuce, das heißt im kleinen führen. So thue ich nun den Vorschlag, daß die Knaben dieser Stadt zusammengerufen und auf dem Marktplatz in zwei Haufen gethan werden, welche miteinander kämpfen mögen in den Morgenstunden von Tagesgrauen ab. So die Schweden bei uns siegen, wollen wir uns den Schweden draußen zu Willen zeigen, wo nicht, nicht. Wir wollen uns drein fügen als in ein Urteil des Höchsten, und mag in den Kirchen während des Streitens Gott mit allen seinen Heiligen angerufen werden, daß er den Ausgang lenke, wie es ihm gefällt. Wer etwas Besseres weiß, der sage es.«
Der Ratsschreiber schwieg. Während der Rede war es stiller und stiller geworden; jetzt vernahm man von vielen Seiten Beifallsgemurmel. Der sonderbare Vorschlag schien hauptsächlich den Zünften einzuleuchten. Da trat Meister Zwick, der Schlosser, vor und hob den Arm.
»Wenn ich meine Meinung sagen soll, so deucht mir das ein guter und erbaulicher Rat zu sein. Denn in Gottes Willen sich zu fügen, ist allzeit das Beste. So bitte ich denn Umfrage zu halten; wenn dieser Rat Zustimmung finden sollte, achte ich, so müßten drei Männer gewählt werden, welche die Ordnung der Sache in die Hand nähmen.«
Die Umfrage ward gehalten; der Vorschlag des Stadtschreibers siegte. Fast alles war dafür, weil jedermann froh war, die Verantwortung für das, was man den Schweden sagen sollte, auf eine höhere Macht ablenken zu können. Der Stadtschreiber, der Stadthauptmann und Herr Canisius, welcher Ratsherr in jungen Jahren auch im Felde gedient hatte und erst nach dem Tode seines älteren Bruders zurückgekehrt war, der ihm großen Handel hinterlassen, wurden ausersehen, die Angelegenheit vorzubereiten und zu leiten.
Während der Saal sich leerte und die drei Auserwählten sich in einer Ecke zusammensetzten, um die Beratung zu beginnen, zog der Bürgermeister an einer Schelle. Ein Ratsdiener drängte sich mühsam durch die abziehenden Ratsherren und Zunftmeister. Ihm ward die Weisung, sich zu den verschiedenen kirchlichen Anstalten der Stadt zu begeben, um dort den Beschluß zu melden. Als das gestrenge Stadthaupt ihm die Sache zur Hälfte auseinandergesetzt, wandte der würdige Herr sich an den Ratsschreiber.
»Herr Pelizäus,« sprach er, »wollet in Kürze eine Nota und Bericht aufschreiben für die geistlichen Herren, denn wenn die Sache nicht so frei dargestellt wird, wie Ihr das vorhin gethan, könnte es leichtlich geschehen, daß die Herren glauben, man treibe Scherz mit ihnen.«
»Und Euch, Gestrengen, wollte ich bitten und ersuchen, die erste Hälfte unserer Besprechung mit anzuhören, weil dadurch nicht wenig Zeit gespart würde, wie Ihr ersehen werdet.«
Der Bürgermeister setzte sich also zu den beiden anderen, während der Ratsschreiber sich zu dem großen Tintenfaß auf seinen Platz begab und emsig zu schreiben begann. Nach einer kleinen Weile streute er Sand auf und trug die Schrift zum Ratsdiener, der sich damit entfernte.
»Ich meine,« sprach der Ratsschreiber, nachdem er sich wieder zu den dreien gesellt, »daß unter den Buben eine Wahl und Beschränkung nötig ist. Erstlich haben solche über vierzehn Jahre nichts dabei zu suchen. Alsdann, damit der Streit sich nicht ungebührlich hinzieht, so dürfen auf jeder Partei nicht mehr denn hundert aufgestellt werden. Ist dies der Herren Meinung?«
»Das scheint mir gut,« sagte der Stadthauptmann.
»Wie aber, wenn bis zur letzten Frist keine Partei die andere geworfen hat?« meinte Herr Canisius bedenklich. Er war aus einem Brausekopf ein sehr vorsichtiger und überlegter Herr geworden, seit er den Großhandel geerbt.
»Davon, mit Verlaub, nachher,« fuhr der Stadtschreiber fort. »Mich dünkt nun, der rechte Weg, um die hundert Buben für jede Partei auszusuchen, sei dieser: ich habe in Erfahrung gebracht, daß Haupt und Anführer der Buben erstlich bei denen, welche sich Schweden nennen, selbiger Pankraz, den uns die Abgesandten als gefangen zurückgebracht, bei den Kaiserlichen aber, Herr Bürgermeister, niemand anders als Euer Lenz ist, der sich gar geschickt und tapfer erweist und alle Tugenden seines Vaters bezeigt. Wißt Ihr vielleicht darum?«
»Es ist bei den Weibern in meinem Hause die Rede davon gewesen, doch hat das aufgehört, nachdem ich es dem Buben auf das strengste verwiesen habe,« sprach der Bürgermeister.
»Ich achte nun, daß, nachdem diese beiden gleichsam die natürlichen Feldherren und Häupter sind, sie dabei belassen und in ihrer Würde bestätigt werden. Daß Euer Sohn also gleichsam die Stadt vertritt, darin sehe ich ein anmutiges Spiel der Vorsehung und hoffe, Ihr werdet dawider nichts einzuwenden haben.«
Der Bürgermeister schien zwar nicht sehr erbaut von dem Gedanken zu sein, aber er wich schließlich dem Beifall des Stadthauptmanns wie des Herrn Canisius und der siegreichen Beredsamkeit des Ratsschreibers.
»So ist der Anfang auf das beste gemacht,« sprach dieser erfreut. »Und da ein jeder der beiden am besten weiß, wer unter den rauflustigen Buben ihm zusagt und am tapfersten stehen wird, so soll den beiden anbefohlen werden, unverzüglich sich zu rüsten und so viel Gesellen zu werben und auf den Markt zu führen, als sie wollen, bis ihrer hundert für jeden zusammengekommen sind, da denn um vier Uhr der Kampf beginnen kann. Gefällt dieses den Herren, so wollt' ich Euer Gestrengen in aller Ehrerbietung gebeten haben, den Lenz zu benachrichtigen, welcher sicherlich mit Freuden und auf das tapferste für die Bürgerschaft einstehen wird.«
»Stadtschreiber,« sagte der Bürgermeister, »Ihr habt die Sache so wohl angeordnet, als hättet Ihr vierzehn Tage lang schon darüber nachgedacht.« Er erhob sich.
»Mit Verlaub,« lächelte jener, scheinbar geschmeichelt, »ich habe nur dem Kampfe der Buben einmal hinter dem Roten Ochsen zugeschaut und auf Befragen Kunde erlangt, wie es unter ihnen gehalten wird. So begreifet Ihr, daß danach leicht ein Plan gemacht ist.«
»Ich werde den Lenz wecken lassen und ihm Bescheid sagen; gute Nacht, ihr Herren, es eilt ein wenig.«
»Wo soll der Kampf stattfinden?« fragte, als die drei Auserwählten allein saßen, Herr Canisius.
»Ich sah die Buben um den Besitz eines angefangenen Scheunenbaues hinter dem Roten Ochsen kämpfen,« sagte der Ratsschreiber.
Herr Bartholomäus Schinner zog die Stirn kraus. »Eine Belagerung?« meinte er. »Das paßt wohl zu unserer Lage, aber es wird zu lange währen, ehe etwas dabei herauskommt. Wie wär's, wenn wir den Marktplatz auswählten? Es will mich geschickt bedünken, wenn die zwei Heere hüben auf der Rathausseite und gegenüber aufgestellt würden, auf ein gegebenes Zeichen gegeneinander anstürmten und dahin abzielten, daß alle Truppen des Gegners in die vier Gassen gedrängt würden, welche auf den Marktplatz laufen, so daß, wer einmal in eine der Gassen geschoben worden, als ein toter Mann angesehen würde.«
»Vortrefflich!« rief der Ratsherr Canisius lebhaft und strich mit der Hand sein langes blasses Kinn. »Da ist der Sache doch ein Ende abzusehen. Ich rate, einen Strich Sand von einer Straßenecke zur anderen zu ziehen – oder etwa einen von Teer, damit kein Streit und Zweifel entsteht, wer besiegt ist.«
Der Ratsschreiber stand auf.
»Ich meine, da sei kein Wörtlein weiter nötig, so trefflich ist der Rat. Ich nehme es auf mich, den Pankraz oder Schwedenkönig zu wecken und ihm seine Truppen sammeln zu helfen. Wenn es euch genehm ist, thun wir im Ratskeller in Eile einen frischen Trunk, denn mir ist die Kehle rauh vom Reden; dann mag ein jeder an sein Werk gehen, bis die vierte Stunde uns wieder zusammenführt. Ihr, Herr Canisius, sorgt wohl für die Pechstriche.« –
»Allewegen auf das Wohl unserer guten Stadt,« sprach er drunten, als er die Kanne ansetzte.
Der Stadthauptmann war ernst, und ihm schien doch nicht recht behaglich bei der Sache zu sein.
»Daß wir nur nicht mit dem Kinderspiel zum Kinderspott werden,« sagte er kopfschüttelnd. »Ich hätt' es lieber als Mann mit den Schweden ausgemacht und tapfer die Lunten angesetzt.«
Der Ratsschreiber ging keineswegs, Pankraz zu wecken. »Mag er schlafen, desto kräftiger wird er aufwachen,« sprach er bei sich. Es war halb drei Uhr, als er den Ratskeller verließ, und er suchte einen der Buben auf, die auf der Liste, welche ihm Pankraz diktiert, verzeichnet waren, und gab ihm an, fünf Kameraden zu wecken; mit einer Schere teilte er die übrige Liste in sechs Teile, danach sollten dann die sechs ersten die übrigen mobil machen.
Erst eine Stunde später saß er bei Pankraz, der sich ankleidete und währenddessen, erstaunlich schnell durch die Mitteilungen ermuntert, vom Ratsschreiber erfuhr, was im Werke war.
»Wie machst du Ordnung?« fragte der Ratsschreiber neugierig und sah Pankraz an, der bei dem trüben Schein des Oellämpchens durch sein Haar strich.
»Ich ernenne neun Anführer und teile die anderen in neun Kohorten,« antwortete Pankraz nach kurzem Bedenken.
»Recht so, recht so,« rief der Stadtschreiber lachend. »Woher hast du den Namen?«
»Vom Pater Crescentius, der hat uns viel von den Römern erzählt.«
»Wie wirst du denn dem Feinde beikommen, du braver Feldherr?«
»Auf dem Markte? Ei, ich trenne immer einen Teil von ihm ab, und sorge, daß doppelt so viele von uns den Teil nach der nächsten Gasse drängen, derweil die anderen verhindern, daß ihm Hilfe gebracht wird.«
»Nun, ich sehe, du hast Ingenium. So sorge nur, daß ihr euch tapfer schlagt, denn wisse: du sollst großes Unheil verhüten, welches Thoren über die Stadt bringen wollen, indem sie dringen, daß den Schweden Widerpart gehalten wird.«
Da die Uhr der Pfarrkirche, als die erste, die vier Schläge that, war der Marktplatz im Morgengrauen von den Knaben besetzt. Die anderen Uhren schlugen, eine nach der anderen – nun war es Zeit.
In den benachbarten Straßen regte sich ein Leben, wie sonst nicht am hellen Tage. Die Morgenluft wehte empfindlich kühl, aber man trippelte her und hin und schlug sich mit Armbewegungen warm, wenn die Kleidung oder die Aufregung nicht hinreichten, die Kühle abzuhalten. Glücklich die, welche in den Häusern des Marktplatzes oder der vier Straßenmündungen Platz zum Auslugen gefunden! Kein Fenster war unbesetzt, nicht einmal die Dachfenster.
Im Rathause harrten der Rat und die Zünfte, ausgenommen die drei Personen, welche ihre Wahl auf dem Marktplatze festhielt, des sonderbaren Schauspiels. Auch die Frauen der Betreffenden, die es daheim vor Spannung nicht ausgehalten, waren in nicht kleiner Anzahl anwesend. Sie hielten sich im Innern an den Fenstern des großen Saales, während die Männer den Balkon füllten, meist in Pelzkappen und Pelzmänteln.
Vier Stadtknechte hatten die Straßenmündungen besetzt. Ihr Schelten und ihre Hellebarden drängten zurück, was sich zu weit vorwagte. Schon mehr als ein Vorwitziger hatte zu ihren Püffen auch die Sohlen voll Teer mit zurückgenommen. Die Leute des Herrn Rats Canisius, welche die Teerstriche gegossen, hatten nicht mit dem Teer gespart: faustdick lag die schwarze übelriechende Masse auf dem Pflaster.
Die Knaben hatten sich bereits getrennt – leicht genug vollzog sich das. Sie waren eben schon seit lange die einen Schweden, die anderen Kaiserliche, und sie hatten ihre alten Feldherren. Da stand Pankraz, und die Seinen waren heute zehnfach begeistert für ihn – natürlich wußten alle bereits, daß der Schwedenkönig Gustav Adolf ihrem Führer die Hand gegeben hatte! Dort Lenz, ein starkknochiger Bursche mit breitem, vollem Gesicht und ganz kurz geschorenem pechschwarzen Haar, die Augen voll Trotz und Rauflust. Man wartete noch auf ein paar der Kämpfer, welche alle etwa mitgebrachten Mützen und Waffen, wie letztere bei den früheren Kämpfen üblich gewesen, auf Anordnung der drei Ordner nach dem Ratskeller getragen hatten.
Jetzt kamen die Buben gesprungen.
Noch einmal musterte der Stadtschreiber die beiden Gruppen. Dann nahm er seine Kappe ab und rief mit lauter Stimme:
»Auf daß die Väter dieser Stadt völlig und deutlich vor Augen haben mögen der beiden Parteien Aufstellung und Anrennen, soll selbes solchergestalt erfolgen, daß keine Partei dem Rathause weder Rücken noch Angesicht zuwendet, vielmehr die einen vom Rathaus bis zur Ecke gegenüber, die anderen aber wider sie auf der unteren Markthälfte ihre Ordnung nehmen. So ich nun diese Kappe in die Luft werfe, soll ihr Deckel den Kaiserlichen, ihr Inwendiges den Schweden gehören, und wessen Anteil sich im Fall zur Erde kehrt, der soll beim Rathaus unter eines löblichen Rats Augen kämpfen.«
Die Kappe flog in die Luft, quirlte ein paarmal um sich und fiel mit dem Innern nach unten auf die Erde. Ein allgemeines Gemurmel folgte. Der Stadtschreiber unterdrückte ein Lächeln. »Hiernach, wie jedermann ersieht, gebührt der Platz beim Rathause den Schwedischen.« Er hob die Kappe auf und fuhr fort:
»Merket nun wohl, wie ihr's zu halten habt. Wenn ihr auseinander getreten seid, so sind euch zehn Minuten verstattet, darin jeder Anführer sich mit den Seinigen bereden kann. Alsdann werden wir drei die Hände erheben, so möget ihr gegeneinander anrennen. Es gilt hier kein Raufen und Fäusteschlagen, sondern der ist besiegt, welcher Teer an den Füßen hat oder über denselben hinweggetreten ist: er muß aufhören zu streiten, bei schwerer Strafe durch den Büttel. Nun walt's Gott, so beginnt!«
Die drei Herren gingen, während die Knaben auseinander stürmten, nach dem Rathause zu. Herr Canisius besaß eine Uhr, und am Rathause warteten sie, bis der Zeiger um die zehn Minuten vorgeschritten sein würde.
»Sieh da,« meinte der Stadthauptmann aufmerksam, »es hat eine Art mit den Buben. Der Lenz teilt sein Volk in drei Haufen, der andere in eins, zwei – – neun. Und der Lenz nimmt die stärksten Buben alle zu sich in die Mitte. Das ist gescheit.«
»Wir müssen immer zusammenbleiben,« sagte der Lenz drüben. »Wenn auch von den anderen da ein paar gefangen werden, uns kommen sie nicht leicht an. Die anderen beiden Abteilungen halten bloß immer die Feinde auf, daß sie uns nicht stören, wenn wir hier ein paar von ihnen vor uns genommen haben und nach der Straße hinschaffen. Verstanden?«
Pankraz hatte seine Abteilungen geordnet: neun »Kohorten« mit neun Hauptleuten, zusammen neunundneunzig Mann. Der hundertste Mann war der schnellfüßigste von der Gesellschaft, und dem Ratsschreiber würde er bekannt vorgekommen sein: es war jener kleine blonde Kerl, der ihm einst hinter dem Roten Ochsen Auskunft gegeben hatte. Er gab für Pankraz den Adjutanten ab.
»So,« sagte Pankraz. »Die erste Kohorte, als meine Leibgarde, stellt sich mit mir in der Mitte auf: vorn der Hauptmann, dahinter zu zwei und zwei die Kohorte. Drei Schritt von uns rechts die zweite, ebensoweit von ihr die dritte, dann die vierte, fünfte – links die sechste, siebente, achte, neunte Kohorte. Jeder merke wohl, welcher Kohorte und welchem Flügel er angehört. Unsern Plan habe ich euch gesagt: wir gehen bis an den Feind; dann rufe ich die siebente Kohorte auf, damit sie geschwind durch seinen rechten Flügel bricht, alsbald werden die Abgeschnittenen von der siebenten, achten und neunten Kohorte umfaßt und nach der Straße gedrängt, wir übrigen aber stoßen in die Lücke, um die Hauptmacht des Feindes vom Helfen abzuhalten. Nachher, wenn das geglückt, will ich den Feind schnell vollends umgehen und ihm von drüben her in den andern Flügel fallen. Thue ich unseren Pfiff, so sucht alles auf dem kürzesten Wege zu mir zu kommen. Jetzt schafft mit eins – zwei – drei Ordnung!
»Eins – zwei – drei –«
»Sie winken!« rief der kleine blonde Adjutant neben Pankraz.
Es war die höchste Zeit gewesen, sich aufzustellen. Während die drei Herren nach Abgabe des Signals im Rathause verschwanden, gingen die Kaiserlichen – nun auch die Schweden im Trabe vor; jene in keilförmig sich zuspitzender Reihe, vorn Lenz und seine Paladine; diese in guter Ordnung ihrer neun Kolonnen. Als sie dicht bei einander waren, ertönte des Pankraz Stimme:
»Sieben!«
Während plötzlich die siebente Kohorte vorausstürmte, den überraschten rechten Flügel des Feindes ohne Widerstand trennend, schwenkte Pankraz mit seiner Hauptmacht hinter ihr ein. Lenz war so verblüfft, wie da ganz unerwartet alles, statt ihm Stich zu halten, an ihm vorüber rannte, daß er erst zum thätlichen Angriff schritt, als er nur noch auf die letzten beiden Kohorten des Feindes sich werfen konnte. Das that er nun zwar mit aller Wucht; von hüben und drüben faßte man sich und rang – doch wurde ihm schwül, er hörte, daß seine Mitte, hinter ihm zusammengeballt, im Rücken angegriffen war –
Plötzlich ein Triumphgeschrei an der Straßenmündung: das abgeschnittene Dutzend Kaiserliche war glücklich über den Pechstrich geschoben. Kurz darauf ein Pfiff; Pankraz pfiff zum Sammeln, die Feinde vor Lenz entschlüpften den ringenden Armen. Hastig wandte sich dieser, ihnen mit den Augen folgend; er mußte jetzt die ganzen Truppen von Pankraz im Rücken haben. Aber schon erhob sich ein Lärm an den Lauben der Rathausseite, zog sich in der Richtung nach dem Rathause hin: mit rätselhafter Schnelligkeit schob da Pankraz mit seiner Hauptmacht wohl zwei Dutzend Kaiserliche, die er abgeschnitten, vor sich her.
»Dorthin! mir nach!« schrie Lenz wütend. Ordnungslos stürmte alles ihm nach. Er achtete nicht der drei feindlichen Kohorten, die von ihrem Siege kommend unangefochten den Seinen auf den Fersen nachsetzten.
Mitten auf dem Markt kehrte sich plötzlich ein Teil der Schweden gegen ihn; zugleich erscholl in seinem Rücken ein wildes Hurra! Er raffte seine Sinne zusammen.
»Die Flügel nach hinten, die Mitte stürmt vorn durch!«
Aber mit dem Durchstürmen ging das eben nicht. Am Rathause gab das inzwischen wiederum ein Triumphgeschrei. Dazu schrie es vom Rathause, von den Dächern, aus den verschiedensten Fenstern – die Aufregung der Zuschauer wuchs mächtig.
Pankraz hatte nur zwei Drittel der Feinde noch vor sich, während ihm selbst nicht mehr als drei Mann verloren gegangen: zwei waren im Ringen mit über den Strich gezogen worden, einer war in der Kampfeshitze aus Versehen von selbst übergetreten.
Da stand er und überlegte rasch. Sein Auge fiel auf die Stelle, wo Lenz mit seinen Besten stand: diese Gruppe kam plötzlich in raschere Vorwärtsbewegung, er gewahrte, daß man dort ein paar der Seinigen fest gepackt hatte und sie auf ihn zuschob. »Alles nach links ausschwärmen!« rief er. »Mir nach! Um Lenz kümmert sich niemand!«
Der Schwarm verließ die Stelle bei der Gasse und stob in der Richtung dem Rathause gegenüber auseinander. Lenz hatte offenbar nur den einen zornigen Gedanken: die fünf bis sechs Schweden, welche endlich seiner und seiner Paladine Ueberkraft verfallen waren, in die Straße am Rathause zu schaffen. Zwecklos, mit großem Geschrei, drängten die meisten seiner noch übrigen Truppe ihm nach.
In diesen Schwarm fiel mit rascher Schwenkung Pankraz, die Ausgeschwärmten mit seinem Pfiff hinter sich sammelnd. Zwanzig Kaiserliche tobten da abgeschnitten, im Nu von der gesammten Macht der Gegner umfaßt. »Gegen das Rathaus über!« rief Pankraz. »Vorwärts!«
Es ging wie vorher: man stemmte sich, von mindestens einem Hintermanne unterstützt, Schulter an Schulter wider die Eingefangenen, diese mühten sich anzupacken, zu ringen – umsonst. Sie wurden vorwärts gedrückt, gerieten ins Laufen und kamen nicht früher zur Besinnung, als bis sie mit kräftigen Stößen über den Teer befördert worden.
Der Triumphlärm des Lenz erstickte, als er sich jetzt umsah. Drüben der ganze Feind, von den Seinen eine kleine Zahl, die im Rücken desselben zwecklose Erfolge suchte und in äußerster Gefahr war, bei der Umkehr der Schweden sofort ein Opfer der Uebermacht zu werden. »Dorthin!« schrie er.
Pankraz sah ihn kommen. »Alles nach der Mitte des Marktes zu! Kommen sie unterwegs an uns, so laßt die Vordersten durchbrechen, daß wir ihnen hinten wieder ein Stück Schwanz abschneiden!«
Auch dies Manöver glückte. Lenz mit seinem wilden Vorwärtsstürmen löste die Kaiserlichen abermals in eine lange Kette auf, deren hintere Glieder eben darum zurückblieben, weil sie die Schwächeren waren. Hart vor seinem Anprall teilten sich die Gegner, um schnellfüßig hinter ihm, mitten durch die Kette brechend, sich zu vereinigen und die abgefangenen Glieder nach dem Rathause zu befördern, wo der Teerstrich ihrer harrte.
Lenz schäumte vor Wut; glührot und schweißtriefend stürzte er mit dem letzten Dutzend seiner Kaiserlichen den geschickteren und glücklicheren Gegnern nach. Vor dem Rathause kehrten ihm diese das Gesicht zu, nachdem sie ihren letzten Erfolg vollständig ausgenutzt.
Jetzt begann eine richtige Balgerei. Man hatte sich gegen Schlagen, Treten, gegen allerlei Kniffe zu wehren. Die Kaiserlichen, wenn einer von der Uebermacht erdrückt war, warfen sich zu Boden, zogen an den Beinen, kratzten und bissen.
Es war ein häßliches Ende.
Einer nach dem andern wurde von vier Schweden an Händen und Beinen gefaßt und wohl oder übel über den Strich befördert.
Lenz war der letzte.
Wenn die Knaben sich so gut wie gar nicht um die Zuschauer gekümmert hatten, so hatten diese desto fieberhafter an ihrem Thun Anteil genommen. Aus den Fenstern hingen die Leute halben Leibes. Die Stadtknechte wüteten wie die Türken – sie waren alle vier heiser vom Schelten und hätten am liebsten in die immer und immer wieder vordringende Menge mit den Hellebarden eingeschlagen; aber die Leute waren so aufgeregt, daß sie für sich selbst davon hätten das Schlimmste befürchten müssen. Nur beim Ansturm der Kämpfer wich alles freiwillig zurück.
Von allen Seiten Schreien und Zurufen, ermutigend, hoffend, zornig. Aber die Knaben schrien noch lauter. Wer unvorbereitet in diese Scene versetzt worden wäre, die sich da auf dem Marktplatz der ehrsamen Stadt von Morgengrauen bis Sonnenaufgang abspielte, der hätte glauben müssen, hier sei alles verrückt geworden.
Selbst der wohledle und wohlweise Rat.
Hier waren die Frauen auf den Balkon hinausgetreten und drängten sich, zwischen den Männern hindurch etwas zu sehen, da diese sich rücksichtslos vor der Brüstung zusammenhielten.
Der Bürgermeister saß schwerbekümmerten Gesichts da. Die Sache ging ihn ebensowohl als Stadthaupt an, wie als Vater. Er bereute mit jeder Minute mehr, seinen Lenz auf diesen verantwortlichen Posten gestellt zu haben, dem er ihn von vornherein nicht recht gewachsen geglaubt. Der Stadtschreiber mit seinem Mundwerk war schuld: er suchte ihn ein paarmal mit den trüben, kleinen Augen, allein der Stadtschreiber war nirgends zu erblicken.
Eigentlich war er selbst für ein Paktieren mit den Schweden gewesen. Bei den Angaben, welche Pankraz über die Macht der Schweden gemacht, war an längeren erfolgreichen Widerstand nicht zu denken, wenn – was doch immerhin möglich – der Feind wirklich stürmte. Allein jetzt wünschte er nur, daß Lenz siegen möge.
Aber dazu schwand bald jede Aussicht.
Er wischte sich immer wieder über die Stirn, murmelte etwas, schüttelte den Kopf – er schämte sich als Vater – ärgerte sich – wurde zornig – in seinem Gesichte zuckte und arbeitete es unaufhörlich.
Es war aber nichts zu ändern.
Das sagte achselzuckend auch der Stadthauptmann, der mit den beiden Genossen oben jede leidliche Aussicht besetzt gefunden und wieder hinabgestiegen war, um für sich die Thür drunten frei zu machen. Sie hatten da gestanden, zuweilen hinaustretend bis vor die Lauben – das eine Mal hatten sie rasch vor den Knaben zurückflüchten müssen.
»Laßt's Euch nicht dauern, edler Herr!« sagte der Stadtschreiber. »Wider die schwedischen Geschosse ist unsere Mauer nicht hartköpfig genug. Die Stadt ist so besser bewahrt. Wie die Herren Schweden sich auch anstellen mögen – lange hier verweilen werden sie schwerlich, so werden sie des Schadens nicht allzuviel thun. Ein Narr, der sich wider das Unmögliche den Kopf einrennt.«
»Es ist ein Gottesurteil,« nickte Herr Canisius. »Aber das ist ein feiner Kopf, der Bub, der Pankraz. Dessen solltet Ihr Euch annehmen, Herr Schinner. Ich glaub', Ihr hättet selber nicht besser kommandiert.«
»Nun – dort steht der Sieger. Lasset uns ihm entgegengehen, ihr Herren,« sprach jetzt der Stadtschreiber.
Die Menge strömte bereits aus allen Gassen auf den Markt zusammen; die drei hatten Not zu Pankraz durchzudringen, auf den eine Menge Stimmen einschalten, welche wiederum von anderen zurechtgewiesen wurden. Er war ganz wirr und kleinlaut davon, als Herr Pelizäus vor ihm stand und ihn mit Wohlgefallen betrachtete.
»Komm nur mit, du Held vom Stamm Isai!« sagte er. »Du hast sie zu Paaren getrieben wie ein alter Hauptmann.«
Er nahm ihn beim Arm und führte ihn zu Herrn Canisius und dem Stadthauptmann, welche in den Lauben warteten. Nun gingen sie miteinander zum Rathause und hinauf in den Saal.
Neugierige Blicke folgten, begegneten ihnen, empfingen sie droben. Die Frauen kamen aber aus dem Saale, um in ein anderes Zimmer zu gehen – denn heimzukehren durch das Gedränge unten dünkte ihnen zu gewagt.
Die Bürgermeisterin war dabei.
Sie trat auf Pankraz zu und machte ein Gesicht wie Gift und Galle. Ja es schien, als wollte sie zu einem Schlage ausholen.
»Verräter,« sagte sie erbittert, »du bist schuld, daß diese Stadt dem Feind draußen überliefert wird. Pfui! das soll dich in deiner letzten Stunde reuen. An den Galgen mit dir.« – Fort rauschte sie mit ihrer großen Haube auf dem Kopfe.
Pankraz traten die Thränen in die Augen. Sein anfänglicher Siegerstolz war schon stark gedämpft worden. Aber auf eine solche Ansprache war er nicht gefaßt gewesen.
»Laßt mich heimgehen, Herr Stadtschreiber!« sagte er mit erstickter Stimme. »Ich will zu meinem Großvater. Er hat mich ein paar Tage nicht gesehen. Ich hätt' nicht sollen fortlaufen – es wird niemand für ihn gesorgt haben, und er ist so gar schwach.«
»Hast dir's zu Herzen genommen?« sprach der Stadtschreiber mitleidig und blieb stehen. »Vergiß es! Wer Glück hat, muß Neid leiden. Denke, daß du eine gute Sache verrichtet hast, dessen tröste dich!«
Eine gute Sache? Es wollte jetzt Pankraz kaum so scheinen. Vor diesem Haß und Grimm, der zu ihm so Furchtbares gesprochen, kam er sich wirklich wie schuldig vor. Hatte doch manche Stimme drunten zu ihm schon Aehnliches geredet.
Er mit seiner Begeisterung für die Schweden – war er nicht wirklich ein Verräter?
Zum erstenmal stand dieser Gedanke hell vor ihm, und wie eine schwere Last fiel er auf sein Gewissen, daß er sich davor entsetzte.
»Ich gehe, Herr Stadtschreiber, ich halt's nicht aus, ich muß zu meinem Großvater.«
Pankraz machte kehrt und rannte, als würde er verfolgt, die Treppe hinab, zwischen die Menschen, unbekümmert um alles. Die Straße ward einsamer um ihn. Er bekam plötzlich Todesangst um den Großvater.
Da lag das kleine verfallene Haus, in dem schmutzigen verräucherten Winkel unweit des Wasserthors. Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal ein tierischer Laut zu hören. Wie ausgestorben war die Gegend.
Knarrend ging die untere Klappe der quer durchgeteilten verwitterten Holzthür auf. Er flog über die ausgetretenen Steinfliesen der Hausflur – da hatte er die niedrige Stube vor sich, in der er beim Großvater aufgewachsen war, und da saß der alte, steinalte Fabian auf der Ofenbank, mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt, den Kopf tief auf die Brust gesenkt und die Augen offen, aber unbeweglich, starr und steif – er war tot. Tot! O Gott!
Pankraz war außer sich. Er warf sich auf die Erde, weinte laut, klagte sich an – wer weiß, ob der Großvater nicht noch lebte, wenn er, statt »zum Verräter zu werden«, hübsch daheim geblieben wäre! Wer weiß, ob er nicht aus Kummer gestorben, daß der Enkel ihn verlassen, für den er mühsam gesorgt, ach, wie mühsam!
Plötzlich fiel Pankraz ein, daß der Schimmel wohl kein Futter bekommen haben möchte. Er stand auf, das Gesicht von seinen Thränen naß, ging hinaus auf des Höfchen: da stand der Sandkarren, und da war der Stall – aber leer.
Wo war der Schimmel? – Nirgends.
Pankraz stand, gegen den Pfosten der Stallthür gelehnt, in stummer Verzweiflung. Seine Gedanken fingen an zu fliegen und flogen – und nun war er doch in Gedanken wieder bei den Schweden. Er hatte gesiegt, nun ging man wohl von Rats wegen, die Schlüssel der Stadt in das schwedische Lager zu tragen.
Ach ja, und dann mußte man die Kühe zu den Schweden treiben und das Mehl hinfahren – und Geld mußte man zahlen. Die Leute hatten es ihm gesagt, mehr als einer. Er sollte ja schuld an dem Schaden sein!
Er, der Verräter!
Ha – wenn er mit zu dem Schwedenkönige ging, wenn er ihm sagte, daß er der Stadt das erlassen möge – er hatte ja für ihn die Stadt erobert, ohne einen schwedischen Schwertstreich hatte er sie ihm gewonnen.
Je mehr er darüber dachte, desto verlockender, zwingender reizte ihn der Einfall, daß er der Stadt nützen könne. Man sollte sehen, daß er kein Verräter war.
Er ging zurück in das Haus – scheu durch die Hausflur, so leise – endlich rannte er auf die Straße, atemlos.
Jetzt stand ein altes Mütterchen in einer benachbarten Hausthür.
»Ja ja, der alte Fabian ist tot, Pankraz,« sagte die Alte, als er in ihre Nähe kam. »Weil's der Schimmel nimmer that, that er's auch nimmer.«
»Wo ist der Schimmel?« fragte Pankraz hastig.
»Tot ist er, fortgeschafft haben sie ihn. Es ist wohl nicht davon, daß er sich übernommen hätte; er war zu alt und da geht's zu Ende. Sonst stirbt wohl ein Vieh, weil sein Herr gestorben ist, hier ist's umgekehrt.«
Gott sei Dank, er ist nicht aus Kummer um mich gestorben, dachte Pankraz. Er nickte der Alten zu und fing wieder an zu laufen.
»Sind sie schon fort zu den Schweden?« fragte er auf dem Markt einen Buben.
»Ja.«
Er hielt sich nicht auf. Durch die noch immer den Markt füllende erregte Menge wand er sich wie ein Aal. Als er an das Sixtusthor kam, stand es offen. Ein paar Bürger, welche da bewaffnet standen, wollten ihn nicht durchlassen.
»Ich muß hintennach, ich bitt' schön, ich muß mit dem Schwedenkönig reden,« rief er und war durch die verblüfften Männer durchgeschlüpft wie eine Eidechse. In einiger Entfernung schritten sie feierlich dahin – die drei alten Bekannten: der Stadthauptmann in der Mitte, rechts und links von ihm Herr Canisius und der Stadtschreiber. Der Stadthauptmann trug etwas – es war das Kissen, auf dem die Stadtschlüssel lagen.
Der Stadtschreiber gewahrte zuerst im Herumdrehen, daß es Pankraz war, der hinter ihnen lief.
»Eh, das ist gut,« sagte er, »komm! Du kennst sie ja schon und kannst uns nützlich sein. Es sind gar hohe Herren in der Löwenhöhle, in die wir gehen, und man weiß gar nicht recht, wie man sie anfassen soll.«
»Ich gehe zum König,« sprach Pankraz zuversichtlich. »Ich habe ihm etwas zu sagen.«
»Wir auch, da passen wir zusammen,« meinte der Stadtschreiber, den der Galgenhumor gefaßt hatte. Pankraz mit seiner entschlossenen Miene und seinem guten Glauben an seinen Einfluß beim Schwedenkönig belustigte ihn. Der Stadthauptmann hielt seine hohe Gestalt aufrecht, und sein kräftiges Gesicht mit den Adleraugen, in dessen ausdrucksvollen Zügen sich seltsam viele Farbentöne von Rotbraun und Grau mischten und dem der struppige graue Schnurrbart gar martialisch ließ, blickte unverwandt gradeaus und musterte eingehend das schwedische Lager. Steif hielt er dabei das Kissen von etwas verschossenem Purpursamt mit den beiden großen Schlüsseln drauf. Herr Canisius ging ebenso stumm dahin; ihm war sichtlich nicht wohl zu Mute, und doch war der ehemalige Kriegsmann in ihm wach, und auch er beschäftigte sich verstohlen mit den schwedischen Batterien und den vielfarbigen Truppenlagern. Die beiden fanden nach dem, was Pankraz erlebt, nichts darin, daß er mitging. Es hatte wirklich etwas Tröstliches, mit jemand zu gehen, der hier schon »bekannt war«.
»Was willst du eigentlich beim Könige?« fragte der Ratsschreiber, der seinen Mund nicht gern still stehen ließ. »Hast du Lust, mit den Schweden zu ziehen? Du bist ja schon ein halber Soldat. Für den Großvater Fabian kann schon ein anderer sorgen.«
»Der ist tot,« sprach Pankraz gedrückt. »Für den braucht niemand mehr zu sorgen, außer daß er begraben wird.«
»Was du sagst?« fuhr der Ratsschreiber heraus. »War er schon tot, als du vorhin zu ihm kamst?«
»Ja.« Und Pankraz erzählte, wie er ihn gefunden, und der Ratsschreiber sagte immer dazwischen »Ach« und »Oh«. Er war wirklich voll Mitleid.
Sie kamen an die ersten schwedischen Truppen, ehe die drei erfahren hatten, was Pankraz bei den Schweden wollte. Eine Eskorte von sechs schwedischen Kürassieren, dabei als Offizier wiederum der Fähndrich Graf Wachtmeister, welcher gestern in die Stadt gekommen, schienen seitwärts des Weges auf sie gewartet zu haben. Die Kürassiere und der Offizier sprangen auf ihre Pferde, und der letztere begrüßte die Ankommenden, worauf er vor ihnen her ritt, während die Kürassiere folgten.
Nun ging es die Straße hin. Soldaten rechts und links, neugierige Gesichter überall, überall Waffen, aufgepflanzte Feldzeichen. Es war ein taufrischer Morgen, und die schrägen grellen Sonnenstrahlen beleuchteten alles mit blendender Klarheit. Dort das große Zelt mit den schwedischen Farben war wohl das Königszelt, das Ziel ihres Ganges. In der That: schon bog der Offizier links ab auf den Feldweg. Das Zelt stand in rasenbewachsenem Brachlande, auf dem freien Platz davor Gruppen von Offizieren, welche zuweilen herübersahen.
Niemand sprach; jetzt war man an die Brache gelangt. Ein Trompeter stand am Zelt und hub an zu blasen, sonderbare Tongänge. Da ward das Zelttuch aufgeschlagen und der König Gustav Adolf, hinter sich einen hohen Offizier, trat heraus.
»Das ist der König,« flüsterte Pankraz dem Ratsschreiber zu. Und da waren sie vor ihm angelangt.
»Die Abgesandten der Stadt bieten Eurer Majestät Gruß und Ergebung an,« sagte der Führer.
In diesem Augenblick streifte das Auge des Königs Pankraz, der sich hinter dem Ratsschreiber gehalten, und plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht und er nickte ihm munter zu.
Wahrhaftig, die drei Abgesandten sahen es mit ihren Augen: der König nickte Pankraz zu! Und wie!
Aber der Ratsschreiber mußte vor. Er mußte auch diesen Pankraz loben, das erforderte schon die Klugheit.
»Großmächtigster König und gnädigster Herr! Maßen die Stadt in sich uneins war, ob sie Eurer Macht widerstehen oder Euch gehorsamen sollte, so hat auf Rat Eures unansehnlichsten Knechtes ein Gottesurteil stattgefunden, dergestalt, daß die Knaben der Stadt in der Morgenfrühe einen Kampf ausgefochten haben. Da es nun Gott gefallen hat, daß dieser tapfere Knabe mit den Seinigen, so die Sache Eurer Majestät vertraten, durch klügliche Anführung und Standhaftigkeit seiner Partisanen den Sieg davongetragen hat, so sind wir als Abgesandte des Rats und der Bürgerschaft erschienen, uns Eurer Majestät Gnade zu überliefern und gehorsame Einwilligung mit allen Forderungen, wie schwer sie auch sind, zu vermelden. Des zum Zeichen übergeben wir Eurer Majestät die Schlüssel dieser unserer Stadt.«
Während der Rede stand der Offizier, welcher mit dem König aus dem Zelt getreten war, hinter diesem und schien zu dolmetschen, denn er flüsterte beständig und der König hörte mehr auf ihn, als auf den Ratsschreiber. Jetzt sprach der Monarch mit lauter Stimme:
»So nehme ich diese eure Stadt aus aller Gefahr und Not des Krieges in meinen königlichen Schutz und bevollmächtige meinen Fähndrich Grafen Wachtmeister, weiteres mit der Stadt zu unterhandeln.«
Damit wandte er sich an den Offizier hinter ihm, während der Fähndrich dem Stadthauptmann die Schlüssel abnahm und in das Zelt trug. Indessen trat ein Offizier an Pankraz heran und das war der alte Bekannte, der ihn im Lager die beiden Male verhört hatte.
»Na, Junge,« sprach er gnädig, und sein kriegstrotziges, braunverwettertes Gesicht war voll Vergnügen, »da höre ich ja, daß du dich schon als ein guter Feldoberst erwiesen und des Königs Majestät eine Schlacht gewonnen hast.«
Pankraz kämpfte sichtlich in Sorge mit sich selber.
»Ach, gnädigster Herr!« sagte er plötzlich halblaut zu dem Offizier und sah ihn flehend an. »Ich möchte den König um etwas bitten.«
Der Offizier lachte über das ganze Gesicht. »Ist schon recht, von Rechts wegen muß sich einer wie du, dem eines Königs Majestät etwas schuldet, eine Gnade ausbitten dürfen. So warte hier.«
Und der Offizier ging an den König heran und sprach mit ihm. Der nickte lächelnd und sah nach Pankraz hin, und der Offizier winkte diesem.
Dem Pankraz schlug das Herz bis in die Schläfe hinauf, aber er hatte Mut.
»Herr König, ich hätt' eine Bitte,« begann er. »Ich bin schuld, daß die Stadt so viel zu bezahlen hat, weil ich in dem Kampfe gewonnen habe gegen des Bürgermeisters Sohn, den Lenz. Viele schalten mich darum auch einen Verräter, weil ich Euch, Herr König, genützt habe und meiner lieben Vaterstadt geschadet. So wollte ich nun bitten, daß die Stadt nicht das viele Geld zu bezahlen brauchte, weil den Leuten das, wie sie sagen, sauer wird und zu viel ist. Wenn das nicht geschieht, so weiß ich schon, daß sie mich's werden entgelten lassen und daß ich für Euch, Herr König, büßen muß.«
Die drei Abgesandten verstanden jedes Wort. »Das ist ein Bub, ein dreister,« flüsterte der Ratsschreiber und drückte vor Vergnügen und Spannung die Daumen ein. Er sah, wie der König lachte, wie er noch mit den Offizieren sprach, und dann hörte er ihn sagen:
»Ei, so sei es drum, mein tapferer Fürsprech; und nun lehre die Leute hier unten im Reich Gutes denken von dem Schwedenkönig!«
Damit klopfte er ihm auf das Blondhaar, wandte sich zu dem zurückgekehrten Fähndrich herum, gab ihm eine kurze Weisung, nickte Pankraz noch einmal zu und schritt wieder in das Zelt und der Fähndrich folgte ihm.
»Ich wollte ihm danken, gnädigster Herr Offizier,« sprach Pankraz froh und betrübt zugleich zu dem älteren Offizier, »und nun ist er fortgegangen. Ich bitte, sagt's ihm. Und Euch danke ich auch recht schön.«
»Nun, es ist ja alles gut abgelaufen. Deine drei Begleiter da werden dir's Dank wissen, und die Leute in der Stadt, wie ich verhoffe, auch. Was ist's?«
Der Fähndrich stand wieder da.
»Seine Majestät schickt dir das; du sollst es dir aufheben und manchmal sein Bildnis darauf ansehen, und dabei sollst du dir sagen, daß Gott dem hilft, der eine gute Sache unternimmt.«
Pankraz hielt eine schwedische Goldmünze in der Hand.
»Ich danke,« sprach er halb glücklich, halb verlegen. Und dann für sich: »Da muß ein Henkel dran, und auf der Brust trag' ich's.« Und er steckte das Geldstück zu sich.
»Ihr Herren,« wandte sich der Fähndrich zu den drei Abgesandten, welche noch immer auf ihrer Stelle warteten, »Seine Majestät erläßt der Stadt um des Knaben willen in Gnaden die Geldsteuer und fordert nur die Lebensmittel, damit das Heer nicht Mangel leide. So werde ich euch heimgeleiten und zusehen, daß alles in Ordnung geliefert wird.«
»Leb wohl, mein tapferer und weiser Herr Kollega,« sagte der andere Offizier und gab Pankraz nun auch die Hand. »Ich fürchte, wir sehen uns nicht wieder, denn Krieg führen ist ein Handwerk, das gefährlicher ist als Dachdecken.«
Und er trat lachend zu den anderen Offizieren.
* * *
So war alles in guter Ordnung. Sie kehrten in die Stadt zurück, gefolgt von fünfzig Kürassieren. Der Fähndrich hatte Befehl, sich die Befestigungen anzusehen und, wenn zu vermuten stehe, daß von der Stadt nichts Sonderliches zu befürchten sei, sich um weiter nichts zu kümmern, als um die Lieferung der Lebensmittel, welche von der Stadt wegen dem Heere auf dem Fuße nachgetrieben und nachgefahren werden müßten.
So geschah es denn auch. Ein paar Stunden später war in der Gegend von Schweden nichts mehr zu sehen. Von den Mauern sahen die Bürger in heller Neugier dem Vorbeimarsch zu: nicht ein schwedischer Fuß betrat die Stadt weiter. Der Fähndrich und die übrige Eskorte geleiteten die Rinder und die Mehlwagen aus dem Wasserthore und vereinigten sich weiterhin am Flusse mit den übrigen Truppen.
In der Stadt war keine geringe Freude; die Friedenspartei und diejenigen, welche den Schweden Gutes nachgesagt hatten, triumphierten. Am vergnügtesten war der Stadtkämmerer. Natürlich wußte bald jedermann, wem die Stadt die unerwartete Gnade verdanke. Der Rat schickte nach Pankraz, der sich auf dem Markte rasch von den übrigen getrennt hatte und verschwunden war. Man fand ihn in dem kleinen dürftigen Häuschen am Wasserthore, wo er trübe auf der altersschwachen, zum Boden führenden Treppe saß.
Er wollte erst nicht mitkommen, aber dem Ratsschreiber, welcher selber mit erschienen war, gelang es endlich doch, ihn dazu zu bewegen.
»Der Großvater muß begraben werden, und ich weiß nicht, wer es thun soll,« sagte Pankraz unterwegs zu diesem.
»Aber ich,« antwortete dieser. »Um das mach dir keine Sorgen.«
Auf dem Rathause wurde ihm feierlich Lob und Dank gesagt. Man beschloß, dem alten Fabian auf Stadtkosten ein großes Begräbnis zu veranstalten. Dann wurde verhandelt, was aus Pankraz werden solle, und da erbot sich nun wider Erwarten Herr Canisius, der keine Kinder hatte, sonst aber für knickerig galt, ihn an Kindesstatt anzunehmen. So geschah es denn auch.
Pankraz ist doch nicht Soldat geworden, sondern als Erbe des Herrn Canisius ein kluger und umsichtiger Handelsherr und Rat; die Schwedenmünze aber hat sich in seiner Familie fortgeerbt bis auf den heutigen Tag.
* * *