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Elch

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Das Dünenglühn

Sonntagsfrieden, Nehrungseinsamkeit! Über Sand und See der letzte warme Sonnenschein. Ein Spätsommerabend mit langsam verblassendem Lichte und einem hellblauen Himmel voller weißer Wolkenschäfchen. Darunter in regungsloser Glätte das grünblaue Meer, durchsichtig bis auf den Grund des reichen Pflanzenlebens, das der Nehrungsplatte hinter der Vordüne in ihrer sandigen Armut fehlt. Und doch, wie reich beschenkt diese Wüste zwischen den Wassern den einsamen Jägersmann, der sich ganz ihrem Zauber überläßt. Jubelnd umsummt ihn die brummende, surrende Vielgeschäftigkeit der Käferwelt, die noch gar nicht Abschied nehmen mag vom scheidenden Sommer und sich doch von den über See her einfallenden Flügen der Zugvögel bereits den Herbst verkünden lassen muß.

Seit dem ersten Schrei des brunftenden Elchhirsches sind sie alle wieder da, die vor dem ungastlichen nordischen Winter sich flüchten. Draußen auf dem blanken Wasser ruhen bereits Sturm- und Heringsmöwen neben den heimischen Lachmöwen, Zwergmöwen, schwarzen Seeschwalben und Kirrmöwen, die auf dem Rossiter Bruch erbrütet sind. Und hier auf der Platte zwischen der Vordüne und dem Walde wimmelt es von zwitschernden Gästen. Der junge Plattmönch studiert seinen Ruf am Schluß der Jodelzeile. »Zilp-zalp« ist alles, was der Weidenlaubsänger kann, aber desto eindringlicher ruft er es der lieben Sonne zu, und die Goldammer macht es ebenso mit ihrem »Friß, friß, friß, was ich dir schieß!« Aber die Alten alle, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar, die sind jetzt lediglich aufs Fangen, Schnappen, Picken, Knacken, Würgen und Schlucken bedacht und haben über dieser Gefräßigkeit ganz ihr süßes Lied vom Glück der Liebe vergessen, das im Lenz dem einsamen alten Jäger Ewigkeitstrost in das vom vaterländischen Gram zermarterte Herz trug. Schwärme von Ringel- und Hohltauben sind in den Erlen des Bruchwaldes, und sie klatschten beim Einfallen wie im Lenz. Aber kein Tauber mehr gurrt nun vom hohen Ort.

Da, horch, wie der Eichelhäher ratscht und ätscht! Auch auf Wanderschaft, denn hier brütet er nicht. Vielleicht aus Kurlands Wäldern hergebummelt. Droben der Wanderfalk, der im Blauen seine Kreise zieht, ärgert ihn, und der Warnruf wird befolgt. Die Tauben in den Erlen drücken sich, und das Rebhuhn führt sein Volk in die hohen Nesseln. Aber der junge Zaunkönig, der dort in den Strandkiefern an der Vordüne sein Schlafnest gebaut hat, läßt sich nicht beirren. Er stellt sein Sterzchen steil auf, wippt Vaters Untertan, dem Falken, gnädige Grüße zu, reckt sich dann hoch hinauf, damit alle die Pracht seiner neuen Weste bewundern können, und schmettert mit einer Stimme wie ein Kanarienvogel sein Kleinkönigslied. Wie er dasteht auf der schweren dunkelgrünen Dolde der Dünenkiefer, so jubelte und tirilierte manch einer seinesgleichen in den Legföhren ob dem Abteitale, als der Jäger sich dort auf den Gamsbock angestellt hatte, der aus dem Gewände des Kreuzkofls herabzuwechseln pflegte.

So wie hier auf der Nehrung zogen damals auch dort die nordischen Sänger dem verführerischen weichen Süden zu, aus dem die wenigsten heimkehren. Und von der Marmolata bis zum Kreuzkofl und Roßkopf glühten über das uns befreundete ladinische Volk und seine herrlichen Vorzeitmären hin die Ferner, wie hier auf der Nehrung die hohen Wanderdünen aufleuchten über die Letten und Litauer und das wundervolle Erbgut ihrer uralten Lieder hin, in denen der Kriegsgott Perkunos mit dem Blitz den Mond zerschlägt, und Laima, die Schicksalsgöttin, über verlorene Seelen aufschreit. Ei daina, daina!

So wie hier unter den Strandkiefern rankte auch im ladinischen Südtirol im Schutz der gleichartigen Legföhren die Krähenbeere am Boden hin. Wie hier auf der Vordüne stand auch dort an stiller Halde der Tragant mit herbstlich letzter fleischroter Blüte. Beide die echten, harten Kinder der notvollen Schneezeit in den Alpen wie am Ostseestrand.

Und wie in den Alpen sind auch hier die abtragenden Kräfte dauernd am Werke. Nagen dort Sonnenglut und Frost am verwitterten Gestein, so unterspült hier der wilde Weststurm in schweren Brechern, was die Schneezeit aufgelagert hat. Mit ihrem gewaltigen Druck haben die vom Winde aufgetürmten Dünen auf ihrer Wanderung den in ihrer Flanke stehenden mit uralten Eichen bestandenen Küstenwald niedergepreßt, dessen Boden jetzt als Flachstrand vor den Blicken des Jägers liegt. Und wie in den Alpen Schneeschmelze und Regenstürze die Gesteinsmuren zu Tale führen, so hat hier die See den toten Wald ausgewaschen, so daß nur noch jene Stubben und Steine von vergessenen Zeiten und versunken erscheinenden Wäldern Zeugnis geben.

Es war einmal, daß hier in breitem Saume die Riesenkronen dunkler Strandeichen rauschten, in denen der Adler horstete, und deren Urkraft der Elch entsprochen hat, der damals hier seine Fährte zog. – –

Hallo, was ist das?

Der Jäger blickt durch das Birschglas.

Wirklich, dort draußen auf dem von der stillen Flachsee heute tiefer als sonst freigegebenen Steine blockt ein Kormoran auf!

Wo kommt der her? Der Stärke nach scheint er ein Männchen zu sein. Aber warum ist er ganz allein?

Hm! Früher hat im alten Wald vor Schwarzort eine Horstsiedlung bestanden; aber die ist längst, längst ausgerottet.

Soll etwas wie Erinnerung daran etwa doch in dem dort draußen noch leben? Und ist er als Kundschafter hier?

Der Abendsonnenschein scheint ihm gut zu tun. Und zum ersten Male sitzt er, wie das Glas zeigt, auch nicht auf dem wohlig erwärmten Stein.

Du Dreckteufel, schämst du dich nicht, deinen Ruheplatz so zu beschmutzen?

Nein, er schämt sich gar nicht! Hochauf reckt er den Steiß, dem Jäger gerade zugewandt, und drückt seine flüssige Hochachtung in vorzüglichem Bogen aus. Ein Streifen mehr zu den vielen Zeichen seiner Anwesenheit – was willst du?

»Tai sawo darbas«, heißt es im litauischen Liedchen: »'s ist seine Arbeit!« Viel Ruhe braucht er nicht. Wenn er nicht schlingt, so putzt er sich. Hinten, vorn, oben, unten. Unaufhörlich lüpft und plustert er sein durchnäßtes Gefieder und fettet es aus der Steißdrüse tüchtig ein, denn viel Wasser verträgt er ja merkwürdigerweise nicht!

Da, schon hat er sich wieder in den See gestürzt, um zu fischen und zu schlucken. Einsam liegt der beschmutzte Stein in der spiegelglatten See.

Er mag sich getrösten! Morgen vielleicht werden die dauernd wieder anrollenden Wogen ihn blitzblank spülen. Und vielleicht wäscht ihn beim nächsten wilden Westwinde die saugende See herunter und rollt ihn ab zu den bereits vorangegangenen Gefährten.

Denn ihm ist keine Rast vergönnt. Seit der ewig langen Nacht, da er vom skandischen Gebirge herab auf dem Gletscherrücken in dies Flachland heruntergetragen ward, hatte ihm das Licht des Tages nur noch in Strahlenbrechung geschienen, und wie ihn die See, so hat seine Gefährten drüben jenseits der Nehrung das Haffwasser losgespült aus dem Damm von Geschiebemergel, den der Gletscher einst in dem von Schaulen über Prökuls und Windenburg nach Rossiten und in das jetzige Strandgebiet der Ostsee hinein sich erstreckenden Höhenzug abgelagert hat.

Vordem nahmen die Wasser des Festlandes anderen Lauf als heute. Der Mergelsockel von Rossiten und Kunzen war die Zunge des Windenburger Landrückens, bis mit der Verlagerung des Poles unserer kreisenden Erdkugel der Einbruch der See erfolgte, der diesen Sockel zur Insel machte. In die so geöffnete Bucht ragten nach allmählichem Untertauchen des Landes als starke Eckpfeiler nur noch die Festlandnasen der Memeler Platte und des Cranz-Sarkauer Geschiebelehmes hinein. Jahrtausendelang ist dieser von der Verdünung verschont geblieben, während die flache Insel von Kunzen und Rossiten auf die Uferströmungen als Buhne wirkte, an die sich der vom Westwind angewehte Seesand anlagerte. So erhob sich allmählich zwischen der Meeresbucht und der offenen See die Grenze, und es entstand das, was nun Kurische Nehrung und Kurisches Haff genannt wird, und was die Reisegefährten der Gletscherfahrt für immer trennen zu wollen scheint.

Ist es nicht so, daß, wie die Pflanzen im Wechselspiel der Jahreszeiten blühen und verwelken, wie die Tiere ihr Kleid wechseln und die Geschlechter der Menschen kommen und erlöschen: daß so auch die unbelebte Natur ein eigenes, an gewaltigen Erschütterungen reiches Leben führt? Jede Schneeschmelze wandelt die Krume dieser Erde, jeder Wechsel von Frost und Glut sprengt Form und Zusammensetzung der Gesteine, und jeder Wind, der die Wellen des Meeres zu hohen Kämmen auftürmt und in wilden Brechern an die Küste schleudert, treibt auch den Flugsand zu Wogen auf, die brandend sich überschlagen und in steilem Absturz alles Gebilde von Menschenhand unter ihren Massen begraben. Die Winde selbst sind gleich dem Kreislauf des Wassers und den Meeresströmungen bedingt von den Wärmestrahlen der Sonne, ebenso die Verwitterung trotzigen Felsgesteines und das Dehnen der Gletscher; und die Wärmeabgabe der Erde an den Weltraum hat Verschiebung ganzer Gebirgsrücken, Entstehung feuerspeiender Krater und heißer Quellen sowie langsame Hebung und Senkung großer Flächen zur Folge.

Und fände unser Freund, der beschmutzte und besudelte Block aus Skandiens stolzer Gletscherhöhe, einst wirklich einen Ruhepunkt auf dem tiefen Grunde der See, der nichts vom Schaum und Lärm der Wellen weiß: wer bürgt dafür, daß dies nun seine Erlösung vom Fluch ewiger Unstetheit und Flucht wäre? War es lediglich die Polverschiebung, die infolge des Pendelns der Erdachse die Veränderung des Klimas bewirkte und die große Kälte über Nordeuropa herbeiführte? Oder waren es nicht nur verhältnismäßige, strichweise begrenzte, sondern vielmehr allgemeine Verschlechterungen der Erdwärme, die zu den Schneezeitvorgängen führten? Etwa gar eine Verminderung der Eigenwärme der Sonne, die alle Verdunstung aufhob und den Kreislauf des Wassers im Norden in eisige Fesseln schlug, wie sie ihn in dem heißen Erdgürtel zur Wüstenglut verflüchtigte?

Wir wissen es nicht. Aber der alte Jäger zweifelt nicht daran, daß wir es einst wissen werden! Und deshalb lauscht er gern dem Spiel von Wind und Wogen.

Das gönnt dieser von ihm aufgebauten Nehrung auch an der Haffseite nicht Rast noch Ruhe. Unaufhörlich wäscht an der hohen Lehmkante des Ostufers das saugende Wasser. Und wo noch im 16. Jahrhundert die von den Ordensrittern erbaute Burg stand, ankern heute die Fischerkähne.

In das zum Schutz des bedrohten Ufers an der Haffleuchte angepflanzte Röhricht fällt eben mit wildem Lärm ein Starenflug ein.

Schwsch! Schwusch-dschitt! Herrgott, noch ein zweiter saust dort vor dem Bruchberg hin, und ein dritter, vierter, fünfter schwenkt um den Schwarzen Berg herum. Kommen die aber früh in diesem Herbst! Unter dem Anprall ihrer Massen von Tausenden, Zehntausenden bricht das Röhricht. Und der Lärm, den die Völker da vollführen, bis jeder und jede den erwünschten Schlaghalm erwischt hat. Erbarm dich! »Tai sawo darbas!« lacht der Litauer, der den Starmatz nur als wilden Küsten- und nicht als artigen Kastenbewohner kennt.

Auch an der Seeseite macht sich das Herabsinken des Abends bemerkbar. Ein eigener Duft zieht vom Bruch her über die Anpflanzungen hin, und in schwarzer Wolke werfen sich die Elchlausfliegen auf den Wald. Lachend nimmt der Jäger vor dieser Sippschaft, die sich krabbelnd im Haar und Bart festzusetzen liebt, Reißaus. Sie bestätigt ihm auch nur, was er längst aus der Fährte wußte, daß Elchwild in den Erlen steht. Ein Alttier mit seinem Kalb und der beste Hirsch der Nehrung, ein angehender Schaufler, mit einem Schmaltier. Vorsichtig, um nicht etwa das auftretende Wild zu stören, weicht der Jäger im Bogen aus und schreitet dann die Platte entlang dem Schwarzen Berge zu. Mit Entzücken trinken seine Blicke das immer wieder neue und einzigartige Wüstenbild, das diese vom Nehrungen »Palwe« genannte Ebene bietet. Wie ein bunter Teppich breiten sich jetzt im Herbst auf dem gelben Dünensand graurötliche Thymianpressen aus, zwischen denen Stiefmütterchen blühen und die amethystfarbene Stranddistel Seemannstreue feierlich mit ihren tiefblauen Dolden prunkt. In seinen Mulden ist dieser schöne Park der Herrgottsamkeit von kräftigem Erlengebüsch und Birkengruppen bestanden, aus denen jetzt das Rehwild austritt und der würzige Hauch der Abendstunde dem Weidmann entgegenweht. Und doch hat gerade diese friedliche Ebene das wildeste Schicksal erlitten. Auch über sie ist, wie über die alten erstickten Waldsäume, die wilde Wanderdüne hingezogen, und als hinter dieser der Strandwall aufgeweht war, brachen sich die Winde in wilden Wirbeln und hobelten die Platte zu ihrem Tanzboden glatt.

Oft genug feiern die versandeten Orte, nachdem die Düne über sie hinweggewandert ist, eine schauerliche Auferstehung, insbesondere die an der Seeseite angelegten Begräbnisstellen. Wie eine gewaltige Bürste legt der die Wolken des Sandes vor sich herfegende Westwind dann alte Särge, vergrabene Steine oder Reste alter Wohnungen bloß, auch die trostlos stimmenden Baumfriedhöfe, deren entrindete Stämme, nachdem die erstickende Masse des Dünensandes über den erdrückten Wald hin fortgewandert ist, kahl und totenbleich in stummer Anklage zum Himmel starren.

Sie aber, die hohen Wüstenberge, die über begrabenen Wäldern und ersticktem Menschenglück liegen, bleiben wie das Eis der hohen Alpenferner in stolzer Ruhe unberührt von des Menschen Klage.

Sieh, wie sie zu leuchten begonnen haben im Abglanz der mählich sich zum Meer hinabsenkenden Sonne. Wie Vorahnung heiligen Sonntagsfriedens webt über Wald und Sand und See das Feierabendglück lautlos reiner Stille.

In traumhaften Schatten liegen nun, da der Rücken des Dünenkammes vom Jäger erstiegen ist, rings in weiter Runde die steilen Abhänge der Sicheldünen, während ihre Schultern in zaubervoller Reinheit weiß erglänzen und mit dem Sinken der Sonne von zartem Rot überflogen werden. Und dazu diese tiefe, grenzenlose Stille, kaum unterbrochen vom Schrei einer weit draußen über der See hinstreichenden Möwe.

Was ist im Anhauch dieses Ewigkeitsschwingens das große Leid unserer Tage! Was gar das Schicksal des einzelnen, gemessen an den gewaltigen Ereignissen der Erdgeschichte, die zu so völligen Änderungen aller irdischen Lebensbedingungen geführt haben!

Du einsam schönes Land, du wilde Wüste am tosenden Meer, wer möchte dich nicht lieben, aus deiner stolzen Größe nicht neue Kraft schöpfen!

Der Abend sinkt, die Nacht zieht heran. Der schwarze Wald unter dem Jäger ist bereits graublau geworden, die Erlenköpfe sind von rötlichen Flammen der schnell ins Meer hinabsinkenden Sonne umspielt.

Noch einmal malt der Abglanz des scheidenden Tagesgestirns auf dem matt erleuchtenden Samtgrau des Predinberges zartviolette Halbschatten. Und über der ausdunkelnden, im Schleier feiner Abendnebel zu seinen Füßen verschwimmenden Vordüne, hinter der die See nur noch wie ein geheimnisvoller Streifen blinkt, lagern die von der versunkenen Sonne goldig umsäumten Wolkenschichten. Und dann erlöschen auch die.

Vom Haff her klingeln Entenschofe über den Berg hin dem Bruch zu. Ein Kauz umhaßt schweigend in immer kürzeren Stößen den Einsamen auf der Höhe der Düne. Dann Totenstille ringsum in der tief ausatmenden Einsamkeit, in der alle Zauberkräfte sich über dem dunklen Haff versammelt zu haben scheinen. Bis der Mond heraufzieht und mit bleichem Lächeln hingleitet über Dünen und Schründe, Palwe, Wald, Haff und Röhricht, um mit schelmischem Widerspiel von blinkendem Licht und schwarzen Schatten alle erlösend zu umfangen. Horch, dort plunscht es im Röhricht, und paakend streicht ein Märzerpel ab, der dem Zugriff des Fuchses entronnen ist. Aus dem Dickicht des Jungwaldes tritt der weiße Rehbock aus, um an dem frischen Ausschlag des Klees der Waldwiese zu naschen. Auf der Palwe äsen die Rehe an saftigem Grasnachwuchs, und das Elchtier wechselt mit seinem Kalb an den Strand, um in der leise nur lispelnden Schälung den würzigen Tang aufzunehmen. Wenn in dem leichten Seegang eine frisch duftende Ladung herantreibt, springt das Alttier hinzu, wirft sich das ganze Bündel über und läßt sich die würzigherbe und salzige Äsung schmecken. Mit wohligem Behagen läßt es sich auch vom Seewasser überspülen; denn das beizt die widerliche Sippschaft krabbelnder Lausfliegen weg. Das Kalb macht natürlich alles dies der Mutter nach.

Da, horch!

»O-öch, ohöch!« In ruckweisem Stöhnen klingt aus dem Bruchwald heraus der rauhwilde Brunftruf des Schauflers, der seinem Schmaltier nachzieht. Dumpf ringt vom dunklen Ufer des Haffes herauf der Weidschrei des jagenden Uhus.

Immer geheimnisvoller, ahnungsvoller wird das Leben der schönen stillen Nacht. Leise beginnt die See unter der schwach einsetzenden Brise zu raunen.

Da steht, wie in den Nachthimmel eingeschnitten, auf der Vordüne scharfumrissen und doch wie ein Spuk aus sagenhaften Zeiten, der Elchschaufler und läßt in eherner Ruhe die Blicke schweifen über sein unermeßlich weites, feierlich schönes Reich.

»Wie lange noch?« flüstert im Walde die Schicksalsfrage der Laima.

»Wie lange noch?« lispelt es im Röhricht.

Verkämpft

Im mannshohen Röhricht des Hochmoores am Rande des dunklen Erlenwaldes von Prolyssowo fand der alte russische Buschwächter bereits in den ersten Tagen des September frisch ausgeschlagene Gruben. Kein Zweifel, daß ein starker Elch hier seinen »Stall« hatte, und ein sicheres Zeichen, daß die Brunft im Gange war. Die Tiere fühlen sich von der starken Witterung gebannt. Mit hocherhobener Nase zieht das Alttier dieser entgegen, und selbst das spröde Schmaltier kann sich diesem ihm noch unbewußten und völlig neuen Reiz nicht versagen.

Auf den alten Stellen, die jahraus, jahrein den Tummelplatz von Kampf und Liebe bilden, zogen sich die Tiere zusammen. Unruhig brachen die Hirsche in der kühlen Morgenfrühe durch das Gewirr von Kalinkenholz, Faulbaum, Spillbaum, Wacholder und Salweiden. Und nachts ließen sie bereits ihren wilden und zornigen Brunftschrei hören, rissen mit dem Geweih Gebüsch und Farne aus der Erde, zertrampelten knackende Äste und stöhnten wütend hinter den anscheinend noch immer spröden Tieren her. So war es. Aber der starke Schaufler, der jetzt hier im Walde von Prolyssowo gebot, liebte keine Lauscher und hielt sich der Beobachtung fern. Mit wild rollenden Lichtern und gesträubtem Schopf vertrieb er alle schwächeren Hirsche von seinen Tieren. Aber er brachte sie nicht auf den Trab, sondern drängte sie auf eine enge Blöße des Waldortes, die er sich als Platz des Zweikampfes ausgesucht hatte. Dort hat er gestern einen starken Zwölfender abgeschlagen, der zu Tode wund, sich schweigend davongeschlichen hat. Und heute nahm er den Kampf mit einem ungeraden Zwölfender auf, der frech genug war, ihm nicht weichen zu wollen. Seit den Nachmittagsstunden hielt er den Gegner fest, ohne anzugreifen. Zur Verwunderung des Wildes, das, wie immer, teilnahmslos diesem Kampfbeginn zusah, dessen Ausgang ihm vollständig gleichgültig war, da ja doch der Sieger den Platz des Besiegten einnimmt und nach der Brunft ohnehin kein Hirsch sich mehr um die Tiere kümmert. Immerhin ließ der Platzhirsch zuweilen von seinem Gegner ab und suchte mit schmeichelndem Belecken oder mit plumpen Zärtlichkeiten des Geweihes den noch immer versagten Beschlag bei einem Schmaltier zu erzwingen. Kaum aber sah er, daß der Zwölfer die Gelegenheit dazu benützte, sich einem anderen Tiere zu nahen, als er sofort das Schmaltier aufgab und wieder den Gegner stellte, um ihn nicht vom Platze kommen zu lassen. So kam der Abend heran, und der zunehmende Mond schien bereits durch das Gitterwerk der moosigen Erlen und Föhren. Das am Nachmittag getriebene Schmaltier hatte, in Erinnerung an die Zärtlichkeiten des Hirsches, eben einen leisen, sehnsüchtig klingenden Brunftlaut ausgestoßen, der den Hirsch sofort herbeilockte. Das Geäse windend gehoben, zog er heran, mehrmals aus tiefer Brust stöhnend. Und als die Spröde sich abermals ihm entziehen wollte, trieb er mit heftigen Schlägen des Geweihes sie in die Enge und erzwang den Beschlag, den das Schmaltier mit lautem Klageschrei erdulden mußte, während der Hirsch ein wildes Wiehern ausstieß. Kaum abgefallen, wiederholte er unter abermaligem Wiehern den Beschlag und trat dann langsam zurück, um sofort wieder dem Zwölfer sich zuzuwenden, der ein anderes Tier zu treiben begann. Glitzernd flimmerte das Mondlicht bereits auf die Waldblöße nieder, und von drüben herüber tönte der dumpfe Schrei eines heranziehenden, gleichfalls starken Hirsches. Da nahm der Platzhirsch den bisherigen Gegner an. In heftigem Satz fuhr er auf den Zwölfer ein, der ihm indes gewandt auswich. Beide erheben sich wie kämpfende Hengste und schlagen mit den Vorderläufen aufeinander los. Dann fallen sie zurück, um wieder mit den Geweihen aufeinanderzuprallen.

Heiß dringt der Atem aus den Nüstern der Kämpfer, aber kein Schrei oder Stöhnen wird laut. Nur das Stampfen der Läufe und das Knacken des zertretenen Holzes und das Reiben und Wetzen der Geweihe ist wie der Schlag gebundener Klingen weithin vernehmbar. Endlich bricht der Zwölfer nieder, und der Platzhirsch versetzt ihm einige Stöße in die Seite, um dann zu seinen Tieren sich zurückzuwenden. Kaum aber sieht er den schwerverwundeten Gegner sich erheben, als er nochmals wütend auf ihn einstürzt und abermals wuchtig auf ihn anprallt. Von dem langen Augsprosse des Platzhirsches mitten in die Hirnschale getroffen, bricht der Zwölfer zusammen, aber in seinem Falle reißt er auch den Sieger mit sich nieder, der den Augsproß nicht schnell genug aus der tiefen Wunde herauszuziehen vermochte. Über einen Baumstumpf stürzen Sieger und Besiegter hin, beide nahezu auf den Rücken geworfen. In blitzschnellem Ende hat den Zwölfer der Tod ereilt, er sinkt welk und kraftlos in sich zusammen. Aber gegen das Hebelgewicht dieser Last kann der Sieger nun erst recht nicht aufkommen; wie er auch ringt und kämpft – er kann den tief eingedrungenen Augsproß nicht mehr aus der Hirnschale des ihn über den Baumstumpf hinüberziehenden Gegners befreien, obwohl er selbst völlig unverletzt ist. In der Kraft der Verzweiflung schlägt er mit den Hinterläufen; aber je mehr er damit unter sich den Boden aufwühlt, desto tiefer nur sinkt das Hinterteil hinab in die selbstgeschaufelte Grube, und desto wilder werden seine Qualen.

Er sieht nicht mehr, daß der hergezogene fremde Hirsch nun sein Wild zusammentreibt und hört nicht mehr den wiehernden Schrei, mit dem er den Besitz des Schmaltiers begrüßt, das sich widerstandslos dem neuen Gebieter hingegeben hat. Und sähe er auch oder hörte er, wie das Rudel nun mit dem neuen Platzhirsch davonzieht, ihn würde es nicht mehr kümmern in seiner Not. Er hat nur noch einen Willen, in den er seine ganze Hünenkraft nun gießt: loszukommen von dem Toten, an den er hier gekettet ist. Zuweilen verschnauft er, um neue Kraft zu sammeln; dann wirft er sich nieder und drückt mit der Hinterhand nach oben, um doch nur desto tiefer zurückzufallen, bis endlich seine Riesenkraft ermattet, die rot unterlaufenen Lichter allmählich starr werden und nur noch ein leises Schlagen der Flanken zeigt, daß er noch lebt, der gestern dieses Platzes Gebieter war. Der Mond geht unter, und die Sonne vollendet ihren Lauf, um wieder dem Monde Platz zu geben. Noch immer lebt der hoffnungslos Verlorene. Ein Uhu hakt über ihm auf im breiten Geäst der alten Kiefer. An dem Leichnam des Verendeten schwärmen bereits die Fliegen; aus den Flankenwunden, die ihm der Platzhirsch beim ersten Niederwerfen zugefügt hat, tritt übel witternder Weidwundschweiß aus. Noch immer aber spiegelt sich der zum dritten Male heraufziehende Abendstern im lebenden Lichte des qualvoll verendenden Hirsches. Erst als die Nebel des dritten Frühmorgens die Gräser und Nesseln des dunklen Waldes tränken, ist es still, totenstill geworden im Walde von Prolyssowo.

Nur aus weiter Ferne dringt der dumpfe Schrei des fremden Hirsches herüber. Qualvoll, wutunterdrückt, würgend und stöhnend: Uo-oöch! Oa-öch.

Über den Leichen der Gefallenen reckt sich das taubenetzte Farnkraut auf, und die Wipfel der Föhren flüstern im Morgenwinde.

Auf dem Pilnkalnis

Uralter Zauber voller tiefster Geheimnisse umwebt die vom Volke als Schanzen oder Wallburgen bezeichneten Bergkämme, die sich über das ganze Gebiet der regellosen Geländeformen des Geschiebelehmes der sogenannten Eiszeit (richtiger Schneezeit) hin erheben. Von Seen, Schmelzwässern und Flüssen unterspült und gegliedert, weist dies malerische Gelände Baltens, Litauens, Pommerns und der Mark Brandenburg, ja selbst noch der Lüneburger Heide, in unzweideutiger Gleichförmigkeit gewisse langgestreckte, scharfgeschnittene Bergkämme auf, die den Völkern der Wanderzeit als natürliche Verteidigungsschanzen gedient haben. Die Uckermark und Mecklenburg, letzteres besonders in dem von NO nach SW streichenden Endmoränenzuge von Pegelow, aber auch Westpreußen bei Borowki, zeigen solche Eiszeitbildungen in besonderer Größe. Über den ursprünglichen Verteidigungswert hinaus haben die enger begrenzten Hügel als Feuermalstellen – wie später die Feuertürme –, aber auch als Stätten des Gottesdienstes und insbesondere als Begräbnisstellen, also zugleich als Wallburgen wie als Walburgen, in hoher Verehrung gestanden.

Wie der Brocken als höchster solcher Berge am Rande des Gebietes der Schneezeit, wenn auch nicht als deren Ergebnis, mit der Feier der Walpurgisnacht beweist, war aber auch der Dienst der Hagischen Frauen (Waldfrauen, Häg'schen, Häg-ß-chen, Hexen) von nicht weniger als trübetümpeliger Wehleidigkeit erfüllt. Vielmehr war er mit seinen bis zum Morgengrauen währenden Tanzfesten und ihrer Bewunderung heldischer Schönheit am Manne und Weibe einer bewußten Auslese der Tüchtigsten, Widerstandsfähigsten geweiht.

Die Vorteile dieser aus den harten Lebensbedingungen der Schneezeit stammenden Auffassung lagen für jugendfrische Völker auf der Hand. Die freudige Lebensbejahung zum Trotze dem kalten Tode war ihnen ebenso seelisches Bedürfnis wie die Verehrung der Helden. Die letzten Reste dieser Männlichkeit haben wir ja auch noch vor uns in den Leichenschmäusen bäuerlicher Kreise und doch auch in den fröhlichen Marschliedern, mit denen Soldaten vom Grabe eines mit kriegerischen Ehren bestatteten und betrauerten lieben Kameraden abrücken.

Auch Altmeister Goethe hat in seinem launigen Trinkspruch der gleicher Lebensbejahung dienenden Sonnwendfeier den Jenenser Mohren zugerufen:

Johannisfeuer sei unverwehrt,
die Freude nie verloren!
Besen werden immer stumpfgekehrt
und Jungens immer geboren.

Litauen fehlt es bei der Gliederung seiner tief in die Hochfläche des Geschiebelehmes eingewaschenen Täler und den durch heftige Wasserstürze gebildeten Tafeln nicht an solchen natürlichen Urburgen. Und da die Anordnung der Schichten entsprechend ihrer erdgeschichtlichen Altersfolge die gleiche ist wie in der gesamten norddeutschen Tiefebene, so haben wir insbesondere im Mündungsgebiet der Memel, dort, wo der baltische Höhenzug nahe an den Strom herantritt, Walberge, die in hoher Verehrung beim Volke stehen. Besonderen Rufes weit und breit erfreut sich die Rombinas genannte höchste Erhebung im Norden der Schreitlaukener Höhen, die nahe an den Strom herantritt und auf der Südseite in dem Höhenzuge von Obereißeln ein wirkungsvolles Gegenstück findet. Zur Sonnwendzeit ist dieser Pilnkalnis, d. h. Walberg, das Wanderziel frohgemuter Jugend und unverdrossenen Alters.

Und so überrascht es nicht, daß dort, wo die Mutter Erde nicht mit Bergen und Naturbergen aufwarten konnte, aber gleichwohl Besen stumpfgekehrt und Jungens geboren werden, folglich auch Tote bestattet werden müssen: künstliche Walberge errichtet wurden. Ja, diese inmitten der Sumpfwildnis angelegten Walburgen haben eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Denn in alter Zeit führten zu ihnen ins Moor versenkte, gepflasterte Wege, die absichtlich im Zickzack geführt waren und deshalb nur von völlig der Lage Kundigen beschritten werden konnten, hingegen Unkundigen zum Unheil wurden. In Zeiten höchster Not haben sich die vom Feinde Bedrohten auf diese Burgen zu wirksamer Verteidigung gesammelt.

Aber auch heute zwingt der stark wechselnde Wasserstand der Niederung, soweit sie nicht eingedeicht ist, zur Anlage derartiger Hügel, um die Toten in würdiger Weise bestatten zu können, damit nicht die Flut zur Schaktarpzeit mit ihnen in ähnlicher Weise ihr übles Spiel treibt wie drüben auf der Nehrung der Sturm, der die Särge im Sande der Dünen freilegt, so daß die grinsenden Schädel herauslugen, als wollten sie jetzt noch erzählen von der Pest und der Kriegsnot alter schrecklicher Zeiten. Ob noch immer hier oder dort zu den neu angelegten Grabburgen ein ins Moor eingelassener Steindamm gebaut wird, ist schwer zu sagen. Denn die davon wüßten, würden ihn nicht verraten. Die Beerdigungen aber und sonstigen Besuche der lieben Toten finden, wie alles in diesem Niederungswalde, im Kahn statt.

So verschieden diese Begräbnisfeiern im Äußerlichen von denen auf der Höhe sind, so sehr gleichen sie sich doch im wesentlichen. Ebenso wie der Geschiebelehmsockel, auf dem diese Moore der Niederung ruhen, dem gleicht, der am Oberlauf der Memel und in den Höhenzügen von Prökuls und Schreitlauken ansteht und damit zugleich dem Acker- und Baugrunde der gesamten norddeutschen Tiefebene. Ebensosehr auch, wie »das grüne Tal« in der Schlucht von Lasosna, die sich einige Kilometer unterhalb Grodno in die Memel ergießt, dem Braunkohlenvorkommen und dem Grünsande der Samlandküste gleicht, der den Bernstein führt, das Harz der (botanisch »Pinites succinifer« genannten) Urfichte, die zur warmen Vorzeit an den Ostseegestaden große Waldungen gebildet hat. Die sind versunken, als die Achse der Erde in ihrem mehrtausendjährigen Pendelschwung sich ostwärts neigte, so daß der Pol sich unseren Breiten näherte und die Schneezeit über das Gebiet der heutigen Ostsee und ihre Küstenländer lebenstörend hereinbrach. – –

Auch die Fischerwirte von Gilgischken und Griebeningken haben mit vieler Mühe ihre einander benachbarten Kirchhöfe aufgeschüttet. Zahllose Kähne voll Sand sind herbeigefahren, um für die lieben Toten eine hochwasserfreie Ruhestätte zu beschaffen. Ein hübsches schwarz gestrichenes Gitter mit weißen Lattenspitzen umfriedet jeden der angeschütteten Berge, und die Gräber sind sauber mit Immergrün bepflanzt. In diesen Waldgebieten zwischen Griebe, Tawe und Gilge bewegt sich ja fast aller Verkehr im Kahn. Im Kahn bringen sie ihr Vieh auf die Weide, holen sie ihr Heu ein, fahren sie ihre Erzeugnisse zu Markte. Im Kahn wird der Säugling zur Taufe, das Brautpaar zur Trauung gefahren, wird dem Toten die letzte Ehrung erwiesen. Es stimmt sehr feierlich, wenn solch ein Zug unter Choralgesängen sich durch den Wald hinbewegt. Voran meistens ein Kahn mit der Musik, dann der reich mit Tannengrün und Ranken geschmückte Sargkahn, im nächsten Fahrzeug der Pastor mit den Angehörigen und dann in langem Zuge das Gefolge der Leidtragenden, alle in ihrer kleidsamen ernsten Kirchentracht. Zur Zeit des Schaktarpes, wenn nur mit schwerer Mühe der Weg zum Friedhof zu erzwingen ist, wirkt solch ein Begräbnis doppelt düster und herbe auf das Gemüt.

An einem grauen Vorfrühlingstage arbeitete ein derartiger Zug sich zu dem von Morscheis umlagerten Kirchhof von Griebeningken hin. Schon sah man aus düsterem Erlengrau die schwarzen Kreuze mit den weißen Inschriften herausblicken, und die Bläser setzten in üblicher Weise ein: »Jesus meine Zuversicht«. Aber als ihr Kahnführer die Spitze seines Fahrzeuges gegen das Ufer trieb, erhob sich ein Schrecken unter den Insassen. Denn am Eingange zu der Pforte des Friedens stand mit gesträubter Mähne, rotunterlaufenen, zornfunkelnden Lichtern und schnaubenden Nüstern ein starker Elch, der niemand an Land ließ.

Zum Glück war der Tote Mitglied des Kriegervereins gewesen. Es wurde also der Kahn vorgerufen, in dem die alten Krieger saßen, die ihrem Kameraden die letzte Ehre erwiesen. Sie trieben mit einigen blinden Schüssen den Elch vom Kirchhof hinunter, worauf er schnurstracks zu dem anderen, dem von Gilgischken, hinüberrann.

Fuchsteufelswild kam er dort an, und da er den Friedhof verschlossen fand, schlug er das Gitter ein. Dann trollte er zwischen den Kreuzen hin, die ihm nirgends rechten Platz zum Bett boten. Daß unter diesen sorgsam aufgeschütteten Hügeln die Toten von Gilgischken ruhten, wußte er ja nicht. Ihn ärgerte nur der seiner Meinung nach zerwühlte Erdboden. Also ebnete er mit den Läufen ein paar von den Kupsen hübsch sauber ein, ließ sich das ausgerissene Immergrün munden und verbiß, da es ihm an anderer Äsung fehlte, die Lebensbäume und Zierwacholder, die auf den Kupsen standen.

Dann tat er sich behaglich nieder. Aber unter ihm störte ihn eine harte, eckige Baumwurzel oder dergleichen. Deshalb erhob er sich nochmals und schlug mit ein paar ordentlichen Schalenhieben das eckige Ding zusammen. Es klang sonderbar hohl, und viel Erde polterte nach. Als an einem der nächsten Tage die Wirte von Gilgischken in langem Zuge mit Gesang und Musik angefahren kamen, um einen schwarzen Sarg herbeizubringen, wurde er in höchstem Maße zornig über diese nach seiner Meinung unerhörte Störung. Aber wieder wurde er vertrieben, und die Wirte erhoben hinter ihm her bittere Vorwürfe wegen Friedhofschändung.

Der Hirsch aber mußte sich durch das steife Morscheis mit aller Kraft hindurcharbeiten, um den Deich und den dahinterliegenden Polder zu gewinnen. Seine Laune war nicht gerade die beste.

Er war im Grunde genommen so vernünftig wie alle anderen Elche gewesen. Aber als im Frühjahr sein Geweih zu schieben begann, trieb er allerhand Sonderbarkeiten, die ihm als ausgelassene Streiche übel vermerkt wurden. Namentlich den Postillon auf der neuen hochwasserfreien Poststraße hatte er auf dem Strich, und besonders das Lied seines Posthornes:

»Ach, du mein lieber Gott,
muß ich schon wieder fort
auf die Schosseh?
Ohne Kaffee?«

Sobald der Hirsch diese schmetternden Töne vernahm, brach er aus irgendeinem Hinterhalt hervor und hatte seinen Spaß daran, daß die Postpferde scheuten und nicht vorwärts zu bringen waren. Damals sollte der »freche Elch«, wie er genannt wurde, mausetot geschossen werden. Aber eine alte Tante nahm sich seiner an und entführte ihn in die Einsamkeit des Moosbruches, wo er vor Menschen sicher war. Die Alte ist aber auch bald unter heftigen Krämpfen verendet, und der Hirsch trieb seitdem wieder in der Nähe der Menschen sein Wesen, und zu seinem Glück wußte er nicht, daß er abgeschossen werden sollte, sobald er sein Schaufelpaar vereckt und gefegt haben würde. Es war gut für ihn, daß er nichts von diesem Schicksal wußte; denn die Zweibeine sind unglaublich begriffsstutzig.

Dem einen drohen sie mit dem Tode, weil er unreif und frech ist, dem anderen, weil er stattlich und brav ausschaut.

Unser nun ein starkes Zehnergeweih versprechender Hirsch maß auf seinem einsamen Moore den Menschen und ihrer Denkweise nicht entfernt die Bedeutung bei, die sie vielleicht voraussetzten. Er ging ihnen aus dem Wege, denn sie nähren sich von Fleisch und stinken deshalb wie Raubzeug. Sonst sind sie ihm gleichgültig, höchstens lästig. Hier draußen auf dem Moore konnten sie ihm sonstwas! Es sollte nur mal einer wagen, über die trügerisch grünen Stellen herüberzukommen! Seit der Elch da einmal eingesunken war, wußte er Bescheid und mied sie. Und über die Pässe, die zu seinem geschützten Platz führen, wußte er selbst zur nassen Zeit, wenn der Boden ihm unter den Läufen schwankt, gut hinwegzukommen. Seine breite Stellung und die weit spreizenden Schalen tragen ihn gut. Im Notfalle setzt er sich wie ein Hund auf die Keulen und arbeitet sich mit den Vorderläufen hinüber. Im übrigen fand er es schön hier draußen, im ersten warmen Sonnenschein bei Weidenröschen, Sumpfporst und Rauschbeerkraut. Plötzlich aber fuhr der Elch wütend herum, sprang auf und trollte mit weit ausgreifenden, schwingenden Schritten davon dem fernen Waldrand zu. Vor seinen Lichtern flirrte es rot, und der stechende Schmerz ließ sich auch im Moorwasser nicht kühlen. Der Hirsch zog in hoch ausgreifendem Troll fort, immer weiter fort, ohne um sich zu blicken, von Angst und Pein getrieben. Und so war er auf die heiligen Stätten der Gilgischker und Griebeningker gekommen.

Als er von dort vertrieben war, fehlte ihm gerade noch der schwarze Köter, der mit albernem Blaffen ihm auf freiem Felde an der Waldschloßförsterei entgegensprang. Ärgerlich blieb der Elch eine Weile stehen und lauerte, ob der Hund ihm nahe genug für einen tüchtigen Hieb des Vorderlaufes kommen würde. Da dies nicht geschah, ging er zum Angriff über, trieb mit wütendem Blasen den Hund fort und verfolgte ihn bis auf den Hof der Försterei, wo Karo sich heulend zwischen die Beine seines Herrn flüchtete, der eben aus der Scheune heraustrat. Ohne Besinnen stürzte sich der Elch nun auf den Hund mitsamt dem Förster los, die sich schleunigst beide in die Scheune flüchteten, deren Tor der Förster hinter sich zuzog. Wie der Blitz war der Elch um die Scheune herum; und nicht viel hätte gefehlt, so wäre er zum anderen Scheunentor hereingekommen, das der Förster mit knapper Not noch zu schließen vermochte. Nun war der Jägersmann mit seinem Karo eingesperrt, und der Belagerer hielt jeden, der zum Entsatz kommen wollte, fern. Endlich, nach zwei Stunden trollte er ab, und der Förster konnte aus seiner Scheune herauskommen. Kaum aber zeigte er sich wetternd und schimpfend auf dem Hofe, als der Elch aus dem Hinterhalt, in dem er gelauert hatte, wieder auf ihn losstürzte und ihn abermals in die Scheune einsperrte.

Tags darauf wurde der Hirsch wegen Bedrohung mit lebensgefährlichen Waffen, widerrechtlicher Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruches usw. beim Oberförster verklagt, und dieser nahm die Büchse aus dem Schrank, um auf Grund der für solche Fälle ihm erteilten besonderen Erlaubnis trotz der Schonzeit das Urteil selbst zu vollstrecken. Dem Kläger gelang es mühelos, den Oberförster an den auf einer Moorblöße stehenden Elch heranzubringen. Friedlich äsend ließ dieser beide Forstmänner heran bis auf hundert, siebzig, dreißig Schritte. Der Oberförster schüttelte verwundert den Kopf. Er nahm eine Hand voll Erdstücke auf und warf sie nach dem Elch, worauf dieser langsam forttrollte und nach dreihundert Schritten unvernünftig stehenblieb. Ein etwas zweifelnder Blick auf den Förster brachte diesen in Erregung; er versicherte bestimmt, daß dieser Elch der Schuldige sei. Da aber eine Verwechslung möglich war, sollte der Hirsch zunächst sorgfältiger beobachtet und festgestellt werden. Diese Arbeit erleichterte er nun dem Förster ganz wesentlich. Eines Mittags, als der königliche Forstaufseher gerade zum Besuch bei dem gräflichen Förster war, brachte der Elch wieder wie neulich mit Schwung und Nachdruck Karo nach Hause, und zwar diesmal unmittelbar in die Waschküche hinein, wo die Magd ein durchdringendes Geschrei erhob.

Diesmal wurde er nun unter genaue Besichtigung genommen; und als er zum Walde zurückwechselte, folgte ihm der Forstaufseher und stellte den Stand des Hirsches und als besonderes polizeiliches Kennzeichen einen breiten Kehlsack mit quastigem Bart fest. Auf Grund seines Berichtes erhielt er den Befehl, den Hirsch abzuschießen.

Als der Oberförster den zur Strecke gebrachten Tollkopf untersuchte, stellte sich heraus, daß der Hirsch in der Nasen- und Rachenhöhle dreihundertfünfundsechzig Rachenbremslarven hatte.

»Na, siehst du«, meinte der Forstaufseher einige Tage später zu einem Berufsgenossen aus dem Gräflichen, »wenn du eins von den Biestern im Schädel hättest, würdest du auch dämelich! Zwei davon könnten einen Hammel zum ›Professor‹ machen – und der Hirsch hatte dreihundertfünfundsechzig im Kopfe!«

Bangputys

Wie süßes Flötenspiel zieht es über den glänzenden Schimmer auf dem Meere, und an den Steinblöcken rauscht leise Antwort. Seenesseln schwimmen dem feinen Ton entgegen und drehen ihre funkelnde, lebende Gallert dem Licht zu. Robben heben ihre dunklen Köpfe mit sammetweichen Sehern auf. Fische schnellen über das Wasser und lassen ein Gekräusel blassen Goldes hinter sich. Und aus dem Seekraut der Tiefe quillt wohliggrunzendes Behagen herauf. Der Meermann auf dem Stubben der versunkenen Eiche rekelt im Wasser faul seine langen Flossenbeine und döst in die Stille der glitzernden Nacht hinein. Schlaff flutet ihm der wallende grüne Bart um Brust und Schultern, das breite Pottfischmaul und die elfenbeinweißen Fangzähne verdeckend. Aber wie er gähnt, scheint ihm der Mond bis tief in den weiten Rachen und auf das fürchterliche Gebiß.

In den Sternen ist ein Ungewisses. Aber das Licht auf der See und das Lied, das vom Monde tönt: ihn dünkt, das hätte er gestern gehört und an dieser selben Stelle. Der Wald stand damals noch, der nun mitsamt dem Moor versunken ist. Wie schnell das geht! Und wie flink Bangputys, der große Wogenbläser, in der kurzen Zeitspanne die Dünen zu Bergesgipfeln hinaufgeblasen hat! Das Spiel gefällt dem Meermann.

Aber dort drüben in Skandien! Durch seine Seele zieht inmitten der Nacht des Friedens ein Lied wie von wirbelnden Schwertern und weißflammenden Fackeln über dunkler Wogennacht, wenn er grollend Skandiens gedenkt. Schwarzalf und Sturmvogel, die Flut trägt nicht die Bürde dieser Sorge! Dort drüben in der verrückten Geschichte wächst ihnen der Meeresboden in die blaue Luft hinein, und Landblumen blühen über Muschelschalen und Gräbern von altem Seegetier. Fünfzehn Eichen hoch ragt nun schon der ehemalige Seegrund ins Trockene hinauf. Und geht es so weiter mit Finnland und den Alandsfelsen, so wird ihm nächstens das Bottnische Meer zu einem labberigen Süßsee, wie schon einmal, als das große Eis zerschmolzen war und ehe dies Moor mit den Eichen hier unter Wasser sank. Ein Schauder überläuft ihn. Unter dem Sande der Düne sind Gebeine bloßgelegt, und der Mondschein erfüllt die blinden Augen der Toten mit neuem Leben. Am Ende gar wird die Ostsee noch von diesen grinsenden Landhungrigen ausgesoffen, und er, der wilde Meermann, wird trockengelegt wie das himmlische Wickelkind.

»Willst du das? Kannst du das wollen?« brüllt er zum Mond hinauf, der sanftselig leise am Himmel dahinzieht.

»Du hast Gewalt über die Woge des Südens! Hebe sie auf am Meere der Pinguine und schmeiße sie den Neufundländern ans Land, damit sie aufbäumend zurückklatscht und anrollt gegen Friesenland und zu den dänischen Belten herein!«

Ein Weißwölklein, das vor dem Monde stand, hat sich verzogen, und das volle Antlitz des goldigen schaut heiter lächelnd auf den großen Toren herab, der den Wechsel von Werden und Vergehen selbst in der Schrift der Ewigkeit nicht versteht.

Heulend brüllt er auf, und dicke Perlen weint er ins Wasser. Dann springt er wütend hoch, macht einen Kopfsprung, daß die Flossen hoch hinten ausschlagen und schießt unter Wasser fort. Nur die goldig leuchtende Spur auf dem blassen Spiegel verrät seine Fahrt.

Bei Bornholm verschnauft er und ruht auf einem Stubben aus, der in Baumhöhe unter Wasser steht. Dann saust er nach Seeland hinüber und setzt sich auf das Husumer untermeerische Hünengrab. Da muß er lachen, daß helle Blasen emporquellen. Die da unter ihm ruhen besser verwahrt als die Grinsschädel in der Düne der Nehrung, die der Wind nach Gefallen bloßlegt und verweht! Hier ist das Moor mitsamt seinen Birken und Föhren versunken! Die Hügel der Helden ist des Meermanns Sessel, und ihre Feuersteinwaffen schluckt er als Magenzähne über.

Da zieht die Skua daher, die man nie hier noch sah, die wilde, plattschwänzige Raubmöwe, der Eishai, der gefürchtete Räuber. Schwerschleppenden Fluges zieht sie vor der wärmer werdenden Luft gegen Ost, um das Weiße Meer und das Eis ihrer Heimat zu gewinnen, wo der Tran des Weißwales den Sand salbt. Unter ihr schwimmt eine Schar von Seehunden dahin. Von Zeit zu Zeit heben sie verwundert die dunklen Köpfe. Was soll das Lied, was soll der Druck in der Luft.

Agg – agg! – Weit im Osten ist die düstere Raubmöwe verschwunden. Da tauchen zwei andere auf und ziehen schweren Fluges der ersten nach.

Und den Vorboten folgt die Flut. Brüllend stürzen die weißen Wellen aufeinander und gegen den Strand hin, um im gleichen Augenblick zu versinken, von der groben Masse des Sandes verschlungen. Andere reiten auf den Kämmen ihrer Vorläufer wütend daher. Und draußen auf dem freien Wasser gibt es ein Schieben, Stoßen, wildes Drängen. Immer höher, immer gewaltiger steigt die Flut zum Ostseebecken herein. Verschwunden ist das goldige Friedensglück des Mondes. Wie flatternde Trauerfetzen jagt zerzaustes Gewölk an dem Erbleichten vorüber.

Inmitten des Aufruhrs schießt der Meermann jauchzend seine Purzelbäume und klatscht mit den Beinflossen die Wogenkämme.

Und die Masse der Wogen drängt gen Ost, Nordost, und immer weiter Nordost zum Finnischen Busen hinein.

Der Meermann rast vor Entzücken. Jeden kochenden Brecher küßt er, und die langen, weißen Fangzähne blitzen ihm dazu aus dem wulstigen Maul heraus. Jauchzend bebt er einen Schädel hoch, schleudert ihn gegen einen anrollenden Brander und ist dann schon wieder unter Wasser weg, weit weg. Wo das Windenburger Steinlager unter der Nehrung weg in die See stößt, weiß er eine eklige Stelle, die ihm schon viel Spaß gemacht hat. Vor hundert Jahren ist da ein Schiff gestrandet, und die Knochen des Schiffers stecken im Tang. Da will er sich ein Beinchen holen, das zur Pfeife taugt. Oben beißt er die Kugel ab und seitwärts zwei Löcher hinein. Tülliöh, tülliöh!

Nun aber los! Raus auf die freie See! Und dem Ohm, dem Ohmchen, dem lieben Ohmchen eins gepfiffen, daß er herbeikommt, der liebe lustige Bangputys. Noch regt sich nichts als die lustig brüllenden Sturzseen. Wo steckt der Ohm, das Ohmchen, das liebe Ohmchen? Ey kuku!

Heia, noch mal! Wieder bläst er mit seiner Beinpfeife. Und diesmal gibt's kalten, reinen Klang. Als ob die Raubmöwen zurückkehrten und weiße Vögel vom Eise des Nordens ihnen folgten. Durch das Brausen der Wogen treiben diese eisigen Töne hindurch. Und ein Schauder läuft über die Wogen. Von ferne her kommt schrille Antwort: der Hohn des Windes, der Schrei der Grausamkeit. Bangputys!

Nicht in wildem Anprall kommt er dahergerast. O nein, kalt und ruhig schreitet er über die See aus Norden heran, wohl gar vom Ende der Welt her, wo das Leben erstarrt. Er wirbelt nicht die Wogen auf. O nein, er duckt sie mit schwerem Tritt, aber die ganze wilde Masse, die gegen Ost, gegen Nordost hinaus gewollt hatte zu den längst verrammelten Toren, die bläst er auf einmal hoch mit einem Pust aus gewaltigen Backen, und dann jagt er sie gegen das Memeler Tief, daß die Dünen den Verstand verlieren und in wildem Sandverwehen ins Haff abstieben, aber das Tief aufgewühlt wird bis zum Grunde der Versandung und Raum geben muß, Raum, immer mehr Raum für die wahnsinnig anstürmende Springflut.

Da jauchzt der Meermann und springt flossenklatschend den Wogen voraus und brüllt in den Aufruhr von Wind und Wogen hinein.

Hier, in dem verdammt engen Loch, ist er lange nicht gewesen. Die Wiesen dort drüben, o, die kennt er ja noch! Da geht der Hecht, das Hechtchen, das liebe Hechtchen auf die Weide.

Aber was ist das? Da stehen Vierbeinige, Schwarzbunte, mit vollem Euter in den überschwemmten Wiesen! Steht das Meer noch fest in seinen Wogen! Und dort am Walde, wo sonst die Welle an Eichenwurzeln lustig leckte, dort steht ein Kerl, den die große Eisflut des Strafgerichts mitzunehmen vergessen hat! Wie kommt das Beest hierher?

Ein Kerl wie ein Mondochs! Auf dem Nacken sträubt sich ihm der Schopf, eine Nase hat er, fast so schön wie des Meermanns Maul, und auf dem Kopf ein paar Flossen wie von Meermanns eigenen Beinen.

Warte du, dich wollen wir auf den Marsch bringen! Her, du mein Beinpfeifchen! Huissih!

Da schmeißt der Ohm, das Ohmchen, das liebe Ohmchen, der wilde Bangputys, eine Woge gegen den Strand, daß der Meermann beinahe selber hinausgeflogen wäre zu den Hechtchen, den lieben Hechtchen auf den Wiesen. Wie ein Zappelfisch muß er sich mit der ablaufenden Welle ins Wasser zurückkrabbeln. Aber dem Elch da draußen hat's nichts ausgemacht. Dort hinten steigt er ans Land, und seine weißen Läufe blitzen durch das Dunkel der Nacht.

Noch einmal pfeift der Meermann. Noch eine Woge schmeißt Bangputys auf den Skirwithstrom, dreimal so hoch wie die andere. Häuser reißt sie mit sich fort, und ganze Dörfer versinken vor ihr in Nacht und Not. Aber dem Elchhirsch am Strande hat sie nichts geschadet. Kaum daß er sich an Land gepaddelt hat, macht er kehrt und nimmt dankbar ein Bündel rotglänzenden Tangs auf, den die Springflut zum Haff herein und auf seine Wiese geschleudert hat. Seelenruhig läßt er sich, während die Brander ihn umspritzen, die würzigherbe und salzige Lieblingsäsung munden. Was kümmert ihn dieser tosende Aufruhr von Wind und Wogen? Der schützt ihn vor der entarteten Menschenbrut und freut ihn wie die kreischend aufjagenden Möwen. Und wenn das Salzwasser ihm die Decke wäscht mit unbeschreiblich molligen Wellen, um die Lausfliegenbrut wegzubeizen, wenn es ihn lustig mit weißem Sommerschnee und Wintermai umschäumt, so ist ihm das aller Freuden liebste. Wohlig läßt er noch einmal sich von den Wellen treiben, die immer wilder und hohler auflaufen. Dann arbeitet er sich kämpfend an den Strand heran, schüttelt sich die Decke aus, und noch einmal, und trollt dann mit weit ausgreifenden Schritten durch die überschwemmten Wiesen davon. Hoch hinter ihm spritzt das Wasser in breiten Garben auf. Und weiß leuchten die Läufe aus dem grauen Unwetter heraus.

Das hat inzwischen über alles Land in der Nehrung Unheil und Verwüstung gebracht. Bei Nacht und Finsternis mußten die Fischer ihr Vieh, die ärmeren unter ihnen ihr ein und alles, ihr Schweinchen, ihr liebes Schweinchen, aus den leicht gebauten Holzställen in das Wohnhaus treiben. Und als die Flut immer wilder, hohler aufgurgelte, rettete man alle, Kinder, Frauen und Vieh, auf die Hausböden. Draußen auf dem verrückten Wasser treibt – ui Gott, du liebes Gottchen! – der ganze schöne Wintervorrat von Kartoffeln und gehacktem Holz, das gegen die Winterkälte schützen sollte. Und das Heu, das schöne Heu, das auf Kähnen zur Bahn geführt werden sollte, das jagt Bangputys nun in hohen Haufen fort in die weite, aus Rand und Band geratene Welt! Und immer wieder gluckst die steigende Flut. In die Wut: des Sturmes mischen sich die Verzweiflungsschreie der Menschen, das Brüllen des Viehes, das Quieken der Schweine. Wer hört sie in dieser öden Wasserwüstenei? Gestern ist eine der kleinen Hütten auf dem Neuen Werder unter dem furchtbaren Wogendruck zusammengebrochen und verschwunden. Kein Nachbar hat die Hilferufe der Verzweifelnden und Versinkenden gehört. Das Wild hat, als das Wetter umschlug, in drangvoller Angst sich zu den Poldern hingezogen und auf die mit Bäumen bepflanzten Elchberge, die mit kleinen Dämmen verbunden sind, damit nicht ein großer Haupthirsch sich dort zum Alleinherrscher machen und alles andrängende Wild vertreiben kann. Den Rehen scheint diesmal auch diese Zuflucht zu unsicher. Sie haben sich auf die Hochmoore geflüchtet, auf das große Moosbruch, wo sie sich in Sicherheit fühlen.

Inzwischen sind in Rußland schwarze Wolkenbrüche niedergegangen. Die Memel strömt randvoll in ihren Mündungen dem Haff zu. Da streben auch die Elche mit ihren Kälbern dem Moore zu, und selbst dem starken Hirsch von Skiwith wird des Wassers zuviel. Rüstig arbeitet er sich durch den wildgehenden Strom hindurch, und mit Aufbietung aller Kräfte gelingt es ihm, das jenseitige Ufer zu gewinnen. Dort hofft er, wie so oft schon, den hohen Deich und damit die Sicherheit zu erreichen. Aber heute liegt vor ihm eine Reihe losgetriebener Traften. An den Strompfählen sind sie zum Stehen gekommen, und der Hirsch muß sie nun überklettern. In mächtiger Anstrengung wirft er sich vorn hoch, aber der Baum, auf den er aufgreifen wollte, ist losgerissen und rollt unter seinen Läufen fort. Freigekommen, versucht es der Hirsch mit dem zweiten, dritten und vierten ebenso vergebens. Endlich gelingt es ihm, ein festgebundenes Floß zu finden und sich hinaufzuarbeiten. Ein Zittern überläuft seinen von der Anstrengung bis zum letzten erschöpften Körper. Wild schüttelt er die schwarze Decke mit der zottigen Mähne und dem breiten Schlackerbart. Dann prüft er das vor ihm lagernde Holz und schreitet vorwärts, Baum für Baum antastend, dem Ufer zu. Aber kaum hat er die dritte Traft betreten, da rutscht ein starker, glatter Baum ihm unter den Schalen fort. Der Hirsch tritt durch und bricht, als der schwere Baum im Wasser wieder hochschlägt, den rechten Vorderlauf kurz unter dem Blatt. Lange versucht er vergebens, den eingeklemmten gebrochenen Lauf zu befreien. Als ihm dies endlich unter grimmen Schmerzen gelingt, humpelt er auf drei Läufen weiter. Aber kaum ist er über zehn, zwölf Stämme hin, als er wieder durchtritt und nun auch den anderen Vorderlauf bricht.

Diesmal sind alle Versuche zur Befreiung vergebens. Die schreckliche Fessel hält fest bis zum letzten bitteren Ende. Ohne Klage trägt der Hirsch die Pein. Er sieht den Mond über den gurgelnden, grauen Wogen und den Rohrwäldern aufgehen und dann nach qualvollen Stunden hinter wild einherjagendem Gewölk verschwinden; aber kein Laut dringt aus seiner Brust. Er sieht die Sonne kommen und sieht den trüben Tag, den sie heraufgeführt hat, einer dunklen Sturmnacht weichen. Immer matter wird der Blick der blutig unterlaufenen Lichter; aber keine Klage wird laut. Erst als die Sonne des zweiten Tages tiefrot über dem düstergrauen Niederwald heraufsteigt, entringt sich ein zitterndes Röcheln und dumpfes Stöhnen seiner gequälten Brust. Dann wird es still. Noch einmal hebt er sterbensmüde das Haupt, und ein Blick voll namenloser Sehnsucht fliegt über die empörte Wasserwildnis, sein weites, schönes Reich. Dann sinkt er zurück, und ein letztes Zittern läuft über ihn hin. Klatschend und gurgelnd bricht sich die Flut in dem vom Sturm gepeitschten Rohr.

Als das gebrochene Licht des Hirsches erlischt, quorkt schon über ihm der alte Rabe vom Niederwald.

Da bläst Bangputys noch einmal auf; und eine Woge steigt wie keine vordem. Es ist ein wirbelndes Schütteln darin und ein gurgelndes Jauchzen. Das hebt die Taften auf, daß die Stämme sich knirschend bäumen und, voneinandergerissen, sich stoßen und drängen.

Und dann klatscht ein Riesenflossenpaar auf die Wogen, ein silbergrauer Arm greift heraus und reißt den Recken des Niederwaldes von seiner Bahre hinab in die Tiefe.

Dort schließt der Meermann ihn fest an die Brust und zieht in der saugenden Unterströmung still und langsam mit dem Toten davon.

Hinaus, weit hinaus in die See.

Und siehe, da glätten sich die Wogen!

Bangputys schreitet über das beruhigte Meer seinem Schlosse zu in Nordens Königsgarten, wo die weißen Schwäne singen auf den Wassern des eisigen Schweigens. Ei daina, daina! – –

Der Meermann aber wartet still auf den Abendstern und das Silberlicht des Mondes. Als dessen Strahlen herabtanzen und durch die leichten Wellen der See laufen wie Heringe durch Lachsnetze, ey kuku, da hebt der Meermann seinen zottigen Toten, den Elchhirsch empor. Und küßt ihn. Und herzt ihn. Und wiegt ihn wie ein schlafendes Kind. Dann gleitet er regungslos mit seiner Bürde in die Tiefe und birgt sein Opfer in den großen Feldern aus goldrotem Tang.

Keine Möwe kennt den heimlichen Platz. Kein Klageschrei verkündet ihn. Über den ruhig gewordenen Wassern ist ein neuer Tag heraufgezogen.


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