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IV

Im ersten Jahre bekam sie einen Knaben und noch einen im nächsten. So oft sie allein war, teilte sie ihre Zeit zwischen ihnen und den Unterrichtsstunden. Der Mann steuerte so gut wie nichts zum Haushalt bei, mit Ausnahme der kurzen Zeiten, wenn er zu Hause war. Dann wurde das Geld mit Kameraden in flottem Leben verschwendet. »Die Jungen« wurden so lange zur Tante geschickt; »man konnte ja nicht vier Schritte in dem Lumpenhause machen, ohne durch die Wand zu gehen.« Solange sagte sie auch ihre Stunden ab; sie konnte nicht mehr leisten, als daß sie ihm aufwartete.

Daß sie nicht glücklich sein könne, begriffen alle; aber daß sie ein Leben in Angst lebte, davon hatte niemand eine Ahnung. In Angst vor dem Telegramm, das sein Kommen meldete, wenn auch nur für einige Tage, in Angst vor dem, was dann geschehen würde. Wenn er kam, wagte sie nicht den leisesten Widerspruch und zeigte ihm und allen die unbefangenen Augen, dieselbe rasche, ein wenig gedämpfte Art, die machte, daß sie ging und kam, ohne daß man sie bemerkte. Wenn er dann abgereist war, wurde sie mit einem Male so übermüde nach der Spannung der Tage und Nächte, daß sie zu Bette mußte.

Jedesmal, wenn er zu Hause war, wurde er weniger achtsam auf sich selbst, unverschämter gegen andere; wenn sie aber begriffen hätte, wie Männer mit seiner Verausgabung von Kraft in der Regel um die vierziger Jahre herum fertig sind (und deren sind gar viele in den Küstenstädten), dann hätte sie auch schon begriffen, daß gerade dies die Zeichen des Niederganges waren; er war weit vorgeschritten. Ihr erschien er nur immer widerlicher.

Er war wenig zu Hause, das half ihr. Sie hatte sich vorgenommen, daß sie und die Knaben ausgezeichnet miteinander leben würden; das half ihr auch, meist aber ihre rastlose Arbeit und die Achtung aller. Nach fünfjähriger Ehe schien sie ebenso niedlich, wie damals, schien auch ebenso unbefangen und munter; sie war so daran gewöhnt, sich zu verstellen.

Nun waren ihre Jungen der eine vier, der andere drei Jahre alt, und selten fand man sie anderswo, als auf dem Marktplatz – in den Schneehaufen im Winter, in den Sandhaufen im Sommer. Oder auf dem Lande bei der Tante, ihrer »Großmutter«.

Nächst der Beschäftigung mit den Knaben war die mit den Blumen ihr die liebste. Sie hatte deren eine Menge, die das Haus kleiner machten, als es eigentlich war. Mit den Knaben konnte sie spielen, aber mit den Blumen konnte sie denken, wenn sie den Blumen Wasser gab, empfand sie am stärksten, wie gequält sie selbst war. Wenn sie ihre Blätter abwischte, sehnte sie sich nach guten Worten, freundlichen Augen. Wenn sie trockne Zweige entfernte, überflüssige Schüsse, wenn sie ihnen andere Erde gab, weinte es oft in ihr vor Sehnen, wallte das in ihr auf, was nichts bekam.

Fünf Jahre waren also vergangen, – als eines Tages das Gerücht durch die Stadt ging, daß Axel Aarö ein reicher Mann geworden sei; sein alter Freund war gestorben und hatte ihm eine große Leibrente hinterlassen! Gleich darauf wurde auch erzählt, daß Axel Aarö zum zweitenmal die Kur gegen die Trunksucht durchgemacht habe; die erste sei nicht von Erfolg gewesen; jetzt aber sei er geheilt. Man konnte sehen, wie beliebt Axel Aarö war; denn es gab kaum einen, den es nicht freute.

Am Mittwoch den 16. März 1892, um vier Uhr nachmittags, saß sie mit einer Arbeit zwischen ihren Blumen, als sie nach dem Hotel hinüber sehen mußte. Im Eckfenster der zweiten Etage stand der, an den sie dachte; er sah auf sie nieder.

Sie stand auf, und er grüßte zweimal. Sie stand noch da, als er über die Straße kam, in dunkler Pelzmütze, schwarzer Seidenweste, auf die der lange, blonde Bart herab fiel, das Gesicht ziemlich bleich, aber die Augen klarer im Ausdruck. Er klopfte an; sie konnte kein Wort hervorbringen, sich nicht rühren. Als er aber die Tür öffnete und im Zimmer stand, sank sie auf einen Stuhl nieder und weinte.

Er kam langsam auf sie zu, nahm einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. »Sie dürfen nicht erschrecken, weil ich so geradezu komme. Es freut mich zu sehr, Sie wiederzusehen.« Nein, wie das in diesem Hause klang, diese wenigen gedämpften Worte, so rücksichtsvoll, vertraulich. Der Tonfall war fremd geworden, aber die Stimme, die Stimme! Und daß er ihre Schwäche nicht mißdeutete, sondern ihr darüber forthalf! Nach und nach wurde sie wieder dieselbe, wie in alter Zeit, zuversichtlich, fröhlich, verschämt. »Es war so seltsam unerwartet«, sagte sie.

Er fügte ehrerbietig hinzu: »Das, was inzwischen passiert ist, stürmt ja auf einen ein.«

Viel mehr wurde nicht gesprochen; er hatte gerade bereit gestanden, auszugehen, und nun kam der Schwager. Er betrachtete ihre Jungen draußen im Schneehaufen, er sah ihre Blumen, ihr Klavier, ihre Noten an; dann bat er, wiederkommen zu dürfen. Das Ganze dauerte fünf Minuten. Aber etwas blieb in ihrer Vorstellung zurück – etwas wie der zierliche blonde Bart, der auf die Seidenweste herab fiel. Das Zimmer war geheiligt, das Klavier, die Noten, der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ja, der Teppich, über den er gegangen war; – sogar in seinem Gang lag Rücksicht für sie. Sie empfand alles, was er gesagt und getan hatte als Mitgefühl für ihr Schicksal.

An diesem Tage konnte sie nichts mehr vornehmen; sie schlief kaum in der Nacht. Aber was in ihr vorging, war auch nichts geringeres, als daß sie etwas, das fünf Jahre – eigentlich sechs – zurücklag, in die Sonne hinaustrug – es hinaustrug, wie man Blumen aus dem Keller holt, wohin sie zum Winterschlaf gestellt worden, und sie wieder hinauf zum Frühling trägt. Dabei machte sie dieselbe Bewegung, gewiß mehr als zwanzigmal: sie legte beide Hände auf die Brust, die eine Handfläche über die andere, wie um die Brust niederzuhalten; es durfte nicht zu laut reden.

Tags darauf ging ihr Gespräch leichter. Die Knaben wurden herein gerufen. Nachdem er sie eine Weile angesehen hatte, sagte er: »Da haben Sie doch etwas Reelles!«

Binnen kurzem waren sie so gute Freunde, er und die Knaben, daß er sich auf alle Viere legte, ihnen als Pferd diente und andere ganz neue Kunststücke machte, die sie furchtbar amüsant fanden. Und dann lud er sie zu einer Schlittenfahrt für den nächsten Tag ein! Nach scharfem Tauwetter war gerade eine ungewöhnliche Menge Schnee gefallen; die Stadt war weiß und die Schlittenbahn wieder vorzüglich. Bevor er ging, mußte Ella bitten, ihn abbürsten zu dürfen; der Teppich sei nicht so sauber gewesen, wie er sein müßte. Er nahm ihr die Bürste ab und tat es selbst; aber leider hatte er auch auf dem Rücken gelegen, und so mußte er sie es tun lassen. Sie bürstete dann sein feines Jackett ab, machte es so nett und leicht, aber es wollte gar nicht gut werden. Auch vorn war es nicht, wie es sein sollte, er mußte die Bürste noch einmal nehmen; sie stand dabei und sah zu. Als er fertig war trug sie die Bürste in die Küche hinaus. »Wie hübsch, daß Sie noch den Zopf haben,« sagte er hinter ihr. Sie blieb ziemlich lange fort und kam von einer anderen Seite wieder herein. Da war er fort; die Knaben sagten, jemand habe ihn geholt.

Am nächsten Vormittag Schlittenfahrt. Erst am Nachmittag kamen sie zurück; sie waren in Baadshaug eingekehrt, ein Badeort mit Hotel und vorzüglicher Restauration, wohin die Leute auch im Winter gern wallfahrteten. Der jüngste Knabe seiner Schwester war mit, und während alle drei das Pferd zu »Andresens an der Ecke« nach Hause brachten, blieb Aarö im Gange stehen. Noch nie hatte Ella ihn so aufgeräumt gesehen; die Augen hatten das Leuchtende wie damals beim Gesang, und dann sprach er von dem Augenblick an, wo er kam, bis er wieder ging. Sprach vom norwegischen Winter, den er nie zuvor gesehen; woher mochte das kommen? Seit vielen Jahren hatte er ein Lied zum Preis des Winters auf seinem Repertoire, das alte Winterlied, das auch sie kannte: »Der Sommer schlief ein in des Winters Arm'« – freilich sie kenne es, – und jetzte erst sollte er lernen, wie wahr das Lied war? Der Eindruck vom Winter auf die Menschen mußte doch entscheidend sein. Der Winter war beinahe ihr halbes Leben! Was für Gesundheit und Schönheit – und Phantasie er geben mußte! Er begann zu schildern, was er heute im Walde gesehen habe; er brauchte nicht viele Worte, aber die Bilder waren klar. Sprach, bis er bewegt wurde und sah sie währenddessen an wie ein Verzückter.

Alles in einem einzigen Augenblick; er hatte ja seinen Reiseanzug an. Aber als er gegangen war, schien es ihr, als hätte sie ihn nie zuvor zu Gesicht bekommen. Ein Schwärmer also, – ein Schwärmer bis in die tiefste Tiefe, der sich für gewöhnlich nie verriet? Von dieser Schwärmerei war das Lied der Bote? Deshalb nahm seine Stimme alle mit in ein anderes Reich hinüber? Sein schwermütiger Vater – wenn der trinken wollte, schloß er sich mit seiner Violine ein, spielte und spielte, bis er da lag. Hatte auch der Sohn diese Scheu vor den Menschen gehabt, diese Verzückung in seiner eigenen Schwärmerei?

Gott sei Dank, Axel Aarö war gerettet! Gerade aus seiner Schwärmerei heraus hatte er sie so angeblickt –! Jetzt erst drang es ein, sie war zu sehr mit dem Neuen an ihm selbst beschäftigt gewesen. Jetzt erst drang es ein, – drang mit großer Wärme ein mit überwältigender Furcht und Wonne, ein Freudenbote, der noch bebte vor Zweifel. Sollte die Bestimmung ihres Lebens nahe sein –! Sie fühlte, daß sie rot wurde, sie konnte nicht mehr ruhig bleiben, sie ging ans Fenster, um ihn dort wieder zu suchen, dann umher, um zu suchen, was sie selbst glauben solle. Jedes Wort von ihm zu ihr, jede Miene und Bewegung vom ersten Mal an, da er hier gewesen, wurden gegenwärtig; aber sie schienen alle so vorsichtig, fast spärlich. Gerade das war ihr Reiz. Seine Augen hatten sie jetzt gedeutet, und diese Augen hüllten Ella ein, sie gab sich ihnen ganz und gar hin.

Das Mädchen reichte einen Brief herein; es war eine Weihnachtskarte in einem Kuvert ohne Aufschrift von Axel Aarö. Eine von den gebräuchlichen Weihnachtskarten, die eine jugendliche Schar auf Schneeschuhen darstellte; darunter stand gedruckt:

»Der weiße Winter
Hat rote Rosen.«

Auf der andern in zierlicher, runder Schrift: »Im Walde heute muß ich an Sie denken. A. A.« Das war alles.

Aber so ist er. Er sagt nicht mehr. Wenn er an einem Fenster vorbeikommt, in dem eine solche Karte liegt, so denkt er doch an mich. Und er denkt nicht allein an mich, sondern er schickt mir einen Gedanken. Oder irrte sie? Ella war bescheiden; dies ihr gegenüber konnte doch nicht mißdeutet werden? Die Weihnachtskarte, ... war sie nicht ein Vorbote? Die beiden jungen Paare darauf, und die Worte, ... er meinte doch wohl etwas damit?

Sie sah seine entzückten Augen wieder; sie hüllten sie nicht allein ein, sie liebkosten sie. Sie dachte nicht zurück, sie dachte nicht vorwärts, sie atmete nur weit auf, lebte. Noch in der mondhellen Nacht lag sie auf ihrem Bette – nicht nur ganz wach, sondern durchstrahlt. Jetzt, jetzt, jetzt, flüsterte es. Hätte sie am Traum ihres Lebens festgehalten, auch als die Wirklichkeit so grausam schien, sie hätte bestanden; weil sie unsicher darin geworden, war alles unsicher geworden. Aber je größer das Leiden gewesen, je größer würde vielleicht die Seligkeit werden! Sie schlief in etwas Kreideweißem ein, das sie mit hinein in ihre Träume nahm; sie erwachte leichten, hellen Wolken entgegen, die sich zerstreuten vor den zusammenströmenden Gedanken an das, was ihrer heute harrte. In der Nacht war das Ganze fertig geworden; sie erwachte mit der vollsten Sicherheit. Heute würde es geschehen. Er hatte nicht ein Wort gesagt; diese seine Schüchternheit liebte sie von allem am meisten an ihm. Gerade das war das sichere Pfand. Heute geschah es.


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