Ida Bindschedler
Die Leuenhofer
Ida Bindschedler

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Die Weihnachtsfreude.

Es ging schon stark auf Weihnachten. Die Tage wurden kurz. Wenn die Leuenhofer Kinder nach halb fünf Uhr gemächlich und schwatzend durch’s Wendeltor hereinzogen, so brannten beim Schneider Gutknecht und im Spital schon die Lichter.

Und dann kam schon mitten im Dezember, so wie sich’s für einen rechten Heimstetter Winter gehörte, der erste Schnee. Herr Schwarzbeck war gerade daran, von Berchtold von Zähringen zu erzählen, dem Städtegründer, während die sechste Klasse Noten schrieb.

Da ging eine Bewegung durch die Reihen.

»Es schneit! es schneit!« hörte man flüstern. Wahrscheinlich war es Sara Wiebold gewesen, die, während der Herzog Berchtold sich um seine Städte bemühte, die Augen spazieren gehen liess.

Alles drehte den Kopf nach dem Fenster.

Wahrhaftig, es schneite. langsam schwebten die weissen, leichten Flocken hernieder.

Die Leuenhofer drückten die geballten Hände an die Brust; das hiess: Wie fein! wie fein! Und sie schauten Herrn Schwarzbeck an, ob man wohl hinausgucken, und wenn man weit vom Fenster sass, gar ein wenig sich aufrecken dürfe.

Herr Schwarzbeck schüttelte zuerst den Kopf: »Gewiss schneit es in der Pause auch noch!« Aber dann lächelte er und erinnerte sich daran, wie er als Bub halt auch vor Vergnügen ganz ausser sich gekommen war, wenn’s zum ersten Mal geschneit hatte.

»Nun, so schaut halt drei Minuten zu«, sagte er und schaute mit hinaus den Flocken zu, die jetzt dichter und dichter fielen und liess seine kleinen Leute ihre Ah! und Oh! herausjubeln. Dann aber nahmen sie ihren Herzog Berchtold und den Umriss von Europa tapfer wieder auf.

Am Nachmittag lag der Schnee im Schulhof schon so dicht, dass man in der Pause eine Schneeballschlacht veranstalten konnte.

»Die Sechstklässler gegen die Fünftklässler!«

»Ja! und nachher die Mädchen gegen die Buben!« schrien die Kinder, während sie um drei Uhr in den Hof hinaus rannten, wo der Leu mit einer weissen Kappe auf seiner Säule dasass. Seine Vorderseite war gegen die Schulstube hin gerichtet. Und es sah immer aus, als warte er auf die Kinder, bis sie herauskommen und ihm die Langeweile vertreiben würden.

Der Schnee war weich; es liessen sich die prachtvollsten Bälle kneten. Hui! wie sie flogen! Ritsch! bald hatte man einen am Kopf, bald im Nacken. Brr, das war nicht gerade angenehm, der nasse Schnee hinten im Hals. Also Rache! Aber treffen so in aller Eile –! Ja, wenn man es könnte wie Nuschka!

Sie stand vorn dran mit vorgestelltem Fuss und warf und traf und warf. Wie der Blitz ging’s! Und selbst konnte sie fast jedem Ball, der ihr galt, durch eine rasche Biegung entgehen.

»Ihr müsst zielen, Sophie« – schrie sie in voller Kampfeslust – »einen Augenblick zielen – so –!«

Aber Sophie Berchtold und Alwine und verschiedene andere, die keine besonderen Schützen waren, fingen nun an, ihre rasch geformten Bälle Nuschka zu bieten.

»Da – da!« Und alle Bälle trafen durch Nuschkas geschickte, rasche Hand ihr Ziel.

»Das gilt eigentlich gar nicht!« rief Hermann Steininger hinüber, während er den Schnee eines kräftigen Geschosses aus dem Gesicht wischte. »Jedes muss selber werfen! Das gilt nicht!«

»Wohl, wohl, das gilt schon«, rief Herr Schwarzbeck lachend, der von der Hoftüre her zusah. »Das sind die Munitionskolonnen, die ihren Vorrat dahin bringen, wo er die beste Verwendung findet. Das gehört zur Kriegskunst, Hermann!«

Herr Schwarzbeck zog die Uhr heraus und steckte sie wieder ein und gab noch ein Stückchen Pause hinzu. Es war gar ein lustiger Kampf hin und her und ein Lachen und Jubeln und Schreien.

Es schneite zwei Tage lang fast ununterbrochen fort. Die weide Kappe ging dem steinernen Leu bis über die Ohren und die Nase. Man musste ihm mit einem Besen den Schnee vom Kopf wegwischen, damit er nur wieder sehen konnte. Und wenn der steinerne Löwe sich hätte wundern können, so hätte er sich gewiss gewundert über den anderen weissen Löwen, der auf einmal da ihm gegenüber sass. Den hatten die Buben und Mädchen gemacht: eine stattliche Säule und mit vieler Kunst dann den Leib darauf mit dem schön nach links hinüber gelegten Schwanz und den Tatzen. Bis die recht waren! und der Kopf erst!

Ernst Hutter gab nicht nach, bevor das Werk nicht zum mindesten so löwenmässig aussah wie das Urbild von Stein. Herr Schwarzbeck und der Herr Pfarrer, der gerade einen Schulbesuch machte, hatten dann aber auch ihr Wohlgefallen an dem Tier.

Ein paar Wochen lang sass der Schneelöwe nun so vor dem anderen da.

»Ob sie wohl einander mögen?« lachten die Kinder, als sie in der Pause vor den beiden Tieren standen.

»Nun? sagt?«

Die Löwen sagten nichts; sie fuhren fort, einander ernsthaft ins Gesicht zu sehen. Vielleicht dachte der von Schnee, er sei grösser und habe die schönere Mähne. Und der von Stein dachte: Der da drüben meint jetzt Wunder was er sei; aber wir wollen dann sehen, welcher von uns im Frühling noch da ist. –

Es wurde mit jedem Tag jetzt schöner. Es kam der sechste Dezember, der Nikolaustag, und der wurde im Leuenhof, solange dort Herr Schwarzbeck seine Schule hatte, gefeiert. Die Buben hatten aus dem Schättenwald Tannenzweige gebracht. Die befestigte Herr Schwarzbeck über der Wandtafel und einen legte er in das heisse Ofenrohr, und da kam der feine, liebe Duft des brennenden Christbaumes durch’s Zimmer gezogen, und die Kinder sahen einander an: Weihnacht! Nun kommt ganz bald Weihnacht!

Und sie waren vor Freude sehr fleissig. Am Nikolaustag wurden auch immer die ersten Honigküchlein, die Tirgel, gebacken, die dann über die ganze Festzeit gleichsam als Wahrzeichen des Christmonates in den Auslagen der Bäckereien prangten. Es waren sehr dünne, etwas feste, kleine Kuchen, und es gab Leute, die sagten, man beisse sich die Zähne daran aus. Aber das waren eben keine Heimstetter und verstanden es nicht.

Wie gut schmeckte so ein frischer, bräunlicher Tirgel, nachdem man ihn zuerst bewundert und gegen die brennende Lampe gehalten hatte, damit das Bild recht schön herauskomme. Denn das war das Besondere dieser Honigküchlein: sie waren alle in eine Form gedrückt worden und kamen dann mit einem schön erhabenen Bild aus dem Ofen: Es gab Körbe mit Rosen und Maiglöckchen oder Äpfeln und Trauben; Kinder, die mit Ziegen oder Lämmern spielten, oder eine glückliche Familie vor einem brennenden Christbaum; den Kaiser Karl, der die Schule besuchte; den König Alexander mit dem Diogenes, der in einem Fass sass; Schweizersoldaten, die unter Anführung ihres kühnen Hauptmannes eine Halde hinanstürmten; ein Schloss auf steilem Felsen; eine Mühle mit grossem Rad und runde Wolken am Himmel und sogar – und das war das allerbeliebteste – ein Bild vom Städtchen. Mit höchster Freude und mit Staunen betrachtete man es jedes Jahr wieder neu.

»Nein! wie nett! wie deutlich! der Kirchturm und da unten die Halde und die Brücke und die Mauer vom Doktorsgarten! und die Illig mit ganz wilden Wellen!«

Heuer kamen grad um halb neun Uhr als letzte Ottilie Eggenberg und Netti Tobel angekeucht mit einem grossen Korb, den sie in eine Ecke stellten. In der Zehnuhrpause aber trugen sie den Korb zu Herrn Schwarzbeck vor die Klasse.

»Der Vater lasse grüssen, und es sei für jedes ein Honigkuchen!« meldete Ottilie mit ganz roten Backen vor Stolz und Vergnügen.

»Gelt, der Vater denkt halt immer noch an den 30. Mai«, nickte Herr Schwarzbeck. »Und aus lauter Freude will er der Leuenhofer Schule auch eine Freude machen.« –

Bald hielt jedes der Kinder seinen Honigkuchen und bewunderte und zeigte ihn ringsum und wusste nicht, ob es gleich anbeissen oder das süsse Back- und Kunstwerk für zu Hause aufheben wolle.

Wer geschickt war, der brach sich das Bild heraus und liess sich einstweilen den knusperigen Rand schmecken.

»Siehst du, so –«, sagte Sara und schwang sich auf den Tisch, an dem Anna Hertig sass. Sara hatte den König Alexander erhalten.

»Nur ein wenig von der Krone ist ab und vom Dach. Zeig, was für einen hast du?«

Anneli Hertig hatte ihren Honigkuchen in das Tischfach gelegt. Sie hatte den Kopf auf die Hand gestützt und sah auf ihr Lesebuch herunter.

»Freust du dich denn nicht? Immer langweiliger wirst du. Man kann gar nichts mehr mit dir machen.« – Sara versuchte Annelis Hand vom Gesicht weg zu tun. Ein paar andere Mädchen waren auch herzugetreten.

»Aber, Sara!« flüsterte Netti Tobel, »du weisst ja wohl, warum Anneli traurig ist.« Sie zog Sara weg; denn sie sah, dass Anneli es nicht gern hatte, dass man so vor ihr stand.

Alles im Leuenhof wusste, warum Anneli Hertig ein so trauriges Gesicht hatte. Es war immer ein stilles Kind gewesen und hatte nie viel von sich reden gemacht. Aber mitgespielt und mitgelacht hatte es schon. Bis dann der grosse Kummer kam. Annelis Vater war im Frühling gestorben. Das war schon recht traurig gewesen. Aber als Anneli mit ihren zwei kleinen Brüderchen im schwarzen Kleidchen am Grab standen und zwei Frauen hinter ihm sagten: »Die armen Tröpflein!« hatte Anneli gedacht: »Die Mutter haben wir doch noch.«

Aber nun war die Mutter auch nimmer da. In der Stadt Münsterau hatte sie eine Stelle angenommen als Köchin in einem grossen Gasthof. Sie konnte ausgezeichnet kochen, die Mutter, und die Leute sagten, es sei ein rechtes Glück, dass sie den Platz bekommen habe. Sie verdiene viel Geld, und bei der alten Frau Hertig seien ja die Kinder aufs beste aufgehoben.

Aber Anneli konnte und konnte die Mutter nicht vergessen. Immer musste es an sie denken und musste manchmal tief Atem holen, so schwer war ihm ums Herz. Wenn es den kleinen Brüderchen zusah, dem Theodor und dem Ruedeli, wie sie bauten und dann unter Geschrei und Lachen den Turm wieder umwarfen, konnte sie gar nicht begreifen, dass man so lustig sein könne, wenn doch die Mutter fort sei.

Am Anfang hatte Anneli manchmal geweint.

Aber dann war die Grossmutter traurig geworden.

»Hast du mich gar nicht lieb, Anneli?« fragte sie. »Sieh, da hab ich noch ein Apfelküchlein für dich. Frau Lenz nebenan hat gestern sechs Apfelküchlein gebracht.« Sie ging zum Küchenschrank. »Aber jetzt musst du mir nicht mehr weinen; sonst weine ich auch.«

Anneli schluckte mit dem Apfelküchlein auch seine Tränen hinunter und gab sich Mühe, die Grossmutter nicht traurig zu machen. Aber nachts erwachte Anneli manchmal und setzte sich dann auf und besann sich. Eben war sie noch mit der Mutter zusammen gewesen auf einem grünen Wiesenweg, und sie hatten gesungen und waren Hand in Hand im Taktschritt gegangen im Sonnenschein. Aber das war nur ein Traum gewesen; die Mutter war nicht da; es war dunkel in der Kammer. Anneli hörte die kleinen Brüder atmen und die Grossmutter nebenan. Dann weinte Anneli in ihre Kissen.

Herrn Schwarzbeck tat es leid, wenn er Anneli Hertig mit so ernstem, betrübtem Gesicht dasitzen sah. Manchmal war es auch zerstreut und fuhr zusammen, wenn es an die Reihe kam. Herr Schwarzbeck war aber besonders gut und geduldig mit dem Anneli. Von Tag zu Tag hoffte er, dass Anneli sich daran gewöhne, bei der Grossmutter statt bei der Mutter zu sein. Aber sechs Wochen waren nun schon vergangen, seit Frau Hertig fort war.

»Die Christbäume sind schon da, Herr Schwarzbeck!« meldeten die Leuenhofer Kinder strahlend an einem hellen, weissen Wintermorgen etwa zehn Tage vor Weihnachten.

»Wie ein Tannenwald sieht es jetzt aus auf dem Marktplatz!«

Nach der Schule standen die Leuenhofer mit den anderen Heimstetter Kindern um den Tannenwald herum und besahen die Bäumchen und berieten, welchen die Mutter wohl wähle und was schöner sei, ein recht buschiger, dicker Christbaum oder einer, an dem man die guten Sachen, die daran hingen, recht sehe. Die rotbackigen, kleinen Äpfel, die Nüsse, die Anissternchen und Zuckerringe, die braunen Tirgel und die Quittenwürstchen!

Die Kinder klopften sich auf Herz und Magengegend und hüpften auf.

»Wenn man denkt«, sagte Eva Imbach und strich über die Äste einer Tanne, »so im Wald – und hier ist es ein gewöhnlicher grüner Baum – und dann am Weihnachtsabend – wenn die Lichter dran brennen und der Silberflitter so flimmert und zittert – dann ist es wie ein Wunder. Man kann gar nicht begreifen, dass es so etwas Schönes gibt.« –

»Noch zehn Tage!« sagte Netti Tobel. »Noch furchtbar lang. Man meint, man erlebe es gar nicht mehr. Aber heut in einer Woche kann man dann schon sagen, übermorgen! Manchmal jetzt am Abend, wenn wir am Tisch bei den Aufgaben sitzen, dann ruft auf einmal eines laut: «Weihnacht!»und dann tun wir alle vier miteinander einen lauten Freudenschrei, so dass die Mutter hereinkommt und meint, es habe etwas gegeben.«

»Dort ist das Anneli«, sagte Ottilie Eggenberg. Die Kinder drehten sich um.

Anneli Hertig kam daher, an jeder Hand ein Brüderchen. Die zwei kleinen Buben hatten Tannenzweige erwischt, mit denen sie sich gegenseitig vergnügt um die dicken, kleinen Nasen fuhren.

»Man kann es gar nicht sehen, das traurige Gesicht vom Anneli, jetzt, wo man sich selber so schrecklich freut!« sagte Ottilie Eggenberg.

»Vielleicht kommt seine Mutter heim über Weihnachten?« meinten ein paar der Kinder.

»Nein, eben nicht«, erklärte Sara, die immer alles wusste, was im Städtchen vorging. »Sie hat geschrieben, es sei keine Rede davon; gerade über die Festtage könne sie doch die Frau Breitenstein nicht im Stich lassen. Frau Breitenstein, das ist die Frau, welcher der Gasthof gehört. Vielleicht komme Annelis Mutter dann gegen den Frühling hin einmal.«

Vom Kirchturm schlug es viertel nach zwölf. Es war die höchste Zeit heimzugehen.

Am folgenden Tage hatten die Leuenhofer Kinder eine schöne, feierliche Religionsstunde von halb Vier bis halb Fünf. Es dämmerte schon ein wenig. Über den verschneiten Sträuchern des Vorgartens sah man das schwache Abendrot. Auf dem Kastanienbaum sassen still zwei Krähen und schauten in die Winterdämmerung hinaus.

Herr Schwarzbeck liess die Kinder Weihnachtslieder aufsagen, alte und neue. Martin Imbach musste das Lied: »Du lieber, heiliger, frommer Christ ...« vortragen; er hatte eine so ernsthafte Stimme und war immer etwas verlegen, wenn er aufsagen musste, aber dann klang seine Stimme so feierlich. Dann sprach Herr Schwarzbeck von der heiligen Nacht, von den Engeln, die den Hirten die grosse Freude verkündigten und von den himmlischen Heerscharen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Die Kinder hielten den Atem an. Es klang so schön, so weihnachtlich. Und draussen der stille Winterabend.

Herr Schwarzbeck sagte, wie die Menschen an Weihnachten aufs neue wieder daran denken sollten, Gottes Willen zu erfüllen und Freude und Friede zu schaffen, wie und wo sie nur könnten, jeder wie und wo er könne.

Und zum Schlusse nahm Herr Schwarzbeck seine Geige, und schön und rein ertönte zweistimmig das liebe alte:

»Vom Himmel hoch, da komm ich her
Und bring euch allen frohe Mär ...«

Auf dem Heimweg gingen die Buben und Mädchen ein Weilchen still neben einander her. Der schöne Engelsspruch und das Lied klangen ihnen noch im Herzen nach.

»Wenn ich alles zähle«, unterbrach Sara Wiebolds Stimme das Schweigen, »wenn ich jeden der Pulswärmer, die ich der Mutter gestrickt habe, extra zähle, so habe ich elf Freuden auf Weihnacht. Elf – das ist doch viel!« Sara tat einen stolz vergnügten Hupf. –

»Ja, weisst du, Sara«, belehrte Hedwig Bühler, »Herr Schwarzbeck hat natürlich nicht nur solche Freuden gemeint.«

»Ich weiss schon, ich weiss schon«, unterbrach sie Sara; »man muss auch artig sein und fleissig und verträglich und sauber und gefällig –«

»Und mit den traurigen Leuten recht gut sein, hat Herr Schwarzbeck gesagt«, fiel Ottilie Eggenberg ein, »und sehen, dass die wieder ein wenig froh werden.« –

»Wenn man doch dem Anneli Hertig helfen könnte«, sagte Eva Imbach.

Anneli Hertig war mit ein paar anderen vorausgegangen und verschwand eben im dunklen Bogen des Wendeltores.

»Immer, wenn ich mich so ganz schrecklich freuen will auf Weihnachten, so fällt mir das Anneli ein.«

»Es bekommt aber doch auch einen Christbaum und allerlei Sachen«, meinte Gritli Wegmann. »Seine Grossmutter hat meiner Tante den Muff und die nette Nähschachtel gezeigt, die sie für das Anneli gekauft hat –«

»Ach«, erwiderte Hedwig Bühler, »man weiss wohl, dass es nur einen Wunsch hat. Wenn halt seine Mutter käme!«

»Man muss ihr schreiben«, sagte eines der Mädchen.

»Wenn sie doch nicht fort kann –«, erwiderten die anderen.

»Oder wenn man dieser Frau Breitenstein schreiben würde –?«

»Ach – die würde doch nicht auf einen hören, wo sie einen gar nicht kennt.«

»Man müsste eine Massenpetition einreichen –«, rief Walter Kienast plötzlich, der mit den Buben hinterher ging.

»Eine – was?« Die Mädchen wandten sich zurück.

»Eine Massenpetition«, wiederholte Walter Kienast. »Das ist, wenn man etwas durchdrücken will. Dann sammelt man viele Unterschriften und dann gibt die Regierung nach.«

»Die Regierung –!« sagten die Mädchen und lachten.

»Oder also Frau Breitenstein. Probiert es halt!«

»Ja, ja, wir probieren es!« riefen die Mädchen begeistert. »Wir schicken eine Massenpe – Wie heisst es, Walter –? Wie macht man es? Unterschriften – das ist, wenn man seinen Namen hinschreibt. Auf was, Walter?« riefen sie durcheinander.

»Es muss ein Brief sein, in dem alles steht vom Anneli Hertig und warum es nötig sei, dass seine Mutter heimkomme. Der Brief muss ein wenig lang sein, damit Frau Breitenstein merkt, dass es euch ernst ist –«

Ein Brief! – Die Mädchen sahen einander an. Welche sollte den Brief schreiben – Eva? Hedwig Bühler? Oder Sara? Die wusste immer am meisten; aber sie schrieb nicht schön.

»Hört!« wendete Eva Imbach sich an die Buben. »Ihr müsst auch mitmachen. Massenpetition, das heisst doch: so viele als möglich. Der ganze Leuenhof muss unterschreiben –«

Nach kurzem Hin und Her beschlossen die Buben, sich an der Massenpetition zu beteiligen.

Nun wurde die Frage, wer den Brief zu schreiben habe und wie alles anzustellen sei, schwieriger. Laut und aufgeregt wurden Vorschläge gemacht und wieder verworfen.

»Ich will euch etwas sagen: wir wählen einen Ausschuss;!« riet Ernst Hutter.

»Ja, ja«, schrien alle; »wir wählen einen Ausschuss«, ohne gerade genau zu wissen, was das war.

Man war am Marktplatz angelangt, wo die Verkäufer eben daran waren, die Christbäume über Nacht zusammenzuräumen. Unter ziemlicher Schwierigkeit kamen die Wahlen zustande. Zweimal erschien der Polizeidiener Freudweiler bei dem Kindertrüpplein und sagte, sie sollten jetzt machen, dass sie heimkämen; es sei keine Manier, wenn es schon dunkle, noch so ein Getue zu veranstalten. Es nehme ihn überhaupt wunder, was sie immer zusammenzustehen hätten. Es war ein Glück, dass ihn einer der Verkäufer zu sich hinüber rief.

Gewählt wurden aus jeder Klasse zwei Buben und zwei Mädchen. Das Himperlein meinte durchaus, es müsse in den Ausschuss kommen; aber es wurde nicht als brauchbar erfunden, bekam aber von Ernst Hutter den Trost, es dürfe dann den Brief zukleben und vielleicht auf die Post tragen.

Sehr stolz war Sara Wiebold, dass sie vorgeschlagen worden und nach einem kleinen Kampf wahrhaftig in den Ausschuss kam.

»Sara, weisst du, was jetzt dann das Schwierigste an der Sache ist?« fragte Walter Kienast. »Es muss alles ein Geheimnis bleiben. Das wird schön gehen – wenn du etwas weisst, so weiss es immer die ganze Stadt.«

»Gar nicht«, erwiderte Sara. »Ich kann ganz gut schweigen. Zum Beispiel weiss ich schon seit vorgestern, dass der Vater der Mutter eine Lampe zum Christkind gibt und noch kein Wörtchen habe ich ihr davon gesagt!«

»Kolossal!« rief Walter Kienast beim Auseinandergehen. Er wusste immer solche Wörter von seinem älteren Bruder.

Am anderen Tag erschienen die Mitglieder des Ausschusses mit wichtigen Gesichtern in der Schule. Sie hatten gleich am Abend noch eine Sitzung gehalten in dem grossen Hausflur der Bäckerei Eggenberg, wenn auch, in Ermangelung von Stühlen, stehend; aber sie hatten sehr viel ausgemacht. Heute abend schon sollte der Brief verfasst werden und zwar vom ganzen Ausschuss zusammen. Wem ein vernünftiger Satz einfiel, der sollte ihn sagen. Der Schreiber, Gustav Brenner, würde ihn aufsetzen und Hedwig Bühler, die die schönste Schrift hatte, sollte dann das Ganze ins Reine schreiben.

Das Schwierigste den Tag über – Walter Kienast hatte recht – war, das Geheimnis zu bewahren. Anneli Hertig und niemand im Städtchen durfte etwas wissen. Aber die Leuenhofer hielten sich tapfer. Nur wunderte sich das gute Anneli, dass die Kinder vor und neben ihm sich alle Augenblicke so geheimnisvolle Grimassen schnitten und dass Sara Wiebold jedesmal, wenn sie am Anneli vorbeiging, die Hand fest an den Mund drückte. –

Nur Herrn Schwarzbeck wurde es erzählt.

»So, so«, lächelte er und sagte weiter nicht viel. Er liess seine Buben und Mädchen gerne machen, wenn er sah, dass sie sich selbst zu helfen wussten.

Am Abend allerdings wären sie froh gewesen, ihren Herrn Schwarzbeck da zu haben.

»Den Anfang – wenn man jetzt nur einen Anfang wüsste«, seufzten die Achte und nagten an ihren Fingern, während der Schreiber schon zum dritten Mal den schon sehr spitzigen Bleistift spitzte.

Sie sassen auf zwei Bänken an einem langen Tisch, den Ottilie mit Hilfe der Magd hingestellt hatte.

»Eine Sitzung haben wir«, erklärte ihr Ottilie.

»Eine Sitzung –? Herrjeh! Wie im Rathaus«, sagte sie, ganz stolz, dass der alte Hausgang zu solchen Ehren kam.

»Es ist aber ein Geheimnis. Ich kann es dir erst nach Weihnachten sagen.«

»Ja, ja«, nickte sie, indem sie nach dem Laden zu ging. Die Luft war ja jetzt voll Geheimnisse.

Ja – also der Anfang.

Schon die Anrede hatte grosses Nachdenken erfordert. Wie sagte man jetzt auch zu so einer Frau?

»Wir schreiben einfach: liebe Frau Breitenstein«, sagte Sophie Berchtold. »Das wäre freundlich –«

»Das weiss man jetzt noch nicht, ob sie lieb ist, die Frau –« warf Walter Kienast ein, der, die Hände in den Hosentaschen, hinter dem Schreiber stand.

»An jemand, den man gar nicht kennt, schreibt man ›Geehrte Frau‹, meinte Paul Grossberger. »Das wäre höflich.«

Man einigte sich endlich auf die Anrede »Geehrte und liebe Frau Breitenstein« und brachte ferner den schweren ersten Satz zustande: »Erlauben Sie, dass wir mit einer Bitte an sie gelangten.«

Gelangen, das war fein. Das hatte Ernst Hutter gewusst. Das war ganz wie die grossen Leute schrieben.

Nach diesem ersten Ruck sass das Schiff wieder fest. Sogar Sara wusste nichts.

»Geehrte und liebe Frau Breitenstein! – Ausrufzeichen! – Erlauben Sie, – Komma – dass wir mit einer Bitte an Sie gelangen –«, las der Schreiber laut vor, um einen Anlauf zu nehmen.

»Potz – wie nobel!« sagte der alte Bäckergesell Matthis, der eben mit einem Brett voll frisch gebackener Birnenwecken durch den Hausflur ging. Ein süsser, gewürzreicher Duft zog durch den Raum.

»Weihnacht! Weihnacht!« Die Kinder klopften sich auf den Magen. Es war wohl der Mühe wert, sich etwas anzustrengen mit der Vorfreude im Herzen und in der Nase. Und es war, als ob der schöne Duft auf einmal Schaffenskraft brächte.

»Zuerst müssen wir der Frau Breitenstein sagen, wer wir sind –«

»Natürlich! und dass wir mit dem Anneli Hertig in die gleiche Schule gehen –«

»Und dass wir die Leuenhofer heissen –«

»Ja! Wir schreiben vom Leu«, rief Sara. »Und auch vom Schneeleu und wie der lustig aussieht, weil die Nase ein wenig geschmolzen ist – da muss Frau Breitenstein vielleicht lachen und dann sagt sie eher Ja –«

»Du bist wieder einmal nicht recht bei Trost, Sara; das gäbe ja ein ganzes Buch«, wehrten die einen.

»Doch, doch! Das schreiben wir!«

Satz folgte jetzt auf Satz. Der Schreiber Gustav Brenner kam nicht mehr nach und hielt sich abwehrend die Ohren zu.

»Vor lauter Leu und geschmolzener Nase kommt ihr gar nicht zur Hauptsache.«

Nein, nein, die kam jetzt. In ein paar artigen Sätzen erzählten die Kinder, wie das Anneli Hertig halt ein schreckliches Heimweh nach seiner Mutter habe und wie das eine Freude für es wäre, wenn seine Mutter auf Weihnachten heim dürfte.

»Bitte, liebe Frau Breitenstein, lassen Sie Frau Hertig doch kommen. Wir grüssen Sie freundlich und danken Ihnen schon im voraus –« rief Felix Kleinhans. Er hatte das gestern in einem Briefe seines Vaters gelesen.

»Ja, das schreibt man; das ist höflich«, stimmten Eva Imbach und Ottilie Eggenberg, dem Schreiber über die Achsel sehend, zu; »schreib aber dazu: ›Wir danken dann schon noch extra, wenn Sie Frau Hertig haben kommen lassen‹ –«

Wahrhaftig, jetzt war man fertig. Nur noch die Grüsse kamen und dann die Abschrift. Hedwig Bühler, das war gestern beschlossen worden, musste sie machen.

»Es wäre am besten, du würdest es morgen abend hier im Ausschuss schreiben«, meinten die Buben. »Wir könnten dann zusehen und raten –«

Aber Hedwig schüttelte sehr bestimmt den Kopf : »Nein, ich will keine Räte und keine Zuschauer. Ich schreib in der Stube vom Vater. Ich will schon sehen, dass ich’s recht mache.«

Am nächsten Abend trat der Ausschuss pünktlich wieder in der Bäckerei zusammen, Hedwig als letzte. Sorgsam nahm sie einen grossen, weissen Papierbogen aus dem braunen Umschlag.

»Ah! O! Fein! Famos!« riefen sämtliche Mitglieder des Ausschusses und drängten sich um das Blatt.

Es war wirklich fein. Oben über das Blatt von rechts nach links hin hatte Hedwig mit Tusch einen Christbaumzweig gezeichnet und dann bunt gemalt. Einen schönen, grünen Tannenzweig, auf dem drei Lichter steckten, rot, blau und weiss, während nach unten ein brauner Mandelstern und ein kleiner Lebkuchen, sowie zwei golden schimmernde Nüsse hingen.

»Und schön geschrieben hat sie«, lobten Ernst Hutter und Gustav Brenner, während Walter zur Haustüre ging, vor welcher die ganze übrige Schar der Leuenhofer stand.

»Was habt denn ihr wieder?« fragten ein paar Sekundarschüler im Vorbeigehen.

»Wir müssen unterschreiben. Aber es ist ein Geheimnis. Wir sagen es euch nicht –« entgegneten die Leuenhofer.

»Halt, halt«, rief Walter Kienast und hielt die Türe halb geschlossen. »Nur drei auf einmal kommen herein. Und dass ihr euch zusammennehmt! Und nicht zuletzt den Brief noch verderbt.«

»Mir ist ganz Angst«, sagte Marie Hug.

»Mir gar nicht«, rief das Kasperli und hüpfte ungeduldig auf und ab. »Ich mache dann einen Schnörkel unter meinen Namen, so –« er fuhr mit seinem Zeigfinger in wunderlichen Bogen vor den Gesichtern der Kinder hin und her.

Das Unterschreiben drinnen geschah mit grosser Umständlichkeit. Die meisten der Buben und Mädchen hatten es wie Hedwig Bühler gehabt und sagten, sie könnten besser schreiben, wenn man sie allein liesse. Aber das half nichts. Von links und rechts und von vorn und hinten sah der Ausschuss in höchster Wachsamkeit zu und mahnte und schrie:

»Halt – nicht so weit vorn anfangen! Drücke doch ein wenig! Das sind ja gar keine Abstriche. Herrschaft! was ist das für ein B! Halt! Halt! Ein Haar ist in der Feber – Hast du keine Augen?«

Es war ein Wunder, dass alles doch ohne Fehler und Flecken gelang. Nur bei Alwine Gehring gab’s ein kleines Unglück.

Weder ihr A noch ihr G war dem strengen Ausschuss recht.

»So jetzt auch noch ganz bergab –!« riefen die Buben empört.

Alwine hielt mit Schreiben an, senkte den Kopf, und eine grosse Träne fiel auf das Blatt, mitten auf das getadelte G.

Die Buben und Mädchen schrien laut auf.

»O! Jetzt ist alles aus! Natürlich! Diese Alwine –! Der ganze Brief verdorben!«

Alwine schluchzte, und Ottilie Eggenberg konnte gerade noch neue Tropfen verhindern, indem sie kräftig mit ihrem Taschentuch in Alwines Gesicht fuhr, während Hedwig rasch ein Fliessblatt auf die Unglücksstelle tupfte.

»So«, sagte sie, »es ist nicht so schrecklich. Wenn es trocken ist, sieht man es nicht mehr. Ich hab’s wohl gedacht mit eurem Dreinreden«, wandte sie sich an die Buben.

Erleichtert atmete man auf und verliess dann wichtig und befriedigt schwatzend endlich die Eggenbergsche Bäckerei.

Am anderen Morgen zeigten die Kinder Herrn Schwarzbeck heimlich, damit Anneli ja nichts merke, ihr Werk.

Er freute sich über den Christbaumzweig und lobte auch den Brief.

»Jetzt wünsche ich nur, dass er Erfolg habe, und dass Annelis Mutter kommen könne«, sagte Herr Schwarzbeck, indem er das Schreiben wieder zusammenfaltete.

Ja – dass Annelis Mutter kommen könne! Fast hatten die Kinder über den Sitzungen und dem Verfassen des Schriftstückes seinen Zweck vergessen. Wenn nun Frau Breitenstein Annelis Mutter nicht reisen liess –?

»Schrecklich wäre das!« sagten die Mädchen zusammen und sahen zu Anneli zurück, das am hintersten Fenster stand und den Meisen und Grünfinken zuschaute, die unter Gepiep, Geflatter und Gezänk den Hanf aufpickten.

Die Sonne schien in die Küche des Gasthofes zum Roten Adler. Auf dem grossen Herd brodelte und dampfte es. Frau Hertig zog einen grossen, gelbbraunen Braten aus dem Rohr, um ihn zu wenden. Dabei liess sie die Töpfe oben nicht aus den Augen.

»Die Suppe! Klara, die Suppe!« Die junge Hilfsköchin sprang herbei. »Muss sie jeden Tag überlaufen!« Klara hob den Deckel und rührte, um die zischende Suppe zu beruhigen. Auf das Mädchen, das in der Ecke Kartoffeln schälte, warf Frau Hertig auch einen Blick:

»Nicht so dicke Schalen!« mahnte sie. »Ich hab es dir schon oft gesagt.«

Da trat Frau Breitenstein herein mit einem Brief in der Hand.

»Schön ist das nicht von Ihnen, Frau Hertig«, sagte sie. Sie war eine stattliche Dame mit dunklem Haar und roten Backen.

»Was ist –? Was hab ich getan –?« fragte Frau Hertig.

»Schön ist das nicht von Ihnen, dass Sie einem das Wort nicht gönnen. Dass Sie einem gar nichts sagen von daheim und von dem Kind, dem Anneli. Da – lesen Sie –!«

Frau Hertig nahm den Brief. Sonderbar, dass sie jetzt am hellen Vormittag, wo gerade die Hauptarbeit begann, einen Brief lesen sollte.

»Der Leuenhof – he ja, das ist Annelis Schule«, dachte sie. »Aber was kümmert mich doch der Schneeleu mit seiner halben Nase –?« »Klara«, rief sie hinüber, »nehmen Sie fünf Eier zur Fischsauce, und wallen Sie mir den Teig Zur Apfeltorte aus –«

Aber dann, wie sie weiter las, vergass sie Sauce und Torte. Einmal schüttelte sie den Kopf, einmal lächelte sie ein wenig.

»Nun – sind das nicht gute, wackere Kinder?« fragte Frau Breitenstein. »Und wie artig der Zweig gemacht ist!«

Klara und Luise durften ihn auch sehen. Wie nett die Lichtstrahlen und die goldene Nuss und der braune Mandelstern!

»Ja, gut meinen sie’s schon, die Kinder«, sagte Frau Hertig. »Aber sie haben halt keinen Begriff –«

»Wohl eben haben sie einen Begriff«, entgegnete Frau Breitenstein. »Jetzt sagen Sie mir nur, bin ich denn so eine böse Frau, dass man mich nicht einmal fragen mag?«

»He nein«, wehrte Frau Hertig; »aber ich dachte halt, über die Festzeit könne ich Sie doch nicht im Stich lassen.«

»Wenn aber das Kind solche ein Heimweh hat nach Ihnen« –

»Ja schon. Es ist ein weichmütiges Kind.« Frau Hertig fuhr sich über die Augen; man merkte, dass in ihrem Herzen allerlei aufstieg, was sie sonst zurückhielt. »Aber vielleicht ist es gut, wenn das Anneli lernt, dass es im Leben nicht immer geht, wie man will, und dass man sich zusammennehmen muss.«

»Freilich ist das gut. Aber eine Freude zwischenhinein ist auch gut. Und einfach, ich will, dass Sie reisen.«

»Aber Frau Breitenstein, es wird nicht gehen. Wer soll denn –«

Da trat in Eile die Kellnerin herein.

»Der Herr Bezirksarzt und noch drei Herren sind da. Sie wollen essen. Viermal Suppe, vier Schnitzel und Kartoffelsalat. So schnell als möglich, Frau Hertig. Um 1205 gehe ihr Zug!«

»Vier Schnitzel! Schnell, Klara, das kleinere Stück Kalbfleisch wird grad reichen!« rief Frau Hertig. Die Köchin wurde wieder wach in ihr und in Frau Breitenstein die Wirtin vom Roten Adler, der bekannt dafür war, dass zu jeder Zeit im Hui ein gutes Essen fertig gebracht werde.

Am Abend aber wurde ausgemacht, dass Frau Hertig in ihre Heimat fahre. Eine Base von Frau Breitenstein würde dann die Küche übernehmen.

»Reisen Sie ruhig, Frau Hertig«, sagte Frau Breitenstein. »Der Rote Adler wird, auch wenn wir es acht oder zehn Tage ohne Sie machen müssen, nicht zugrunde gehen!«

Frau Hertig lachte. Sie liess sich gerne überreden. Sie hatte oft Sehnsucht gehabt nach ihren drei Kindern. Aber nur so heimlich. Geredet hatte sie nie davon. Jetzt aber überkam sie eine ganze Ungeduld nach ihrem stillen Anneli und den beiden dicken, kleinen Buben. Sie konnte es fast nicht erwarten, bis der vierundzwanzigste Dezember kam.

Vor dem Stationsgebäude von Heimstetten standen am Weihnachtsabend eine Schar Leuenhofer Buben und Mädchen in freudigster Spannung. Vom Himmel fielen einzelne Flocken, so dass der Schnee, der auf den Dächern und Strassen lag, frisch weiss und recht weihnachtlich zu schimmern begann.

Der Stationsdiener Waltisbühler brummte; aber das störte ihre vergnügte Stimmung nicht.

Sie sollten aus dem Weg gehen, sagte er. Sie hätten nichts zu tun hier.

»Wohl eben«, riefen die Kinder. »Wir müssen jemand abholen.«

»Ich möchte doch wissen wen«, machte der Stationsdiener geringschätzig.

»Das dürfen wir nicht sagen. Es ist ein Geheimnis«, rief das naseweise Kasperli.

»Und dann braucht es zum Abholen doch nicht zwanzig oder wer weiss, wie viele«, brummte Waltisbühler weiter.

»Doch, doch«, beharrten die Leuenhofer. »Achtzehn sind gewählt worden. Wir sind das Empfangskomitee!«

»Was so Kinder doch dummes Zeug schwatzen!«

Waltisbühler schüttelte den Kopf und ging in den Gepäckraum, um nach seiner Laterne zu sehen.

Warum auch nicht? Am Sängerfest vor zwei Jahren war auch ein Empfangskomitee an der Station gewesen. Herren mit kleinen Schleifen im Knopfloch. Statt der Schleifen hatte jedes der Kinder ein Tannenzweiglein als Abzeichen angesteckt.

Diesmal war das Kasperli auch dabei und Eva hatte es durchgesetzt, dass sogar Alwine Gehring gewählt wurde.

»Abholen, das kann sie schon«, hatte Eva gesagt.

Seit einer halben Stunde standen die Kinder da und hüpften vor Erwartung von einem Bein aufs andere.

»Wenn sie nur, bitte, auch kommt!«

»Warum sollte sie nicht kommen, wenn es doch Frau Breitenstein geschrieben hat« –

Ja, ein Brief war vorgestern angelangt von Frau Breitenstein.

»An die Schüler vom Leuenhof in Heimstetten.

Liebe Buben und Mädchen!

Viel Zeit zum Schreiben habe ich nicht. Aber ich muss Euch doch sagen, dass Euer Brief mir eine rechte Freude gemacht hat. Es ist schön, dass Ihr an das Anneli gedacht habt und möchtet, dass es auch vergnügt ist an Weihnachten. Also die Frau Hertig schicke ich Euch. Fast würde es mich anmachen, mitzukommen und Euch zu besuchen in Eurem Leuenhof. Vielleicht bringe ich es im Frühling einmal dazu; dann wird zwar die Nase von Eurem Leu wohl ganz weggeschmolzen sein und das Tier dazu. Aber Ihr seid dann hoffentlich noch da.

Mit einem herzlichen Gruss, auch an Eueren Herrn Lehrer.

Frau Babette Breitenstein.«

»Wenn sie nicht käme!« sagte Gritli Wegmann mit sorgenvollem Gesicht. »Sie könnte ja zuletzt noch krank geworden sein.« –

»Oder sich verbrannt haben in der Küche«, fiel ein anderes ein.

»Oder mit dem Zug könnte es etwas gegeben haben ... Letzthin sind in Amerika sieben Eisenbahnwagen über eine hohe Brücke heruntergefallen und etwa hundert Menschen sind drin gewesen.«

»Ja, und in Russland sind einmal zwei Züge ineinander hineingefahren; mein Vetter wäre fast dabei gewesen.«

Die Kinder sahen sich entsetzt an. Amerika und Russland waren weit weg; aber immerhin –

Da hörte man aus der Ferne ein Rollen; alle spitzten die Ihren. Es wurde lauter; ein Pfiff ertönte ... und jetzt tauchte in der winterlichen Dämmerung ein rotes Licht auf.

»Er kommt! Der Zug kommt!« schrien die Kinder in höchster Erregung.

»Aufstellen!« kommandierte Ernst Hutter. Wie es verabredet worden war, stellten die Leuenhofer sich in zwei Reihen auf.

Der Zug hielt. Die Wagentüren wurden aufgemacht. Viele Leute stiegen aus; alte mit grossen Paketen; manche mit Puppenwägelchen oder bemalten Holzpferden.

»So, jetzt könnte es erst noch sein, dass sie nicht kommt«, sagte der zweifelsüchtige Walter Kienast.

Aber sie kam ... Sie kam. Zwei oder drei Mädchen erkannten die ziemlich hohe Gestalt der Frau Hertig.

»Jetzt! Fest!« wandte sich Ernst Hutter zu der aufgestellten Schar und gab ein Zeichen.

»Hurra! Willkommen! Willkommen!« schrien die Leuenhofer, so fest sie nur konnten. Die Leute schauten herüber, was das für eine Veranstaltung sei. Frau Hertig ging rasch links hinüber der Strasse zu, die in das Städtchen führte. Aber die Kinder rannten auf sie los.

»Willkommen! Willkommen!« schrien sie noch einmal, so dass Frau Hertig zurückprallte. Dann aber begriff sie.

»Ja herrjeh, Kinder! Das ist ja Ottilie Eggenberg und das Netti Tobel! Und da die anderen, die den Brief geschrieben haben. Ja, was ist euch denn eingefallen? Guten Abend, guten Abend.« –

Die Kinder streckten ihre Hände und sahen so vergnügt drein, als ob es ihre eigene Mutter wäre.

Hinter dem Stationsgebäude huschten weitere Leuenhofer Buben und Mädchen hervor. Man wollte doch auch sehen, ob Annelis Mutter angelangt sei.

»Die gehören nicht zum Empfangskomitee; die sind nur sonst gekommen«, erklärte Sara. »Den Brief hat der Ausschuss geschrieben.« –

»Potz, ein Empfangskomitee und ein Ausschuss!« lachte Frau Hertig. »So viel Ehre für mich!«

»Ja, und das Anneli hat gar nichts gemerkt«, sagten die Kinder.

Und nun fingen sie an, vom Anneli zu erzählen, wie es halt immer Heimweh habe und in der Schule manchmal gar nicht acht gebe und in der Pause nur in einer Ecke stehe. »Lachen tut es gar nicht mehr; nicht einmal, wo Ottilie uns die Honigküchlein gebracht hat.« –

Frau Hertig ging immer rascher; man kam zum Reitergässchen.

»Dort steht das Anneli vor dem Haus«, flüsterten die Kinder und blieben stehen.

Sie hatten gestern nach langem Hin und Her beschlossen, dass sie nicht mitgehen würden.

Ein bisschen später wollte man schon noch hineingehen und dem Anneli erzählen, wie man alles gemacht habe, so ganz heimlich.

Frau Hertig beachtete gar nicht, dass die Kinder zurückgeblieben waren. Sie ging, so rasch sie nur konnte, mit ihrem grossen Paket und dem Handköfferchen dem Hause zu.

Anneli stand vor der Türe; sie streichelte eine Katze, die vor ihr auf der Steinstufe sass und schaute so wie in Gedanken in die Gasse hinaus. Plötzlich streckte sich ihre kleine, schmale Gestalt. Ganz regungslos stand sie – wer kam da –? Wer –?

Die Mutter setzte Köfferchen und Paket auf das Pflaster und streckte beide Hände aus.

»Anneli, mein Anneli!«

Da fiel das Anneli der Mutter um den Hals und – und fing an zu weinen, weil die Freude und die Überraschung gar so gross waren.

»Mutter – nein! Mutter!« konnte es nur sagen und hielt den Arm der Mutter umschlungen und sah ihr durch die Glückstränen in das liebe Gesicht, »Mutter!«

Jetzt kam die Grossmutter heraus und fuhr zurück vor Erstaunen.

»Ja, was wär’ jetzt doch das! Ja, Berta! Und wir haben gar nichts gewusst. Das ist aber eine Freude! Gelt, Anneli? Gelt jetzt tust dann wieder lachen? Und da steht ja das Köfferli auf dem nassen Pflaster.«

Die alte Frau nahm das Handgepäck und trat ins Haus. »Ruedeli, Theodorli, seht doch, wer da kommt«, rief sie fröhlich. Die Mutter folgte mit Anneli, das immer fest den Arm der Mutter umschlungen hielt.

Die Leuenhofer Kinder vorn in der Gasse unterhielten sich aufs lebhafteste:

»Dass das Anneli zu weinen anfing, wie es die Mutter gesehen hat!« –

»Ja«, entgegnete Sophie Berchtold, »meine Grossmutter hat auch einmal geweint vor lauter Freude, als der Onkel auf einmal aus Deutschland heimkam.«

»Ja, deine Grossmutter – eine alte Frau«, sagte Sara Wiebold. »Aber ich könnte einmal nicht und dann noch heut! am Weihnachtsabend!«

»Was hat wohl die Frau Hertig dem Anneli und den Buben mitgebracht?« fing ein anderes wieder an. »Es war mir, als ob ein Muff in dem Paket sei.« –

Ein Weilchen noch standen die Kinder am Eingang der Gasse. Dann aber fanden sie, sie hätten lange genug gewartet.

»Jetzt können wir gehen! Kommt, wir müssen doch der Frau Hertig noch Gute Nacht sagen.« –

Die Stube von Annelis Grossmutter war zu ebener Erde. Die Kinder konnten gut hineinsehen und drängten sich alle an die zwei Fenster.

Eine rechte Weihnachtsstube war es, in die sie hineinschauten. Ein so fröhliches, buntes Durcheinander war’s. Das Köfferchen war offen und das Paket auch, und die Buben hantierten schon am Boden mit einem kleinen Bahnzug, einer Lokomotive und vielen Wagen, die man anhängen konnte. Das Glück! Auf dem Tisch lag eine warme Jacke, eine rote Mütze und ein Buch und zwei Paar kleine, kleine Schuhe. Dazwischen standen die Kaffeetassen, und in der Mitte schaute ein grosser, goldgelber Gugelhopf aus dem weissen Papier. Und nun brachte die Grossmutter aus der Kammer das Christbäumchen, um es anzuzünden. Es ging also gar nicht recht der Reihe nach bei dieser Weihnacht; aber so ein Glück und eine Freude waren in der Stube. Das Anneli sah man kaum, so dicht drückte es sich an seine Mutter heran; es war, als ob es in sie hineinschlüpfen wollte. Die eine Hand hatte es richtig in einen schönen, weiss und grauen Muff gesteckt, aber mit der anderen hielt es den Arm der Mutter, die ihm freundlich über das Haar strich, während sie zu ihren lustigen Buben hinübersah.

Jetzt brannten die Lichter am Bäumchen, und die Buben sprangen auf und patschten ihre dicken Händchen zusammen vor Freude. Und die Grossmutter trat zum Anneli und wies auf das Bäumchen. Das Anneli schaute in die strahlende, kleine Tanne und dann wieder zurück zur Mutter, ob sie auch Freude habe an dem Bäumchen, und dann sahen sie miteinander in den lieben Lichterglanz. –

»Jetzt könnte man vielleicht hineingehen?« fragten ein paar der Kinder.

»Zeit hätten wir noch gut«, fügte Sara hinzu. »Bei uns ist die Bescherung erst um sieben Uhr, und die Mutter hat gesagt, es wäre ihr lieb, wenn ich ihr nicht im Weg wäre.«

»Ja, wir wollen jetzt anklopfen«, stimmten Arnold Zwickel und Hermann Steininger ein. »Was ist es wohl für ein Buch? Der Deckel sieht fast aus wie meine ›Schweizersagen‹. –«

»Mich nimmt wunder, ob in der Schachtel auch Schienen sind; das ist fein – Schienen! Eva Imbach, klopf an!«

»Nein – ich klopfe nicht an«, sagte Eva. »Ich finde, wir gehen nicht hinein.«

»Nicht hinein? – Warum?«

»Warum? Ich weiss selber nicht. Aber es dünkt mich, es wäre nicht nett, wenn wir jetzt alle da hinein drückten. Sie hätten es vielleicht nicht gern.« –

»Warum?« fragte Sara Wiebold noch einmal. »Einmal mir würde es nichts machen, wenn ihr zu mir herein kämt.«

»Ja, du« – entgegnete Eva, »aber weisst du, das Anneli ist ein anderes Kind als du. Und kurz und gut, wir gehen nicht hinein.« –

Die Kinder sahen einander an und dann noch einmal in die Stube, und auf einmal kam es den meisten vor, dass Eva recht habe. Es war ein so heimeliges Glück da beisammen; es ging nicht, jetzt da plötzlich hineinzudringen. Nein – das Anneli sah man ja morgen nach der Kinderlehre. Da konnte man noch lang sagen: »Gelt, Anneli! Du hast Augen gemacht gestern abend? Gelt, das ist recht gewesen, dass wir den Brief geschrieben haben?« –

Die Kinder gingen auseinander, der eigenen Weihnachtsfreude entgegen; sie war hinter der vom Anneli ein Weilchen fast verdeckt gewesen. Jetzt stieg sie wieder auf mit ihrer Erwartung des strahlenden Christbaums, mit ihrer Hoffnung auf die Schlittschuhe, die Botanisierbüchse, den Robinson, den Kramladen, die Nähschachtel, das Halskettchen, die Schokoladetafel, die Mandelsternchen und das andere schöne Weihnachtsbackwerk.

»O, o, o! wie freu ich mich«, dachte jedes, als es rasch und immer rascher heim lief. »O, wie freu ich mich.«

Acht Tage später ging Frau Hertig wieder die Bahnhofstrasse hinauf zur Station. Anneli begleitete sie.

»Das arme Tröpflein«, sagten ein paar Frauen, »was hat es davon gehabt? Jetzt geht der Jammer nur von neuem an.« –

Aber Anneli, als es so neben der Mutter herschritt, machte ein ganz tapferes, zuversichtliches Gesicht. Und als die Mutter eingestiegen war und der Zug sich langsam in Bewegung setzte, da weinte das Anneli nicht. Es winkte nur, so stark es konnte.

»Leb wohl, Mutter! Leb wohl! Gelt«, rief es der Davonfahrenden nach. »In neun Wochen hast du gesagt? Leb wohl, Mutter!«

»Was in neun Wochen?« fragte Ottilie Eggenberg, die eine Base ihrer Mutter zur Bahn begleitet hatte und nun auf Anneli zutrat.

»Ja, denk nur«, begann Anneli eifrig, während sie mit Ottilie das Bahnhofsträsschen zurückging. »Denk nur, die Mutter und die Grossmutter haben ausgemacht, dass wir alle nach Münsterau ziehen. Dann kommt die Mutter am Abend immer heim, und ich darf mit ihr in der gleichen Stube schlafen. Denk wie schön! Und am Tag darf ich manchmal zu ihr in die Küche vom Gasthof und darf vielleicht helfen. Ich freu mich so schrecklich! Neun Wochen, das sind 63 Tage? Das kann ich schon noch aushalten.«

»Ja, ja, das kannst du schon« – stimmte Ottilie bei. »Und weisst du, was du tust, damit es schneller vergeht? – Du machst an der Bettwand mit Kreide 63 Striche. Und jeden Morgen wischest du einen weg; dann hast du jeden Morgen eine Freude. Hast du eine Kreide? Nein? – Also dann komm, ich geb dir eine aus dem Laden.« –

Und eifrig und ganz munter trottete Anneli neben Ottilie dem Städtchen zu.


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