Ida Bindschedler
Die Leuenhofer
Ida Bindschedler

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Die Katzenmusik.

Seit einiger Zeit hatten die Leuenhofer Kinder in der Fensterecke ihres Schulzimmers eine ungeheuer interessante Seidenraupenzucht. Paul Grossberger hatte etwa ein Dutzend grauer Räupchen gebracht, die vorläufig nichts im Sinn hatten, als zu fressen und zu fressen vom Morgen bis zum Abend. Aber die Sechstklässler wussten vom letzten Jahr her, wie es merkwürdig und schön zuzusehen war, wenn die Raupe, nachdem sie gross und dick geworden war, eines Tages zu nagen aufhörte. Es war, als ob sie sich besänne, dass man doch nicht nur fressen sollte auf der Welt, sondern auch etwas tun. Sie wurde unruhig, wiegte den Oberkörper hin und her und kroch in den Ecken der grossen Schachtel herum, wo Herr Schwarzbeck ein paar kahle, verzweigte Ästchen hingestellt hatte.

Endlich hatte die Raupe den Platz gefunden, der ihr recht dünkte, und nun begann sie zu spinnen. Zarte, weisse Fäden zog sie von einem Zweig zum anderen. Und unversehens wurde es zu einem fein seidenen Gehäuse um sie herum. Es war ganz geheimnisvoll, wie das entstand. Zuerst war es noch durchsichtig, und man sah die Raupe in der Mitte zusammengekauert, unaufhörlich und still Fäden auf Fäden um sich herumziehend. Dann wurde das Gespinst dichter und dichter; nur noch undeutlich konnte man die Raupe erkennen, wie sie sich eifrig hin und her wendete. Zuletzt sah man nichts mehr von ihr. Das Gespinst war eine feste, ovale, weissgelbe Kapsel geworden.

»Die Arme!« hatten ein paar Mädchen gerufen. »Jetzt ist sie ganz allein da drin. Es reut sie gewiss nachher, dass sie sich so eingesponnen hat. Nun sieht und hört sie nichts mehr und hat gar nichts zu fressen da drinnen.«

»Sie braucht auch nichts mehr«, hatte Herr Schwarzbeck erwidert; »sie schläft nur eine Weile, und wenn sie erwacht, dann ist sie ein Schmetterling.«

Und wirklich, nach etwa vierzehn Tagen schlüpfte ein weisslicher Schmetterling aus. Er war nicht besonders schön; aber die Kinder betrachteten ihn doch mit Respekt, den geschickten Seidenspinner.

Und jetzt also wollten die Fünftklässler, die letztes Jahr noch nicht im Leuenhofe gewesen waren, diese merkwürdige Spinnerei und die wunderbare Verwandlung auch sehen.

Nun hatten es die Seidenraupen wie alle anderen Raupen. Sie waren eigensinnig. Von all den hundert und hundert Arten von Blättern, die im Wald, in Gärten und auf den Wiesen zu finden gewesen wären, wollten sie gerade nur eine Art und gerade eine, die gar nicht vorkam in der Gegend. Blätter vom Maulbeerbaum mussten es sein, durchaus.

Nun hatte Hermann Steininger einen Onkel; der wohnte ziemlich weit vor dem Städtchen draussen; er besass einen grossen Garten; in dem Garten aber war ein Maulbeerbaum, und der Onkel erlaubte, dass Hermann oder einer von seinen Kameraden hier das Futter für die Raupen hole. Jeden Tag brauchten sie frisches, und von Tag zu Tag wurden sie grösser und brauchten mehr.

Einmal waren Arnold Zwickel und Walter Adorf herausgerannt zum Haldengütlein; sie läuteten an der Gartentüre; es kam aber niemand, um aufzumachen. Sie läuteten wieder und immer stärker. Kein Mensch erschien. Nur die grosse, schwarze Katze sah drinnen auf der steinernen Haustreppe, sah die Buben an und gähnte. Das war recht fatal. Die Raupen hatten kein Futter.

»Du«, sagte Walter Adorf, nachdem er noch einmal fest an der Klingel gerissen hatte, »ich weiss schon, was man machen könnte. Hinten bei dem Holunderbusch käme man leicht über den Zaun.« –

»Ja, aber man darf doch nicht in fremde Gärten steigen«, meinte Arnold Zwickel.

»Natürlich nicht, wenn man wegen Pflaumen oder wegen Nüssen hinein möchte für einen selber. Aber wir täten es ja wegen der Raupen. Das ist doch gewiss nichts Schlechtes. Willst du etwa, dass die Raupen verhungern? Wenn Herr Heuerlein doch erlaubt hat, dass man die Blätter bei ihm hole!«

Walter Adorf ging rasch zu dem Wiesenweglein, das an der Gartenweite entlang führte und Arnold folgte. Der Zaun war ziemlich hoch, aber im Nu war Walter droben und – plumps drunten im Garten. Arnold Zwickel blieb draussen stehen, um die Blätter in Empfang zu nehmen. Zweimal kam Walter dahergerannt mit vollen Händen. Es eilte. Im Städtchen unten schlug es schon halb zwei.

Plötzlich hörte Arnold aus dem Garten die laute Stimme von Herrn Heuerlein:

»Was ist denn das?« ertönte es zornig. »Wie kommt du da herein? Was hast du hier zu suchen? Das ist ja nett; am hellen Tag bricht man mir in den Garten ein.«

Erschrocken guckte Arnold Zwickel zwischen den Latten des Zaunes hinein. Da sah er den alten Herrn Heuerlein, wie er Walter am Arm hielt und schüttelte, während hinter ihm die Frau und die Magd von dem kleinen Gartentörlein herkamen, das zum Gemüseland führte.

»Zeig her, was hast du gestohlen – etwa gar von den Pfirsichen?« –

Arnold Zwickel war es gar nicht recht, dass sein Freund Adorf da drinnen allein von Herrn Heuerlein geschüttelt und gezankt wurde.

»Er hat keine Pfirsiche nehmen wollen, nur Maulbeerblätter; wegen der Raupen«, rief Arnold tapfer durch die Zaunlatten hinein.

»So, da ist noch einer!« Herr Heuerlein wandte sich zum Zaun, ohne Walter Adorf loszulassen. »Pfirsiche oder Maulbeerblätter –; man steigt einmal nicht in fremde Gärten hinein! Dass ihr’s jetzt nur wisst, mit den Maulbeerblättern ist es aus! Ich will euch Buben nicht mehr in meinem Garten sehen. Weder den einen noch den andern, sagt’s nur dem Hermann.« –

»Aber die Raupen verhungern ja«, wagte Arnold, der sich hinter dem Zaun sicherer fühlte als Walter Adorf in Herrn Heuerleins Händen, zu sagen.

»Das ist mir gleich«, sagte dieser. »Einmal von meinem Baum bekommen sie kein Blatt mehr. Macht jetzt, dass ihr fortkommt! Was einem so Buben doch für Ärger machen!« Er schüttelte den Walter Adorf noch einmal tüchtig hin und her und liess ihn dann laufen. Die Magd machte ihm mit ebenfalls bösem Gesicht das Gartentörchen auf.

Mit roten Köpfen kamen die zwei noch gerade in der Schulstube an, in dem Augenblick, als Herr Schwarzbeck die Geographiestunde beginnen wollte. Eine ganze Stunde lang mussten sie also ihre Geschichte für sich behalten. Nur hin und wieder machten sie gegen ihre Nachbarn ein paar Zeichen mit den Händen und den Augen, was in der Leuenhofer Schulsprache hiess:

»Wartet nur bis zur Pause! Ihr werdet dann hören!«

Dem Hermann Steininger aber warfen sie, sooft er an ihnen vorüber zur Wandtafel schaute, einen ganz bösen Blick zu, worüber Hermann sehr erstaunt war.

In der Pause erzählten dann die beiden. »Du hast einen netten Onkel, Steininger«, schloss Walter Adorf und rieb sich den Oberarm, wo er noch den kräftigen Griff von Herrn Heuerlein spürte. »Wo ich doch nur für die Raupen über den Zaun gestiegen bin!«

»Er ist gar nicht mein rechter Onkel; er ist nur der Vetter von meiner Grossmutter«, verteidigte sich Hermann Steininger. »Und es wäre überhaupt gescheiter gewesen, man hätte es am Abend noch einmal probiert.«

Ja, das fand Herr Schwarzbeck auch, als man ihm die Sache vorbrachte.

»Ihr seid immer solche Hitzköpfe«, sagte er. »Wenn ihr etwas im Kopf habt, so ist kein Platz mehr daneben für Überlegung!«

Im stillen aber nahm er sich vor, später zu Herrn Heuerlein hinaufzugehen, ob er sich nicht erbitten lasse. Doch Herr Heuerlein zeigte sich noch sehr ärgerlich; es war nichts zu machen.

Mit sorgenvollen Gesichtern umstanden die Leuenhofer Kinder am anderen Schulmorgen die Raupen, die selber noch nichts wussten von der Gefahr, die ihnen drohte und wacker drauflos frassen. Für einen Tag reichten die Blätter grad noch, die Arnold Zwickel schon in seine Botanisierbüchse gepackt hatte, als Herr Heuerlein im Garten erschienen war.

Sara Wiebold hatte ein paar Lindenblätter mitgebracht:

»Die sehen fast aus wie die Maulbeerblätter. Die Raupen merken vielleicht den Unterschied nicht.« Sie hielt ihnen die Blätter hin.

Aber die Raupen merkten den Unterschied sehr gut. Sie drehten eigensinnig die Kröpfe weg.

»Haha«, lachte Sara. »Gerade wie unser kleiner Paul, wenn er Griesssuppe essen sollte.«

»Ja, das ist jetzt wieder zum Lachen, Sara«, sagten die anderen unwillig. »Daran denkst du nicht, dass die Raupen also verhungern müssen.«

Auf dem ganzen Heimweg aus der Schule wurde von den Raupen geredet. Herr Schwarzbeck hatte gesagt, mit Schwarzwurzelblättern ginge es zur Not manchmal auch. Aber im ganzen Städtchen wusste man gerade in diesem Sommer niemand, der Schwarzwurzeln in seinem Gemüsegarten hatte. So blieb also nichts anderes übrig, hatte Herr Schwarzbeck gesagt, als die Seidenraupen morgen rasch und möglichst schmerzlos zu töten.

Das war doch schrecklich. Es waren wohl bloss Raupen; aber man hatte in den vierzehn Tagen eine ganze Kameradschaft mit ihnen geschlossen. Man kannte sie einzeln: die grosse »Unmanierliche«, die immer über die anderen wegkroch, wenn sie ihr im Weg waren, der kleine »Serbel«, der nicht recht wachsen wollte, das »Gelbtüpflein« und die »Gelehrte«, die die vielen Falten über dem Gesicht hatte, oder das »Schwarzhörnlein.« – Aufs neue erhob sich in den Kindern der Zorn gegen Herrn Heuerlein.

»Ich verachte ihn!« sagte Gustav Brenner stehenbleibend und stampfte mit dem Fuss.

»Ja, wir verachten ihn alle«, riefen die anderen und stampften auch.

»Hört – ich wüsste eine Art, wie man den Leuten die Verachtung zeigt«, fuhr Gustav Brenner fort; »ein Student hat es mir einmal gesagt. Man macht eine Katzenmusik.«

»Eine Katzenmusik – das ist ein fürchterlicher Lärm mit Pfannendeckeln und Pfeifen und Ratschen!« schrie Sara Wiebold und hüpfte entzückt von einem Bein auf das andere.

»Ja, also! Eine Katzenmusik machen wir vor dem Garten von Herrn Heuerlein«, stimmten die anderen ein. Walter Adorf und Arnold Zwickel waren besonders eingenommen für den Vorschlag.

Aber auch den Besonneneren der sechsten Klasse kam so eine Katzenmusik sehr verlockend vor, besonders weil es etwas war, was die Studenten auch machten.

Wie wahr hatte doch Herr Schwarzbeck gesagt: rechte Hitzköpfe waren die Leuenhofer Buben und Mädchen. Nun war wieder etwas in ihren Sinn gefahren, und da gab es keine Überlegung mehr. Sie meinten wahrhaftig, sie hätten alles Recht zu dieser Veranstaltung.

»Es ist auch wegen Herrn Schwarzbeck. Extra ins Haldengütlein hinaufgegangen ist er noch«, sagten ein paar Buben eifrig.

Das fanden alle das Ärgste, dass Herr Heuerlein ihrem Herrn Schwarzbeck die Bitte abgeschlagen hatte. So weit aber kamen sie in ihren Gedanken nicht, dass es Herr Schwarzbeck nicht gut finden würde, wenn sie nun zur Vergeltung eine Katzenmusik vor den Haldengütlein aufführten.

Es war schulfreier Nachmittag. So hatte man denn alle Zeit. Nur bei blieben weg, bei am Samstag zu Hause helfen mussten. Am Wendeltor versammelte man sich, und in einer Ecke hinter dem Holzstoss zeigte man stolz bei verschiedenen Musikinstrumente. Wunderbare Sachen wurden gebracht. Zu den Pfannendeckeln, den Pfeifen und Ratschen kamen zwei oder drei Trompeten, eine Trommel und ein Waldhorn. Gustav Brenner hatte eine grosse Kuhglocke.

Einige hatten nichts erwischen können daheim; aber sie besassen die Fertigkeit, zu meckern, zu bellen oder zu miauen oder zu krähen wie ein Hahn; das war so gut wie ein Instrument. Ernst Hutter, der bei den Unternehmungen der Leuenhofer gewöhnlich zum Anführer gewählt wurde, hatte die grösste Mühe, zu verhindern, dass jeder jetzt schon seine Kunst hören liess.

»Wir müssen eine Probe halten«, schlugen die Buben und Mädchen vor. »Vor Konzerten hat man immer eine Probe.« –

Und schon tschätterten da die Pfannendeckel und quiekten ein paar Pfeifen.

»Ssst – bsst«, wehrte Ernst Hutter. »Begreift ihr denn nicht, dass es ganz im geheimen gehen muss? Es darf kein Mensch etwas wissen und hören vorher; das ist die Hauptsache bei einer Katzenmusik.«

So zogen sie denn die Halderstrasse hinauf, jedes sein Instrument unterm Arm oder unter der Schürze haltend.

Die Leute, die da und dort in den Gärten oder in den Reben arbeiteten, sahen ihnen nach und sagten:

»Das sind die Leuenhofer. Sie gehen wahrscheinlich in die Erbbeeren.«

Der Weg war ziemlich weit und fast gab es Streit, weil alle Augenblicke ein versuchsweiser Trompetenstoss, ein Miau oder ein Rrrratsch ertönte, was Ernst Hutter und sein Freund und Adjutant, Gustav Brenner, nicht haben wollten.

»Also, dann singen wir! Singen wird man doch noch dürfen«, riefen die Fünftklässlermädchen von hinten hervor.

Ja, singen, das ging schon. Da fand niemand etwas Auffallendes daran. Die Leuenhofer, wenn sie miteinander gingen, sangen fast immer. Wie von selber fing ein Lied bei ihnen an.

»Ein Jäger aus Kurpfalz ...« ertönte es hübsch und frisch zweistimmig in den stillen Sommernachmittag. Der Weg führte an einer Mauer vorbei; droben war ein mit Reben überwachsener Hang.

Die Kinder wollten eben ein zweites Lied anstimmen, da vernahmen sie gerade über sich eine Frauenstimme:

»Hörst du, Julius, wie nett! So ein Lied tut einem doch in der Seele wohl.«

»Die Tante – die Tante Heuerlein!« flüsterte Hermann Steininger. »Da oben ist ja ihr Rebhäuschen.«

Verdutzt standen die Kinder still und horchten.

Jetzt wurde das rundliche Gesicht der Frau Heuerlein über der Mauer sichtbar. Sie hielt in der Hand ein Büschel Strohhalme, mit denen sie die Rebschosse des Laubenganges aufgebunden hatte.

Hermann Steininger grüsste verlegen hinauf, und die Tante sah, dass es die Leuenhofer Kinder waren.

»So, so«, sagte sie, ebenfalls etwas verlegen. »Geht ihr ein wenig spazieren? Was war jetzt doch das für ein nettes Lied, das ihr da gesungen habt?«

»Der Jäger aus Kurpfalz!« riefen ein paar hinauf. Die anderen schauten sich an und wussten nicht recht, was für ein Gesicht sie machen sollten.

»Drum! Es kam mir so bekannt vor.« Frau Heuerlein wandte sich zurück. »Julius, den ‘Jäger aus Kurpfalz’ hast du früher doch immer auf deiner Flöte geblasen!«

Aus dem Rebhäuschen liess sich ein undeutliches Gebrumm vernehmen.

»Also, so macht einen schönen Spaziergang. Es ist heut gar nicht heiss.«

Einige von den Buben zogen die Hüte. Dann gingen alle der Mauer entlang weiter, langsam und ganz schweigsam,

Plötzlich aber blieb Ernst Hutter stehen. »Hört, es ist nichts. Wir können die Katzenmusik nicht bringen.«

»O! warum nicht?« Aber es waren nur ein paar, die fragten, Sara Wiebold und Marie Hug und noch eine oder zwei Fünftklässlerinnen und von den Buben Walter Adorf und Arnold Zwickel.

»Darum nicht!« rief Eva Imbach eifrig. »Wenn ihr das nicht selber versteht! Wo sie so eine freundliche Frau ist! Und er ist vielleicht auch nicht so arg.«

»Nein«, erklärte Hermann Steininger, »er schickt meiner Mutter immer Bohnen und Birnen.« –

»Also«, sagte Eva. »Und früher habe er so nett Flöte geblasen. Und überhaupt nicht schön wäre es – nein! So alten, friedlichen Leuten kann man keine Katzenmusik bringen. Sie würden ja ganz zusammenfahren und dann sich ärgern. Und was würde Herr Schwarzbeck dazu sagen!«

Ja, alle Kinder sahen ein, dass aus dem Plan nichts werden konnte. Allerdings die Raupen – aber die Katzenmusik konnte ihnen das Leben auch nicht retten.

»Lustig wäre es schon gewesen!« sagten Sara Wiebold und Marie Hug, indem sie ein wenig bedauerlich ihre Pfannendeckel betrachteten.

»Siehst du, Ernst, hättest du uns nur wenigstens eine Probe halten lassen hinter der Holzbeige.«

Ja, lustig wäre so ein Konzert schon gewesen! Man hätte es ja jetzt da droben abhalten können. Aber so auf offener Landstrasse ganz ohne Sinn und Zweck, das fanden die Kinder doch ein wenig dumm.

Also kehrten sie halt um und kamen nach einer Weile zurück zu der Mauer von Herrn Heuerleins Rebberg.

Da guckte abermals das freundliche Gesicht der alten Frau herunter.

»Geht’s schon wieder heim?« rief sie den Kindern zu, indem sie ihren grossen, braunen Strohhut zurecht rückte. »Ja dann – hört! Bleibt einen Augenblick stehen. Es ist wegen der Maulbeerblätter. Mein Mann und ich, wir haben ausgemacht – gelt Julius?« Sie wandte sich zurück.

Aus dem Rebhäuschen ertönte ein unverständliches Gebrumm.

»Wir haben ausgemacht, dass ihr doch wieder Futter für eure Raupen holen dürft.« –

Die Kinder kniffen einander vor Vergnügen in den Arm.

»Von dem Bub war’s unmanierlich, so mir nichts dir nichts über den Zaun zu klettern. Das tut man nicht. Aber mein Mann hat sich’s überlegt, gelt Julius?« –

Wieder ein undeutliches Gebrumm.

»Er will Gnade für Recht ergehen lassen. Du kannst also grad jetzt hinaufgehen, Hermann. Lisette ist im Haus. Sie soll dir ein Papier geben, damit das Laub nicht gleich welk wird.« –

Hermann rannte davon.

Ernst Hutter, der wusste, was sich schickte, zog den Hut ab.

»Wir danken vielmal, Frau Heuerlein.«

»Ja, wir danken vielmal, wir danken höflich«, riefen die Kinder hinauf. Und Ottilie Eggenberg, die neben Walter Adorf stand, gab diesem einen Puff und flüsterte:

»Jetzt rufst du hinauf, es tue dir leid!«

»Es tut mir leid, dass ich über den Zaun gestiegen bin«, sagte Adorf, der sonst nicht zu den Fügsamsten gehörte. Aber es war doch zu fein, dass man die Raupen wieder füttern konnte.

»Schon recht! schon recht!« nickte Frau Heuerlein. »Hört, Kinder, wenn ihr mir jetzt noch eine Freude machen wollt, so singt ihr mir noch ein Lied.«

Nach kurzem Geflüster hoben die Kinder an:

»Seht, wie die Sonne schon sinket.«

Das sei so ein sanftes, das passe gut für ältere Leute. Und während sie sangen, dachten sie, wie es manchmal seltsam zugehe auf der Welt. Sie hatten vor dem Heuerleinhaus einen ganz greulichen Lärm machen wollen, und statt dessen sangen sie nun das hübsche »Seht, wie die Sonne schon sinket.«

»Und jetzt noch mein Lieblingslied:

›Guter Mond, du gehst so stille.‹

Könnt ihr es? In meiner Jugend hat man es viel gesungen.«

Die Leuenhofer Kinder sangen alle Strophen des alten Liedes. Frau Heuerlein hörte zu und wischte sich ein wenig die Augen und hinter ihr erschien sogar Herr Heuerlein mit der Pfeife im Mund.

Gar nicht mehr begreifen konnten die Kinder, dass sie die Leute hatten so ärgern wollen. Sie schämten sich recht.

»Also sagt eueren Raupen einen Gruss von uns«, rief Frau Heuerlein zum Abschied hinunter. »Sie sollen sich’s recht schmecken lassen.«

Die Kinder grüssten hinauf und zogen ihres Wegs zum Städtchen zurück.

Hin und wieder probierte eines sein Instrument. Ein wenig schade war’s schon.

Da – wer bog aus den Büschen des Kubelwegleins auf die Landstrasse ein? Der junge Herr Mössmer war es, der lustige Lehrer von damals. Er kam öfter nach Heimstetten und war ein guter Freund der Leuenhofer Kinder geworden. Es gab eine lebhafte Begrüssung.

»Guten Tag, Herr Mössmer – guten Abend!«

»Aha, aha, da sind meine Schüler! Wie geht’s, wie steht’s? Da ist ja die Tränenreiche und dort das Mäusefräulein und der Adam Riese – was hat er denn in der Hand – eine Kuhglocke, was? Und dort seh ich eine Trompete und eine Trommel?«

Die Kinder zogen nun alle ihre Instrumente hervor.

»Wir haben wollen eine Katzenmusik bringen«, erklärten sie, und Herr Mössmer bekam nun die Geschichte zu hören.

Erst lachte er; dann aber machte er eine Grimasse. »Nein, das wäre wirklich kein guter Witz gewesen, und ich bezweifle sehr, ob Herr Schwarzbeck damit einverstanden gewesen wäre.«

»Wir haben halt gemeint, weil es die Studenten so machen.« –

»Die Studenten? Seid ihr denn Studenten? Habt ihr Philosophie studiert oder Philologie, Biologie, Psychologie, Geologie, Mineralogie, Zoologie, Anthropologie oder irgend eine Logie? Oder versteht ihr Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Indisch, Assyrisch oder Ägyptisch?«

»Nein«, lachten die Kinder.

»Also! Dann könnt ihr auch keine Katzenmusik bringen – das heisst – wartet.« – Herr Mössmer besann sich und machte dasselbe lustige Gesicht wie damals in der Schule.

»Läge euch sehr viel daran, euer Konzert abzuhalten?«

»Ja, ja! Wir möchten schon gern!«

»Also dann hört: ihr geht mit mir ganz still zum Haus vom Präsidenten. Seinen Konrad und den Rudolf kennt ihr? Die beiden haben mich vorhin schrecklich geärgert. Ich möchte morgen zum Sonnenaufgang auf die Furgger Hochwacht, und sie wollen nicht mit; sie sind zu faul aufzustehen. Für die wäre eine Katzenmusik gerade das Rechte!« Herr Mössmer lachte belustigt vor sich hin. »Famos! Es ist niemand im Haus als die beiden. Das Strafgericht trifft also nur die Schuldigen.«

Die Buben und Mädchen hüpften vor Vergnügen.

»Vorwärts und keinen Mux gemacht!« sagte Herr Mössmer. »Wir gehen an der Lindenmauer ums Städtchen herum. Da sieht uns niemand.« –

Die Hände in den Taschen schlenderte Hans Mössmer hinter den Kindern drein und pfiff vor sich hin, wie wenn er an nichts dächte.

Leise trat er mit der Musikertruppe in den Präsidentengarten. Vom Fenster im ersten Stock hörte man die Stimmen der zwei jungen Männer.

Hans Mössmer stellte seine Leute im Halbkreis auf. Jedes zog sein Instrument hervor. Dann gab er das Zeichen.

Und nun brach es los: Tschinn, tschinn schmetterten die Pfannendeckel, tütütüh die Trompeten, bumbum und rrrratsch tönte die Trommel und die Ratsche darein; die Pfeifen quiekten; die Glocke bimmelte; dazwischen miaute und meckerte es und schrie ein Kikeriki nach dem anderen. Es war greulich.

Am Fenster erschienen die Köpfe der beiden Brüder.

»Um des Himmels Willen! Was ist das? Seid ihr verrückt oder wollt ihr uns verrückt machen ...? Hört auf! Hört auf!«

Mit komischen Gebärden der Verzweiflung hielten sie sich die Ohren zu, und in höchstem Vergnügen musizierten die Leuenhofer weiter. Da erblickten die Brüder ihren Freund Hans Mössmer, der ihnen mit ernsthaftem Gesicht eine Verbeugung machte.

»So, du bist’s! Du bist der Veranstalter des grausamen Überfalles!«

»Die Strafe für faule Leute«, schrie Hans durch den Höllenlärm hinauf und seine Augen blitzten lustig.

»Lass aufhören! Wir bereuen!« schrie Konrad hinunter, immer verzweifelter die Ohren zuhaltend, während der Kopf des anderen verschwand. »Wir kommen mit, morgen; wir stehen um drei Uhr auf! um zwei Uhr, um ein Uhr, du Ungeheuer; nur mach, dass die Racker mit dem Schauerkonzert aufhören!«

Die Racker aber dudelten, quiekten, trommelten und bimmelten unermüdlich drauflos – da – das instrumentale Konzert ging in ein vokales über, in einen einstimmigen Schrei! Ein Regenguss übersprühte plötzlich die Kinder. Mit einer grossen, hochgehaltenen Spritzkanne bog Herr Konrad sich aus dem Fenster und traf in geschicktem Schwunge das Orchester, das unter Geschrei bald nach rechts, bald nach links ausbog. Zur höchsten Genugtuung des jungen Mannes bekam auch Freund Hans einen tüchtigen Spritzer auf den Kopf. Lachend suchten die Kinder hart an der Hausmauer gesicherten Stand; aber was prasselte denn jetzt herunter!

»Oh, ui, auweh!« Die Kinder hielten sich Kopf und Schultern. Nüsse waren es, ganze Hände voll Nüsse, mit denen Herr Rudolf sie bewarf.

»So«, rief er triumphierend, »so suchen sich unschuldig Angegriffene ihres Lebens zu wehren.« Paff, da und da! Er traf gut. »Schon in den alten Römerkriegen verteidigten sich die Belagerten mit Flüssigkeit und Wurfgeschossen, nicht wahr, Hans?« Freund Hans rieb sich die Nase, die eben getroffen worden war.

Die Kinder aber sammelten unter Jubel die Wurfgeschosse und wischten sich das Wasser aus dem Haar und aus den Kleidern. So fand das Konzert unversehens sein Ende. Es war auch die höchste Zeit. Vor dem Garten sammelten sich schon Leute an.

»Wie geht es denn da drinnen zu?« hörte man eine Frau sagen. »Man weiss wohl, die zwei jungen Herren sind manchmal übermütig, besonders wenn der Herr Mössmer da ist. Aber solch einen Lärm wie vorhin können doch drei Leute mit dem besten Willen nicht machen.«

Als die Leuenhofer Buben und Mädchen dann herauskamen, alle durcheinander schwatzend und ihre Nüsse zählend, hiess es: »Aha, die Leuenhofer! Freilich, wenn die geholfen haben! – Ja, ja, Jugend hat keine Tugend!«

Über dieses Sprichwort hielt Herr Schwarzbeck dann auch noch eine kleine Rede am Donnerstagmorgen. Wie froh waren doch die Kinder, dass sie noch beizeiten zur Besinnung gekommen waren.

»Der Jäger aus Kurpfalz ist’s gewesen, der uns gerettet hat!« sagten sie, und seitdem sangen sie das alte, fröhliche Jägerlied doppelt gern.


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