Otto Julius Bierbaum
Stella und Antonie
Otto Julius Bierbaum

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Zweiter Aufzug

Antoniens Schlafzimmer, das nach der Sitte der Zeit auch als Empfangszimmer benutzt wird und dementsprechend ausgestattet ist.

Genau in der Mitte der Hinterwand des mit blaß blaugeblümten Seidentapeten geschmückten Zimmers steht das Himmelbett der Komtesse mit der Längsseite zum Zuschauerraum. Die Gardinen sind so gerafft, daß das Bett und die Komtesse darin ganz sichtbar bleiben. Links und rechts neben dem Bett an der Hinterwand mit Gardinen ausgestattete Toilette- und Spiegeltische. Links und rechts an den Seitenwänden einander gegenüber hohe, mit Mullgardinen bedeckte Fenster. Zwischen ihnen Pfeilerspiegel, vor denen vergoldete Konsolentische mit Marmorplatten stehen. Auf ihnen hohe Vasen mit Blumen. Außerdem hohe weiße Schränke mit Goldleisten. Alles hell, duftig. An den beiden Bettenden je ein hoher Stuhl und von diesen beiden Stühlen aus im Halbkreis eine Reihe weiterer Stühle nach vorn. Links und rechts ganz vorn einander gegenüber hohe weiße Flügeltüren. Zwischen den Stühlen vor dem Bett ein gedeckter Frühstückstisch; neben den Kannen, Tassen, Gläsern ein Blumenstrauß.

Antonie liegt halb sitzend im Bett; sie ist mit einem üppigen Spitzennegligé so bekleidet, daß dem Zuschauer die damalige Sitte, im Bette zu empfangen, begreiflich erscheint. Sie ist auch bereits frisiert, aber freier als im ersten Akt (Morgenfrisur). Ihr ganzes Aussehen sehr verändert gegen den ersten Akt: blaß, ernst, wie bekümmert. Ihre Sprache hat im allgemeinen etwas Müdes, Zweifelndes, ändert sich aber sprunghaft schnell, entsprechend dem Texte.

Außer ihr sind anwesend der alte Graf und die alte Gräfin, die auf den Stühlen rechts und links vor dem Bett Platz genommen haben.

Die alte Gräfin Nicht ein Auge habe ich zugetan die ganze Nacht vor lauter Emotion. Dieser schreckliche Mensch! Oh, c'était affreux! Wie mußt du dich fühlen, armes Kind!

Der alte Graf Du hast ohne Zweifel Fieber, ja, ja, ja, Fieber. Dr. Wurmbrand wird es bestätigen. Aber wo bleibt er nur. Es ist himmelschreiend. Ich schickte ihm den Wagen schon in der Nacht, aber es war keine Möglichkeit, dieses Weinschlauches habhaft zu werden.

Antonie Ich bin durchaus nicht krank, aber betrübt, so recht satt traurig; es ist fast schön. Diese ganze lange Nacht hin habe ich versucht, mir vor Augen zu bringen, was geschehen ist, aber ich habe kein Bild davon gewonnen. Ich weiß nur, daß ich etwas Schreckliches erlebt habe, oder nein, daß etwas Schreckliches vor mir erlebt wurde.

Die alte Gräfin O, dieser Unmensch wollte dich morden, es ist kein Zweifel!

Der alte Graf Wer könnte dem widersprechen? Aber ich suche mir vergebens klar zu machen, welchen Grund dieser Elende dazu haben konnte. Mir schien er von Sinnen.

Antonie Es ist nicht das, daß er mich angriff. Aber ich habe etwas Fremdes gesehen, etwas wie aus einer andern Welt, schrecklich und groß. Alles in mir ist wie verschoben. . . . Es gibt Menschen, die in Krämpfen leben. Es gibt Menschen mit Augen wie Feuerbrände. Es ist abscheulich und sublim. Ich glaube, meine Lieben, ich werde in meinem Leben nicht mehr spotten.

(Die Türe links öffnet sich, Christoph tritt mit einer Verbeugung ein und meldet: Vom hochgräflichen Herrn Bräutigam.)

Jakob Seine hochgräflichen Gnaden, der Herr Graf von Schankwitz-Plessenburg, mein gnädiger Herr, lassen Ihre hochgräfliche Gnaden, die gnädige Komtesse von Birkenthal-Farrenstein, seine erlauchte Braut, um die venerable Freundlichkeit bitten, ihm mitteilen zu lassen, wie Ihre hochgräfliche Gnaden, die gnädige Komtesse von Birkenthal-Farrenstein diese Nacht verbracht haben. Wenn Ihre hochgräflichen Gnaden, die gnädige Komtesse von Birkenthal-Farrenstein, die Nacht so übel und angstvoll verbracht haben wie Seine hochgräflichen Gnaden der Herr Graf von Schankwitz-Plessenburg, mein gnädiger Herr, so wird meines gnädigen Herren hochgräfliche Gnaden gar sehr betrübt sein. Denn Seine hochgräflichen Gnaden fühlen sich von den Erlebnissen des gestrigen Abends und von den grausamen Empfindungen, unter denen sie die vergangene Nacht völlig schlaflos hingebracht haben, noch so affiziert, daß sie sich trotz des lebhaftesten Wunsches, Ihrer hochgräflichen Gnaden der gnädigen Komtesse von Birkenthal-Farrenstein, seiner venerablen Braut, die Hände zu küssen, außer Stande fühlen, in eigener hochgräflicher Person hier zu erscheinen, weshalb denn . . . . . .

Antonie (abwinkend) Nicht einmal das erheitert mich. Es gibt so schreckliche Dinge auf der Welt, daß keine noch so ergötzliche Albernheit imstande wäre, uns aufzuheitern. (Zu Jakob) Sage er seinem hochgräflichen Herrn, daß ich ihm gute Besserung wünsche. (Jakob ab.)

Die alte Gräfin Es ist nicht recht, wie du mit dem guten Franz Friedrich umgehst. Er hat eine recht lebhafte Passion für dich.

Antonie Seine recht lebhafte Passion ist so viel, wie ich mir bei einem anderen Manne eine Caprice vorstelle. Ich beklage mich nicht darüber. Seit meinem vierzehnten Jahre habt ihr mich daran gewöhnt, in ihm meinen zukünftigen Mann zu sehen. Ich bin eigentlich schon mit ihm verheiratet, und schrecklich lange. Ich kenne ihn so genau, daß er mich nur noch fatiguieren kann. Wie könnt ihr euch dann darüber wundern, daß ich mir manchmal eine kleine Kurzweil mit ihm erlaube. Dafür dürft ihr überzeugt sein, daß ich nie etwas Schlimmeres mit ihm unternehmen werde. Es ist wohl auch wirklich ein charmanter Kavalier, und es wäre übertrieben, zu behaupten, daß er aus der Maaßen dumm wäre. Er geht so mit den andern.

Die alte Gräfin Sprich nicht so viel, es könnte dich aufregen.

Antonie Das beste Mittel, mich nicht aufzuregen, ist, von Franz Friedrich zu sprechen. Ich rede auch nur deswegen von ihm, weil ich eine mühelose, ruhige Ablenkung brauche. Ich rede, um nicht an etwas Ernstes zu denken.

Die alte Gräfin Kind, es handelt sich um deinen Bräutigam!

Antonie Eben! . . . . Ob er wohl Pomade in den Adern hat statt Blut? Wenn es der Fall ist, woran ich nicht zweifle, so bin ich überzeugt, daß sie wohl parfümiert ist.

Der alte Graf Mir war, als hörte ich vorhin, mein Kind wolle nicht mehr spotten.

Antonie Ich spotte auch nicht. Ist es nicht so? Hat er nicht das Phlegma eines alten Damenpferdes?

Die alte Gräfin Du übertreibst, und schließlich gibt das die besten Ehemänner.

Antonie Dann muß ich eine schlechte Ehefrau geben, denn mein Blut ist Blut. Aber ich weiß das auch erst seit gestern. Die ganze Nacht habe ich mich gefragt, woher ich es nun auf einmal weiß. Wenn ich die Augen schloß, sah ich Feuerräder vor mir, und es war, als stiegen sie aus meinen eigenen Augen auf wie Blutwellen.

Der alte Graf Wie ich schon sagte, das ist das Fieber. Dieser greuliche Doktor, ob er nicht endlich kommt. (Man hört im Hof eine Peitsche knallen. Der alte Graf geht zum Fenster) Ah, endlich. Da heben sie ihn aus der Kutsche. Es ist eine Schande, er hat beide Backen voll, und im Fond liegen zwei leere Weinflaschen. Wenn er seine Patienten so gesund machte, wie sich fett, müßten wir allesamt vor Gesundheit platzen.

Antonie Ich tue es Ihnen zu liebe, wenn ich mir seinen Besuch gefallen lasse. Im übrigen hätte er meinetwegen nicht im Wagen zu frühstücken brauchen.

Christoph (öffnet die Türe links und meldet) Der Herr Medikus!

Dr. Wurmbrand (ein äußerst dicker und kurzer Herr, tritt ein. Enorme Brille, großer Knopfstock. Er watschelt langsam vor und bleibt etwa in der Mitte des Zimmers schnuppernd stehen) Das Odeur des Krankenzimmers insignieret auf eine affectio febrica.

Antonie Der gelehrte Herr hat noch keinen Flieder gerochen.

Dr. Wurmbrand (mit tiefen unter Stöhnen ausgeführten Verbeugungen) Meine untertänigsten Komplimente der ganzen gräflichen Familie.

Der alte Graf Ich kann nicht verhehlen, daß wir schon einigermaßen lange auf Sie warten, Doktor. Es scheint, Sie würden uns mit Gemütsruhe hier sterben und verderben lassen, nur um bei Ihrer Flasche bleiben zu können.

Dr. Wurmbrand O! O! Welch unverdienter Verdacht, Herr Graf! Ich wüßte nicht, was es gäbe, wovon ich mich nicht unverzüglich losreißen würde, um Eurer gräflichen Gnaden zu Diensten zu stehen.

Der alte Graf Ausgenommen eine Flasche Burgunder. (Dr. Wurmbrand hebt abwehrend die Arme) Aber lassen wir das. Sie sind wenigstens da. Man wird Ihnen berichtet haben, was sich gestern ereignet hat.

Dr. Wurmbrand In der Tat, mir ist der höchst seltsame Vorgang des Ausführlichen berichtet worden, und ich habe daraufhin meine Anstalten getroffen, dergestalt, daß ich, ausgehend von der Erwägung, daß hier ein sedativum indizieret sein möchte, eine Flasche aqua seda . . . (tastet in seinen Taschen herum) . . . . hm, häh, wo ist denn die Flasche? (Immer mit sich allein sprechend) Ich ging doch an das Regal! Wie? Ich stieg doch auf die Leiter? Halt! Nein, Johann stieg auf die Leiter. Und ich sagte ihm: rechts oben mit dem gelben Schild? Nix, nox, nux, nebulae Zum Kuckuck! Er gab mir doch die Flasche in die Hand und ich schob sie – schob ich? schob ich sie wirklich? Beim Teufel, ich schob sie wirklich in die Tasche!

Der alte Graf Was soll das Selbstgespräch. Es wäre unerhört, wenn Sie mit leeren Händen gekommen wären.

Dr. Wurmbrand (läuft, so schnell es bei seiner Korpulenz möglich ist, ans Fenster) Johann, die Flasche mit dem gelben Schild! (Reckt das rechte Ohr mit vorgehobener Hand zum Fenster hinaus) Wie? . . . Ich hätte sie . ? . Was . ? . Burgun . ? . Esel! (Schlägt das Fenster zu. Zum Grafen, lächelnd) Ich habe in der Tat die Flasche nicht mitgenommen, erwägend, daß ein sedativum kontraindizieret sein möchte. Ein Blick auf die gnädigste Komtesse bestätiget mir die Richtigkeit meiner diagnosis e facto relato. (Mit gravitätischen Schritten auf das Bett zu) Der aspektus deutet auf . . . hm, . . . gut! Ein wenig Papier, wenn ich untertänigst bitten darf! Ah, auf dem Tisch. (Murmelnd) polychrestium, spodium . . . Ja, hm . . . und nun der Puls. (Fühlt ihn) Ah! (Nimmt seine riesige Uhr heraus) Hm . . . kein Zweifel . . . wenn ich um Tinte . . . Ah, auf dem Tische! (Murmelnd, indem er schreibt) Polychrestium, spodium, rhabarber, vitriol, balsaminum samaritanum, pulvis commitissae . . . Das fürs erste! . . . Aber nun noch die Zunge, die allerliebste kleine Zunge!

Antonie Und wenn ich zwei Zungen hätte, sie Ihnen zu zeigen, und wenn Sie das ganze lateinische Lexikon hersagen würden, es würde doch immer nur Ihr alter Fiebertee herauskommen, von dem wir übrigens noch Vorrat genug haben, um eine Herde Schafe damit zu tränken . . . Mais à propos. Sehen Sie sich doch einmal die Zunge des Herrn Grafen von Schankwitz-Plessenburg an! Abgesehen davon, daß es eine echt Schankwitz-Plessenburgische Zunge ist, werden Sie erkennen, daß Sie dort nötiger sind als hier.

Die alte Gräfin Aber Kind!

Dr. Wurmbrand (blickt sich ratlos um)

Christoph (meldend) Seine Gnaden der Herr Graf von Schankwitz-Plessenburg.

Graf Franz Friedrich (eilt herein, küßt der alten Gräfin und dann Antonien die Hand und verbeugt sich) Wie steht es mit dem Befinden meiner Teuersten? Verzeihen Sie, daß ich nicht der Erste war, mich darnach zu erkundigen, aber ich hatte eine derartige Nacht hinter mir . . . . . . . .

Antonie . . . daß es unbedingt notwendig ist, diesem Herrn da die Zunge zu zeigen. (Graf Franz Friedrich sieht sich erstaunt um)

Dr. Wurmbrand (macht eine tiefe Verbeugung) Jeremias Wurmbrand, universalis medicinae Doctor, zu Eurer gräflichen Gnaden untertänigsten Diensten.

Graf Franz Friedrich Gnädigste Komtesse belieben zu scherzen. Ich brenne vielmehr darauf, zu erfahren, was der Herr Medikus von dem Zustand meiner teuersten Komtesse hält.

Antonie Er findet, daß sich eine Verschiebung des Herzens bei mir vollzogen hat.

Graf Franz Friedrich Wie?

Dr. Wurmbrand Häh?

Antonie Daß in dieser Nacht ein geheimnisvolles Fieber über mich gekommen ist, ein ungeheures Staunen, ein beklommenes Warten auf etwas traumhaft Neues.

Graf Franz Friedrich Meine Teuerste . . . ich verstehe Sie nicht. (Sieht die andern der Reihe nach an)

Dr. Wurmbrand Ich hätte . . ? .

Der alte Graf Unsere Antonie scherzt.

Antonie Es ist wie ich sage. (Zum Doktor) Kann ein solches Gefühl von einem Schrecken kommen, der das Blut ins Hirn getrieben hat?

Dr. Wurmbrand Die Wissenschaft kennt allerdings Fälle einer sehr seltsamen depressio cerebri mit dabei einhergehender . . .

Antonie Es ist das Blut, aber nicht vom Schreck. (Plötzlich hastig erregt) Was ist mit dem Menschen?

Der alte Graf (sehr milde) Mit welchem Menschen?

Antonie Jetzt weiß ich, was es war, das ich diese Nacht vor mir sah wie zwei glühende Scheiben: Seine Augen – – – Wo ist er?

Der alte Graf Sei ganz ruhig, mein Kind, er wird dich nicht mehr erschrecken. Heute morgen wird er ausgepeitscht und dann sogleich ins Amtsgefängnis abgeschoben.

Antonie (mit seltsamem Ausdruck, halb Schauder, halb Neugierde) Ausgepeitscht?

Der alte Graf Wenn du bei Kräften wärest, würde ich dir sagen, sieh es dir mit an. Die züchtigende Gerechtigkeit ist ein angenehmer Anblick, wenn die Nerven es zulassen.

Die alte Gräfin O, es ist abscheulich, zumal das Geschrei.

Antonie (mit einem wollüstigen Schauder in der Stimme, bös) Das Schreien möcht' ich wohl hören.

Der alte Graf Recht so, mein Kind, das wird dich auffrischen. (Sieht nach der Uhr.) Es muß gleich so weit sein. Christoph! (Christoph tritt vor.)

Der alte Graf Wie steht es unten mit dem Arrestanten?

Christoph (zum Fenster hintretend) Eben stellen sie die Bank auf, und da kommt auch schon der Mensch gebunden.

Antonie (richtet sich auf) Wieviel . . . Schläge bekommt er?

Der alte Graf Nur so viel, als er eben verträgt, damit er dann noch transportiert werden kann.

Antonie (sich auf die Lippen beißend, mit einem bösen Ausdruck) Betteln sie vorher oft?

Der alte Graf (mit Nachdruck) Das will ich meinen, gehen auf die Knie nieder, heulen, beben, ringen die Hände.

Antonie (für sich) Er wird . . . ich möchte . . .

Christoph Jetzt ziehen sie ihm den Rock aus.

Antonie Was tut er?

Christoph Er blickt um sich, als ginge ihn alles gar nichts an, wahrhaftig, als ginge ihn . . .

Antonie Und nun?

Christoph Jetzt zeigen sie ihm den Ochsenziemer . . . O . . . Der lange Jörg läßt ihn durch die Luft pfeifen und lacht dazu. Zeigt seine dicken Arme und lacht dazu.

Antonie Und er?

Christoph Sieht in den Himmel und beißt die Unterlippe.

Antonie Weiter!

Christoph Sie stoßen ihn zur Bank, biegen ihn nach vorn . . . Halt, der Herr Justitiarius. Sie richten ihn wieder auf; der Herr Justitiarius spricht zu ihm.

Antonie Und er?

Christoph Schüttelt den Kopf.

Der alte Graf Doktor Maluvius wird ihn gefragt haben, ob er etwas vorzubringen hat zu seiner Erklärung und Entschuldigung.

Antonie Weiter, weiter!

Christoph Jetzt binden sie ihn wieder nach vorn. Veit schnallt die Beine an die Bank. Hans reißt das Hemd auf dem Rücken herunter. Veit schnallt die Hände fest.

Antonie Und er, er . . .

Christoph Liegt wie tot.

Antonie (atemlos) Ich will . . . Was geschieht jetzt?

Christoph Jörg läßt den Ochsenziemer durch die Luft pfeifen.

Der alte Graf (der wie Franz Friedrich und Dr. Wurmbrand ans Fenster getreten ist und hinuntergeschaut hat, wendet sich um) Bei diesem Pfiff pflegt man eine Welle über den Rücken des Delinquenten laufen zu sehen: alles spannt sich an und zuckt. Dann kommt der erste Hieb. Das zischt wie Feuer in Wasser. Und wenn der Kerl einen guten Hieb am Leibe hat, fliegen auch schon die Fetzen. Ich werde jetzt das Zeichen geben (will sich umwenden).

Antonie (stößt die Hände nach vorn, richtet sich steil auf, starr nach dem Fenster sehend, hält sich dann mit beiden Händen die Ohren zu, fast schreiend) Nicht schlagen, nicht schlagen! Er soll los sein! Ich will es. Und das gleich!

Der alte Graf Ich verstehe dich nicht.

Antonie So ruf doch, ruf doch!

Der alte Graf (zum Fenster hinaus) Laßt ihn! Bindet ihn los!

Antonie (zurücksinkend mit einem tiefen Seufzer) Ah, nun ist alles gut. Mir ist so wohl jetzt, ich weiß nicht . . . (lächelnd) wie nach einer bösen Krankheit. Tut doch die Vorhänge auseinander an allen Fenstern. Und, Christoph, was tut der arme Mensch?

Christoph Sie haben ihn losgebunden und hängen ihm den Rock um die Schultern. Er legt die Hand auf die Stirne und streicht sich die Haare. Jetzt sieht er gerade hier herauf.

Antonie Sieht er freundlich aus?

Christoph Nein, er macht ein düsteres Gesicht.

Antonie (schnell) Ich will, daß er heraufkomme.

Die alte Gräfin Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein?

Antonie (sehr bestimmt) Er soll herauf und hierher zu mir.

Der alte Graf Was für Launen, Kind. Du wirst nicht wollen, daß wir darauf acht haben.

Antonie (krampfhaft) Ich will, ich will!

Der alte Graf Du bist kränker als vorher. Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, dir jetzt in deinen absonderlichen Wünschen nachzugeben. Was meint der Herr Doktor?

Dr. Wurmbrand Absonderlich, in der Tat. Ungemein absonderlich und beinahe . . . mja . . . man findet derartige Zustände, Wünsche, Gelüste sonst nur bei Frauen, wenn sie . . .

Die alte Gräfin Schweigen Sie, Doktor, ich bitte Sie . . .

Der alte Graf (zu Antonie) Mein Kind hat den törichten Wunsch schon wieder vergessen.

Antonie (wie abwesend) Augen wie Feuerbrände. Aber ich will sie auslöschen. Ich will, daß sie betteln. (Plötzlich) Wo ist er? Franz Friedrich, wo ist er?

Franz Friedrich Komtesse befehlen?

Antonie Sie helfen mir nicht, Franz Friedrich? Ich soll meine Satisfaktion nicht haben?

Franz Friedrich Ich . . . aber freilich . . . gewiß (zu den andern) warum sollte Komtesse nicht mit dem Subjekte reden? Parbleu, es versteht sich doch, daß er sie um Verzeihung bitten muß!? (Sehr entschieden) Auf den Knieen! Ah! Ich verstehe durchaus! Es ist erforderlich! Erforderlich! Der Kerl muß sich doch auch bedanken! . . . Natürlich muß alles vorgesehen werden . . . Jörg und Veit sollen mit den Karbatschen . . . und ich . . . ha . . . es kann ja nicht das geringste geschehen (lachend). Hahaha! ich bin selber gespannt, wie der Bursche nüchtern in der Nähe aussieht und ohne die Göttertracht.

Antonie (mit Betonung) Ja, ohne die Göttertracht. (Pause, dann plötzlich) Aber so geht doch! (Zornig) Was steht ihr? Was kommt er nicht?

Die alte Gräfin Aber Kind, Kind, du wirst doch nicht allein mit diesem Menschen . . . jamais, jamais!

Der alte Graf Unmöglich, ganz unmöglich.

Franz Friedrich Allein? Äh, das verstehe ich nicht. Allein? Das dürfte doch . . . Wenn nun der Kerl doch noch nicht vollkommen nüchtern wäre? Man hat Beispiele von Räuschen bei diesen Leuten, und dann . . . Äh . . . er hat keinen Rock an . . . (zu Christoph) Wie sieht er aus?

Christoph Struppig.

Franz Friedrich Man soll ihn wenigstens kämmen.

Antonie (fast schreiend) Er soll kommen! Ihr sollt gehen! O, so seid doch nicht so . . . (sehr erregt, weinend) ich sterbe, ich sterbe, wenn er nicht gleich kommt. Ich will ihn sehen, ich muß von ihm wissen . . . (wild) geht, geht, geht! (Der alte Graf und die alte Gräfin sprechen mit Dr. Wurmbrand.)

Dr. Wurmbrand (hebt die Arme hoch) Fieber! Fieber! Die Wissenschaft ist hierin geteilter Meinung. Während die einen es für indizieret halten, Wünschen patientis nachzugeben, raten die andern contrarium. Hm, hm.

Der alte Graf (ungeduldig) Und Ihr, Herr Doktor, was ratet Ihr?

Dr. Wurmbrand Ich? Hm? Ich stehe mitten inne. Ich . . . will sagen . . . rebus sic stantibus (hebt wiederum beide Arme hoch)..

Antonie (sich steil aufrichtend) Geht, sage ich. Geht, oder ich springe zum Fenster und rufe ihn selbst.

Die alte Gräfin Mein Gott, weiß denn niemand Rat? Franz Friedrich, Sie? . . .

Franz Friedrich Wenn ich mich unterstehen dürfte . . . meine Meinung ist (mit fast feierlicher Betonung) man erfülle den Wunsch der gnädigsten Komtesse.

Antonie (nimmt seine Hand, tätschelt sie; mit verändertem Tone, leicht) Brav, Franz Friedrich.

Franz Friedrich (küßt ihr die Hand) Ich werde mit gezogenem Degen hinter der Türe stehen.

Antonie (die nun völlig munter scheint) Gut, Franz Fritzchen, gut. Hinter der Türe! Mit dem Degen als mein Garde du corps!

Franz Friedrich (mit unverminderter Feierlichkeit) Fürs ganze Leben! (Küßt ihr die Hand)

Die alte Gräfin (selig verzückt zum alten Grafen) Sieh doch, es ist rührend. Die lieben Kinder . . . Franz Friedrich hat recht, man muß ihr den Willen tun.

Antonie (lustig) Ja, Mütterchen, man muß (parodistisch)
Franz Friedrichs Weisheit trieb gleich wie die Aloë
Den stärksten Blütenschaft aus Stacheln in die Höh.

Dr. Wurmbrand Gleich wie die Aloë! . . . Bravo, bravo, Komtesse, ein vortreffliches Diktum!

Antonie Und nun hinaus! Allesamt hinaus! (Klatscht in die Hände) Und herauf mit dem struppigen Apollo, aber ungekämmt und ohne Rock! Warte, mein wilder Gott, dich will ich . . . Allez, Allez! . . .

Der alte Graf (zu Christoph) Geh hinunter und schick den Burschen herauf! Er soll kommen wie er ist. (Christoph ab) (Zu Antonie) Es bleibt eine gefährliche Kaprice.

Antonie (übermütig) Kaprice hin, Kaprice her: hinaus, hinaus, hinaus mit euch! Gott, macht doch nicht so saure Gesichter! In zehn Minuten hat der Bär das Tanzen gelernt.

Die alte Gräfin (küßt Antonie auf die Stirne) Mein Ausbund!

Der alte Graf (tut desgleichen)

Die alte Gräfin Immer noch wie im kurzen Kleidchen.

Franz Friedrich (küßt Antonie die Hand) Charmant, Charmant!

Antonie (parodistisch)
Und, was geschehen mag in dieser Aventüre:
Franz Friedrich steht und zückt den Degen hinter der Türe!

Dr. Wurmbrand Unvergleichlich! Franz Friedrich steht und zückt . . . Unvergleichlich! (Gravitätische Verbeugung)

Antonie Faß der Gelehrsamkeit, entrolle mit Bedacht! Du hast zwar nichts getan, doch alles gut gemacht.

Dr. Wurmbrand (blickt etwas blöde auf) Du hast zwar nichts . . . Wieso? . . . Vorzüglich, vorzüglich . . .

(Alle ab)

Antonie (ordnet an ihrer Bettdecke und dem Negligé und blickt gespannt nach der Tür. Sie ist wieder ernst geworden)(Zwei Knechte geleiten, Peitschen in den Händen, Johann Christian herein, der schlechte Kleider an hat, nur Hosen und Hemd; dieses zerrissen, und übergeworfen eine Jacke. Das Haar ist struppig, er sieht die Komtesse gleichgültig an)

Antonie (mit einem Wink zu den Knechten) Geht!

Johann Christian (bleibt stehen, und sieht Antonie immerzu an)

Antonie (gemacht leichthin) Nun, Apollo, warum so schweigsam? Kannst du nur reden, was du auswendig gelernt hast?

Johann Christian Ich rede nur, wo es sich lohnt.

Antonie Das heißt, nur gegen Honorar?

Johann Christian Nimm's wie du willst.

Antonie Eh, du duzt auch in Prosa? Haben die Götter so wenig Lebensart?

Johann Christian (mit höhnischer Galanterie) Göttinnen zeichnen sie mit dem brüderlichen Du aus.

Antonie Ei! Ihr spielt immer Komödie?

Johann Christian Ich tue, was Ihr tut.

Antonie Du hast recht, Apollo, wir führen hier eine Komödie miteinander auf.

Johann Christian Ich sehe nicht, wozu.

Antonie Wozu? Sie macht mir Spaß, voilà! . . . Mehr als das Stück gestern.

Johann Christian Es steht bei Euch, mir Euer Mißfallen auf Eure Manier zu bezeigen. Da: das Hemd ist schon in Fetzen! (Wirft die Jacke weg) Ruft Eure Kerls; die Bank steht auch noch da. Glaubt Ihr, ich wollte betteln? Hah! Ihr könnt mich peitschen lassen, zerfetzen lassen, in den Turm werfen lassen, an den Pranger stellen lassen, mich anspeien . . . wie Ihr wollt; aber Ihr könnt mir einen Genuß nicht rauben, ein Gefühl, das so stark ist, wie die Liebe: Euch verachten!

Antonie (nach einer Pause, während der sie ihn angesehen hat) Stark wie die Liebe? Das sagt ihr so hin, als wenn es sich von selber verstünde. Aber, ist Liebe wirklich das Stärkste? Mein guter Apollo, aus Gedichten kenne ich das, aber jetzt reden wir in Prosa.

Johann Christian Armes Ding, denkst du, unser Blut hat zwei Sprachen? Denkst du, unser Herz ist so schlapp und leer, wie Eures? Denkst du, wir leben so im Flachen wie Ihr? Unsere letzte Ratte, die die Zofen spielt, hat mehr Natur als du, und wenn Ihr die Nasen über sie rümpft, lacht ihr doch das Herz im Leibe vor Stolz und Freude, daß sie nicht so erbärmlich ist wie Ihr, denn sie weiß, was Liebe ist.

Antonie Ei, so sagt mir es doch, daß ich es lerne.

Johann Christian Soll ich einer Lahmen das Tanzen beibringen? Ihr habt ja Gold, Euren Gebresten Brokate überzuhängen, und Ihr wißt ja die Worte so zu setzen, daß Ihr untereinander selber glaubt, Ihr sagtet was. Bah! Für Euresgleichen genügt es, den Schein zu haben und nach was auszusehen. Wir sind unbescheidener, wir . . . leben.

Antonie (nachdenklich) Woher weißt du, wie wir sind?

Johann Christian Weil ich ebenso war. (Ironisch) Oho, Komtesse, ich hätte einmal Euer Justitiarius werden können, ein Hüter des Rechtes, oha, genau so ein Gestell, wie der vorhin unten, der seine Sprüche mit so hochgezogenen Brauen machte, daß sie schier unter der Perücke verschwanden, und ich hätte am Ende meine Sprüche ebenso gut gemacht. (Wirft den Kopf nach hinten) Dank meinen Göttern! Es ist besser gekommen. Lieber auf die Bank geschnallt als ein freier Kerl, der seine Stirn dem Sturm des Lebens gibt und seine Brust den Strömen der Natur, und der sein Recht nennt, was sein starkes Herz umfassen kann, als so ein Würdebalg aus Eselsleder und Spinnewebe, der auf Befehl hersalbadern muß, was die Niederträchtigkeit von Jahrhunderten in den Stall aller Scheußlichkeiten zusammengefahren hat, den ihr das Recht nennt. (Schlägt sich auf die Brust) Ich bin entlaufen, hussah, der Schule entlaufen und dem Hause, wollte lieber ein Lump heißen und ein freier Kerl und Künstler sein als ein braver Sohn und tüchtiger Bürger genannt werden und nichts sein als so ein leeres Gemächte aus Regel und Ordnung. Ich kroch herum wie die andern in Eurem Pferch von Sitte und Gesetz, machte ein feierlich Gesicht zu alle den Nichtsnutzigkeiten Eures blutlosen Lebens, stopfte mir den Schädel voll mit dem trockenen, raschelnden Stroh Euerer Gelehrsamkeit und ließ mein Herz, das doch vom Strome meines heißen Blutes stoßend schwoll, fasten und darben inmitten dieser kahlen und schäbigen Maskerade, die Ihr Leben nennt, –: Da stand einmal Natur vor mir da, umgossen von Licht, umbrodelt von Wärme, und zwei volle Arme preßten mich an eine volle Brust, die auf und nieder ging in Begehren und Genuß, und ich schmiß den Tand Euerer Lüge von mir und sprang nackt der Natur nach. Alles, was Ihr Schande und Elend nennt, nenne ich seitdem mein Hab und Gut und Glück. (Hebt die Arme hoch, verzückt) Stella, Stella! Immer noch danke ich dir, und ich liebe dich immer noch, wenn du auch eine Metze bist und mein Herz zerrissen und höhnisch zerfetzt hast. Denn du hast mich die Fülle des Lebens fühlen lassen und hast mir Augenblicke geschenkt, da ich erfuhr, welcher Seligkeiten der Mensch fähig ist. Stella! Stella! Ich wurde ein Lump für dich, und du hast mich elend gemacht, aber wenn ich deinen Namen nenne, fühle ich die heiße Tiefe des Lebens und weiß, daß Liebe mehr ist als ein Wort. (Schließt die Augen) Stella! . . Natur! . . Liebe! . . Stella! . . Stella! (Schreitet wankend vor, fällt auf einen Stuhl nieder)

Antonie (hat mit weitgeöffneten Augen zugehört; tief ergriffen, ganz für sich) Da ist es vor mir da, was ich diese Nacht von ferne gesehen habe . . . Alles dies ist Wirklichkeit . . . Wie reich ist die Welt . . . (wieder zu Johann Christian; mehr leichthin, aber doch herzlich) Ihr seid ein Dichter, auch in Prosa. Euch anhören ist schön, wenn Ihr auch recht böse von uns armen Leuten redet, die keine Dichter sind. Man möchte Euch fast beneiden; – – – vor allem um diese vortreffliche Stella, die wohl ein recht ausbündig schönes Frauenzimmer sein muß.

Johann Christian (hebt den Kopf) Schön? Schön bist du auch, Komtesse. Aber das ist nicht viel. Pah! Schön! Du bist viel schöner als sie: weiß, golden, blühend, fein! (führt die Finger wie zum Kuß an den Mund) Ah, wie schön du bist! (sieht sie groß an) Wie ein golden Bild in einem Altar-Schrein von Elfenbein, umründet rings mit Silber und Gold und dort und da mit Perlen und Edelstein. O wahrlich, du bist viel schöner, und ich bitte dich, vergib mir, wenn ich böses gesagt habe, denn ich sehe nun, – wie schön du bist. (Steht auf, tritt ganz nahe vor Antonie hin und betrachtet sie lange) Aber was ist das: schön? Ich sah Bilder, die noch schöner waren. In Gräcia liegen tausende unter der Erde, die schöner sind als du. – Schönheit vermögen wir auch, wir Künstler; aber, siehst du: Natur sein, wie Stella, – das ist, was wir nicht machen können; davor können wir nur liegen und beten und lernen. Und davon kommt alle Gnade und aller Überschwang. Das ist das höchste, – wenn es auch (mit tiefstem Ekel) ach!! so voller Schmutz und Schmach sein kann.

Antonie Natur sind wir wohl alle, Herr Schwärmer. Denn keiner von uns ist aus dem Porzellanofen gekommen.

Johann Christian Irrtum, Komtesse, Irrtum! Das seltenste unter den Menschen ist Natur. Vom Kaiser bis zum Schweinehirten ist alles Lackware, nur daß der Überzug bald feiner ist, bald gröber. Wir werden in so vielfältige Behandlung genommen vom Leben, und der Hände, die uns glätten, kratzen, bürsten, biegen, kneten, sind so viele und ungeschickte, daß vom Ursprünglichen schier nichts übrig bleibt. O ja, allerhand schöne Sachen malen sie uns auf, heften sie uns an: Zierliche Manieren, bunte Lügen, mit Gold bepinselte Moralen, und unser Gehirn wird so meisterlich mit tausend Methoden traktiert und wie eine Pastete angefüllt mit sämtlichem, das die toten Gehirne der Vergangenheit übergelassen haben, daß wir gescheiter werden als alle Meerkatzen der Hexe von Endor, hoho, so gescheit, daß wir sogar wissen, wie der Mensch inwendig aussieht, hahaha, und wie die Sterne wimmeln, die kleinen Kerlchen da oben, und daß auch der Kaiser nießen muß, wenns ihn in der Nase kitzelt. Hui, was für Sakramentskerle sind wir geworden! Sehen Eure gräfliche Gnaden sich nur seine gräfliche Gnaden hoch dero Bräutigam an. Ich wette, er schneuzt sich in ein Nastuch von Seide und verläßt das Zimmer, wenn ihm die Winde kommen. Respekt! Respekt! Aber dies ganze Gezücht: wir alle, Komtesse, wir alle, außer den Begnadeten, haben den Funken nicht mehr, der von Gott ist; wir wissen und fühlen nicht mehr, oder ach, nur allzuselten, daß die schwanke Birke auf der Wiese unsere süße Schwester ist, daß das Wasser des Baches, das über unsere Füße fließt, soviel und dasselbe ist, wie wir, daß ein Kuß, den wir besinnungslos auf heiße Lippen drücken, mehr, o wie viel mehr ist als all der Krimskrams von Sitte und Gelehrsamkeit, und daß es nichts so heiliges und herrliches gibt, als wenn sich zweie in den Armen liegen. Wir sind nicht mehr Natur; die Kraft der Erde ist aus uns getrieben. Ernste, leere Popanze kriechen wir durchs Leben, statt einander an den Händen zu halten und zu spielen. – Seht, Komtesse, und so war meine Stella: ein Weib, nichts weiter, ein Kind, nichts weiter. Nichts, nichts als gebende, nehmende Natur, in jedem Augenblicke ganz und rein wie ein schönes wildes Tier.

Antonie Und eines Tages hat sie dich gebissen, Poet, nicht wahr?

Johann Christian Mir ihre Zähne ins Herz geschlagen, ja; mich wund und elend gemacht, ja. (Schmerzlich lächelnd) Die wilden Katzen lieben das Blut.

Antonie (sehr gütig) Mein armer, lieber Dichter. Und du dankst ihr deine große Wunde? Hast gar keinen Haß, willst gar keine Rache? Wäre es nicht recht, eine so böse Bestie zu zähmen?

Johann Christian Was wäre sie dann? Nicht mehr Stella, nicht mehr Natur, – vielleicht . . . .

Antonie (nimmt seine Hand) Da, knie an's Bett, mein wilder Apoll. (Johann Christian macht eine abwehrende Bewegung) Nu, nu, ich will deinen Wunden nicht weh tun, komm nur, knie hin, sei ein bischen lieb und linde. Ich will dir nur die Haare aus der Stirne streichen. (Johann Christian kniet hin, sie fährt ihm über die Haare) Dich muß man kämmen und in Ordnung bringen. Du bist wohl ein Narr, aber deine Narrheit lallt Dinge, die nicht bloß Narrheit sind . . . Gott, wie heiß deine Stirn ist! Und wie die Adern darin klopfen . . . Ach, und die Augen, so wild und bös und traurig dabei. – Sie hat dir wohl recht weh getan, die wilde Katze?

Johann Christian (stöhnend) Mir alles genommen und umgestürzt, alles, alles . . . .

Antonie Du . . . liebst sie nicht mehr?

Johann Christian Mich ekelt ihr, ich hasse sie – o, pfui, pfui! Alles war Lüge, alles, was sie mir je getan; die Lüge selber, das ist sie.

Antonie Kann die Natur lügen, Poet? Mir scheint, du frevelst.

Johann Christian Mir ist so wirr. Nichts festes, darauf ich stehe. Alles wankt. Das hat sie getan. Ich wurde irre an der Welt, da ich an ihr irre werden mußte. O, einst, als sie mich liebte, glaubte ich an Gott. Da sie lügen konnte, weiß ich nun, daß alles Lüge ist.

Antonie Ei, wer wird dem lieben Gott davon laufen, weil ihm eine wilde Katze davon gelaufen ist? Nicht doch! Alles ist wie's ist, und alles ist drum wahr. Auch deine böse Katze. Und sie erst recht. Du mußt nicht bloß Wahrheit nennen, was dir gut tut. Betest du Natur an, so sei auch ihren Tücken fromm. Du bist kein rechter Christ, Poet, und auch kein rechter Heide. Mir scheint, Poet, du bist nichts als Poet. Dich möcht' ich in die Schule nehmen. Darf ich? Willst du? Wenn du jetzt nur einen Hauch von Ruhe in dir spürst, darfst du getrost Ja sagen.

Johann Christian (mit einem langen Blick auf sie, ihre Hände nehmend und sie küssend) Wie gut Ihr seid? Mir ist so sonderbar.

Antonie (ihm ihre Hände entziehend) Ja?

Johann Christian (den Kopf auf den Bettrand legend) Ja!

Antonie Mein lieber Poet, mein wilder Gott Apoll, mein guter Junge! (Johann Christian hebt den Kopf trotzig) Oho, der Stolz! Sss, sss, sei lieb und duck dich! (Johann Christian lächelt und legt den Kopf wieder auf das Bett) Hast du mir gesagt, daß ich dich lehren darf, dann mußt du hübsch klein sein. Das mag ich gerne, siehst du, daß einer brav in meiner Schule ist, der draußen recht wild und trotzig tut. (Pause) Da liegt er still und rührt sich nicht . . . . Wie wunderlich das alles ist . . . . Will einer Poeten lehren, lernt er selber das Träumen. (Sie legt die Hände auf Johann Christians Kopf) Mir scheint, dir ist es gar nicht sonderbar und bist es gewöhnt zu träumen (streichelt ihm das Haar) Die Bank im Hofe hast du wohl längst vergessen? (Johann Christian hebt den Kopf und wirft ihn zurück.) O, o, eia popei, wer wird gleich böse sein? Laß nur, laß, ich weiß, wer du bist. Poeten sind große Herren. Aber weißt du es auch, daß große Herren Pflichten haben, die wie Dienste aussehen? Und nun paß auf: jetzt geht meine Schule an. Meinst du nicht, daß es auch Dichtern anständig ist, zu dienen?

Johann Christian Der Schönheit, der Liebe!

Antonie Und auch einer anderen großen Dame, Poet: der Sitte! Du hast es wohl einmal gewußt, wer das ist, aber du bist zu viel mit wilden Katzen umgegangen, die sie nicht kennen. Darum muß ich sie dir vorstellen. Sie ist eine Edelfrau, und ihr Amt ist die Ruhe und Schönheit des geordneten Lebens. Geboren ist niemand aus ihr, aber es muß von ihr erzogen und geleitet werden, wer unter Menschen heiter leben will. – Was du dagegen Natur nennst, – glaubst du, daß irgend wer es unter Menschen wild vertragen kann? Natur ist Bosheit, und kommt sie unter Menschen, so muß sie lügen, damit sie nicht ausgetrieben wird. – Vielleicht gibt es Männer, die sich eine Wilde zähmen können. Du, mein guter Apoll, bist aber wohl kein guter Tierbändiger. Tierbändiger dürfen nicht träumen, und wenn sie sich gar in ihre Bestien verlieben, müssen sie die Peitsche erst recht gebrauchen. Wer das nicht kann, sollte sich nur mit Menschen abgeben, die schon zahm sind.

Johann Christian Mit Haustieren.

Antonie Ich sagte Menschen. – Aber weißt du auch was ein Mensch ist, werter Dichter? Ihr macht Euch immer bloß Bilder davon nach Eurer Laune und Sehnsucht, und wenn euch etwas wildes in den Weg läuft, das ein bißchen so aussieht, wie Eure Bilder, dann glaubt ihr, Eure Launen seien Menschen geworden. Ach, Poet, ist das ein Irrtum! Schöne Bestien sind keine Menschen. Mag es immer auch gut sein, wenn sie von der wilden Natur etwas übrig behalten haben, so müssen sie doch, wollen sie Menschen sein, jener edlen Dame folgen, die ich dir eben vorgestellt habe.

Johann Christian Spricht sie so lind und süß, wie Ihr, so folgt ihr jeder.

Antonie Nein, Poet, die wilden Katzen folgen nicht. Die folgen nur sich selber und dem, das ist, wie sie. Du hast es erfahren.

Johann Christian Es ist wohl so.

Antonie Ja: es ist! (Mit einem Ton von Haß) Und die Poeten schwärmen, wie schön sie sei, diese Natur ohne Stolz und Scham, die sich wegwirft und aus ihrer Gemeinheit einen frechen Reiz macht. Stolz und Scham, das lerne mein Poet, kommt von der Sitte, und die Kraft, sich immer hochzuhalten, so hoch, wie die Gesetze, die man sich selbst gegeben hat, als Auszeichnung vor dem Gemeinen. (Sie hat die letzten Worte fast streng gesprochen. Nach einer kleinen Pause wieder leichthin) Gut frisierte Haare, reine Hände und höfliche Manieren gehören auch dazu.

Johann Christian (hebt den Kopf, sieht Antonie wie zustimmend an, dann plötzlich wieder trotzig) Und ein Kammerdiener!

Antonie Wohl dem, der einen hat, und wer keinen hat, soll sehen, daß er einen bekomme. Auf alle Fälle ist es ein Widersinn, sich aus Begeisterung für die Kunst nicht die Nägel zu putzen und aus Schwärmerei für die Natur eine Frau zu nehmen, die schlechte Wäsche trägt. – Apollo, mir scheint, Stella war eine Natur, die sich selten frisierte. Hab ich recht, Poet?

Johann Christian Ihr scherzt, Komtesse, und wißt nicht, wie weh Ihr mir damit tut.

Antonie Ich spreche ernst von Dingen, über die Ihr hinweggesehen habt, vermutlich aus Liebe, denn Ihr habt ja das Wort erfunden, Ihr Poeten, daß Liebe blind sei.

Johann Christian Nicht immer.

Antonie Und doch machen die Dichter solche Sprichwörter – Gott verzeih es ihnen. Sie sagen so manches in ihren Krankheiten, die sie Verzückung nennen. Ich meine, Liebe hat immer die Augen auf und freut sich am Schönen, denn das ist ja die Liebe. Aber freilich, Poet, ich denke an Menschen . . . .

Johann Christian Mit Sitte.

Antonie Ja, die in Allem das Schöne haben wollen, und die auch die Natur schöner machen.

Johann Christian Durch Sitte.

Antonie Bravo, Apollo, Ihr seid ein gelehriger Gott. Wer weiß, was aus Euch noch zu machen wäre.

Johann Christian (aufstehend und ihre Hände fassend) Was Ihr wollt (sinkt auf die Knie, küßt heftig ihre Hand) Was du willst, was du willst. Mit einem male sehe ich klar, ja, ja und ja: Ich selber bin im Zwinger ein Tier geworden, ich wußte nicht zu zähmen und wurde selber wild und böse. O, daß ich es nicht selber fühlte, daß ich erst . . . (überströmend) Komtesse, Komtesse, macht mich wieder zu einem Menschen!

Antonie (entzieht ihm ihre Hand und streicht ihm über das Haar) Die Haare müssen etwas gestutzt werden.

Johann Christian Spottet nicht, Komtesse, spottet nicht; mir ist so ernst und bewegt zu Mute, ich . . . Komtesse: Laßt mich bei Euch bleiben! (Steht auf und bleibt mit offenen Armen und bewegter Brust vor ihr stehen) Ich kann nur hier, ich kann nur bei Euch frei werden von alledem und ein aufrechter Mensch sein. Ich . . . O . . . mir schwindelt vor Glück, ich sehe wieder, ich fühle wieder Licht in meinen Augen und weiß, was Schönheit heißt. Komtesse . . . Ich . . . (geht mit erhobenen Armen auf sie zu)

Antonie (abwehrend) Ist das Sitte? O, o, und in diesen Kleidern wollt Ihr hier bleiben und mit diesen Manieren? Hélas, Mann aus dem Zwinger, nicht gar so wild!

Johann Christian (beschämt die Arme fallen lassend) Komtesse . . .

Antonie Nu, nu, nicht traurig sein. Jetzt ist die Schule vorbei, und nun beginnen wir die Zähmung. Und dann, . . . vielleicht, . . . (alles dies fast kokett) . . . enfin, Herr Dichter: Ich könnte noch einen Kammerdiener brauchen.

Johann Christian (mit trotziger Aufwallung, aufstampfend) Ah! (Wendet sich zum Gehen)

Antonie So wißt Ihr also nicht, was spielen heißt?

Johann Christian Ich lasse nicht mit mir spielen.

Antonie Und mit mir spielen wollt Ihr auch nicht? (Sieht ihn lächelnd an)

Johann Christian (den Blick verstehend) Ah! (stürzt auf sie zu, sinkt in die Kniee, küßt ihr stürmisch die Hand) Alles, was Ihr wollt.

Antonie (hebt seinen Kopf) Wie heißt du?

Johann Christian Johann Christian.

Antonie Wir wollen es mit dem Johann genug sein lassen – für die andern. Und nun an die Arbeit! (Deutet mit dem Finger befehlend nach der Tür. Johann Christian sieht sie verständnislos an)

Antonie Distance! (Johann Christian steht auf und entfernt sich, rückwärts gehend, wobei er das Bestreben hervortreten läßt, sich nach Art eines Dieners zu bewegen)

Antonie (verfolgt lächelnd seine Bemühungen) Assez! Und nun (Kußhand) fein klug sein! – Sonnez! (Johann Christian ergreift das Klingelband und läutet. Christoph erscheint)

Antonie Ich lasse die Herrschaften bitten.

(Der alte Graf, die alte Gräfin, Graf Franz Friedrich und Dr. Wurmbrand erscheinen, indem jeder von ihnen auf Johann Christian sieht, der, immer noch das Klingelband in der Hand, an der Türe steht)

Antonie Ihr seht, der wilde Gott ist zahm. Man soll ihm die rotsammtne Livrée geben. Ich habe ihn als Kammerdiener engagiert.

Alle (gleichzeitig durcheinander, erstarrend, entsetzt) Um Gottes willen!

Antonie Glaubt Ihr nicht, daß er sich im roten Sammt sehr gut ausnehmen wird? Aber so redet doch! Es scheint, ihr gönnt mir den Dichter nicht. Oder meint ihr, er werde mir Alexandriner servieren statt Kaffee? – So laßt doch endlich eure starren Mienen auftauen und lacht, lacht, lacht, denn seht, ein Sünder ist zu Kreuze gekrochen; mehr noch: ein Dichter; und was erst ganz abscheulich war, ist zum Pläsier geworden. (Alle noch immer starr, zeigen das äußerste Erstaunen)

Antonie Auch Franz Friedrich eilt mir nicht zu Hilfe?

Graf Franz Friedrich (der mit gezücktem Degen hereingetreten ist, tritt einen Schritt vor, hebt den Degen mit dem Ausdrucke der äußersten Ungewißheit, schiebt ihn dann in die Scheide, schüttelt langsam den Kopf, geht auf Antonie zu und spricht, indem er eine Verbeugung macht und ihr die Hand küßt) Die Launen meiner Teuersten sind mir selbst dann Befehle, wenn ich sie nicht verstehe.

Antonie So feierlich nehmt ihr meine Späße auf?

Graf Franz Friedrich (erst verständnislos) Späße? (dann plötzlich sich an die Stirn schlagend und lachend) In der Tat! Hahaha! (Er wendet sich zu den Übrigen, die immer noch betroffen und widerwillig bald Antonie, bald Johann Christian betrachten, mit dem Ausdrucke heiteren Verständnisses)

Antonie (läßt sich zurücksinken, wohlig) Ah! in meinem Leben noch habe ich mir keine solche Mühe um etwas gegeben.

(Vorhang.)

 


 


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