Th. Berthold
Lustige Gymnasialgeschichten
Th. Berthold

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Des armen Friedel Nikolaustag

In der mit Geld und Gut und vier frischen, rotbäckigen Jungen gesegneten Familie des Arztes Tollenius zu Rheinstadt befand sich ein großes Schaukelpferd, ein kohlpechrabenschwarzer Rappe mit blutroten Nüstern, scharlachroter Satteldecke und kanariengelbem Zaumzeug. Der prächtige Gaul schien noch funkelnagelneu zu sein, – und doch hatte er schon eine lange Geschichte auf dem Buckel.

Der Rappe war ursprünglich ein Schimmel gewesen und als solcher hatte er die vier Gebrüder Tollenius, als sie noch ganz klein waren, an einem Weihnachtsfeste beglückt. Es entstand unter dem vierblätterigen Kleeblatte damals sogleich ein Streit, wer zuerst das prachtvoll milchweiße Tier mit roten Nasenlöchern, einem Schweife von echten Pferdehaaren und einem schwarzglanzledernen Zaum (der, eigentlich recht grausam, mit blanken Messingstiften direkt an und in den Kopf genagelt war) besteigen sollte; der Papa entschied sich für den ältesten, Fritz Tollenius, während die Mama jenes Recht dem jüngsten, Rolf, gesichert wissen wollte. Bei dieser Sachlage stimmten Karl und Hans, die beiden mittleren Jungen, ob ihrer Zurücksetzung ein fürchterliches Geheul an, das durchaus nicht zur Weihe des heiligen Abends paßte. Glücklicherweise hatte, wie die alte treue Hausmagd Rosa entdeckte, der Schimmel einen so langen Rücken, daß alle vier Prätendenten zugleich darauf Platz nehmen konnten, was den Vater zu einer heitern Anspielung auf die »vier Haimonskinder« veranlaßte. Hierdurch wurde der Streit geschlichtet, die Feindschaft vermieden, der heilige Abend gerettet. Nachdem also alle vier »zuerst« auf dem Schimmel gesessen, lernten sie in der Folge sich schon besser um das neue Besitztum vertragen. Den ganzen Winter hindurch wurde in der Kinderstube die Reiterei geübt, daß die Fensterscheiben klirrten und der Kalk in der Küche des unteren Stockwerks von der Decke fiel. Zwischendurch fütterte der kleine Rolf den lieben »Himmel« (wie er das Wort »Schimmel« aussprach) mit Kuchen, und Fritz flocht den Schweif des Tieres in schöne Flechten, Karl und Hans aber bildeten aus zusammengerückten Stühlen, deren Lehnen sie mit einem alten Teppich überdeckten, einen Stall, in welchen der Schimmel geschleppt wurde, um ein paar Minuten später wieder herausgezerrt zu werden und einen Ritt über Walnußschalen zu machen, was gar wundervoll krachte und splitterte.

Den ganzen Winter hielt, wie gesagt, das Vergnügen vor, auch noch einige Märztage, bis der helle Frühlingssonnenschein die vier Jungen auf die Straße lockte, wo die andern Jungen aus der Nachbarschaft sich bereits mit Kreisel- und Reifenspiel ergötzten. Dies war der Zeitpunkt, wo Frau Tollenius den Gaul, der inzwischen Schweif und Zaumzeug eingebüßt hatte, mit Hilfe der Hausmagd auf den Söller schleppte, woselbst er unter einer alten grauen Reisedecke wie das verschleierte Bild von Sais verborgen stand. Die Brüder Tollenius vermißten über dem Kreisel- und Reifenspiel, in das sie sofort mit ganzer Seele eintraten, und über dem Herumtollieren in den Baumgängen der Stadt den Schimmel nicht und erkundigten sich nicht mal – Undank ist bekanntlich der Welt Lohn – mit einem einzigen Worte nach dem Verbleib ihres hölzernen Spielkameraden. Der Schimmel hatte seine Schuldigkeit getan, der Schimmel konnte gehen.

Aber der Frühling verblühte; der Sommer mit seinen Schmetterlingsjagden und Kirsch- und Stachelbeerernten erschien und ging vorüber; der Herbst schüttete seine Pflaumen, Birnen und Aepfel über die Knaben aus und wirbelte ihnen dann, wie zum Hohne, die dürren Blätter um die Nase; der Winter brachte köstliche Schneeballschlachten, Schlittenfahrten und Schlittschuhläufe, gebärdete sich dann aber so grimmig und protzig, daß die Leute, die großen wie die kleinen, es vorzogen, zu Hause zu bleiben und des alten Claudius Winterlied »hinterm Ofen« zu singen.

Anders lautete freilich das Lied, das die vier Gebrüder Tollenius in diesen Tagen sangen, »Wir haben nichts zu tun! Wir haben nichts zu spielen! Wir haben Langeweile! Wir wissen nicht, was wir anfangen sollen!« so jammerten und stöhnten sie durcheinander. – »Wartet bis Weihnachten!« tröstete die Mama. – »Bis dahin ist es noch so lange!« zankten die vier. – »Geduld und Schmalzbrot stärkt die Rippen,« lautete der Bescheid der Mutter. – Endlich erschien das schöne, hehre, heißersehnte Weihnachtsfest – und brachte den vier Gebrüdern Tollenius ein Schaukelpferd, diesmal einen prächtigen Goldfuchs mit grasgrüner Schabracke, rotem Zaumzeug und gelbem Schweife, »Ah, der ist noch viel schöner, als der alte Schimmel!« jubelte das vierblätterige Kleeblatt und erneuerte sofort den Zwist, wer zuerst auf dem Gaule sitzen sollte. Der Zwist wurde genau in der Weise, wie im vorigen Jahre geschlichtet – und die alten Spiele der vier mit dem Schaukelpferde begannen aufs neue, hielten viele Wochen an, bis, ja bis der helle Frühlingssonnenschein die Brüder Tollenius auf die Gasse, zu den Nachbarskindern und zu Reif- und Kreiselspielen lockte, denn diese Spiele eröffnen von alters her die »Frühjahrssaison«. Der Goldfuchs, welcher selbstverständlich unter seiner goldenen Haut das weiße Fell des Schimmels barg, – der Anstreicher Jodokus Papendiek hatte seine Sache famos gemacht! – ward schnell den Blicken seiner bisherigen Freunde entzogen und wieder auf den Söller verbannt, wo er mit Ratten und Mäusen Zwiesprach halten konnte über den flatterhaften Sinn der Kinder.

Frühling, Sommer, Herbst, sie reihten sich aneinander, wie in jedem Jahre. Es kam der Winter – und wieder strahlte der lichterhelle Weihnachtsbaum durch das abendliche Dunkel. Diesmal fanden die vier Brüder Tollenius unter dem Baume einen herrlichen Braunen mit goldgelber Satteldecke und grünem Lederzeug. Mit einem Ausruf des Entzückens wurde das neue Schaukelpferd begrüßt: »Ah, der Braune ist noch schöner, als der alte Fuchs vom vorigen Jahre!« Diesmal erneuerte der Streit um das Vorrecht, wer den neuen Gaul zuerst besteigen solle, sich nicht, da Fritz und Karl, die beiden ältesten der vier Tollenius, der Sache schon ein wenig kühler gegenüber standen als früher. Doch erneuerten in der Folgezeit auch sie, in Gesellschaft der beiden jüngsten, ihre Reiterkünste und setzten dieselben fort, bis das Schaukelpferd mit Frühlingsanfang wieder auf den Söller wanderte. Dort harrte es den Sommer, den Herbst und Wintersanfang hindurch geduldig des heiligen Abends, Und als derselbe endlich mit Engelschwingen sich auf die Welt – und folglich auch auf Rheinstadt hernieder gesenkt hatte, paradierte der Gaul zum viertenmal unter dem Weihnachtsbaum, diesmal als kohlpechrabenschwarzer Rappe mit blutroten Nüstern, scharlachroter Satteldecke und kanariengelbem Lederzeug. Doktor Tollenius und Frau hatten sich einen ungeheueren Effekt von diesem Prachtpferde versprochen. Aber seltsamerweise verhielten die vier Jungen sich kühl, äußerst kühl, als ihnen der Rappe feierlich vorgestellt und zum Eigentum überwiesen wurde. Sie gingen drei- bis viermal im Kreise um denselben herum, mit prüfenden Blicken, worauf Fritz, der älteste, plötzlich in die Worte losplatzte: »Jungens, das ist der alte Braune vom vorigen Jahre, den Papa und Mama haben anstreichen lassen; und der Braune war der Goldfuchs vom heiligen Abend vor zwei Jahren, und der Goldfuchs war der Schimmel von damals – – immer dasselbe Pferd, das jede Weihnachten nur anders angestrichen wurde!« Mit dieser schnöden Entdeckung und Eröffnung war der Zauber gebrochen, den bis dahin – per tot discrimina rerum! – das Schaukelpferd ausgeübt hatte. Nicht mal der kleine Rolf, der jüngste der vier, wollte sich für den Rappen erwärmen; er wandte sich einem Guckkasten zu, der ebenfalls unter dem Weihnachtsbaum stand und sein Eigentum sein sollte. Da sahen die Eltern ein, daß es mit dem Schaukelpferde für immer vorbei sei, daß kein neuer Anstrich mehr helfen konnte, daß die Jungen vom Baume der Erkenntnis gegessen hatten – und sie verbannten den Rappen, da sich die Jungens gar nicht mehr um ihn kümmerten, schon nach wenig Tagen auf den Söller, wo die Spinnen ihn einspannen und der Staub ihn bepuderte. Wenn man das Spinnengewebe und den Staub entfernte, so konnte das Schaukelpferd für funkelnagelneu gelten – und es hatte doch schon eine so lange Geschichte auf dem Buckel,

Neujahr, Frühling, Sommer, Herbst, sie kamen und gingen. Bisweilen verstiegen sich die Brüder Tollenius auf den Söller, um dort neugierig zwischen dem alten, ausgemusterten Hausrat herumzukramen oder irgend einen Gegenstand zu suchen, dessen sie bei ihren Spielen und Beschäftigungen bedurften; dann geschah es wohl, daß sie ihre Aufmerksamkeit für ein Weilchen dem alten, treuen Schaukelpferde zuwandten, das mit seiner vierfachen Haut verlassen in einem Winkel stand und nur die langweilige Gesellschaft eines dreibeinigen, wurmstichigen Stuhles und eines sehr ledernen, wettergebräunten Koffers genoß, abgerechnet den wenig erquicklichen Besuch, den zuweilen ein alter, schwarzer, mürrischer Kater mit unheimlich funkelnden grünen Augen abstattete. Das beste an Unterhaltung war noch der freundliche Sonnenstrahl, der sich ab und zu durch eine Lücke in den Dachpfannen stahl und Millionen farbiger Stäubchen in seinem goldenen Glanze tanzen ließ. Wenn die vier Brüder das alte Spielzeug, das ihnen so manchen Winter verschönt, erblickten, dann sagte wohl der eine oder andre: »Schade, daß das Pferdchen hier so unbenutzt verkommen muß! Schade, daß wir niemand wissen, dem wir den Rappen schenken könnten! Papa und Mama würden wohl schwerlich etwas dagegen haben.« Und nachdem die vier den Söller wieder verlassen hatten, sagten sie wohl am Familientische: »Schade, daß unser altes Schaukelpferd dort oben sein Dasein so einsam vertrauert! Wir schenkten es gerne fort, damit auch ein andrer seine Freude daran hätte, aber wir wissen keinen.« Mama oder Papa Tollenius pflegte dann zu antworten: »Wir haben nichts dagegen, wenn ihr einem andern Jungen eine Freude mit dem Gaule machen wollt; am liebsten wäre es uns freilich, wenn ihr den Rappen einem armen, ganz armen Jungen gäbet, der sonst kein andres Spielzeug besitzt. Hier würde die Freude am größten sein.« – »Aber wo finden wir einen solchen Jungen?« fragten die Brüder. – »Wer sucht, der wird finden!« antwortete der Vater mit Nachdruck.

 

Nach dem Blätterfall und Regensturm des Spätherbstes war der Winter über die Welt gekommen. Im weißen Kleide standen Feld und Wald. Die Torpfeiler, Erker und Giebel hatten schneeweiße Schlafmützen aufgesetzt, und selbst jeder Zaunpfahl trug sein Käppchen von Schnee. Vom freien Felde her waren Spatzen, Haubenlerchen und Goldammern hungrig in die Straßen der Stadt geflüchtet, um hier ein Bröselein zu ergattern; sie fanden wohl ein solches, – fanden aber auch Verfolgung und Schlingen von seiten der Jungen, die namentlich auf die Goldammern erpicht waren, da sie diese für »deutsche Kanarienvögel« hielten.

Am Abend vor St. Nikolaus war es. Schneidend pfiff der Dezemberwind durch die Straßen des Städtchens, und wo sein eisiger Atem ein offenes Wässerchen, z. B. einen Tümpel am Brunnen oder im Rinnstein berührte, da schossen alsbald die Eiskrystalle herüber und hinüber, und eh' man's gedacht, war eine völlige Eiskruste gebildet; wo aber der eisige Atem auf eine menschliche Nase oder ein Paar Ohren stieß, da war der scharfe Zahn des Winterkönigs im Nu hinterdrein, und schnappte zu, und biß hinein, und hatte nicht übel Lust, so Nase als Ohren gänzlich abzuzwicken, weshalb die Besitzer dieser ebenso zweckmäßigen als netten Gliedmaßen sich schleunigst in die Häuser und hinter den warmen Ofen flüchteten, wo bekanntlich der Winterkönig im Handumdrehen schachmatt gesetzt wird.

In einem windschiefen, erbärmlichen Häuschen am äußersten Ende der Stadt saßen in einer schlecht geheizten, dürftig erleuchteten Stube, die zugleich als Wohnung und Schlafraum und höchst wahrscheinlich auch als Küche diente, an einem reingescheuerten Tische zwei Taglöhnerleute, Mann und Frau, sich gegenüber. In der Mitte des Tisches stand eine irdene Schüssel mit Pellkartoffeln, daneben ein gläsernes Salzfaß mit Inhalt; je ein Messer und eine Gabel lagen vor dem Manne und der Frau; sonst befand sich nichts auf dem Tische, wie die Flamme der blechernen Oellampe deutlich erkennen ließ, die an einem Mauervorsprung zwischen den beiden Leuten hing. Der Schimmer der Leuchte ließ auch erkennen, daß die Stube zwar äußerst ärmlich eingerichtet, aber höchst sauber gehalten war. Im Hintergrunde schien ein geräumiges Bett zu stehen, aber das Licht der Lampe reichte nicht mehr hin, die Umrisse jenes Möbels deutlich aus dem Halbdunkel hervortreten zu lassen.

Der Mann am Tische nahm seine Kappe ab, faltete die Hände, legte dieselben gegen die Stirn, wobei er die Ellbogen leicht auf den Tisch stemmte, und sprach ein leises Gebet; die Frau faltete gleichfalls die Hände, legte dieselben aber in den Schoß, wobei sich der Rücken krümmte, so daß die ganze Gestalt nun etwas Müdes, Abgearbeitetes, Kümmerliches erhielt. Zwischen beiden Betenden stiegen bei tiefster Stille die Dampfwirbel aus der Schüssel auf, wälzten sich gegen die Stubendecke und verschwammen hier in der Dämmerung. Nachdem der Mann sein Gebet geendigt, bedeckte er sein Haupt wieder mit der Kappe, aber erst, nachdem seine Frau die Hände gelöst und sich gerade auf ihrem alten Bretterstuhle aufgerichtet hatte, langte er mit der Linken in die Schüssel, um sofort mit der Rechten, die das halbverschliffene Messer hielt, die Kartoffel abzupellen.

»Herrliche Kartoffeln haben wir dieses Jahr, Marie!« sagte der Mann zufrieden.

»Ja, der liebe Gott hat uns recht gesegnet,« erwiderte die Frau.

»Das mein' ich auch,« sagte der Mann; »aber du hast es auch nicht an Arbeit fehlen lassen, an Schweiß und Mühe auf dem gepachteten Land, während ich als Maurer bei dem Bau der großen Spinnerei tätig war.«

»Wobei du dich so sehr geplagt hast, und doch –«

»Und doch,« fiel der Arbeiter seiner Frau in die Rede, »und doch für uns nicht so viel herauskam, daß wir uns leidlich durch den Winter schleppen könnten.«

»Wir wollen nicht murren,« erwiderte die Frau ergebungsvoll; »Gott wird weiter helfen. Zu essen haben wir noch, wenigstens vorläufig. Sieh nur, wie weiß und mehlig die Kartoffeln sind! Wir haben noch den einen Kasten voll.«

»Ich wollte auch nicht murren,« entgegnete der Mann, »wenn wir nur unsrem Jungen, dem kleinen Friedel, zu Nikolaus etwas schenken könnten. Aber so gar nichts haben – das Herz blutet mir bei dem Gedanken.«

»Und doch muß der arme Junge diesmal leer ausgehen!« erwiderte trüben Tones die Frau; »wir bedürfen unsrer letzten Groschen für Brot, für Kohlen, für Oel; dazu ist am 1. Januar die Miete fällig –«

Ein schwerer Seufzer entfuhr bei diesem Gedanken dem Munde der Armen.

Der Mann erhob sich von seinem Stuhle, nahm das Oellicht vom Nagel und schritt behutsam und möglichst leise auf den Fußspitzen zu dem geräumigen Bette, das im Hintergrund der Stube stand, und dessen saubere, wenn auch vielfach geflickten Pfühle jetzt deutlicher aus der Dämmerung hervortraten. Mit der Linken hob der Mann einen kleinen Blechschirm, welcher das Flämmchen der Lampe beschattete, empor, so daß der Lichtstrom jetzt ungehindert und voll auf das blau und weiß karrierte Kopfkissen fiel. Da ruhte nun ein hübscher, runder, rosiger Kinderkopf – ein mit kurzen blonden Haarringeln und rosigen Muschelöhrchen gezierter Knabenkopf – die Wangen rosig, flaumig wie Pfirsiche und beschattet von auffallend langen blonden Wimpern, der Mund voll und rund wie eine reife Knappkirsche. Der Knabe mochte fünf bis sechs Jahre zählen. In ruhigen Atemzügen hob und senkte sich die junge Brust.

»Das liebe Schäfchen, der gute Junge, der herzallerliebste Friedel, mein Friedel!« flüsterte der Vater vor sich hin; »da liegt und träumt er vielleicht vom heiligen Nikolaus, der ihm ein paar dicke, rotbackige Aepfel in die Hände steckt – und morgen früh ist's nichts damit – – leere Hände, leerer Tisch, leere Schüsseln! Ach, Friedel, das Herz blutet deinem Vater bei dem Gedanken – aber was ist da zu machen? Wo nichts ist, da hat selbst der Kaiser sein Recht verloren.« Der Mann ließ den Blechschirm wieder über die Lampe fallen und brachte diese an ihren Platz zurück. Dann zog er eine weiße Tonpfeife aus der Tasche, setzte den Rest des Tabaks, der sich noch in derselben befand, in Brand und schritt, leichte Wölkchen vor sich blasend, nachdenklich in der Stube auf und ab, während die Frau den Tisch abräumte und die Schüssel spülte.

»Frau,« sagte plötzlich der Mann in ganz verändertem, freudigem Tone, »ich hab's! Ich weiß jetzt, wie ich unsrem kleinen Friedel eine Nikolausfreude mache, ohne einen Pfennig dafür auszulegen,«

»Wie wolltest du das anfangen, Heinrich?« fragte die Frau ein wenig ungläubig, ein wenig lächelnd, und doch auch ein wenig kummervoll.

»Höre!« erwiderte der Mann in um so zuversichtlicherem Tone; »es friert diese Nacht, daß Stein und Bein zerbricht; als ich dir vorhin einen Eimer Wasser vom Straßenbrunnen holte, platschte mir ein Guß über den Rand des vollen Eimers auf die Straße – ich sah, daß der Guß sofort zu blankem Eis gefror. Nun tut unser Friedel nichts lieber, als auf seinen Holzschuhen über die glatten Schlinderbahnen gleiten, das ist seine Lust, seine Wonne, sein bestes Pläsier, wobei er vor Ausgelassenheit zu krähen pflegt wie 'n junger Hahn. Da hab' ich mir nun gedacht, – und ich führ' es auch aus, sogleich – ich mache unsrem Jungen eine Schlinderbahn hier dicht vorm Hause. Ein paar Eimer Wasser langsam hintereinander durch den Rinnstein gegossen und dabei der köstliche, himmlische Frost – Herrje, das muß eine Schlinderbahn geben, wie sie kein Prinz besser befährt!«

Und damit warf der Mann seine Kappe vor Pläsier gegen die Stubendecke und rief so laut »Juchhe!« daß der kleine Friedel, den die ganze Sache anging, sich in seinem Bette rührte.

»Still, still!« mahnte die Frau ihren Mann, »daß der Junge nicht aufwacht. Gut geschlafen ist halb gefüttert. Was du doch für Ideen hast, Mann! Aber ich glaube wirklich, der kleine Friedel wird sich über seine Schlinderbahn freuen – namentlich, wenn die andern Kinder hinzukommen und ebenfalls schlindern wollen, denn unser Friedel hat ein gutes Herz.«

Als der Vater sich überzeugt hatte, daß sein Söhnchen ruhig weiter schlief, nahm er den Wassereimer von der Bank und trat damit auf die Straße. In dem einen Augenblick, wo die Haustür (die zugleich als Stubentür diente) aufging, fuhr ein eisiger Luftstrom durch die Stube – ja, es war eine Nacht, daß Stein und Bein vor Frost zerbrechen mußten!

Der Mann mit dem Eimer führte seine Absicht aus und leitete einige volle Güsse durch den Rinnstein vor der Haustür. Als er sah, daß ein Teil des Wassers schneller als wünschenswert abfloß, machte er etwa zwanzig Schritte den Rinnstein hinunter einen kleinen Querdamm von Schnee; nun staute sich das Wasser und bildete eine breite, glatte, ruhige Fläche. »Ein Viertelstündchen nur dieser messerscharfe Frost darüber,« murmelte der Mann zufrieden vor sich hin, »und eine Schlinderbahn ist fertig, so schön, daß man sie auf die Weltausstellung nach Paris hinschicken könnte!«

Der Mann wartete indes das Viertelstündchen nicht ab; er begab sich, weil der Frost doch gar zu grimmig biß, zurück in seine Hütte, wo das Erlöschen des Lämpchens ein paar Augenblicke später andeutete, daß die Eltern des armen Friedel ihr Lager aufgesucht hatten.

 

Nach einer stillen, starren Frostnacht brach der Nikolausmorgen an – mit rosigem Lichte. Ueberall blinkte Eis und Schnee. Der Rauch der Schornsteine stieg kerzengerade in die ruhige Luft, und mit Entzücken hing das Auge der früh zur Kirche Wandelnden an den ruhig da oben schwebenden Purpurwölkchen des Morgenhimmels.

Ein Himmel lebte auch in den Herzen der Kinder, welche jetzt von liebender Elternhand aus ihren Betten gehoben, schnell bekleidet und an den Tisch getragen oder geführt wurden, auf welchen der gute, kinderfreundliche, heilige Nikolaus zur Nachtzeit, als alles im Hause schlief, seine herrlichen Gaben ausgebreitet hatte: Aepfel, Nüsse, Kuchentiere, Kuchenreiter, wärmende Pelzmützen und Wollsachen, Handschuhe, Jäckchen, Höschen, Kleider und Spielsachen, ach, so mannigfaltig, so wunderschön! Gleich mußten die Perlzähne in ein Stück Kuchen geschlagen werden. Ei, wie das schmeckte, so ganz anders wie vom Bäcker.

Als der kleine Friedel die langen blonden Wimpern aufschlug, fielen seine blauen Augensterne zwar nicht auf einen Tisch mit Aepfeln, Kuchen, Spielsachen und Kleidungsstücken – aber sie blickten in die freundlichen Augen von Vater und Mutter. »Bist du wach, mein Junge?« sagte der Vater zärtlich und hob den kleinen Hemdenmann aus dem warmen Nest, während die Mutter mit einem zärtlichen: »Guten Morgen, Friedel!« die armseligen Kleidungsstücke vom Stuhle nahm und selbe dem Vater hinreichte. Dieser nahm seinen Herzensjungen auf den Schoß und steckte ihn unter allerlei zärtlichen Plaudereien in die geflickte Hose, in die abgeschabte Jacke, worauf die Mutter mit einer Waschschale und einem nassen Schwamm herbeikam. Friedel weinte nicht mehr beim Waschen mit kaltem Wasser, nein! Dazu war er zu groß, und dann liebte er auch selbst ein blankes Gesicht – und vor allem eine saubere Nase. »Hat denn der Nikolaus mir auch was gebracht?« stammelte Friedel, während der nasse Schwamm ihm die Nase nach Norden und Süden, nach Westen und Osten herumfegte. – »Gewiß, mein Junge!« versicherte der Vater; »aber es ist nicht hier in der Stube, dein Geschenk, sondern draußen vor der Tür!« – »Vor der Türe?« wiederholte Friedel mit großen fragenden Augen und betrachtete die alte, schief in den Angeln hängende Tür so verklärt, als sei sie eine Himmelspforte.

Nachdem Friedel angekleidet, gewaschen und gekämmt war, auch seine kleinen Holzschuhe anbekommen hatte, band ihm seine Mutter, weil er nun ungeduldig nach der Türe drängte, in Ermangelung einer Kappe ein rotbaumwollenes Taschentuch um die Ohren. »Halt, auch ein Paar Fausthandschuhe sollst du haben!« rief die Gute und zog ein Paar alter, gestopfter Kinderstrümpfe über die Hände des Kleinen. So ausgerüstet wurde Friedel von der Hand des Vaters vor die Haustür geleitet.

»Sieh, mein Junge, das ist deine Schlinderbahn!« sagte der Vater, auf die Eisbahn deutend, die sich schön blank und breit und glatt vor der ganzen Länge des Hauses hinzog; »die hat der heilige Nikolaus extra für dich in der Nacht gemacht! Dir ganz allein gehört sie zu, – du wirst als guter Junge aber auch die andern Kinder darauf schlindern lassen.«

Friedel patschte vor Freude die mit den sonderbaren Fausthandschuhen bewehrten Händchen gegeneinander und sagte: »O, o, o!« wobei er sich halbwegs vornüber neigte, und den kleinen leeren Leib, der noch kein Frühstück empfangen, nach innen zog.

»So, nun zeig Vater mal, ob du schlindern kannst!« sagte die Mutter, die aus der Türe blickte.

Ja, das konnte Friedel – ganz meisterhaft. Am oberen Ende der Eisbahn nahm er einen Anlauf und schoß dann schnell wie ein Pfeil auf der glatten Fläche dahin, den Kopf und Rücken in straffer Haltung, und beide Arme seitwärts ausgestreckt, um mit diesen das Gleichgewicht herzustellen. Huh, wie das ging! Jenseits angelangt, purzelte er bisweilen in den Schnee, aber das tat nicht weh, denn der Schnee war tief und weich wie Lämmerwolle.

Nachdem Friedel etwa ein Viertelstündchen seine Lust an dem herrlichen Geschenke des heiligen Nikolaus gehabt hatte, mahnten ihn die Eltern: »So, Friedel, nun komm hübsch ins Haus, ins warme Stübchen, und trink deinen Kaffee; nachher magst du dann wieder nach Herzenslust schlindern.«

Willig folgte Friedel dieser Mahnung, und eine Minute später saß die kleine Familie zufrieden um den Kaffeetisch herum, der in diesem Falle eigentlich ein Cichorientisch heißen mußte, denn das ganze Frühstück der armen Leute bestand aus heißem, braunen Cichorienwasser – nebst trockenem Schwarzbrot. Aber sie waren zufrieden mit der kärglichen Labung, zufrieden auch in der Liebe zu einander und in dem gläubigen Vertrauen auf Gott, der schon zur rechten Stunde helfen würde, wie er es so oft getan.

Nach dem Frühstück ging der Vater in die Stadt, um Arbeit zu suchen, die Mutter setzte die Kartoffelsuppe aufs Feuer, und Friedel belustigte sich von neuem auf seiner Eisbahn, die ihm der heilige Nikolaus bescherte. Er wurde nicht müde, dieses Wunder seinen kleinen Freunden und Freundinnen von der Gasse zu erzählen, die sich allmählich an der Schlinderbahn sammelten und von Friedel großmütig zur Benutzung derselben zugelassen wurden. Bald hallte diese Gasse wieder von munterem Geschrei und Gelächter.

Da kam des Weges ein hübscher Knabe von sechs bis sieben Jahren – feiner Leute Kind, wie sein braunes Sammetröckchen, seine blanken Stulpstiefeln, seine graue Pelzmütze und seine dito Fausthandschuhe verrieten. Lebhaft und freundlich zugleich blickten seine braunen Augen in die Welt, und auf den runden Wangen leuchtete die angenehme Röte, wie sie ein Borsdorfer Apfel zeigt. Kaum hatte der Junge, der frisch und stramm daher stolzierte, die schöne Eisbahn und die gleitenden Kinder erblickt, als er sich in Trab setzte; einige Augenblicke später – und er schoß wie ein Pfeil über die Bahn dahin.

»Hui, das geht aber nett!« rief er den andern Kindern zu, die, weil sie in ärmeren Kleidern steckten, den feinen, fremden Jungen frei gewähren ließen und wohl auch scheu zur Seite traten. Nur Friedel, der sich als Besitzer der Schlinderbahn fühlte, rief mit seiner feinen Stimme: »Das ist meine Schlinderbahn, die hat mir der heilige Nikolaus geschenkt!«

»Potztausend!« sagte der fremde Junge; »aber du – na, wie heißest du denn?«

»Friedel heiße ich.«

»Aber du, Friedel, wirst doch nichts dagegen haben, wenn ich mitschlindere? Ich heiße Rolf Tollenius und bin dem Doktor Tollenius sein Jüngster. Sankt Nikolaus hat mir und meinen Brüdern Fritz, Karl und Hans auch gar schöne Sachen gebracht – mir einen Farbenkasten und eine Zauberlaterne – aber eine Schlinderbahn, die hat der heilige Mann bei uns vergessen. Ein paar Walnüsse kann ich dir gleich aus meiner Tasche mitgeben– aber nun laß mich auch mitschlindern!«

Friedel griff begierig nach den Nüssen, welche ihm Rolf Tollenius hinhielt; aber erst nachdem er sie in der Tasche seiner geflickten Jacke geborgen hatte, bemerkte er gutmütig:

»Rolf, du hättest auch mitschlindern dürfen ohne die Nüsse!«

Das Spiel nahm seinen Fortgang, und Rolf Tollenius brachte eine neue Tour hinein, indem er sogar in der Hucke schlindern konnte, d. h. auf die Fersen gehockt. Der feine Knabe, das mußten alle anerkennen, tat gar nicht stolz; er gab auch den andern von seinen Walnüssen, und bald war das dritte Wort, das man auf der Gasse hörte: »Rolf Tollenius!«

In den Ruhepausen, die sich die Kinder bei ihrem Schlindern und Tollieren gönnten, erzählte Friedel zum so und so vielten Male, wie ihm der heilige Nikolaus extra diese Schlinderbahn gemacht habe, und wie sie heute morgen so schön blank und glatt dicht vor der Haustüre gelegen habe. »Das ist spaßig!« sagte Rolf, und schlang seinen Arm um den Günstling des heiligen Nikolaus, damit er ihn nach dem Schaufenster des Krämers Wagemann führe, der am unteren Ende der Schlinderbahn sein niedriges Häuschen hatte. Die Ausstellung hinter den kleinen Scheiben des Schaufensters mußte etwas Anziehendes für Rolf Tollenius haben. Es standen daselbst: zu unterst ein blanker zinnerner Siruptopf, ein Gläschen mit buntbemalten Griffeln und ein Gläschen mit zwei Hühnereiern, die von den Sommerfliegen, deren tote Leiber zu Hunderten umherlagen, über und über punktiert waren; hinter der zweiten Fenstersprosse lagen auf einem Brett einige Zwiebeln, aus deren goldbrauner Schale bereits ein spitzer grüner Keim hervorlugte, zwei hellblaue Päckchen mit Cichorien und eine dunkelblaue Tüte mit Tabak; in der dritten Abteilung des Fensters standen ein Haarkamm, ein Glas mit hellem Kandiszucker und ein porzellanener Pfeifenkopf; vor letzterem prangte in bunten Farben eine halbe Kanone, ein ganzer Soldat und viel Pulverdampf – und darunter war zu lesen: »Schlacht von Gravelotte.«

»Was würdest du dir von diesen Sachen wünschen?« fragte Rolf Tollenius seinen neuen Freund,

»Den Topf mit Sirup,« antwortete Friedel ohne Bedenken, und leckte sich die roten Lippen. »Und du, Rolf?«

»Das Gläschen mit den bunten Griffeln,« sagte dieser.

Aber der Krämer Wagemann war kein Freund vom Schenken; er gönnte den Kindern nicht einmal das Vergnügen der Eisbahn. Ohne Zweifel lärmten sie ihm zu viel auf der Gasse, denn plötzlich trat der große, hagere Mann mit verdrießlichem Gesichte vor die Haustür, schüttete Kohlenasche auf das untere Ende der Schlinderbahn, soweit es seine Wohnung berührte, und jagte die zwei begehrlichen Freunde mit rauhen Worten von dem Schaufenster weg.

»Ist der aber eklig!« meinte Rolf, und lief Hand in Hand mit Friedel zu dem oberen Ende der Eisbahn zurück, um das Spiel von neuem zu beginnen.

Dasselbe sollte indes nach kurzer Lust eine jähe Unterbrechung erleiden. Der äußerst lebhafte Rolf nahm einen allzu heftigen Anlauf und – stürzte inmitten der Eisbahn gerade auf die Nase. Die meisten Kinder lachten, wie es Kinderart, über dieses Malheur, Friedel aber eilte, Schrecken in den Mienen, dem verunglückten Freund zu Hilfe. Dieser regte sich nicht, stieß auch keinen Schmerzenslaut aus, was Friedel nur um so ängstlicher machte. »Ach, armer Rolf!« sagte er mitleidig und kniete an der Seite des Freundes nieder. Dieser verharrte noch immer in der Lage, die ihm der unvermutete heftige Fall bereitete. Da faßte Friedel mit seinen kleinen Armen den Kopf des Gefallenen und hob ihn etwas empor; aber im selben Augenblick stieß der Hilfreiche einen lauten Schrei aus, denn er hatte Rolfs Gesicht mit Blut überströmt gesehen. Rolf rührte sich noch immer nicht. Da ließ Friedel in seinem Schrecken das Haupt des Freundes wieder auf die kalte, harte Eisbahn sinken und stürzte mit dem Rufe: »Mutter, Mutter! der arme Rolf ist gefallen und blutet!« ins Haus. Die Mutter eilte sofort vor die Tür und nahm den fremden, vornehmen Knaben mit dem braunen Sammetröckchen in ihre Arme: die Augen des Knaben waren geschlossen, das Gesicht bleich, ein purpurner Blutstrom entquoll der Nase, der Körper war schlaff, wie leblos. Die andern Kinder, mit Ausnahme Friedels, nahmen bei diesem Anblick Reißaus. Friedels Mutter trug den blutenden Knaben in ihre Hütte; der kleine Friedel schlich hinterdrein und weinte bitterlich.

Das nächste, was Friedels Mutter tat, war, daß sie den Verunglückten auf das Bett legte; dann holte sie eine Schale frisches Wasser und einen Schwamm herbei und begann das blutende Gesicht behutsam zu waschen. Unter der Berührung des eiskalten Wassers schlug Rolf die Augen auf. »Gott sei Dank, er lebt!« sagte die Frau. Dann hielt sie ein Glas mit frischem Trinkwasser an die Lippen des Knaben, diesen freundlich auffordernd: »Komm, trink, mein Junge, ein ganz kleines Schlückchen nur! So, bitte, nun noch ein Schlückchen!« Nachdem der Knabe getrunken, regten sich auch seine Glieder wieder, doch nur einen Augenblick, dann sank der Körper wieder wie leblos in die Kissen,

»Wie heißest du, mein Junge?« fragte die Frau.

Der fremde Knabe antwortete nicht; die Lippen bewegten sich zwar, brachten aber keinen Laut hervor; sobald sie sich schlossen, fielen auch die Augen wieder zu.

»Das ist der Rolf Tollenius,« antwortete Friedel an Stelle seines Freundes.

»Wie, dem Doktor Tollenius sein Sohn?«

»Ja, sein Vater ist der Doktor, Rolf hat es mir erzählt; er hat auch gesagt, daß sein Vater dem Krämer Wagemann, wenn dieser krank würde, ganz bittere Arznei geben sollte, weil uns Wagemann vorhin von seinem Schaufenster weggejagt und Asche auf die Schlinderbahn geschüttet hat.«

»Weißt du, Friedel, wo der Doktor wohnt? Man müßte den Herrn von dem Zustand seines Sohnes benachrichtigen, wiewohl das Bluten sich jetzt, Gott sei Dank, unter der Wirkung des kalten Wassers einzustellen scheint.«

»Nein, Rolf hat mir nicht gesagt, wo sein Vater wohnt,« erwiderte Friedel kleinlaut.

»Der Herr Doktor wohnt in der Gartenstraße; ich meinte, ob du das Haus zu finden vermagst?«

Friedel sah mit großen, unverständigen Augen ins Leere und schüttelte verneinend den Kopf.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Friedels Vater trat mit dem kummervollen Seufzer: »Keine Arbeit, Marie!« herein. Seine Aufmerksamkeit wurde selbstverständlich durch den kleinen, fremden Patienten sofort gefesselt. Die Frau erklärte den Sachverhalt, worauf der Mann gutmütig erwiderte: »O jeh, da müssen wir den Herrn Doktor sofort holen!«

Im nächsten Augenblick schon war er auf der Straße, die er im Eilschritt hinunter ging. Aus dem Revier der armen Leute gelangte er allmählich in vornehmere Straßen, und als er über den Kirchplatz von Sankt Johannes schritt, war ihm der Zufall günstig: Doktor Tollenius kam, in einen Pelzüberrock gehüllt, ihm entgegen. Der Arbeiter zog seine Mütze und sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Doktor!«

»Ah, Sie sind es, Weller!« grüßte der Arzt. »Ist Ihre Frau oder der Junge krank – nachdem Sie selber im vorigen Winter mit dem Armbruch genug zu zappeln hatten?«

»Nein, Herr Doktor,« erwiderte Weller, der jetzt eine nicht geringe Verlegenheit verspürte, wie er dem ahnungslosen Vater das Malheur seines Sohnes beibringen sollte. Aber endlich kriegte er es doch heraus, und treuherzig sagte er am Schluß: »Nehmen Sie es nicht übel, Herr Doktor, wenn ich das alles nicht so fein herausgebracht und wenn ich Ihnen wehe getan habe. Unsre Art Leute –«

»Weller, ich weiß, Sie haben ein gutes, mitfühlendes Herz. Sie haben Ihre Sache ganz gut gemacht, und auch Ihre Frau hat laut Ihrem Berichte meinen armen Jungen ganz verständig behandelt. Ich weiß euch besten Dank dafür – und falls Sie diesen Winter keine Arbeit haben sollten, so kommen Sie getrost zu mir, ich hab' auf meinem Landgute vor der Stadt, im Wald und Baumgarten genug für Sie zu tun.«

»O, Herr Doktor! O, Herr Doktor!« stammelte Weller vom freudigsten Danke bewegt. »Sie sind mir ein Engel vom Himmel mit der frohen Botschaft da; ich bin heute morgen schon in der halben Stadt herumgelaufen und konnte keine Arbeit finden – und bei mir zu Hause ist der Brotschrank so gut wie leer.«

»Na, na, da trifft sich mein Anerbieten ja gut. Der alte Gott lebt noch. Und nun lassen Sie uns zu Ihrer Wohnung gehen.«

Nach zehn Minuten waren die beiden Männer an Ort und Stelle. Aber wie war ihnen, als sie Rolf ganz wohl und munter und Arm in Arm mit Friedel in der Stube herumspazieren sahen? Gerührt schloß der Doktor seinen Jungen in die Arme und küßte ihn auf Mund und Wangen.

»Gleich nachdem mein Mann weggegangen war, um Sie zu holen, Herr Doktor,« sagte Frau Weller in freudiger Hast, »kam der Knabe wieder zu sich. Ach Gott, Sie glauben nicht, was für eine Angst ich ausgestanden habe! Dieses Blut – und dann lag der Junge wohl eine Viertelstunde wie tot, oder doch wie sterbend. Ich dachte, es wäre alles in seiner kleinen Brust entzwei. Ich hab' ihm ab und zu mit kaltem Wasser das Gesicht gewaschen und die Schläfen, und ab und zu hab' ich ihm auch ein Schlückchen frisches Wasser eingetrichtert. Und dort auf das Bett hab ich ihn getragen, damit die schlaffen Glieder sich ausruhen konnten.«

»Sie sind eine verständige Frau,« lobte der Doktor.

»Ach Gott, ja,« beteuerte Frau Weller, nun ganz schamrot ob des Lobes, »man tut', was man kann. Aber meine Angst von vorhin kann sich niemand denken! Wenn der Junge nicht wieder zu sich gekommen wäre – und das Unglück war doch vor unsrer Haustür geschehen!«

»Auf meiner Schlinderbahn, die mir der heilige Nikolaus gemacht hat!« fiel hier klein Friedel ein.

»Hört, hört, der Schelm will auch mitsprechen!« lachte der Doktor. »Also der heilige Nikolaus hat dir die Schlinderbahn gemacht? Na, ich meine, da hat der heilige Mann es nicht bedacht, daß man sich auf so einem Ding die Nase blutig schlagen kann. Ich muß mal mit Sankt Nikolaus sprechen, und zwar noch heute am Tage, ob er nicht etwas Besseres für dich im Sacke hat; he, was meinst du dazu, mein Bursche?«

Friedel wurde gar rot und senkte vor Verlegenheit den Kopf; aber ein Strahl von Freude und Hoffnung spielte doch um Stirn und Wangen.

Der Doktor legte liebkosend seine Rechte auf den Blondkopf des Knaben; dann sprach er den Eheleuten Weller seinen herzlichsten Dank aus für die Sorge und Mühe, die sie mit dem kleinen Rolf gehabt hatten, und dann nahm er seinen Jungen an der Hand und verabschiedete sich. Von der Straße nickte er noch einmal dem kleinen Friedel zu und versicherte: »Ich werde sogleich mit dem heiligen Nikolaus sprechen, und vielleicht kommt er heute Abend noch zu dir.«

 

Als Doktor Tollenius mittags mit Frau und Kindern bei Tische saß und das Ereignis des Morgens in seinen Einzelheiten besprach, sagte Fritz, der älteste Bruder Rolfs, mit einemmal: »Jetzt weiß ich, wo wir mit unsrem abgedankten Schaukelpferde bleiben – wir schenken es dem armen kleinen Friedel!«

»Ja, ja, wir schenken es dem armen, kleinen Friedel!« fielen Rolf, Karl und Hans mit Eifer ein.

»Zugestanden!« sagte der Vater. »Aber sollte der arme Friedel nicht warme Kleidungsstücke notwendiger haben, als ein Schaukelpferd? Sein Jäckchen heute morgen war doch gar zu erbärmlich.«

»Ach, Mutter,« baten die vier Jungen zugleich, und blickten die Gute flehentlich an, da sie wußten, daß von dieser Seite Hilfe zu erwarten sei.

»Ihr hättet gern für euren Schützling ein warmes Jäckchen?« meinte lächelnd die Mutter. »Ja, seht, wenn unser Rolf nicht alle seine Kleider so unbarmherzig ruinierte durch seine Wildheit, durch sein Klettern, Rutschen und – auf Schlinderbahnen-Fallen, seht, dann fänden wir im Schranke noch wohl einen Anzug, der für Friedel taugen möchte.«

Rolf blickte halb beschämt und halb ärgerlich ob seiner verhängnisvollen Wildheit auf seinen Teller.

»Liebe Frau,« meinte der Doktor, »ich habe schon heute morgen dasselbe gedacht wie du. Und da bin ich, weil Friedels Eltern sich doch gar zu nett mit unsrem wilden Rolf benommen haben, bei Alfred Steiner & Co. eingetreten – weißt du, das große Herrengarderobegeschäft – und hab' zwei neue warme Anzüge nebst einem Ueberröckchen für Friedel gekauft.«

»Hurra!« schrieen da die vier Brüder.

»Aber ein Paar heile Stiefel,« bemerkte Rolf ein wenig verschämt, »die hab' ich noch für Friedel.«

»Ja, weil sie dir zu eng wurden, konntest du sie nicht aufkriegen,« bemerkte die Mutter,

»Darf ich die wohl dem Friedel schenken?« fragte Rolf.

»Ja, das darfst du!« erwiderte die Mutter gütig.

»Wir hätten also,« sagte der Vater, »ein Schaukelpferd, zwei Anzüge, ein Ueberröckchen und ein Paar Stiefel für unsern Schützling.«

»Nun ja, wollene Strümpfe, eine Pelzmütze und Handschuhe werde ich hinzufügen,« meinte die Mutter; »ich darf doch nicht an Mildherzigkeit hinter euch zurückstehen.«

»Hurra! Hurra!« schrieen die Jungen und blickten der Mutter lieb in die Augen.

»Ich wüßte noch etwas, ihr vier, was ihr geben könntet,« fuhr die Mutter fort. »Nur im Opfer lebt die Liebe; man soll nicht allein vom Entbehrlichen schenken, sondern auch ein Opfer bringen.«

Die vier dachten ein wenig nach. Dann rief Fritz der älteste: »Ich hab's! Von unsrem Kuchen, von unsren Nüssen und Aepfeln, die wir heute morgen selber von Sankt Nikolaus empfangen haben, opfern wir jeder einen Teil, legen alle vier Teile zusammen und geben das Ganze dem armen Friedel.«

»Ja, das meinte ich eben,« sagte die Mutter und nickte ihren braven Jungen zu.

»Na,« bemerkte der Vater mit gutem Humor, »um das Gebäude eurer Mildherzigkeit zu krönen, um den Tüpfel auf das i zu setzen, um endlich unsre Rührseligkeit ganz in Butter zerfließen zu lassen, will ich den Geschenken noch ein hübsches Bilderbuch hinzufügen – und ein Stück Geld für die Eltern, Aber ich erwarte, daß ihr nun auch mir ein Hurra ausbringet.«

Ja, das tat das vierblätterige Kleeblatt von Herzen gern. Und wie! Dreimal donnerte der Ruf durch das Zimmer, so gewaltig, daß Karo, der Haushund, den Schwanz zwischen die Beine kniff und unter das Sofa kroch.

Als der letzte Ton verklungen war, sagte Fritz mit neuem Eifer: »Ich hab' mir was ausgedacht. Wir bringen dem lieben Friedel heute abend die Geschenke natürlich selbst; dazu verkleide ich mich in den heiligen Bischof Nikolaus und ihr drei seid meine himmlischen Diener. Das wird einen Spaß geben!«

»Nun ja, Spaß muß auch dabei sein,« meinten die Eltern und gaben das Zeichen zum Gebete, welches die Mahlzeit beschloß. –

An dem kurzen Dezembertage senkte sich früh die Dämmerung auf Land und Stadt, und die Dämmerung ging gar bald in das Dunkel des Abends über. Um die siebente Abendstunde saß Friedel mit Vater und Mutter, vom guten, heiligen Bischof Nikolaus plaudernd, am knisternden Ofen, als sich plötzlich die Stubentür öffnete. Alle standen auf und Friedel rief ängstlich: »Da ist er, da ist er, der heilige Nikolaus!« Eine große Gestalt trat in die Stube, mit einer spitzen Mütze von Goldpapier und einem langen, weißen Talar, der das bischöfliche Gewand vorstellen sollte; in seiner Hand trug er statt des Bischofsstabes eine mächtige Rute, halb so groß wie er selbst. Drei Diener in weißen Gewändern (die, nahebei besehen, große Aehnlichkeit mit ganz gewöhnlichen Hemden hatten), mit goldenen Stirnbändern im Haar und Masken vor dem Gesichte, trugen mancherlei mit Tücher oder Papier verhüllte Gegenstände; den größten der letzteren setzten sie behutsam auf die Stubendielen.

Friedel retirierte ängstlich in den Hintergrund der Stube; seine Blicke irrten zwischen dem heiligen Nikolaus und den Eltern hin und her; seltsamerweise schienen die Eltern seine Angst durchaus nicht zu teilen: es schwebte vielmehr ein Schmunzeln und unterdrücktes Lächeln um ihren Mund.

»Kannst du auch beten?« erscholl plötzlich eine tiefe Stimme aus dem Munde des heiligen Nikolaus. Friedel bejahte und sagte, anfangs weinerlich und stockend, dann aber mutig und flott, seine schönsten Gebetlein her. Er erntete Lob vom heiligen Manne, der noch hinzufügte:

»Fromme Kinder hab' ich lieb und gern,
Von ihnen bleibt meine Rute fern.
Ich bin gekommen auf meinem Schimmel
Und bringe dir schöne Gaben vom Himmel,
Brezeln und Zuckerwerk hab' ich für die Guten –«

jetzt rollte sein Auge fürchterlich und auch seine Stimme nahm einen schrecklichen Ausdruck an:

»Aber für die Bösewichter hab' ich Ruten!
Kinder, die sich nichts lassen sagen,
Werden von mir mit der Rute geschlagen;
Die sich leiten lassen im Guten,
Brauchen nicht zu fürchten meine Ruten!«

Bei den letzten zwei Zeilen hatte die Stimme schon wieder einen milderen Ton angenommen, und in eben diesem Tone fuhr jetzt der gute Bischof fort: »Du, Friedel, hast dich von Vater und Mutter immer im guten leiten lassen; ich weiß es, ich sah es oben vom Himmel aus. Deshalb hab' ich auch für dich gar schöne Geschenke mitgebracht, welche dir jetzt meine himmlischen Diener, die lieben Engelein, überreichen sollen.«

Eines der Engelein – es war das kleinste – zog jetzt das verhüllende Tuch von dem großen Gegenstande, der auf der Erde stand, fort.

Dabei rutschte dem sich bückenden Engelein die hübsche Maske ein wenig vom Gesicht, und Friedel wollte schon rufen: »Rolf!« als das sich verratende Engelein ihm flink den Rücken zukehrte. Nun konnte Friedel nichts Besseres tun, als den entschleierten Gegenstand betrachten. O der Wonne und Seligkeit! Es war ein wundervoll herrliches Schaukelpferd, ein kohlpechrabenschwarzer Rappe mit blutroten Nüstern, scharlachroter Satteldecke und kanariengelbem Lederzeug. Und dieses Pferd sollte Friedels Eigentum sein? Das kleine Herz vermochte diese Seligkeit kaum zu fassen. Aber schon stürmten neue Ueberraschungen auf Friedel ein. Aus den andern enthüllten Paketen erschienen zwei neue Anzüge, ein Ueberröckchen, ein Paar blanker Stiefel, wollene Strümpfe, eine Mütze – ach, von grünem Sammet mit grauem Pelzbesatz! – ein paar Fausthandschuhe, ein Bilderbuch und Kuchen und Aepfel die Hülle und Fülle. Friedel wußte nicht, was er zuerst besehen, zuerst bewundern sollte. Jetzt hielt ihm der eine Engel, dann der andre was unter die Augen; jetzt schob ihm der eine Engel ein Kuchentier in den Mund, jetzt drückte ihm der andre einen dicken Apfel in die Hand; und seine Mutter, nein, die wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen, als ob sie weine – – und sein Vater drehte ein blankes Goldstück in der Hand herum und schüttelte sich, als ob er lache, lache, – nein, die ganze Geschichte war zu kurios, ganz über die Fassungskraft des kleinen Friedel hinaus.

»Das alles gehört jetzt dir,« sagte der heilige Nikolaus im freundlichsten Tone von der Welt. »Das ist dafür, lieber Friedel, daß du heute morgen den kleinen Rolf und die andern Kinder hast auf deiner Schlinderbahn schlindern lassen, und weil deine guten Eltern so gut gegen den verunglückten Rolf Tollenius gewesen sind. Sei du niemals wüst, wie Rolf, und bleib deinen Eltern folgsam! Und nun setze dich auf das Schaukelpferd – der heilige Nikolaus befiehlt es dir!«

Friedel schwang sich leuchtenden Blickes auf das prächtige Pferd, und dann setzten die Engelein dasselbe in Bewegung, und während es in vollem Schwunge war, verließ der heilige Mann mit seinem himmlischen Gefolge die Stube. Aber es blieb noch lange der Glanz des kinderfreundlichen Heiligen darin zurück. Freude und Gottesfriede waren von neuem in die Herzen der drei armen Leute gekommen.

»Diese Bescherung, die wir dem armen Friedel bereitet haben,« sagte Fritz Tollenius zu Hause, indem er sich seines bischöflichen Gewandes entledigte, »hat mir fast mehr Freude bereitet, als diejenige, welche wir selber heute morgen empfangen haben.«

»Das ist kein Wunder,« erwiderten die Eltern. »Es ist nur die Erfüllung des Spruches: ›Geben ist seliger als Nehmen!‹«

 


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