Carl Albrecht Bernoulli
Bürgerziel
Carl Albrecht Bernoulli

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Tag.

November 1918.

I.

Emil Meisterhans bewohnte seit einiger Zeit das Dachgeschoß eines kleinen Familienhauses in höchster Stadtlage, am Saume der ausgedehnten Stadtwaldung. Drei ineinandergehende Mansarden mit kleiner Gasküche im Vorraum bildeten den Bezirk seines Daseins. Das Stockwerk erhielt einen behäbig kleinbürgerlichen Anstrich durch einen über dem Bodentreppchen errichteten Verschlag mit einer unangestrichenen tannenen Lattentüre, hinter der einige Säcke mit Kohle und ein sorgfältig geschichteter kleiner Scheiterstoß sichtbar waren. Diese winzige Welt lag tief eingetaucht in bleigraues Zwielicht, als in der Schlafkammer ein weibliches Haupt sich aus den Kissen erhob mit dem erschrockenen Rufe: »Emil, wie spät ist es?«

Die Kriegsentscheidung war inzwischen besiegelt. Eben vollzog sich gewaltigster Umsturz – Kerker taten sich auf, Kronen rollten im Sande. Der kleinen Schweiz half es nichts, daß sie die Waffenprobe von 171 ihrem Gebiete fernzuhalten vermocht hatte. Sie sah düstere Tage. Ein teuflisches Bündnis hielt bei ihr Einzug: tödliche Seuche und Bürgerkrieg. Dieses entsetzliche Geschwisterpaar drohte vor den Toren der Bundesstadt. Da bestellte denn mancher sein Haus und beschleunigte den Lauf der Dinge, dem er sich bis dahin in Geduld gefügt hatte, eigenwillig, um Schlimmerem vorzubeugen. So war auch das Meisterhansliche Liebespaar in seiner Ausdauer mißtrauisch geworden und nicht gesonnen, sich prellen zu lassen, um als Lohn für sein bisheriges sittsames Verhalten am Ende noch das Nachsehen zu haben. Vor zwei Tagen hatten sie die für die Ausnahmezeit gestattete Nottrauung eingegangen, und Alice befand sich mit den notwendigsten Siebensachen ihrer Aussteuer bei dem Geliebten.

»Emil – so höre doch, laß mich durch« – rief sie hinten an der Wand und kletterte behend über die Bettdecke, unter der ihr neugebackener Gemahl sich erwachend reckte.

»Ach so – ja – schon recht – guten Tag!« gähnte er und rieb sich vergnügt die Augen, während sie in einen grünen Morgenrock schlüpfte. Dann warf er die Leintücher vom warmen Körper und sprang auf die nackten Fußsohlen.

»So geht es. Ein frisch Geheirateter taugt schlecht in die Feuerwehr. Ich verschlafe ja die Weltgeschichte.«

Sie legte den Morgenrock ab, um sich fertig 172 anzukleiden. Zum Schabernack spickte er mit dem schnellenden Zeigefinger ins Waschbecken, worauf sie am entblößten Arm zusammenzuckte und ihm den Übermut in dieser Zeit verwies. Meisterhans heuchelte nicht. Sein Körper war, als er in seine Hose stieg, nur Erinnerung an die Wonnen der genossenen Nacht, sein Blut blühte.

Während Alice vor dem Spiegel sitzend dichte, braune Flechten teilte, um sie endgültig für den Tagesputz auszukämmen, hauchte er ihr in das freie, rosige Dreieck des Nackens einen verstohlenen Kuß. Sie beschwor ihm den Ernst, den seine Gesinnung und Überzeugung der ungeheuren öffentlichen Wendestunde schuldig sei.

Ihr Zuspruch schlug ein. Er verstummte und zog die Stirne kraus. Das Nachdenken überfiel ihn, er fing an, die Lippen zu bewegen und sich selber zuzumurmeln. Dann stieß er einen Fluch aus – und nun sprachen sie vom Volk und von der Schlacht um die Macht.

Alice flog durch die drei Räume in wechselnder Beschäftigung – öffnete Fenster, wischte Staub, tischte Kaffee auf. Der Ehemann ordnete ernst und schweigsam an seinem Hausrat, was ihm unter die Finger geriet und einigermaßen für einen Mann zur Hantierung taugte. Dazu sagte er:

»Mein Kopf ist nicht vernagelt und mein Geist ist nicht eng. Mein Inneres ist von keiner Seite her geknechtet. Was mich bei der Partei hält, hab ich 173 mir außerhalb der Partei erdacht und erlitten. Ich glaube überhaupt an nichts, was jetzt gilt und Kurs hat. Ich glaube nur an etwas, was kommen kann und eines Tags sein wird. Ja, mein Schatz – küsse mich – ich glaube auch nicht an das Proletariat, ich glaube nur an die Menschheit. Das Proletariat ist menschenunwürdig. Menschlich ist nur die Menschheit selbst. Alles andere ist veraltet und muß zu Grunde gehen – und da es das nicht von selber tut, muß es in Stücke geschlagen werden. Weg mit allen Standesvorrechten. Es lebe die allgemeine Verbrüderung!«

Er konnte nicht weiter fahren. Sein junges Weib kam gehorsam dem erhaltenen Befehle nach und verschloß ihm den Mund.

»Ja doch, du Kommunist, du lieber, böser Kommunist!« stammelte sie, und ihre Arme schlossen sich hinter seinem Nacken. Ihr weicher Leib schmiegte sich innig an ihn. Sie hob sich auf die Zehen so hoch sie konnte und bog ihm den Kopf zurück, um ihm die Küsse von oben herab zu verabfolgen. Dabei lachte sie mit feuchten Augen auf den Wehrlosen herunter.

Als sie ihn freigab, fuhr er fort: »Oder geht es nicht aufwärts mit uns armen Teufeln? Wir bewohnen hier einen Salon gegen die Dachhöhle des Tischlergesellen vor zehn Jahren. Da mußte ich die Haare dicht am Kopf geschoren tragen, wollte ich nicht in aufrechter Haltung an der Decke anstoßen! Damals habe ich Schiller gelesen. Von ihm habe 174 ich den Glauben an die Würde des Menschen. Und seitdem weiß ich, daß es vornehme Leute gibt, die keinen roten Rappen in der Tasche haben. Ich weiß auch, daß nicht jeder Millionär ausgerechnet ein Lump ist. Und auf die Gesinnung kommt es nun einmal an. Hüben und drüben gibt es große Seelen und gibt es Schufte und gibt es feige Brävlinge. Ich hab es ja damals gesagt im Alpenspitz – und Ysenschmied hat dazu das Maul aufgesperrt wie ein Karpf!«

Alice machte sich schon wieder mit einem Staubbesen zu schaffen. Sie ließ sich aber über ihrer Emsigkeit keine Silbe entgehen. »O ja, der Prokurator hat sich's hinter die Ohren geschrieben. Er hat es mir ja selbst gesagt.«

»Jetzt soll ihn der Teufel holen,« schrie Meisterhans mit einem Male und legte sein dunkles Gesicht in gefährliche Falten.

Die freundlichen Gesichtszüge der Frau verdüsterten sich ebenfalls: »Ich mag ihn auch nicht mehr leiden, seit er sich gegen dich hat wählen lassen.«

Da schlug es an der eichenen Uhr im Eßzimmer mit dem weichen Schlag des Glockenspiels.

»So spät schon!« Er nahm ihr den Besen aus der Hand und musterte sie abermals bewundernd von Kopf zu Fuß. Dabei vertieften sich die Falten seiner Züge:

»Komm! Es ist höchste Zeit! Kannst jetzt draußen putzen und fegen!«

175 »Ich komme,« sagte sie mit geschlossenen Lippen und senkte die Stirn. »Ich geh' mit dir wohin es sei. Du bist nicht ein blinder Draufgänger, dem der Schaum vor dem Munde steht – bist nicht Jakob Ursprung. Du denkst nach – bist streng und gerecht. Darum lieb ich dich so.«

»Daß es heute sein muß, weißt du?« forschte er.

»Ja, das weiß ich,« versetzte sie mit starkem Atem.

 

Das erste, was sie draußen auf dem eilenden Gange nach der Stadt antrafen, waren beim Beginn des Verkehrnetzes, vor einem leeren, unbedienten Straßenwagen zwei ältere Ingenieure, die sich mit schweren Stemmstäben und handlichen eisernen Hebebäumen, kniend und in hockender Stellung, an den herausgerissenen Schienen zu schaffen machten.

Etwas weiter stadtwärts belebte den verlassenen Fahrdamm ein Müllwagen der Kehrichtabfuhr, und es war bald zu erkennen, daß es nicht die üblichen Arbeiter und Fuhrleute waren, die sich um ihn bekümmerten. Auf dem Bock hantierte, mit einer blauen Bluse angetan, als Kutscher ein steinreicher Villenbesitzer, der nun seine Rennstallkenntnisse praktisch verwertete. Sein kaum viel ärmerer Nachbar kehrte mit einem hellgelben, nagelneuen Strohbesen die Gosse. Lehrgeld für sein Ungeschick mußte ein Protz von Holzhändler zahlen: ein gefüllter Kessel, 176 den er im Nacken tragen wollte, glitt ihm aus und entleerte sich ihm in den Rockkragen. Oben auf der Pritsche standen in breiten Schürzen zwischen Kesseln und Schaufeln stadtbekannte Geschäftsleute. Eben erneuerte sich die Heiterkeit unter ihnen. Ein Spielwarenhändler, der zeigen wollte, wie man es anstellte, hatte sich auch einen Kasten huckepack auf den Rücken geladen und sich dabei so sehr kopfüber gebeugt, daß er den Gehweg mit Asche überschüttete.

Dieser Auftritt trieb Meisterhans das Blut aus dem Gesicht. »Schamlos! Jetzt treiben sie mit der Dreckarbeit Schindluder und brüsten sich, sie könntens auch. Ja, zur Not, einen halben Tag lang, die Großhänse! Sie sollen erst damit ihr Brot verdienen müssen – dann wird ihnen das Lachen vergehen.«

Alice deutete nach vorn, wo auf einige hundert Schritte entfernt in die Straße eine rote Fahne einbog. Der Zug verfiel in den marschmäßigen Schrittfall. Sie stimmten die ›Internationale‹ an mit würgenden Kehlen, aber im Takt, ohne zu brüllen, sodaß man die Worte leidlich verstand. Alice zog in der Mitte der Schar am Arm des Gatten. Als die Gruppe in einen breiten Platz einschwenkte, dessen Fortsetzung die Sohle des alten Stadtbettes bildete, taten sich vor ihr Zeilen von Soldaten in grauen Helmen und grauen Mänteln auf und nötigten sie, eine Nebengasse zu wählen.

Das Ehepaar kam auf den Bürgersteig zu 177 gehen. Ach, sie da droben am Waldrand in ihrem Honigmonde hatten sich nur ein sehr ungenügendes Bild vom Ernst der Stunde gemacht.

An der Straßenkreuzung mußten sie warten, weil ein Leichenzug mit einem ganz geringen Geleite vorüberzog, ein durchdringender Verwesungsgeruch drang bis zu ihnen – ja, diese entsetzliche Seuche roch durch die Fugen der Särge auf hundert Schritte. Und damit waren sie am Volkshause angelangt.

 

Gleich bei Eintritt erkannte Meisterhans die fieberhafte Aufregung der anwesenden Parteihäupter. Etwa zwanzig Männer sprachen und liefen planlos durcheinander.

Werner Walthard flüsterte ihm ins Ohr, es klappe in der Wirklichkeit nicht, wie vorher auf dem Papier – das tatsächliche Ergebnis bleibe um ein wesentliches zurück hinter der errechneten Ziffer – die Arbeitsniederlegung sei heute weit entfernt davon, vollständig zu sein. Die christlichen Gewerkschaften versagten gänzlich und das Staatspersonal weise wesentliche Lücken auf. Sogar in den eigenen Reihen des organisierten Proletariats mehrten sich die Arbeitswilligen.

Hinten klirrten sie am Fernsprecher herum. »Wir bekommen Oberwasser,« schrie Deubelbeiß und nannte die Quartiere, aus denen günstige Meldungen einliefen.

178 Pletterer knurrte: »Ich täusche mich jedesmal in meinen Leuten. Man rechnet auf Männer und bekommt es mit Schlafhauben zu tun.« Und dann derselbe Pletterer gleich einer Blechtrompete unter Dampfdruck schmetternd: »Wäre nur erst Ursprung zurück, in drei Teufelsnamen!«

Ursprung war, wie man wußte, zurzeit im Auftrage der Parteileitung auf einer Rundreise durch die Schweiz begriffen und hatte zu einem guten Teile den Ausbruch des allgemeinen Ausstandes reif gehetzt.

Der Widerstand der Bürger an diesem dritten, vielleicht letzten Tag, meinte Pletterer, wies nicht mehr die volle Schärfe der Anfänge auf. Die Losung: ›Bürger auf die Straße!‹ war aufgegeben, die weiße Binde wurde vom Arme gestreift. Zwar hatte man die Bürgergarde ausgebaut, wie das von den Druckereiinhabern eigenhändig gesetzte ›Vaterländische Blatt‹ frohlockte. Es war Arbeitern gelungen, Militär irrezuleiten. Sie hatten ›Platzräumen‹ vorgespiegelt. Ja, mehrere Ladenbesitzer, die den Verkauf nicht einstellen wollten, hatten sich durch anonyme Telephonbefehle ins Bockshorn jagen lassen, die mit dem Berechtigungsausweis schlossen: »Befehl der neuen Regierung!« Dafür waren dann Guiden abgesessen und hatten Leute aus den Häusern herausgehäkelt. Fast sah es aus, ein zielloses Geplänkel werde allerseits das Ende sein. Darum auf zum Durchstoß – zum entscheidenden Endschlage! – 179 Draußen in Worbwabern hatte der schreckliche Bauer Wüthrich eine Schar Mannen mit Sensen und Dreschflegeln ausgerüstet und führte sie gegen die Stadt. Dabei hatte er sein Angebot von einem auszusetzenden Schußgeld für einen jeden zur Strecke gebrachten Arbeiter wiederholt und zur Nachahmung empfohlen. Diese Schauermär kam Pletterer höchst gelegen. Er entwarf einen beschleunigten Marschbefehl. Aussendung von stabtragenden Jungen, auf den Täfelchen die Aufschrift: Versammlung Volksgarten Schanzeneck, vier Uhr! Dann sollte die geplante Gegenversammlung im Bürgerhause wenn immer gestört werden! Da die Bürger Frauen und Kindern die Straße verboten, sollte das Volk sie um so zahlreicher hinaustreiben. Die Irreführungen seien fortzusetzen – blinder Alarm durch Hornstöße erwünscht.

Die Auseinandersetzung des Parteiführers wurde abgelöst durch weitere aufstachelnde Ansprachen – das Wort ergriff polternd Lokomotivführer Brast, listig und spottend der stadtbekannte Schauspieler Schrey im Verbande der organisierten Holzarbeiter und wem gerade die aufgeregte Viertelstunde auf ein paar Worte die Zunge löste!

Aber bald wurde sich Meisterhans darüber klar, eine wie geringe Rolle überhaupt jeder einzelne, gleichviel welcher, spiele. Jeder und jede in diesem Saale und von hierher bis hinunter vors Haus und von da ausstrahlend in alle Straßen der Stadt 180 alle die Tausend und aber Tausend bedeuteten nichts mehr für sich selber, besaßen keinerlei Wert außerhalb der weiten Allgemeinheit, die sie alle verschlang. Das aufständische Volk war eine gewaltige Einheit geworden, eine unermeßliche, wenn auch nicht unbegrenzte Körperschaft mit unzähligen Gehirnen, Mündern, Lungen, Herzen und Gedärmen.

Der Redakteur des ›Volksweg‹ überließ sich diesem Gefühl, berauschte sich an ihm. Ah, was wollten dagegen die Sozialpatrioten mit ihrer Einschränkung der Menschlichkeit auf dem engumpfählten Boden des Vaterlands! Die Heimat war etwas Gutes, Tüchtiges, gewiß – aber etwas Zufälliges und – wer wollte das nach dem größten aller Kriege noch bestreiten? – etwas Hinfälliges! Dagegen das Volk, das Leistungen vollbrachte, die Arbeiterschaft, die im erwachenden Bewußtsein ihrer Kraft Gehorsam forderte von den Bürgern und Geldleuten – das war etwas Ursprüngliches, Elementares!

Ah, keine Frage, wo er hingehöre – nicht eine Sekunde des Schwankens und Zauderns! Und was die Unzulänglichkeit der Führer anbetraf – dieses Pletterers vor allen – was lag daran? Einer mußte die Spitze bilden, nach der aller Augen sich richteten. Er mußte hart sein und den Abschluß bilden können, weiter bedurfte es nichts – und solange er nicht zerbröckelte, taugte jeder, den die Auslese der Masse nach oben trieb! Er mußte an jenen Abend in der ›Schiefen Ebene‹ denken, wie 181 da Pletterer in den Löwenkäfig getreten war. Fürwahr ein schlaffes Sinnbild damals – diese eingesperrten, ausgemergelten Raubtiere, die man noch Bestien schalt und die so gar keine Gelegenheit hatten, es zu sein! Das Volk dagegen – das war gefährlich, seit es länger keinen Käfig um sich duldete! Die Gitterstäbe standen noch zum Teil – aber eben nur noch zum Teil – und was hieß das anders als gar nicht! Bresche war gebrochen – auf die Lücke kam es an – daß Revolution war in Europa und sich hielt, bald da, bald dort – diese gewaltige Tatsache entschied alles! Irgendwo und an mehr als einem Orte stolzierte es schon in Freiheit – das wilde Naturtier, Volk geheißen – vor seinem drohenden Prankenschlag zitterte die duselnde Humanität der heutigen Menschheit. Welch ein hohes Lebensgefühl, dieses Tier mit zu sein, in es hineinzuschlüpfen, aus ihm herauszubrüllen, – armseliges Klümpchen und Stümpchen, das man selber war! Nur durch das Tier hindurch gelangte die entnervte, geschwächte Menschheit wieder irgendwann zu einem freien schöpferischen Zustande von Göttertum! Aber dahin führte der Weg nur über die skrupellose Machtfülle der Wüstenei – mit den fauchenden Tigernüstern, und blutige Fleischfetzen zwischen den fletschenden weißen Zähnen!

Solches waren die Gedanken, die in dem meisterhansischen Charakterkopf eines römischen Sklaven, hinter der steilen, von schwarzem Kraushaar 182 überwucherten Stirnwand umhersprangen und sich überschlugen.

»Spartakus!« murmelte er mit verbissenen Lippen.

Im Umsehen sprang er vom Sessel auf und war wie verwandelt. Ein durchdringender, gewaltiger Massenschrei durchbrauste das Volkshaus und hallte unten und draußen wider.

»Auf die Straße!« schrie er gellend mit, also daß man sich nach ihm umsah. Sein Gesicht leuchtete. Er warf die flache Hand um die Hüfte seiner jungen Frau und zog sie nach der Treppe, über die nur langsam der sich stauende Menschenstrom abfloß. Schlags elf schlug man los.

 

II.

Unter dem Torbogen des Zeitglockenturms wurde, von Hufschlägen angekündigt, ein Reiter sichtbar im Stahlhelm, mit feldgrauem Mantel: der Großmüller von Worbwabern, Oberstdivisionär Fritz Freudiger, am heutigen schweren Tage Platzkommandant der Bundesstadt.

Ein zweiter Pferdekopf erschien unter dem Gewölbe – Stabschef Oberstleutnant Hans Manuel rückte nach. Der Befehlshaber hatte es sich nicht nehmen lassen, zunächst einmal vom Roßrücken herunter das Feld seiner Befugnisse sich anzusehen. Aber zur Herausforderung wollte man es nicht 183 kommen lassen. Die grauen langen Automobile standen bereit.

Von der Marktgasse kam ein Trupp Soldaten als Bedeckung einer Zivilperson, die in der Mitte ging.

»Nein, das ist keine Verhaftung, Herr Oberst,« berichtigte Manuel den Argwohn des Vorgesetzten, »das ist einer der Nationalräte, die man aus dem Bundeshause eskortiert. Seh' ich recht – es ist ja sogar Bernhard Ysenschmied, mein Schwager.«

Der Oberst zog den graublonden Schnurrbart hoch und blinzelte: »Den wollen wir zu uns in den Wagen nehmen. Es bietet sich uns eine Gelegenheit mit dem Zivil in Berührung zu bleiben. Seine Wahl war eine Kraftprobe – das Bürgertum hat sie schön bestanden. Ysenschmied ist eine gute Verkörperung des vernünftigen Parlamentariers. Einer, der den Kopf nicht verliert beim Worte Revolution! Ah – guten Tag, Herr Nationalrat! Hätten Sie Lust zu einem Spazierfährtchen?«

Ysenschmied stieg mit ein.

Ohne weiteren Schutz, im Zeitmaß eines gemächlich trabenden Pferdes, bohrte sich der graue Pflug mit den drei Insassen unter dem Torbogen des Kornhauses in das Schollenfeld der dichten Menge hinein und zog eine weiße Furche auf das Steinpflaster. Das Getute des Hornes verschlang die beim Anblick des Feindes ausgestoßenen 184 einzelnen Flüche. Aber die Summe der heiseren Schreie und Verwünschungen wogte in drohendem Brausen über der schwerfällig sich bewegenden Volksmasse.

Und jetzt erst tauchten die eigentlichen ›Feinde‹ des ›Volkes‹ auf: die zum Ordnungsdienst ausgesandten Truppen! Auf einem Lastwagen hatte sich eine halbe Kompanie verknäuelt, also daß alle die Helme zu einem gewölbten Schuppenpanzer zusammenwuchsen und die Spieße der aufgepflanzten Seitengewehre aus den Fugen gleich steifen Borsten herausstarrten. Dieser Stacheligel rollte geräuschlos unter die Ansammlung der Aufständischen und blieben dort liegen ohne einen Mucks von sich zu geben. Dann lichtete sich das angehäufte Volk. In immer weiteren hellgrauen Flecken wurde das Pflaster sichtbar. Das Bellen und Knurren der Erbitterung nahm ab und verhallte.

Das Automobil fuhr an seltsamen Einzelszenen vorüber. »Es macht eigentlich den Eindruck einer Art Fastnacht,« meinte Manuel, »die Leute haben ihre Tagesgewohnheit drangeben müssen, und da ist es ganz natürlich, daß sie, soviel es geht, noch Belustigungen herausklauben.«

»Ist das nicht Benteli?« fragte Freudiger und deutete mit dem Finger über die Wagentüre hinweg. Auf dem Bahnhofsplatz stand der Landestopograph als einziger Bürger weit und breit, umringt von sieben schwärzlichen Gesellen, denen man die 185 Vaterlandslosigkeit von hinten ansah. Er hob die Hand zum Himmel wie zum Eidschwur, holte in einer langen Schwunggebärde aus und dröhnte Sprüche, deren Hall die drei im Wagen vernahmen.

Das Automobil sollte ruhiger gleiten. Oberst Freudiger wollte sich das Beschauliche nicht über Gebühr entgehen lassen . . . »Knüppel aus dem Sack.« Da waren Studenten, die einen armen, wehrlosen Teufel durchprügelten! Ah so, man hatte ihnen die Stöcke nur für den Notfall bewilligt. Unerfreulich. Und gar noch Studenten machten sich einer solchen, wenig ritterlichen Heldentat schuldig. Freudiger runzelte die Stirn. Das machte unnötig böses Blut. Vormerken! Zuständigkeitsüberschreitung!

Ein Jungbursche rannte gegen den Wagen und schrie: »Nieder mit dem Ideal!« Es war ihm durcheinander gekommen. – Er meinte: Kapital! . . . Von der andern Seite kam ein Mann des Weges, der hatte in sein Hutband eine breite Karte eingeschoben mit dem fetten Aufdruck: »Der Streik geht gut!« . . . . In der Schauplatzgasse ohrfeigte der Untersuchungsrichter Jenner den Schenkjungen aus dem Du Marché.

Um die nächste Ecke herum, unter einem Laubenbogen hervor wurde der Schauspieler Schrey im Schillerkragen an die Luft befördert. Er rannte seinem kollernden Hute nach und rief hinter sich blickend der bürgerlichen Übermacht zu, da sie ein 186 Lied anstimmte: »Meine Herren, aber ich verbitte mir die Nationalhymne!« Ein schwarzgekleideter Herr mit fliegenden Rockschößen bemächtigte sich vor dem Besitzer der immerzu weiter wirbelnden Kopfbedeckung. Es war der religiös soziale Pfarrer Jakob Wahrmund. »Die Bruderhand!« rief er. Der Komödiant stürzte dem Geistlichen in die Arme . . . Am Weibermarkt war eine Kehrichtabladestelle errichtet. Von dem Querholz des dazugesteckten Pfahles baumelte an einer Schnur ein erdrosseltes Kaninchen.

»Ah – der Hasengalgen!« Ein Schwarm knäuelte sich davor. »So Herr Oberst, hier, wenn Sie erlauben,« sagte Ysenschmied, »danke dann!«

 

Als er ausstieg, wurde er von Bürgern umringt. Es nahm sich beinahe aus wie eine Huldigung. Ein Weinhändler schwenkte ein abgeschraubtes Stuhlbein über sich in der Luft, und jemand brüllte aus vollem Halse: »Einheit der Front! Wir kennen keine Parteien! Vom Schneiderlein bis zum Herrn Bankier ein und dasselbe Ziel!«

Dergleichen Gesinnungsbeweise mit in Kauf zu nehmen, kostete Ysenschmied einige Überwindung. Er tröstete sich, als er in einigem Abstand über der Menge den Kopf des Professors von Travolet emporragen sah mit seinem charakteristischen, immer ironischen Gesichtsausdruck. Immerschon hatte dieser 187 gegen die Nachteile seines körperlichen Übermaßes den Vorteil abgewogen, gelegentlich wie ein Aussichtsturm eine Menschenansammlung zu überragen. Er steuerte auf den Studienfreund zu: »Grüß dich, Cato – der Ausguck meldet sich zur Stelle.«

Da von der andern Seite der Arbeitergesang ertönte, bat ihn Ysenschmied um Kundschaft, was für Führer drüben anrückten. Travolet meldete sofort: »Meisterhans und Müller, wie mir scheint!« Was für ein Müller?

Da stellte sich heraus, daß jener Elektriker, der damals das Unglück gehabt hatte, sein Kind zu töten, nun in einem allgemeinen Lebensunwillen zum Umsturz übergegangen war. – Auenstein trat herzu und bestätigte, der früher so ruhige Bürger hätte sich in den letzten Tagen als ein Hauptwühler und Fanatiker hervorgetan.

»Da kommen sie – auf, ihnen entgegen!«, forderten Stimmen.

Sofort brach Ysenschmied, der an der Spitze marschierte, nach rechts aus und betrat über die Laubenstufe die breite offene Gasse. Drüben wurde seine Absicht erwidert. Unter dem Bogen hervor quoll Volk, zuvorderst schritt Meisterhans. Die feindlichen Umzüge näherten sich einander. Der mittendurch laufende Strich der Steinplatten, die den Stadtbach deckten, grenzte die Heerlager ab.

Der alte Rektor Methfessel humpelte nebenher und fuhrwerkte mit seinem baumwollenen Regenschirm 188 in der Luft herum, er konnte nicht länger an sich halten. Sein zahnloser Mund mahlte: »Genau wie bei Homer! Die Helden unterbrechen den Kampf, um sich auseinanderzusetzen! Zwischen den Taten die Worte!«

Ysenschmied faßte Meisterhans ins Auge, der seine Anrede erwartete: »Wir hülfen jetzt aufhören. Zwei Tage hat man sich Rache geschworen. Es flaut ab. Heute nachmittag ist es dann bereits langweilig.« Der Arbeiterführer antwortete auf die gleiche Tonart – mit trockenem Spotte, die wahre Meinung in täuschenden Witz kleidend.

Die ruhige Unterhandlung wurde unmöglich über einem nebenan aufsteigenden Lärm. Ein Knäuel Proletarier verdichtete sich drohend um einen Mann, der mit den Armen fuchtelte. Dem Nationalrat Ysenschmied wurde alsbald gemeldet, es seien Bäckergesellen, in der Mitte jedoch der bekannte Schuldenbeck Lanz. Meisterhans bestätigte das, und so hörten beide Parteien dem unterhaltsamen Schauspiele zu. »Ich denke, ihr da drüben kennt mich,« schrie Lanz, »ihr habt mir meine verschuldete Hütte eingelaufen, nur damit ich zu euch überschwenken soll. Mit mir wolltet ihr Staat machen. Einen schöneren Tanzbären zum Herumzeigen hättet ihr nicht ans Seil bekommen. Aber den Gefallen hat euch der Hans Lanz nicht getan. Hans Lanz bleibt Bürger. Jawohl! Ich bin ein Opfer des Kapitalismus. Niemand ist durch das herrschende 189 System gründlicher ruiniert worden. Ich will dennoch auf meinem Eigenen sitzen bleiben wie Vater und Vorvater. Früher auf dem eigenen Gut, jetzt auf den eigenen Schulden! Ich bin ein Esel, kann sein! Ich lasse mein ererbtes Heimwesen nicht fahren. In meinen Schulden ist mir immer noch wohler, als es mir bei euern Löhnen wäre. Arbeiter bleib' ich, ein besserer als ihr alle zusammen!« Wieherndes, brüllendes Gelächter deckte diese Worte zu. Es war eine richtige Staatsrede gewesen, in der Hitze des Gefechts war die schwere Zunge behende geworden – und Ysenschmied wechselte einen erstaunten Blick mit dem langen Travolet. Dieser zwinkerte durch seinen Kneifer über die Köpfe weg in den brodelnden Kessel hinunter: der kleine untersetzte Lanz mit seinen ungeheuer breiten Schultern stemmte sich mit sägenden Ellbogen die Übermacht vom Leibe! Ysenschmied aber sagte zu Meisterhans auf die Entfernung von sieben Schritten: »Das ist noch ein urchiger Bernerbär – konnte sein Leben lang nicht auf Drei zählen und redet dann gleich Sprüchwörter.« Und nun traten sie wieder aufeinander zu, um ernsthaft eine Verständigung zu suchen.

Plötzlich schlug es allerseits von den Türmen – eine nicht enden wollende Zeile erst doppelter, dann wuchtig tiefer einfacher Schläge. Ehe man sich dessen versehen hatte, war es Mittag geworden. Da vollzog sich denn hüben wie drüben dasselbe 190 Schauspiel, ohne Befehl und Abrede, so Bürger wie Arbeiter liefen sie auseinander, um zu Mittag zu essen.

»Dann also um zwei Uhr wieder!« rief man hinüber.

»Nein, schon um halb!« tönte es zurück. Und die Gänsemarschlinien der sich auflösenden Gruppen flossen nebeneinander her und schmolzen gelegentlich in eine zusammen. So kamen die Mattenfischer Rudi, Sämi und Kari von ungefähr neben Bobsli Stürler zu gehen. Wurstemberger trottete außendran, zu hinterst Graffenried mit der kurzen Pfeife. Und sie warfen sich, vom Herrensöhnchen zum Fischerknecht und zurück, knappe, trockene Sätze zu, mit gutmütigen Mienen, die an ein Lächeln grenzten. Statt sich die Köpfe blutig zu schlagen, wäre es eigentlich ›gebiger‹, man ginge wieder einmal fischen! Freilich war jetzt nicht die Zeit dazu. Aber vielleicht konnte man sich heute Abend doch ein Stündchen zusammen in die Kähne setzen unten an den ›Schwellen‹. Und von den Fischen wenigstens reden! Auch von Mädchen, warum nicht!« »Also dann auf heut abend!« rief Morlotchen, der nachgekommen war.

 

Meisterhans und Ysenschmied verharrten auf der Stelle und um sie herum an die zwanzig auf jeder Seite. »Es ist in unserer Stadt kein Blut geflossen wie anderswo in diesen Tagen,« wollte 191 Meisterhans eben fortfahren. – Da nahte das Automobil des Platzkommandanten in gemächlichem Lauf. Dahinter etwas schneller, so daß er ihn bald erreichen mußte, der Wagen des Polizeiinspektors Auenstein. Und dann mit dem Lärm sich stoßender Kessel ein mit gepanzerten Soldaten gespicktes Lastfuhrwerk. Die unterhandelnden beiden Gruppen wichen zurück gegen die Häuser.

Da sah man aber ganz fern in der Sohle der Unterstadt, auf der Nydeckbrücke, einen vorwärtstreibenden schwarzen Punkt. Kaum wahrgenommen, schwoll er auch schon mächtig an, wodurch er denn sich als ein weiteres Kraftfahrzeug entpuppte, das den Vorgängern im Umsehen auf den Fersen war und sie nun in sausendem Schuß überholte, aber auch schon auf erschallende Pfeifensignale bremste und nun wenige Schritte oberhalb der Ansammlung hielt. Der Schlag des geschlossenen Verdecks öffnete sich, es erschien zuerst ein Stück gelbe Ledermappe, sodann das Ärmelstück eines grauen Fledermausmantels und endlich der Mann selbst, der niemand anders war als der Jungburschenführer Jakob Ursprung. Welch ein Unverstand von ihm. Welch ein Fang für die bereitstehenden Wachen! Steckbrieflich verfolgt war er beim Ausbruch des Landesaufstandes in der Bundesstadt nicht aufzuspüren gewesen. Es hieß, er sei mit wichtigen Papieren geflüchtet, um wichtigere zurückzubringen.

Der Unselige schien es auf die Verblüffung 192 abgesehen zu haben. Mit bleichem Gesicht, den Unterkiefer bebend vorgeschoben, sprang er eilends auf die vielen Menschen los und schrie: »Was zaudert man noch – ich sehe kein Blut. Der Bürgerkrieg ist unvermeidlich. Auf! Mir nach! Ich will zuerst fallen – vor allen andern!« Und wie mit Zauberschlag war er von einem Dutzend Burschen umgeben, und eben kam aus der Laube links ein weiteres Schärchen eingeschwenkt, bezeichnende Gestalten mit kurzgeschorenem Haar und beim Gang absichtlich herausgedrückten Muskeln, schwere Stöcke in den Händen!

Aber schon rückte auf stillen Rädern der beschuppte Wagenturm vor und schob und bedeckte und trennte. Ein losgerissener Pflasterstein beschrieb seinen Parabelbogen über dem allem und prallte an einem Helm ab. Der Soldatenigel stand inmitten der Straße. Abgesessene Füsiliere trieben mit quer gehaltenem Gewehr das erregte Zivil in die Lauben zurück.

Hauptmann Auenstein trat berichterstattend an den Wagenschlag des Platzkommandanten: der Vogel war nun wirklich mitten ins Garn geflogen! Ursprung wurde mit drei anderen Verhafteten zwischen die Maschinengewehre auf den Wagen geschoben. Und zu allem Überfluß bog mit geschulterten blinkenden Sensen und Flegeln die Wortwabener Phalanx des alten Wüthrich in die Gasse ein.

193 »Nun aber Schluß!« winkte Freudiger. »Ich will keinen Putsch für Ursprung!« Ehe Ysenschmied sich's versah, war er von den Auseinandergehenden verlassen und ging selber die Unterstadt hinunter, die nach der Auflösung dieses Zusammenlaufes ruhig dalag, als wäre nichts geschehen. Er blieb stehen, da er Hufschläge zu vernehmen meinte, und sah nun in gemütlicher Fahrt eine geschlossene Kutsche die Stadt herabschleichen. Wer jetzt wohl Droschke fuhr?

 

Als sie näher kam, hatte ihn Rysold bereits entdeckt und ließ halten. »Herr Nationalrat! Pst! Du! Cato!« rief er, »einen Augenblick bitte! Hier geht etwas rein menschliches vor. Das hat mir der leidigen Politik nichts zu schaffen!« Das Gefährt hielt. Ysenschmied trat näher und erkannte Severinovits und neben ihm zusammengekauert, die Ungarin Maria Ozorai, die soeben von ihren Beiständen in die Irrenanstalt Waldau übergeführt wurde.

Da, während Ysenschmied unwillkürlich über den Kutschenschlag hinweg auf die verschleierte Gestalt starrte, schreckte ihn ein durchdringender Schrei auf, der gegen ihn ausgestoßen wurde. Krampfhaft gekrümmte Finger fuhren nach dem Schleier hinauf und rissen ihn mit einem Ruck mitten entzwei. Das Gesicht schob sich zwischen den sich teilenden Vorhang, der es tief verhüllt hatte. Die Fetzen des Spitzentuches hingen ihr mitsamt dem zerzausten 194 Haar über Stirn und Wangen herunter. Aus den Lippen war der Bleichsüchtigen alles Blut gewichen. Eine graue Linie lag gepreßt quer unter der zierlichen Nase und stöhnte und wimmerte. Die Brauen wölbten sich drohend, die Lider klappten in die Höhle zurück, auch die Wimpern verkrochen sich unter das Stirnbein – so schauerlich gähnte ihn die Finsternis einer erloschenen Seele aus dem Abgrund ihrer schwarzen Augen an. Die Pupillen wuchsen, sperrten sich weiter und weiter – und als die Räder sich in Bewegung setzten und Ysenschmied sich vor dem ihn streifenden Wagen in Sicherheit brachte, da hatte er den Blick getan, den er nicht wieder los wurde, den Blick in die Nacht des Wahnsinns, des würgenden, mordenden Wahnsinns.

Immerzu und überall, wohin er in den nächsten Stunden seine Schritte lenkte, klafften vor ihm diese grauenhaften dunklen Tore. Sie saugten, sie schlürften Lebendiges hinter sich hinunter. Ein Schlund, in den alles versank, wofür er, Ysenschmied, arbeitete und kämpfte! Was war es nur, das ihn diese arme Zerstörte, diese haltlose Halbverbrecherin nicht vergessen ließ? War das denn nicht auch eine jener minderwertigen Figuren, die er mit geübtem, sachlich deutendem Finger über das Spielbrett seiner Berufstätigkeit schieben mußte! Mitleid? Nein, etwas ganz anderes als Mitleid! Alpgleich drückte ihm auf die Brust die Gewißheit, daß diese hysterische junge Frau wohl eben doch eine große Liebende 195 gewesen sei, nicht grobsinnlich, vielmehr geheimnisvoll irrend und sich sehnend – also eine Gläubige, eine Unschuldige! Diese Einflüsterung warf ihm sein Inneres durcheinander. Ihn trug nicht mehr sein fester, straffer Schritt – er wankte auf offener Straße. Heute brach eben zu viel über ihn herein – die Nerven gehorchten nicht mehr. Weg damit! Wo blieb denn sein Wille? Es war Zeit, daß er sich einen Stoß gab – sich zusammennahm.

 

III.

Das Volk ballte und staute sich in der Waisenhausstraße – es wollte um jeden Preis Jakob Ursprung befreien. Soldaten schnürten das Untersuchungsgefängnis ab.

Die Menge nahm eine Lücke wahr, zwängte einen Keil hinein und schob sich gegen das Portal, begann zu johlen. Offiziere traten vor, gaben Zeichen, deuteten.

Jakob Ursprung trat zwischen die Soldaten auf der Vortreppe und hielt eine Ansprache von wenigen Sätzen, bleich, hauchend, mit geschlossenen Augen: »Brüder! Macht aus mir keinen Streitfall. Laßt mich dieses Unrecht erleiden. Es kommt der Sache zu gut. Will einer euer Führer werden, so muß er Kerkerstrafe vorweisen können. Vergällt mir diese Ehre nicht! Also bitte – Genosse Pletterer – beschwichtigen Sie unsere Freunde – ich habe mir's überlegt. Dank für die bewiesene 196 Treue!« Der Wachtoffizier schob Soldaten vor ihn – das Portal verschluckte ihn wieder.

Pletterer stieg auf den Steinsockel eines eisernen Gartenhages und bewog die Menge, dem freiwilligen Märtyrer den Willen zu tun. Ehrfürchtiges Schweigen folgte. Eine Schwadron, auf zwei Stränge verteilt, tauchte auf – sie verrückte ohne Anwendung von Gewalt das Bild der Straße.

Elisabeth Walthard schritt weinend zwischen Geschwistern und Freunden – weit über ihre Jahre hinaus in der Haltung einer geprüften und gereiften Frau, die ihr Schicksal trägt. Sie haderte mit dem Geliebten: »Warum tut er uns das an? Er ist wankelmütig. Und widerspricht sich. Was anders hat er denn heute früh vor aller Welt gefordert, als er mit Windeseile eintraf – der beflügelte Götterbote! Warum fließt kein Blut! ›Ich muß Blut fließen sehen!‹ hat er ausgerufen in unversöhnlicher Wildheit. Was geschieht? Rohe Gewalt martert ihn – das Volk erhebt sich – will ihn befreien – will ihn rächen. Er aber – er – besinnt sich eines Besseren! Er wird feinfühlig – wird rücksichtsvoll! Schickt mich, seine Geliebte nach Hause wie ein Schulmädchen. Ist das zu ertragen?« Ihre Augen irrten, ihre Kehle zuckte. Sie schluchzte.

Ein Windstoß legte ihr das Kopftuch in den Nacken und rupfte und zauste an dem blonden Vogelnest ihrer Haartracht herum.

197 Mathilde Rohr schob die Hand in ihren Armwinkel und zog sie sanft von hinnen. Auch jetzt gab es für eine machtlose Frau nur eine Notwehr: Güte über alles Verstehen hinweg!

»Komm – wir wollen dankbar sein!« redete sie ihr leise zu. »Daß man ihn ein bißchen einsperrt – nach diesen Reden, ist doch wohl nur in der Ordnung. Er wird sich nun besinnen und hat sich schon besonnen, zu seiner Ehre sei es gesagt! Bleib Du nun nicht hinter ihm zurück – gelt, du machst ihm nun keine Schande! Brich auch du deinen Willen, Trotzkopf!«

Sie blieb stehen, wurde eindringlich, wandte alle Beredsamkeit auf: »Was kann ihm geschehen? Nun ja, er hat zum Aufruhr angetrieben, heute früh! Aber das war die Jugend und war die Leidenschaft! Er hat nichts auf dem Kerbholz – sein Schild ist fleckenlos – sein Leumund kommt ihm zu gute. Aber ihr dürft euch nicht mehr in diese schreckliche Hitze hineinsteigern – das ist ja Weißglut, wie ihr für eure Ansichten und Ideale siedet!«

Elisabeth, aschfahl, schrie auf und stampfte. Sie taumelte. Es sah aus, als wollte sie sich hinwerfen, sich wälzen. »Behalte deine fade Weisheit für dich, Mathilde,« raffte sie sich auf und trat gegen die Schwester hin: »Du bist eine alte Tranlampe.«

»Wir können das nicht länger mit anhören,« ergänzte die Agitatorin, deren Profil dreieckig in 198 die Nasenspitze vorsprang. Auch was sonst an Frauen herumstand, beteiligte sich an dieser Verwahrung. Ihrer sieben nahmen Elisabeth in die Mitte und entführten sie.

»In welchen Zeiten wir leben! Was für Sitten!« rief Mathilde erstaunt aus. Einzig die junge Frau Meisterhans war bei ihr zurückgeblieben. Ihr wandte sie sich zu: »Komm, heimzu! Nichts mehr von Alledem!« rief die Bäckerswitwe.

In ihren Gedanken baute sich, riesengroß, die Knetmaschine auf, die sie im Keller stehen und über diese Tage selbst bedient hatte. Eisenstangen mit Schaufeln am Ende, die seitwärts eingriffen und den Teig durchwalkten. So ging es jetzt den Menschen: von einer Maschine erfaßt wurde man – durchgeknetet wurde man!

 

IV.

In einer Schulhausturnhalle sammelten sich die Bürgerlichen. Ysenschmied wurde bei seinem Eintritt von dem Nationalrat Schnyder empfangen.

»Nun? Was sagt man zu uns Schwarzen? Die Christlichen haben die Arbeit aufrecht erhalten. Sie haben den Streik gebrochen,« frohlockte er. »Und,« fügte er bei, »wer hält heute in Zürich die Ordnung aufrecht? Das Urnerbataillon – die Tellenbuben. Nicht wahr, Adrian?«

Der Direktor von Roll stand etwas abseits. 199 Ein großer Ernst lag auf seinem Gesichte. »Ich kann nicht mit vollen Backen in die Posaune stoßen, wie Du,« bedeutete er dem streitlustigen Bürgerführer. »Dieser Kämpfe soll sich überhaupt niemand rühmen, auch wenn er obenauf bleibt.« Jetzt grüßte Ysenschmied den Direktor, ihre Augen fanden sich in stummem Einverständnis.

An einem Tischchen, in der nicht völlig ausgefüllten Halle, amtete ein Ausschuß der Bürgerwehr. Auf den Holmen der Barren saßen in Ermangelung einer richtigen Bestuhlung Bürger und harrten auf eintreffende Verfügungen. Sie riefen: »Hier!« und hoben die Hände in die Höhe, um abzustimmen. Andere standen in Gruppen herum. Viele davon rauchten.

Der Obmann, der manchmal eine Glocke schwang und sich Gehör verschaffte, warb um weitere Anmeldungen: »Mitbürger – die Sicherheit verlangt, daß wir diese Nacht starke Posten bereit stellen. Ein Überfall ist nicht ausgeschlossen. Mit einem Handstreich zur Befreiung der Verhafteten soll eben doch zu rechnen sein. Meine Herren, Freiwillige vor!«

Da sah Ysenschmied, wie ein jüngerer kleiner Krankenpfleger in vorschriftsmäßiger Samaritertracht und ein stämmiger älterer Arbeiter in sehr abgetragener, ärmlicher Kleidung sich dem Tische näherten. Er erkannte den Proletarier erst nicht. Dann entdeckte er gleichzeitig die charakteristische Linie des linken Schulterrückens und den 200 untrüglichen Tonfall der Stimme. Richtig – ja, sein Freund der Jugend schwamm zurzeit im sozialen Fahrwasser – davon hatte er schon gehört.

Wilhelm Sebastian Luternau-Stuckishaus gebärdete sich recht lebhaft gegen die Herren des Ausschusses – er verlangte, wenn immer möglich in einem Straßenkampfe verwendet zu werden. »Ich habe nun lange genug Kranke gepflegt. Es sind wieder neue Samariter eingetreten. Ich stelle hiermit der bürgerlichen Sache meine Körperkraft zur Verfügung.« Er wurde gemustert und bot einen sehr kräftigen Anblick dar. So trug der Schreiber seinen Namen in die Liste ein. Dagegen wurde Zeerleder nicht von der Krankenpflege beurlaubt. Er solle sich bereit halten zum Nachtdienst.

Ysenschmied wunderte sich über das einträchtige Gespann: »Wie? Habt ihr beide im selben Wagen Kranke befördert – obschon?«

»Obschon?« stutzte Edgar.

»Ja obschon!« bestätigte der Pater.

Folgendermaßen waren sie, wie er nun erfuhr, zusammengeraten: als Edgar Zeerleder in seinem langen weißen Zwilchmantel an einer besonders ärmlichen Gasse des Arbeiterviertels ein besonders dürftiges Haus absuchte, entdeckte er in einer Mansarde auf einem ungemachten Armsünderbett den Konvertiten. In einer braunen Jacke trug er sich äußerlich wie der Geringsten einer und schlief seine Erschöpfung aus, die er sich durch unermüdliche 201 Hingabe an das menschliche Elend zugezogen hatte. Auf dem eisernen Feldbett lag der Schlafende, in den Kleidern, das Gesicht gegen die Wand. »Aber kaum war er erwacht,« ergänzte Zeerleder dem Hausgenossen Ysenschmied seinen Bericht, »so sprang er auch schon munter auf seine Beine und wollte es nicht anders haben, als mit mir Kranke einholen und überführen. Das haben wir nun stundenlang besorgt – ohne Unterlaß haben wir seit heute früh eingeladen und ausgeladen!«

Ysenschmied maß die beiden Freunde abwechselnd. Er wußte etwas.

»Wißt ihr's?« forschte er.

»Du meinst das Fräulein von Luternau. Ja ich weiß, sie hat sich die Grippe aufgelesen und ist zu äußerst außen. Die Ärzte haben sie aufgegeben.« Gleichgültig glitt das alles über die Lippen ihres Vaters.

Zeerleder riß die Augen weit auf. »Was? Und ich erfahre nichts?« Er herrschte beide an: »Du schweigst. Sie schweigen.« Und dann entschlossen: »Sie ist meine begabteste Schülerin.« Er stand und überlegte. Dann entfernte er sich schroff, ohne zu grüßen.

Da trat ein Greis herzu mit tiefen Furchen im Gesicht. Ysenschmied redete ihn an, erschrak aber ob seinem Anblick. Es war ein Onkel jenes gefangenen Vatermörders, dessen Prozeß vor dem Schwurgericht immer noch bevorstand. Der alte Mann im 202 weißen Spitzbärtchen, mit hohlen Augen lud die Herren zu einer geschlossenen Gesellschaft ein: es sei ein kleiner Kreis christlicher Patrioten, der gerade heute zu tagen sich nicht habe abschrecken lassen. Er nannte das Haus eines Herrn ›von‹ und angesehene Persönlichkeiten, die man dort finde. Stuckishaus wies auf seinen verlumpten Anzug. »Bewahre – keine unstandesgemäße Bekleidung, vielmehr ein Ehrenrock,« versetzte der Herr und betonte, er sei auf dem Laufenden, was das eigentümliche Schicksal des Patriziers betreffe.

»Allerdings,« versetzte dieser bestimmt, doch beinahe tonlos, »ich bin geweihter Priester, erhielt aber Dispens, noch den Kittel des Handarbeiters zu tragen, ehe ich das heilige Kleid öffentlich anlege. Dann werde ich die volle Gnade erworben haben und mich im kirchlichen Amte aufzehren dürfen.« Er erklärte sich bereit, der Einladung in die Versammlung Folge zu leisten, und Ysenschmied schloß sich nach einigem Zögern an.

Sie gingen lange und schweigend nebeneinander fürbaß.

Sonst, früher, bestand für Ysenschmied das Vergnügen einer Stadtwanderung darin, mittelst seines Gedächtnisses die einzelnen Bürgerhäuser auf ihre persönliche Eigentümlichkeit hin zu würdigen. Von vielen unter ihnen kannte er die Geschichte, wie viel Handänderungen sie erlebt und wer alles der Reihe nach in ihrem Besitz abgewechselt hatte. 203 Besonderheiten des Baustiles, hier ein Erker, dort ein Walmdach oder der dreiteilige Kreuzstock eines breiten Fensters, waren ihm geläufig. Die Häuser der Straße, die er hinuntersah, standen da wie Volk, wie erstarrte, gefrorene Kundgebungen, nicht mehr um auf einen Kenner eine Wirkung auszuüben und seinen Bildungsschatz zu bereichern. Nicht das Bekannte, das Unbekannte an ihnen machte sie ihm anziehend. Was sie an Schicksalen beherbergten, was für Geister in ihnen umgingen, welche Gier sie erfüllte und welche Entsagung!

 

Beate von Diesbach verließ das Haus an der Junkerngasse, um sich zu der Versammlung ihrer Gesinnungsgenossen an der Kirchgasse zu begeben. Sie kam vom Sterbelager Gondas – das Kind hatte sich an der Pflege kranker Krieger angesteckt und lag nun da mit vergiftetem Blute. Der traurige Gedanke. daß nun auch dieses blühende, wertvolle Leben dahingerafft werden sollte, schlug bei ihr in Verbitterung um – sie ließ es sich nicht ausreden – es war die Strafe Gottes, die unsere sündhafte Zeit traf. Nun versuchte der Arzt noch, die erschlaffende Herztätigkeit durch Alkohol aufzupeitschen. Nun ja – vielleicht nahm das junge Blut unter einem solchen gewaltsamen Sporenhieb einen letzten verzweifelten Satz und rettete sich. Das war dann ein Wunder. Aber wo vernahm man das Dankgebet für die widerfahrene himmlische Gnade! Der Hausarzt 204 Dr. Rüfenacht hatte ihr das Lob der Berner Frauen in diesen Tagen gesungen, eben noch vorhin: die hilfsbereite Gonda war eine unter Hunderten gewesen – in die Notspitäler drängten sie sich in Scharen, mußten stundenlang warten, bis man sie überhaupt einschrieb. Und sie starben dahin, die tapferen Mädchen, nachdem sie von den Soldaten den Todeskeim angespuckt bekamen – der Sterbende wußte nicht mehr was er tat – kein Aufruf war nötig, von Mund zu Munde ging die Kunde der Not – kein Vater hielt die Tochter, kein Gatte die Frau zurück. Diese Worte des ergriffenen Arztes klangen in ihr nach. Aber die Größe solcher unmittelbar menschlicher Hingabe genügte ihr nicht – der allmächtige Gott kam dabei zu kurz!

Sie fühlte ihre steif gestärkte Linnenhaube ihr die Schläfe streifen – war das sträflicher Standeshochmut der Diakonissin gegen alle nicht unter Gebet und Handauflegung eingesegneten Wärterinnen? Oder regte sich die glaubensharte kalvinistische Aristokratin in ihr? In trüber Stimmung, doch ohne allen Wankelmut ging sie fürbaß und sah von ferne ihr ehemaligen Freunde Ysenschmied und Luternau in der Straße auftauchen.

 

In dem Treppenhaus der Patrizierwohnung an der Kirchgasse wurden die beiden Herren in ein kleines Zimmer gewiesen, wo sie sich zunächst allein sahen. Es war ein schmaler hoher Raum mit 205 schweren Gardinen und angestammtem vornehmem Hausrat. Dann stellte sich der Hausherr, ein ehemaliger Oberst von ritterlicher Haltung und Zunftherr zu Distelzwang, vor: »Votre serviteur, Monsieur l'abbé!« Nebst tiefer Verbeugung! Der Rollentausch vom Edelmann zum Arbeiter war ruchbar geworden gleich den früheren Entwicklungsstufen des abtrünnigen Patriziers und Römlings.

Eine geöffnete Tür gewährte den Ausblick auf eine Flucht aneinanderstoßender Zimmer. In dem hintersten Raum, offenbar einem kleinen Saale, fand eine Versammlung statt. Eine Ansprache klang litaneihaft herüber. Man sah zwei Offiziere der Heilsarmee in einer Portalöffnung.

Nach einer Weile vernahm man die erhobene Stimme Beatens und hörte sie sagen: »Wenn sichs ums Geldverdienen handelt, dann stehen die jungen Mädchen der Stadt nicht zurück an Pflichterfüllung und Hingabe. Auch aus gutem und begütertem Hause verdingt sich die Tochter in irgend eine Buchhaltung, um bald auf eigenen Füßen zu stehen. Sehr tüchtig, sehr ehrenwert – aber die eigentliche Barmherzigkeit, die nicht an das Ihre denkt, geht dabei leer aus. Wie beklagenswert!« Dann unterschied Ysenschmied an der Stimme den Kaufmann Dojourdhui, seine kleine Ansprache bekam durch den in einer erhöhten Tonlage schwebenden Vortrag etwas Feierliches, Flehendes. Ein weiterer Redner empfahl die Gründung einer selbständigen 206 Evangelischen Partei. Darauf wurden Stühle gerückt und auch wer es nicht sah, spürte, daß jetzt die Leute aufstanden. Es wurde ein Gebet abgehalten, der betreffende Geistliche schlug sehr bewegliche, inbrünstige Töne der Reue, aber auch der Zuversicht an.

In dem Vorzimmer hielten sich Ysenschmied und Luternau zurück, als Unbeteiligte, wenn auch rechtmäßig Geladene. Luternau betrachtete den Wänden entlang Bilder und Möbelstücke und pfiff mit spitzem Munde leise und boshaft vor sich her. Dann gesellte sich nach Schluß der Andacht Beate zu ihnen.

Sie ließ sich ihrem Vetter gegenüber auf einen Stuhl am Fenster nieder. Im Verlaufe des Gespräches bekannte sich Beate zu dem festen Glauben an eine baldige Wiederkunft des himmlischen Herrn gemäß den ausdrücklichen und unverkennbaren Weissagungen in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, das durch den Weltkrieg erst recht in seine eigentliche Bedeutung einzutreten scheine. Ihr geistlicher Widerpart ließ dieser lebhaft vorgebrachten Auffassung alle Gerechtigkeit widerfahren, hielt ihr aber den unerschütterlichen Felsen Petri entgegen, dem auch die in diesen Tagen besonders lästerlich sich gebärdenden Pforten der Hölle nichts anzuhaben vermöchten. Um dieses eifrig verhandelnde Paar sammelten sich aus den umgebenden Zugängen einige weitere vornehme Persönlichkeiten, die auf den Zehen eintraten und sich 207 unauffällig irgendwo in der Nähe aufstellten oder setzten. Der eine Salutistenoffizier erlaubte sich in bescheidener Weise Ergänzungen und Einwände – stummes Kopfnicken von dem einen und andern Zuhörer bezeugte die allgemeine Teilnahme.

In dieser Vereinigung von acht bis zehn Leuten war wirklich niemand ohne den beschränkten Ernst und die untrügliche Wohlerzogenheit der obersten städtischen Einwohnerschicht. Auf jedem Halse saß ein charakteristischer, ausdrucksvoller Kopf mit einer gedämpften, ergebenen, wenn auch keineswegs heuchlerischen Umstandsmiene. In der Tracht der Gegenwart ein geschichtliches Gruppenbild, zu dem durch das hohe Fenster durchscheinend der graue Mauerausschnitt der nördlichen Münsterseite mit seinen Strebepfeilern und Zierhelmen den gegebenen Hintergrund bildete!

Gänzlich unbeachtet saß Bernhard Ysenschmied in einem niedern Rokokolehnsessel mit blauseidenem Polster und rührte sich nicht. Er kannte so ziemlich alle Anwesenden dem Namen und Leumund nach. Jeder war ein vollkommener Ehrenmann – und neben Beate entdeckte er nun auch das ihr gleichgesinnte Reichsfräulein von Erlach, eine Matrone von heimeligem, friedfertigem Gesichtsausdruck, von deren innigem, tiefsittlichen Liebeswalten unter Nächsten und Fernsten nur eine Stimme dankbarer Verehrung herrschte. Nicht ein Fünkchen Spottes oder verständnisloser 208 Überheblichkeit mischte sich dem Staatsanwalt in seine Betrachtung. Wehmut, schmerzliche Wehmut über ein Unabänderliches spannte ihm die Seele aus. Nein, dieses Standesbewußtsein war wenig geeignet zum Bollwerk wider den Aufruhr. Man brauchte nicht einzustimmen in die Schmähungen des Pöbels, brauchte nicht von Dünkel zu reden, nicht über enthirnte Trottel die Nase zu rümpfen – tieftraurig, trostlos blieb dies bei alledem doch. Da war nur noch Abglanz und Rückstand übrig geblieben mit all den verbindlichen Kratzfüßen und Redensarten wie auch dem wohlmeinenden, ehrenwerten Beten und Singen – Schemen begrüßten sich, Schatten bekräftigten sich gegenseitig aneinander. Und der einzige von ihnen allen, der nicht bereits in Charons Nachen den Obolus für die Wegfahrt auf Nimmerwiedersehen entrichtet hatte, der einzige, der auf eigene Weise verstand schöpferisch zu erleben, mit einem Wort, der einzige lebendige Mensch von diesem gesamten hochvermögenden Patriziat – was hatte der getan? Den Schritt der Verzweiflung – und den Fuß auf den Weg nach Rom gesetzt. Dort saß er ja, gelangweilt von dem wenig ergiebigen Gerede mit Leuten seines Blutes, die er doch verachtete und haßte. Abgewendet von ihnen, ließ er sie schwatzen – sein Blick schwebte durch die Fensterscheibe hinüber an die Wand der gotischen Kathedrale. Die denkbar stilvollste Folie für sein blasses, scharfgeschnittenes Ritterprofil! Was galt es, sein 209 Geist eilte der Zeit entgegen, da am Hochaltar des Münsters von Sankt Vinzenz der lateinische Lobgesang erschallte: »Ave Maria, stella maris!«

Der Staatsanwalt schrak zusammen. Der Hausherr stand vor ihm. Herausfordernd, wie nicht zu verkennen war. Seine Entschlossenheit nahm sich halb drohend, halb verlegen aus. »Verzeihung, Herr Prokurator,« hüstelte er, »Sie haben unserer Einladung freundlich Folge geleistet. Ich nehme nicht an, daß Sie sich unter uns völlig fremd fühlen. Und doch, Herr Nationalrat, eine bange Frage: gehören Sie zu uns? Sind Sie auch nur halbwegs noch auf unserer Seite? Sind Sie gläubig? Sind Sie bürgerlich?«

Ysenschmied stand auf. Das plötzliche Verhör kam ihm gar nicht unlieb. Sonst – ein unausdenkbarer Gedanke, daß er auf Befehl vor Leuten Farbe bekennen mußte! Heute aber, jetzt, in dieser Viertelstunde, kam es über ihn wie eine heitere Lücke im Gewölk. Er wollte antworten, in diesem alten städtischen Hause wollte er sprechen.

»Meine Damen und Herren,« begann er, als er an der Seite des Gastgebers in den Saal hinüber geleitet wurde, an ein kleines Tischchen, hinter das er nun trat, gleich den andern Rednern vor ihm – »ich gehöre, glaub ich, doch ein wenig hieher. Es sind hier noch Liederbücher aufgeschlagen – Glaubenslieder, Heilslieder – ich fürchte allerdings, die kann ich kaum mehr mitsingen. Dazu bin ich 210 nicht mehr Knabe genug. Aber die Bibel da – ich denke nicht, daß mir nachgewiesen werden kann, ich hätte nichts mehr mit der Bibel zu tun. Bibelglaube ist Bibeldankbarkeit, hab ich einmal gelesen, ich weiß nicht mehr wo. Das hat mir sehr gut gefallen. Es würde schwer halten zu sagen, was ich aus der Bibel noch glaube und was nicht. Aber ich könnte Ihnen manche Stelle aufblättern, der ich dankbar bin. Dankbar ist man dem, was man erlebt hat – so erlebt, daß es ein Stück vom eigenen Selbst bildet. Erleben ist freilich etwas Freies – hier drinnen steht das ja wohl klar und deutlich – dieser unsichtbare Wind und Geist, der über einem kommt – du hörest sein Brausen wohl, aber du weißt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt – also, wie ich eben sagte: etwas Freies! Da kann ich mich unmöglich reglementieren lassen – ich warte ab, was mit mir geschieht – und wie's geschieht, ist's recht. Ich meine, mit einer solchen Gesinnung bin ich doch gläubig. Freigläubig allerdings. Strengdenkend, aber freigläubig – das ist etwas anderes als einfach ein Freidenker, wie Sie sich vielleicht mich vorstellen. Und ebenso – wie ich freigläubig bin, auch freibürgerlich – das geht Hand in Hand. Ich bin heute im Bürgertum auf Ihrer Seite – ich sollte eigentlich auch in Ihrem Glauben auf Ihrer Seite sein, vorausgesetzt, daß Ihr Glaube dafür groß genug ist . . . .«

Er konnte nicht fortfahren. Die Türe, dicht 211 neben der er stand, wurde aufgestoßen – ein kalter Hauch vom Flur durchschauerte ihn. An dem eintretenden Dienstmädchen vorüber erblickte er, als er sich umsah, seinen Hausgenossen Zeerleder noch immer mit dem Staubmantel und der grünen Wachstuchmütze angetan, aber sein Gesicht hatte kaum mehr Farbe als die getünchte Flurwand, vor der er stand.

»Frau Marquart von der Junkerngasse läßt sagen« – meldete die Zofe in der Richtung der Hausdame. Da erhoben sich alle. Niemand wagte den Anblick des weiland Herrn Doktor von Luternau zu suchen. Und er sah sich nach Niemanden um. Ohne mehr von was es sei Notiz zu nehmen, durchmaß er festen Schrittes den Teppich des stilvollen Salons, gefolgt von Beate und Ysenschmied. Schweigend ließ man sie ziehen. Die Zimmertüre fiel ins Schloß. Nur die drei Beteiligten traten draußen dem Unglücksboten entgegen.

»Wird Adelgunde sterben?« wendete sich Wilhelm von Luternau an Zeerleder.

»Wenn nicht ein Wunder geschieht – ja!«

Der leibliche Vater richtete sich schnell auf: »Ein Wunder? Gut! Es wird Zeit für die heilige Wegzehrung. Meine ehemalige Tochter soll versehen werden. Pater Sebastian will zur Stelle sein!« Und aufrecht, ohne Gruß, in abweisendem Stolze kehrte er sich in seinem abgetragenen Arbeiterkittel von ihnen ab. 212

 

V.

Im hinteren Saale des Café du Marché, wo sonst getanzt wurde, bewies der Pächter unter Anempfehlung zurückhaltenden Benehmens bekannteren Stammgästen die übliche Aufwartung.

An dem runden Ecktisch mit den hohen Armstühlen, vor sich rote Rosen zwischen dem Geschirr, machte es sich, in schwarz und weiße Seide gehüllt, die Nora Sagg bequem. Ihr Hut mit den breiten Krämpen war in derselben Farbe gehalten, und unter ihrem Kinn durch schwang ein loses Band seinen weiten Bogen.

Die Kurtisane lud die beiden Glücksritter zum Abendbrot ein. Sie taten ihr leid. Niedergeschlagen waren sie von ihrer traurigen Sendung aus dem Irrenhause zurückgekehrt. Maria Ozorai hatte ihnen einen ohrenzerreißenden Abschied bereitet, indem sie auf ihrem Zimmer gleich auf das Fenster loseilte und mittelst eines Hechtsprungs gegen die splitternden Scheiben sich an der Schläfe eine Schnittwunde beibrachte . . .

»Schmeckts dir nicht?« fragte die Sagg, die wacker einhieb, den Serben. Der bat um Erlaubnis jetzt schon rauchen zu dürfen, sonst bringe er keinen Bissen herunter. »Heute kommen die Kerle – ihr werdet sehen – heute holen sie mich.« Und er 213 stopfte sich wie wütend die Zigarette. Rysold bespöttelte seine Unruhe: »Einmal muß es ja sein – darum herum kommst du nicht und komm ich nicht! Haha!« Und er leerte das feingeschliffene Kelchglas in einem Zuge.

Vorn im Kaffeeraum durften diesen Abend geistige Getränke nicht ausgeschenkt werden. Dennoch war kein Stuhl frei. Die bürgerliche Kundschaft überwog bei weitem. Aber plötzlich tauchte unter dem Türvorhang Pletterer auf. Ihn begleiteten einige fremde Sozialisten. Seltsamerweise waren sie eben mit dem Zug, der dank der Untreue der Eisenbahner doch noch fuhr, angekommen. Er belegte wie immer einen Tisch, an dem, wie er wußte, die blonde, hübsche Lisy bediente. Sie behandelte ihn mit schlecht verhehltem Zorne. Das hielt ihn nicht ab, ihr schön zu tun. Sie verbat es sich. Da griff er sie am Handgelenk und wollte sie gegen seine fletschenden Zähne ziehen. In ihrer Wut tastete sie hinter sich, bekam auf dem Marmortisch ein Messer zu fassen und zückte es. Nun entfuhr ihm ein Fluch – ein gelber Strahl zuckte im Blick. Da warf sie ihm die Klinge gegen die Stirne.

Die Verwundung hatte nichts zu bedeuten. Aber der ganze Auftritt tat die Wirkung einer Mordtat. Das Mädchen wurde schreiend weggeführt. »Und wo ist denn jetzt der Staatsanwalt? Zum Schutz eines Bürgerlichen ständen längst ihrer drei da!« rief einer aus der Umgebung des Volksführers, als 214 dieser zur Besonnenheit mahnte und die geritzte Haut mit dem Taschentuch betupfte.

Auenstein erhob sich hinter einer Säule und stellte fest, das Nötige sei mit der Entfernung des Mädchens vorgekehrt. Pletterer aber erklärte mit erhobener Stimme, er gedenke nicht von ferne wegen einer solchen Kleinigkeit Strafantrag zu stellen. »Er weiß, warum?« rief einer der Bürgerlichen, der sich hinter dem Rücken eines Nachbars duckte und so nicht zu ermitteln war.

Und plötzlich, man wußte nicht, wo er herkam und trotzdem nach den überall angeschlagenen Verboten Hunde draußen zu bleiben hatten, schoß auf einmal ein Pudel zwischen den Beinen der Stühle und Gäste herum: Ysenschmieds Prinz. Er brachte ursprünglich in der Schnauze ein in weißes Papier eingewickeltes Stück Speck mit, legte aber alsbald den Inhalt sorgfältig auf den Boden, während er die leere Papierhülle im Maul, hilfeflehend herumsprang.

»Wo mag der Herr des Hundes weilen?« wurde gefragt. »Wohl nicht weit? Die bürgerlichen Nationalräte sind im Palace drüben. An der Seite des Bundesrates für alle Fälle. Der Streikabbruch soll gefeiert werden. Das Volk wills nicht anders . . .«

»Ich hörte sogar etwas munkeln von einem richtigen Fackelzuge.«

»Jetzt Pechfackeln?«

215 »Nun das Pech schon eher! Aber wo's Holz hernehmen?«

Mit heulenden Atemstößen stob Prinz hintenwo hervor und nahm am Büfett vorbei Reißaus. Kaum weg, war er wieder da und winselte freudig. Hinter ihm erschien sein Herr. Ysenschmied wurde von Bürgern umringt.

»Meine Herren,« sagte er in amtlichem Tone und zog ein Schriftstück aus der Busentasche, »dem jungen Ursprung wurde die Mappe abgenommen. Unter den Geheimpapieren fand sich ein Kampfreglement bei Straßentumult – für die Rote Garde. Darin steht« – Er hob die Stimme und holte Atem – »Rücksichtslosester Waffengebrauch! Keine Gefangenen! Jeder hervorragende Bürger von geistigem Einfluß ist sofort unschädlich zu machen.«

Entrüstet sprangen die Gäste von ihren Stühlen auf. Auch der an seiner Hautschürfung verbundene Pletterer erhob sich. »Nicht ihr – wir!« schrie er und forderte den Staatsanwalt heraus durch eine auswendig gelernte Haltung.

Ysenschmied versetzte entschlossen: »Ich werde meinen Sitz in der Bundesversammlung dazu verwenden, auf die Lücken der Gesetzgebung hinzuweisen. Ihr sollt uns kennen lernen. Ich zittre nicht vor euch!«

 

Draußen war die Straße schwarz von Menschen und kaum erleuchtet. Auenstein umgab sich mit 216 Geheimpolizisten. Er unterhielt sich leise mit ihnen. Die Hinterausgänge hatte er verschließen lassen. Der Fang mußte geraten. Am besten, man trieb die drei auf die Brücke – dort über die Mitte hinaus mußten Fahndungsleute Wache stehen – das Geländer war wohl eine sichere Grenze. Es tat den Dienst von Kerkerstäben . . . Heute herrschte aber auch ein nicht zu bändigendes Treiben! Man erfuhr jetzt, daß tatsächlich ein Fackelzug im Werke sei – die Landesbehörden wünschten einen Tusch der Musik und ein Ständchen der Sänger.

Das Café entleerte sich unaufhaltsam. Es konnten nur noch ganz wenige Gäste drinnen verweilen. Die Polizeistunde schlug und verhallte. Desto günstiger, so konnte man sie unbemerkt festnehmen. Also hinein!

Da in dieser Sekunde kamen sie alle drei hinaus – die Sagg zwischen den beiden, eine Zigarette im Munde. Sie zogen wunschgemäß nach der Brücke und betraten sie. Nun wurde erst einmal Rysold gepflückt, als er stille stand, um seinen Stummel wieder in Brand zu setzen. Zwei Schutzleute nahmen den Augenblick wahr und schoben ihn rasch hinters Kasino. Sein Widerspruch verhallte.

Severinovits und die Sagg schlenderten eingehakt nachdenklich vor sich her und erreichten die Mitte. »Wo ist Rysold hingeraten?« Er wendete sich um und entdeckte die Polizisten. Ein wildes Kopfschütteln packte ihn. Sein runder Kugelhut wirbelte über dem 217 Halse. Er wollte vorwärts stürzen, begann zu rennen und prallte zurück. Die Wache griff nach ihm. Da zog er dem Nächsten mit seinem Stock eins über, warf den Hut in die Luft und riß den Überzieher vom Leibe.

Die Sagg stieß einen gellenden Schrei aus. Severinovits nahm den Anlauf rechtwinklig gegen das Gitter, machte einen Flankenschwung – man sah die Beine noch über den eisernen Balken schweben.

 

Seit einer guten Stunde bereits lagen die beiden Fischerboote unten an der Aarenschwelle in stockdunkler Nacht. Im einen saßen zwei Fischer und zwei Herrensöhne, im andern ein Fischer und ebenfalls zwei Herrensöhne. Sie rauchten und unterhielten sich gemächlich über Fische, über Weiber und wieder über Fische. Bobsli Stürler wollte in einem verstaubten Schmöker der Stadtbibliothek eine alte Weisheit aufgestöbert haben. Wo die Barbe beißt, da läßt sich die Nase nicht blicken, und wo die Nase beißt, spaziert der Aalet vorbei. Das Geschrei oben von der Stadt herunter nahm zu. Die sollten sich doch endlich ruhig verhalten, – sie machten ja die Fische im Wasser scheu. Überhaupt, war das ein dummes Gestürm gewesen diese drei Tage. Alle blickten auf. Der Schrei der Sagg drang ins Rauschen der Wellen hinunter als dünner Tonstich. Sie sahen den gewaltigen Brückenbogen und oben in der Lichthöhe des freien 218 Ausschnittes einen dunklen Strich – gleich einem Fisch der rasch mitten in die Aare fiel.

»Oha! Da will einer nicht mehr mitwirken?« bemerkte Wurstemberger. Einer von den Fischern erinnerte an den bundesrätlichen Wohlfahrtspreis für Lebensretter. Also ruderten sie ein bißchen hinaus und aufwärts. Sie kamen in die rote Lichtbahn einer Laterne, die bei einer aufgerissenen Stelle der Schwellmattstraße aufgehängt war. Im Wasser tauchte ein Kopf auf. Es konnte auch eine schwimmende Kegelkugel sein. Nein, es war ein Kopf. Eine Kugel hat keine Arme. Aber, was war das? Nicht übel! Der wollte gar nicht gerettet sein? Das stimmte nicht ganz.

»Zwick ihm eine mit dem Ruder!« Nun konnten sie ihn in das Boot hineinziehen. Die Fahndungspolizisten kamen gesprungen, hängten die rote Laterne von dem eingerammten Pfosten ab, brachten sie herbei und leuchteten in den Boden des Nachens.

»So so, Herr Severinovits! Sie?« begrüßte Graffenried den Leblosen. »Was stellen Sie für Geschichten an?« Von demselben Erstaunen waren die Fischer befallen, wie es menschenmöglich gewesen sei, auf der langen Brücke gerade den Punkt zu wählen, von wo aus der unerhörte Sprung ins Dunkle nicht unbedingt tödlich verlaufen mußte. Sie fluchten sich eins zurecht vor lauter Bewunderung, so ein Sapperlotssprung wie das gewesen sei. »Ja, schnappt er eigentlich noch?« Nun gab 219 Wurstemberger seinen Senf dazu. »O doch – der kommt wieder zuweg. Den könnt ihr noch lang einsperren. Ein geniales Unkräutchen, muß ich sagen!« Sie hoben den Regungslosen und griffen an ihm herum.

Bei einer so gewaltigen Sprunghöhe bestand Gefahr, daß auch bei erreichter Flußbreite der Körper auf dem Grund des Flußbettes zerschellte. Und der da hatte gleich wieder geschwommen. Bobsli Stürler tauchte sein rundes Jungengesicht in den roten Schimmer ein und betrachtete vorgebeugt den Serben, der dalag, wie tot: »Er verstellt sich auch jetzt wieder – nur, weil wir ihn gepäckelt haben. Aber was haben denn die oben in einem fort zu plärren?«

Es war, als würde die rote Laterne zum Scheinwerfer und würfe ihr Licht gen Himmel. Der Kuppenkranz der Bundesburg und der ihr vorgelagerten Dachfirsten schwoll wie ein großmächtiges Elefantenhaupt in seitlicher Verkürzung – auf einem geröteten Flecken Luft: – der Fackelzug! Und über dem nächtlichen Rauschen der Wellen erklang das vaterländische Danklied der bürgerlichen Bevölkerung, weil sie sich dem Rachen des Drachen entronnen glaubte. 220

 


 


 << zurück weiter >>