Carl Albrecht Bernoulli
Bürgerziel
Carl Albrecht Bernoulli

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Zweiter Tag.

Am 31. Oktober 1917.

I.

Gleich der Kinnlade eines mächtigen Unterkiefers liegt die Berner Altstadt im Aarebogen. Die Häuserreihe, der entlang die aufgegangene Sonne dem Mittag zuwandert, ist die Junkerngasse. Über dem runden Steinaufsatz der Haustüre, aus der Wappenkrone, bäumt sich die schwarze Dogge mit der silbernen Mauerzinne zum Halsband. Kläuschen Manuel staunte andächtig an der Hand seiner Mutter zu dem Altertum empor mit der großäugigen Verwunderung seiner vier Jahre. Im Laden zu ebener Erde hauste der Schneider Röthlisberger. Der Ysenschmiedsche Ratsherrenmantel war für das Kuttchen zugeschnitten, der Junge erschien zur Anprobe.

Schweigend hantierte der kurzsichtige Alte, eine Hornbrille auf der Nase, Stecknadeln zwischen den Zähnen, mit bunter Kreide an dem Körperchen herum. Gleich beim Eintritt brach das Bübchen 54 in Jubel aus über den Anblick einer grünen Uniform mit blanken silbernen Knöpfen auf dem Ladentisch. Dann kam es schreiend gelaufen aus Furcht vor einem schwarzen Manne, der ohne Kopf hinter der Milchscheibe stand. Ja, ob denn der grüne Soldat keinen Leib anhabe, und ob der schwarze Mann ohne Kopf erst den Helm aufsetze und dann erst den Kopf!

Die Schneidersfrau verführte ein großes Geschwätz. Oben in der Beletage hatte sich Junker Wilhelm zum Landsturm stellen müssen und man denke, er war noch so schlank wie vor zwanzig Jahren – nur aufbügeln mußte man ihm die Montur. Aber das andere Kleidungsstück! Ein Rock für einen katholischen Priester – in dem spielte man doch nicht Komödie!

Der Schneidermeister hielt sich am Fenster seiner Butik den abgeänderten Ratsherrnmantel unter die halberloschenen Augen und prüfte das Tuch mit fühlenden Fingerspitzen. Eine so alte Hülle wie das war! Damals wob man eben unverwüstlich, für die Ewigkeit, ein Tuch wie Samt anzufassen. Wahrer, echter Kaschmir. Plötzlich setzte er, das Gesicht in feierliche Falten gelegt, ein Ungetüm von Pappschachtel auf den Tisch hin und hob deren Deckel ab. »Ah, weil Sie es sind, Frau Doktor Manuel, und weil das Bubelchen da so gern kuriose Kleider sieht!«

Ein kostbares Spitzenhabit schimmerte in dem 55 grauen Sarge, Samt und Seide leuchteten auf. Es war das Staatsgewand eines noblen Serben – seine Nationaltracht! »Wir müssen unserem Zimmerherrn das Gewand verwahren, daß keine Motten hineinkommen –« Röthlisberger holte das Prunkstück aus seinem unscheinbaren Behälter heraus, entfaltete es ein wenig, schlug hier einen Zipfel, dort ein Ärmelende zurück und lobte mit verhaltener Stimme die Pracht eines solchen Aufwandes. Doch alsbald, bedrängt durch einen Neugierausbruch des Knaben, kramte er rasch alles wieder beiseite.

Frau Manuel besaß die Neugier kluger und ordentlicher Frauen unter ihrem stirnwärts geschobenen Schleier. Vom Frauenverein für Hauspflege schuldete sie der ehrwürdigen Frau Marquart einen Besuch. Sie nahm Kläuschen an die Hand und stieg eine Treppe empor. Frau Marquart, ein schwarzes Spitzenhäubchen im dünnen, grauen Haar, hieß beim Eintritt ins Eßzimmer vor allen Dingen Kläuschen willkommen. »Aber da kommt ja der Großpapa Zunftschaffner!« Sie küßte ihn gerührt auf beide Wangen. Dann holte sie eine Schachtel mit Spielsachen herbei, stellte eine altväterische Musikdose vor ihn hin, die einige zitterige Schäferweisen von sich gab. Ein paar Schrittchen weiter, und sie bastelte an den künstlichen Geheimnissen der Standuhr so lange herum, bis richtig das Jagdhorn blies. Diese Zauberwelt fesselte den Kleinen längere Zeit.

56 Frau Manuel blieb vor der Kommode stehen, auf der, in der Tracht einer Diakonissin, das Bild der Beate von Diesbach stand und ließ ihren Blick auf dem Bilde der Freundin ruhen. Das hätte ihre Schwägerin werden sollen!

»Waren es nicht ähnliche Naturen,« zögerte sie – »Beate – und –?«

»Wilhelm!« ergänzte Frau Marquart und nickte.

»Immerhin –«.

Sie hielt den Übertritt des Neffen für einen unüberlegten und unnötigen Akt der Verzweiflung – aus Reue über einen Fehltritt seiner Jugendjahre.

»Sein Kind –«.

Frau Manuel verzog keine Miene: Aha! Das war's! Wilhelm hatte ein Kind!

Wie sich das denken ließ, in einem spanischen Kloster erzogen, aber kürzlich, in dem Ungestüm ihres sechzehnten Jahres, dem geistlichen Gewahrsam entflohen, weigerte sich das Mädchen hartnäckig, in die alte Obhut zurückzukehren.

Vom nahen Münster klang durch den Schlauch der hohen und engen Gasse eine Glocke. Der Schall wirkte in der kurzen Entfernung mit der Wucht eines Körpers – Fenster klirrten leise, Gegenstände im Raum beteiligten sich an dem gedämpften Summen . . . Heute nachmittag sollte Adelgunde eintreffen.

57 »Gerade heute!«

Sie seufzte beim Gedanken an die Katholikin und das Wirrsal der Gewissensfragen.

Frau Manuel beobachtete die alte Dame: Verwandtschaftliche Verwicklungen, die sie ja zum Glück weiter nichts angingen. Welch unangenehmer Gedanke, daß die eingesessene Gesellschaft der städtischen Familien solchen Einbrüchen von außen überhaupt ausgesetzt war.

»Sie soll jetzt wohl nachträglich in die Kindesrechte eingesetzt werden?« Frau Manuel ließ den Ton in der Schwebe. Ihre Augen suchten zerstreut den Boden.

»Ich schrecke vor keiner Pflicht zurück,« rief Frau Marquart. Und kam dann mit weicher Stimme ins Reden. »Ach ja, richtig!« erinnerte sich nun Frau Manuel. Seine Mutter war ja schon eine Spanierin gewesen! Aber die hatte sich dann zu Bern eingewöhnt, angeschlossen – war übergetreten, Sonntag für Sonntag mit zur Kirche gegangen . . . Und doch, und doch! beschlich es nun die Schwägerin hinterher – vielleicht nährte sie in ihrem Sohne den stillen Widerstand. Wenn man dachte – drei Jahre lang nach seinem fluchtähnlichen Weggang vor bald zwanzig Jahren war er wie aus dem Leben verschwunden! Seitdem selten ein Brief, noch seltener ein Besuch! Dann schienen sich die Lebenszeichen zu erholen – er bezeugte Teilnahme für die Heimat!« Die alte Dame hielt ein und seufzte.

58 Der kleine Klaus kam zu seiner Mama geflüchtet. Sein feines Stimmchen erging sich in Ungeduld. »So, Bub – nun bedanke dich schön. Ach, Sie wissen ja nicht, wie sehr mein Bruder Bernhard am Junker hängt.« Den Aufbruch verlangsamte weitere Rede und Gegenrede der Damen.

Kläuschen war inzwischen das glatte Treppengeländer heruntergeglitten und kam mit geröteten Wangen die Stufen hinangestürmt, um noch einmal ›Bähnchen‹ zu spielen. Die Mama zwang ihn an ihre Seite.

Da ging schwer die eichene Haustür auf, deren Mechanismus noch nach alter Art auf einem mächtigen Gewichtstein mit Seil und Rolle beruhte. In dem freien Ausblick auf die Gasse hinaus stand die schwarze Gestalt des Paters Lukas La Roche.

»Sie wünschen meinen Neffen zu sprechen?« empfing ihn Frau Marquart. Sie war mit ihrem Besuch am Fuße der Treppe angelangt.

»Ihn noch nicht!« versetzte der Geistliche abweisend und begab sich geradeaus nach der Türe des hinteren Zimmers.

Kläuschen Manuel war auf die Straße entwischt. Die Damen fanden ihn, wie er mit einem Stöckchen an einem Häuschen Staubes sich zu schaffen machte. Als ihm dies verwehrt wurde, rief er selbstbewußt: »Ich grüble nicht im Dreck – ich grüble auf der Straße.« 59

 

II.

Vladan Severinovits streckte sich in seinem Bette aus. Eben erwacht, rieb er sich die Augen. Wieder Tag! Nur noch für ein paar Atemzüge im Wohlgefühl des Halbschlafes! . . . Schwebende Heimatträume entführten ihn. Er sah die Herde seiner Stuten grasen – Becher erklangen vom Trinkgelage in der Laube seines Weinbergs – die Schlote seiner Ziegelbrennerei rauchten – sein türkischer Diener fleschte grinsend die Zähne zum Zeichen skrupelloser Ergebenheit. Im Reigen des Traumes grüßte das alles hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Dann ein Sprung auf und hinaus, er schob die Beine in die Unterhosen.

Auf seinem Waschtisch breitete sich eine Auslage von Fläschchen und Schächtelchen aus. Eines davon drehte er sich auf und steckte die Nase gegen den Talgstaub. »Das riecht brav nach der Nora Sagg!« dachte er und schüttelte sich über dem ätzenden, durchdringenden Geruch der Fliederessenz.

Über sich hörte er gehen. Er wußte, dort wohnte Wilhelm Luternau. Ein kurioser Heiliger! Schon mehr zum Lachen, wie der es trieb! . . . Der Vorhang am Fenster hielt das Zimmer trotz der vorgerückten Tagesstunde in grauer Dämmerung. Der Serbe schlug ihn zurück. Sein Blick überflog die Rundsicht – die steile Mattenhalde hinunter über 60 dicht bewohntes Bauernland hinweg zu stotzigen Voralpen. Severinovits liebte die Schweiz; zum Verkehr mit den Einheimischen bediente er sich ihrer Mundarten, die er auf lustige Weise zu radebrechen verstand. Aber ernst nahm er dieses kleine, aus mehr als zwanzig Stäätchen zusammengebackene Staatswesen mit seinem Ahnendünkel und seinen Freiheitsphrasen nicht. Hier blieb ja alles im Erwerbsleben stecken – Gesetzesparagraphen wurden angebetet wie Götzen. Wo fand sich da der Spielraum für den Starken und seinen Übermut?

Ausschreitend mit zurückgelegten Schultern durchmaß er das Zimmer gleich einer Bahn. Nein, es gab nur ein Land auf der Welt! Für das lohnte sichs zu leben – und dieses Land wurde immer aufs neue geboren, weil es stets neuen Tod sterben mußte . . . Es klopfte an die Türe, und als sie sich auf seinen Bescheid hin öffnete, ragte auf der Schwelle der schwarze Priester.

Pater La Roche überschaute die Unordnung des kaum begonnenen Tagewerks: das verlassene Nachtlager, das schmutzige Wasser in der Waschschale und herumstehendes Kaffeegeschirr. Den Serben befiel ein schweres Kopfschütteln; er steckte sich die Krawatte vor den Stehumlegkragen und knurrte: »Bin angezogen – bin angezogen!« – In dem breiten Filzhut blinkte ein violettes Futter auf, der Monsignore ließ ihn sinken und wandte dem Südslaven seinen Cäsarenkopf voll zu in einem gütigen Blick 61 der stummen Anfrage, indessen untendran die Lippen sich zu einem Lächeln schürzten. »Herr Severinovits, Graf Zighi läßt Sie grüßen – er sagte zu mir, er hat Sie dem Erzbischof von Gran vorgestellt.«

In Severinovits blitzte es auf: Wie viel galt er zurzeit? – Wie viel wollte man sich einen alten Schwarzhändler wie ihn kosten lassen? Er räusperte sich.

»Sie wünschen? Sie wünschen?« unterbrach er den Geistlichen mit zuckendem Kopfe, »ich soll mein Land verraten?« Die langen braunen Haare tanzten um den Scheitel . . . »Heraus mit der Sprache! Was wendet man dran, um mich zum Schurken zu machen?«

Der Pater enthüllte auf seinem Diplomatengesicht ein ehrliches Schweizerstaunen. Nicht nur seiner Mienen, auch seiner Stimme bemächtigte sich ein bürgerlich behäbiges Lachen.

Der Serbe warf einen ledernen Beutel wütend auf den Tisch: »Also nicht einmal verführen wollen Sie mich? Sie wollen mich bloß bekehren? Dieser Gedanke ist mir unerträglich.« Und er schickte sich unter hastigen Bewegungen an, mit einer kleinen Stopfbüchse aus dem hellen Regietabak seiner Heimat eine Zigarette zu drehen.

Da nahm aber die Seelenruhe des Priesters so fühlbar überhand, daß auch der Abenteurer davon ergriffen wurde. »Ich kann es Ihnen ja gerne sagen, was mich zu Ihnen führt,« sagte Lukas 62 La Roche zurückhaltend. »Sie tragen die Erinnerung an einen herrlichen Heiligen lebendig an sich herum und wissen es nicht. Sankt Severin wandelte an der Donau durch die öden Zeiten und trostlosen Gefilde der Völkerwanderung – ohne Hoffnung, ohne Glück – in lückenloser Pflichterfüllung, in unerschütterlichem Glauben. Er war die Selbstentäußerung in Person, wo er wirkte, schränkte sich die Selbstsucht von selber ein.« Der Abbé verstummte vorläufig und sah sich behutsam um.

Über dem Nachttisch hing ein schlechtes Fünfbatzenbild, eine ovale, graue Bazarmuttergottes, grau auf weiß in eine schmale, gelbe Blechlinie gerahmt. Das forderte den Spott des Geistlichen heraus. »Nicht einmal zu einer eigenen Hauskunst habt ihr Orientalen es gebracht. Ihr borgt euch unsere Bilder zusammen.«

Der Serbe rundete seinen bösen Mund und klopfte sich das orthodoxe Kreuz auf die Brust. Was hatte der Pfaffe in seiner Stube herumzuspionieren? Da sollte nichts dahinter stecken? Er murmelte einen Fluchspruch. Das Mißtrauen spannte wilde Fittiche aus. Niemandem schuldete die südslawische Seele Gehorsam als dem eigenen Dämon.

Severinovits hatte Dinge mitgemacht, die ein mittlerer Europäer ohne weiteres mit dem Verstande bezahlte. Auch bei ihm hatte es an einem Haar gehangen. Wie hatte sich doch jener Nervenarzt in Wien zu ihm geäußert? »Sie haben keine Mitte,« 63 hatte er zu ihm gesagt. Keine Mitte – das war die verfluchte Wahrheit über ihn selber – ihr entrann er nicht – ihr fiel er auch jetzt wieder anheim. . . . Er war mit einem Male schrecklich aufgeregt. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Er schluckte und würgte hervor: »Hören Sie auf. Ich durchschaue Sie. Sie führen doch etwas im Schilde. Ein Name, ein Name – und Sie sind entwaffnet – Maria Ozorai! Sind Sie jetzt nicht entlarvt?«

Der Pater griff in ruhiger Verwunderung nach seinem Hute und näherte sich in aufrechter Haltung der Türe. Eine Erklärung war ihm nicht abzupressen. Er lehnte es ab, auf den gegen ihn plötzlich angeschlagenen Ton sich einzulassen.

Die überlegene Ruhe stimmte den Aufbrausenden um. Ein schlauer Schein meldete sich verstohlen in seinen Augen: »Ich sehe, Sie meinen es gut mit mir, Herr Abbé,« – und dabei lächelte er zögernd, »würden Sie mir vielleicht mit zwei Franken aushelfen? Ich möchte mir nachher gerne noch die Witzblätter kaufen.« Der Pater überreichte, schon halb abgewandt, dem Slawen das erbetene Silberstück. Er hatte gehört, der junge Mann befinde sich öfter in Geldverlegenheit. So überraschte ihn die Zumutung nicht allzusehr und berührte ihn auch weiter nicht unangenehm.

Im oberen Stockwerk empfing ihn Frau Marquart. »Die Türe da?« Sie nickte und folgte ihm. Gleich andern Patrizierhäusern an der Junkerngasse, 64 hatte auch das Luternausche seine Staatsräume auf die Sonnseite hinausliegen. Das Zimmer mit dem Alkoven, das Wilhelm bewohnte, bot eine mittlere Ausdehnung in den Verhältnissen von fünf zu acht Metern. Dank den hohen Fenstern schwamm es im Morgenlicht. Wilhelm trug einen Hausrock, doch linierte seine Oberschenkel die rote Nahtschnur der Militärhose, die Waden steckten in gespornten Reiterstiefeln. Er streckte die langen, kräftigen Beine unter den Tisch. Der Pater mußte erkennen, daß die Tante hinter ihm eingetreten war. Der Neffe hatte sich erhoben.

»Entschuldige, Wilhelm – aber ich muß reden,« begann sie und faßte den Geistlichen voll ins Auge: »Sie drängen sich bei mir ein – heute – Sie wissen doch – was heute vor vierhundert Jahren geschah – wir haben den einunddreißigsten Oktober!« Damit spielte sie auf den Erinnerungstag an, den die Protestanten der ganzen Welt festlich begingen: vor vierhundert Jahren! Martin Luther!

»Ja Tante,« versetzte der Neffe höflich. »Es beruht auf Absicht, wir sind übereingekommen, heute hervorzutreten.«

Frau Marquart verglich. Bei dem alten Manne – ja, da war es Herrschsucht, Hochmut, Unverträglichkeit. Böse funkelte die Glut auf der nackten Stirne! Aber Wilhelm– ein Fanatiker? Das liebe Kindergesicht ein herzloser Ketzerrichter? Sie lud die beiden Widersacher ein, sich mit ihr vor das 65 Kaminfeuer zu setzen – der graue Kohlenhaufen knisterte und flämmelte.

»Tante Berta,« hob Wilhelm an, »es läuft in der Stadt ein Gerücht über mich um – ich soll einen Fehltritt begangen haben –«.

Frau Marquart vergrößerte fragend ihre ermüdeten Augen. »Du hast ihn begangen – trägst die Folgen! Leugnest du? Weichst du aus? Wirst du wankelmütig in der Reue?«

»Ein solcher Fehltritt hat nie stattgefunden« – es war der Pater, der von der Seite her diese Erklärung gebieterisch einwarf –. »Hier der standesamtliche Ausweis!«

Als der Berner Junker Luternau vor achtzehn Jahren zu Sevilla mit der schönen Donna Inez in den Stand der Ehe trat und sie dann ihm das Töchterchen schenkte, war er der seligste Mensch auf der Welt gewesen. Darauf hatten höhere Fügungen sich seines Schicksals bemächtigt. Die Stufe, die endlich erklommen war – von langer Hand war sie durch die Vorsehung aufgebaut. – Der Pater griff gestempelte Papiere vom Tische und legte sie der Matrone zwischen die Finger, die ihr zu zittern begannen.

»Deine Frau?«

»Starb!«

Sie stammelte: »Dann also ist Gonda –?«

»– im rechtmäßigen Beilager erzeugt,« rief der Pater.

66 »– mein hochwohlgeborenes, eheliches Kind immer gewesen!« ergänzte der Neffe.

Eine fürchterliche Ahnung enträtselte ihr Wilhelms steinerne Züge. »Wie?« fuhr sie empor, »du willst dein Kind verstoßen?«

»Ich will nicht länger ihr Vater sein!« Die Ruhe des Grabes starrte ihr entgegen.

Das Folgende erlebte sie wie aus der Ferne, mit halb abwesendem Geiste. Lauter wohlbedachte, einwandfreie Feststellungen, Abmachungen, Verschreibungen, aus denen hervorging, daß die siebzehnjährige Adelgunde, genannt Gonda von Luternau, geboren in Sevilla, Bürgerin und heimatberechtigt zu Bern, ihren lebendigen Vater verloren hatte, wie das bei einem Toten unmöglich gründlicher hätte der Fall sein können. Alles war zu den Gesetzen, die freilich einen so ungeheuerlichen Fall nirgends vorsahen, in Einklang gebracht: der Anspruch auf Vermögen abgelöst, alle Erbrechte gesichert – mit der Ausführung des notariellen Aktes Rysold betraut, mit der Vormundschaft Staatsanwalt Ysenschmied!

»Ihr Unmenschen!« schrie die alte Dame auf, »Wie ist eine solche schreckliche Gesinnung möglich?« Vor diesem Vorwurf, den sie hoch aufgerichtet ihnen ins Gesicht schleuderte, schlugen der Verwandte und der Priester den Blick zu Boden, und als sie ihn nach der rasch verflüchtigten Scham wieder erhoben, sahen sie eine schwarzgekleidete Gestalt vom Rücken, 67 wie sie gebückt und schwankend hinter sich die Türe ins Schloß zog.

Das Schweigen zwischen den beiden hielt lange vor. Dann brach es der Priester vorn am Fenster. Er sah sich nach Luternau um. Der brütete vor dem Kamin. »Wie heißt es in der Epistel Jakobi: Beatus vir, qui suffert temptationem – . . .«

Schneider Röthlisberger trat ein, den grünen Waffenrock auf dem Arm. Luternau ließ sich hineinhelfen. Der Handwerker knöpfte ihn ihm behutsam über der Brust zu.

»So, Herr Junker!« und er strich das Tuch glatt, »das sollte man auch nicht denken, keinen einzigen Knopf habe ich versetzen brauchen. So schön schlank seid Ihr geblieben in all den Jahren.«

Als er wieder weg war, betrachtete der Pater den eingekleideten Reiter und dann das Bett dort hinten. So sauber angezogen im Alkoven drinnen. – »Das ist deine Lagerstatt – da hast du geschlafen?« Als über Wilhelms bleiches Antlitz eine Röte flog und er schweigend den Bescheid verzögerte, da bedurfte es keiner weiteren Antwort – da wußte der Beichtvater, wo Wilhelm Nachtruhe gesucht hatte. Im Bette nicht. Davor, auf der ebenen harten Erde – gehorsam der Vorschrift. Ferner entdeckte der spähende Pater ein Kistchen, dessen Deckel aufgeschlagen war und langte ein Instrument hervor. Wie sah das nur aus? Wozu war das gut? Eine Kosakenpeitsche? Eine geschwänzte Katze? 68 An einem gedrungenen Stiel waren drei kurze Lederriemen befestigt, an deren jedem hing eine Kugel, nicht größer als ein mäßiger Spielball. Diese Kugeln waren mit Spitzen und Stacheln versehen . . . Da öffnete der Pater seine Arme und legte sie schweigend um die grünen Schultern des Reiters. Nicht umsonst hatte vor sechshundert Jahren der Kreuzritter Luternawe die Mauerzinne von Antiochia gestürmt!

 

Undeutliches Getöse stieg aus den Untergründen des Hauses. Luternau eilte oben an die Treppe, gefolgt vom Geistlichen. Es ließ sich eine weibliche Stimme unterscheiden. Ihre hohe Lage übertönte das lebhaft geführte, erregte Gespräch. Luternau verfärbte sich.

»Sie!« stöhnte er und stürzte klirrend treppab.

Ein Geräusch mischte sich ein. Das Gebimmel einer wahren Totenschelle. Dessen Urheber war Severinovits hinten auf seinem Zimmer. Zog man an dem breiten und schwarzen Bande, das, mit einem ungefügen Pantoffelmuster roter Rosen bestickt und von Motten zerfressen, unter der Decke an einem Bügel herabhing, so setzte sich ein verkrümmter Stacheldraht der Wand entlang in schwerfällige Bewegung und brachte draußen auf dem Flur ein unglaubliches Blechgeschirr von einer Schelle zum Rasseln, die dann unverdrossen in blöder Selbstgefälligkeit weiter bimmelte . . . Diese altmodische 69 Alarmvorrichtung setzte der Serbe, den Hut auf dem Kopf, zum Ausgehen gerüstet, in Bewegung. Er war außer sich – er hatte Angst.

Vor ihm stand eine völlig vermummte Gestalt in der Tracht für Insassen eines Automobils oder gar eines Flugzeuges. Gebauschte Hosen verbargen die Gestalt, eine entstellende Maske das Gesicht, und vor den Augen wölbte sich die Gitterbrille. Alles, vom Schuh bis zur Kappe war Kautschuk und Leder. Aus dieser gelben Mißgestalt heraus erschallte die Mädchenstimme. Sobald Luternau das Zimmer betrat, artete das Geplauder in Gelächter aus, erst silbern, dann wilder.

»Gonda!« schrie er auf.

Das Fräulein in der Vermummung tat zunächst alles, um ihn in seinem Glauben zu bestärken. Mit Besorgnis gewahrte Pater La Roche, den Severinovits hereinholte, daß Luternau drauf und dran sei, sich erweichen zu lassen. Eben noch ein Held in der Entsagung, stand der Soldat im Begriff, seine Standhaftigkeit einzubüßen. Hatte er nicht den Entschluß durchgeführt, das ursprünglichste aller männlichen Gefühle sich aus der Seele zu reißen, das Vatergefühl? Und nun sollte der sonderbare, phantastische Aufzug eines meisterlosen Backfisches diese Leistung über den Haufen werfen? Der Pater wagte nicht mehr zu atmen und blickte unverwandt hinüber. Wenn das also wirklich die Tochter war – und wer mochte, wer konnte es anders sein?

70 Da schmiegte sich die verkleidete Gestalt dicht an den Landsturmkrieger und warf ihm halblaut, aber in einer durchdringenden, zischenden Aussprache hin: »Ich bin Maria.« –

»Sie – Fräulein Ozorai,« entfuhr es dem Priester, und alsbald stürzte auf diesen Severinovits zu, der seit dem Wiedereintritt des Paters lauernd kein Auge von ihm abwendete. –

Von der Gasse her drang durch den offenen Flur Lärm von einem rasselnden und plötzlich angehaltenen Benzinwagen. In der hohen Kommandolage erschallte die scharfe Rede des Polizeiinspektors Auenstein . . . Luternau stieg mit seinen klirrenden Sporen die Treppe seines väterlichen Hauses wieder empor – gedemütigt, angewidert von der Erkenntnis seiner eingefleischten Schwachheit. Nichts hätte ihm die letzten Regungen seines Familiengefühls gründlicher zu ersticken vermocht als die Täuschung, der er eben zum Opfer fiel. Er betrat die große Südstube, die er vor einem Augenblick in Begleitung des Geistlichen verlassen hatte. Auf dem Tische blinkte sein Helm mit dem vielen Nickelbeschlag und der Roßkette. Ihn mußte er sich noch aufsetzen und sich den Pallasch umschnallen. Er langte eine Bürste hervor und entfernte den Staub von dem schwarzen Filz. Darauf schlüpfte er in den zur Wurst gerollten und unten wie ein Kummet zusammengebundenen Mantel, den er nun quer über die Brust zog.

Er warf einen unsäglich verächtlichen Blick zu 71 den Ahnenbildern empor, die fade zu ihm herunterlächelten. »O, ihr da oben in euern Puderperücken und euerm lächerlichen Dünkel,« forderte er in seinen Gedanken die stumme Galerie der Altvordern zu seinen Häupten heraus, »vermeßt euch nicht länger, mich euern Sohn zu heißen! An mich ist von geistlichen und heiligen Lippen dieser Ruf ergangen: Sohn!« Diesen Fluch auf seine leibliche Herkunft ließ er von einer schrecklichen, hohngrinsenden Grimasse der Verachtung begleitet sein. Nun war für ihn die ganze Vergangenheit ausgetan! – Ein Weibchen, das schrie, und die Möglichkeit, es könnte sein eigenes Fleisch und Blut sein, hatte ausgereicht, und seine Selbstbeherrschung ging aus den Fugen! Beschämend, höchst beschämend! Er trat auf den Flur hinaus, gestiefelt und gespornt, den Helm mit dem weißen Haarpinsel auf dem Kopf. Da stand er still, legte die Hand aufs Treppengeländer, besann sich, lauschte . . .

Unten am Fußende der Stufen, wartete der Pater. Der Lärm von unten hinauf nahm zu und artete in Tumult aus. Gellende Schreie der Ozorai und, dazwischen hinein, polternde Männerbefehle erfüllten das Erdgeschoß. Geradeaus, ihm gegenüber öffnete sich die Türe des Eßzimmers – Frau Marquart tat drei Schritte auf den Neffen zu: »Wilhelm!« Sie wollte die Arme heben.

Die Sprache stockte ihr – sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Mit einem Finger, dem 72 Zeigefinger der linken Hand, berührte der Krieger langsam den Schirmrand seines Reiterhelms und setzte zugleich den Fuß eine Stufe tiefer. Er wußte, es war eine Gemeinheit, was er da beging. Einer alten Dame, seiner nächsten, letzten Blutsverwandten dies zu bieten! Als Ehrenmann, als gebürtiger Ritter! Der weinrote Kragen wurde ihm eng. Er drehte den Hals, um etwas mehr Spielraum zu gewinnen.

Was war das wieder? Wollte er wieder erschlaffen? Wo er nicht lieben konnte ohne Falsch, haßte er ohne Falsch! Haß, Haß, Haß, verkündete jeder seiner stampfenden Tritte, mit denen er, seinem geistlichen Beistande entgegen, seine väterliche Haustreppe nun zum endgültig letzten Male hinunterklirrte.

Der Pater nahm ihn in Empfang, und ohne daß sich beide um das erregte Treiben im hinteren Zimmer mehr kümmerten, gewannen sie die Gasse und machten sich auf den Weg. Über ihnen öffnete sich ein Fenster. Frau Marquart sah den Reiter zur Linken der schwarzen Kutte schreiten – und bei diesem Anblick wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Nebensache abgelenkt: der Saum des Priesterkleides lief Gefahr, vom Schmutz des regenfeuchten Pflasters bespritzt zu werden. An Stelle ihrer Empörung schob sich Mitleid. »Mein Gott, nicht einmal den Rock nimmt er hoch!« bedauerte ihr frauenhafter, häuslicher Sinn.

73 Hinten im Zimmer zu ebener Erde waren der Ozorai von den Beamten die groben Schutzbrillen mit den herunterhängenden Lappen gewaltsam abgenommen worden, um jeden Zweifel zu zerstreuen, ob sie es auch wirklich sei. Darauf war sie der Tobsucht verfallen und hatte sich zur Erde geworfen. Sie wälzte sich und schrie. Erst verworrene, kaum verständliche Reden und Wörter. Dann ein einziges Wort, immer dasselbe, mit Gelächter untermischt: »Takelwurm!« Jede einzelne Silbe stieß sie mit übertriebener Deutlichkeit hervor – »Takelwurm!« »Takelwurm!« Und dazu begann sie sich lustvoll zu wälzen, schob sich dem Boden entlang, griff mit ihren Händen aus, faßte nach den Beinen von Tisch und Stühlen, von denen sie aber immer gleich wieder zurückschnellte, kaum daß die Fingerspitzen sie berührt hatten. Und plötzlich lag sie da wie tot, ohne mehr ein Glied zu rühren – ein steifer Gegenstand.

Polizeiinspektor Auenstein, in der Mitte des halbdunkeln, geräumigen Zimmers auf einem der Stühle, behielt seinen steifen, hochwandigen Filzhut auf dem Kopf. Er besann sich. Was war das doch gleich mit diesem Takelwurm? Ach ja, natürlich – er wußte Bescheid. Das war eines der neuen Gesellschaftsspiele unter müden, abgelebten Weltleuten – auch ein Einfuhrerzeugnis fremder Unsitte, das nun in dem einen oder andern Salon der Stadt umging. Ein bißchen lichtscheu vielleicht, da in einem bestimmten Augenblick das Elektrische ausgeknipst wurde – 74 und doch ein harmloser Kurzweil, wenn in kindischer Einfalt Männlein und Weiblein ungeachtet aller Feierkleider durch die Dusternis auf dem Teppich herumkrochen. Dies kannte der Inspektor vom Hörensagen – dazu reimte sich leidlich, daß die erregte kleine Weltdame da zu seinen Füßen tastend nach dem Tischbein griff. Nur dauerte ihm die Komödie ein bißchen lange. Er gab den anwesenden Untergebenen den Blick, der zum stummen Befehl hinreichte, und wandte sich an die Daliegende:

»Ja, wissen Sie, uns eilt es nicht. Ich habe mir den Vormittag für Sie vorgemerkt, mein Fräulein – es würde sich aber doch empfehlen, Vernunft anzunehmen.« Und dann wieder einen jener Befehlsblicke: »Hop!« Die beiden Zivilpolizisten faßten zu, behutsamer ließ sich ein Windei nicht anrühren. Eine Minute später rollte der Wagen die Gasse hinauf.

 

Severinovits begnügte sich, angelegentlich sein Haupt zu schütteln. Seit einer guten Stunde zum Ausgang bereit, klebte er noch immer gequält am Rande seiner Kommode.

Das Ehepaar schloß das geöffnete Bogenportal. Der alte Röthlisberger trat mit dem Absatz den schweren, senkrechten Stoßriegel in die Erde.

Ach nein – einmal und nicht wieder einem solchen Ausländer das hintere Zimmer vermieten!

Frau Marquart kehrte an ihren Nähtisch im 75 Eßzimmer zurück. Sie entfaltete die Urkunden. Sie überzeugte sich abermals. Adelgonda Maria Inez Jakobäa Primitiva war eine echte Luternau! War es möglich! Hier – ihre Hände hatte sie ihm entgegengestreckt. – Bei seinem Namen hatte sie ihn doch gerufen – Wilhelm, hatte sie noch gerufen – . . . Töne von außen her drangen ihr ans Ohr – die wohlbekannten täglichen Anpreisungen von Lebensmitteln, in der gedehnten Mundart des Landvolks gemächlich ausgeboten. Sie entriegelte das Fenster und verhandelte auf die Gasse hinunter mit dem Bauern im blauen Überhemd über Reisigbündel, Brennholz, Kartoffeln.

Die Münsterglocke schlug an. Dieselbe, die immer schon ab und zu läutete. Aber nun war mit eins der tiefe Einzelton, der am Münster das Zeichen gegeben hatte, von dem Chore der helleren Glocken umhüllt. Das ganze Geläute brach aus der Luft herab über das Häusermeer hin und verschlang das halbdumpfe Morgengeräusch des Stadtlärms . . . Frau Marquart erschrak, weil sie mitten im Trubel ihrer persönlichen Sorgen sich von der feierlichen Stunde überraschen ließ. Noch ein paar solcher überflüssiger Gedanken, und sie verspätete sich wahrhaftig! Flugs, mit beflügelten Schrittchen, gewann sie den Flur, warf sich den bereit gelegten seidenen Umhang um und stieg ins Erdgeschoß, an dem schmiedeisernen Geländer mit den rankenden Sonnenblumen, an dem vergoldeten Kugelknopf vorüber.

76 Als sie vor der Türe unter den Laubenbogen ihres Hauses trat, zog draußen, auf dem Fahrdamm der Gasse, ein würdiges Trüppchen meist älterer schwarzgekleideter Herren in hohen steifen Hüten des Weges. Es waren Geistliche, Professoren, Stadträte, ihr in der Mehrzahl wohlbekannt.

Zwei Straßenkehrer, Taglöhner, hatten zur Seite treten müssen. Auf die Stiele ihrer Besen gestützt glotzten sie verwundert hinterdrein. Frau Marquart hörte sie sagen:

»Wo wollen die hin?«

»In die große Kirche.«

»Was gehen sie da machen?«

»Wahrscheinlich an eine Beerdigung!«

 

III.

Ysenschmied saß im Obergerichtsgebäude am Schreibtisch und legte sich in den kurzlehnigen Drehsessel zurück. Ein neuzeitliches Drama, betitelt: ›Der Sohn‹ – pries den Vatermord als die Befreiung der Welt von ihrer Vergangenheit. Der unselige Täter hatte einer Aufführung dieses Stückes beigewohnt, das am Stadttheater eine sorgfältige Aufführung erfahren hatte. Er berief sich auf den Eindruck, den er davontrug. So war er zu dem Entsetzlichen gelangt, in einem dumpfen Triebe des Rechts und der Erbitterung. Ei nun – der Fall lag einfach – da gelangte eben der Blutbann zur 77 Anwendung – der uralte Rechtsschutz des waltenden Lebens für das gemordete Leben!

Der Staatsanwalt griff das Strafgesetz vom Fach herunter und schlug den Paragraphen nach. ». . . Wer bei klarem Verstand, mit gesunden Sinnen, in Absicht und Vorbedacht . . .« Welch einen Abgrund übergitterten diese Begriffe! – Und er, er selber, die zuständige Amtsperson, bildete er sich sein Urteil nach der landläufigen Moral, als einfacher Nachsprecher und Papagei der öffentlichen Entrüstung? . . . Aber zum Donnerwetter, wo blieb Äschlimann? Auf die eigenen Untergebenen, auf die ›Hüttenknechte‹, wie das Kanzleipersonal unter Kollegen hieß, sollte doch Verlaß sein.

Vor geraumer Weile hatte er das Faktotum hergeläutet. Wo steckte es wieder? Wo wohl – so pünktlich zur Sekunde! Was für einen lächerlich breiten Raum doch alle diese Menschlichkeiten einnahmen, sobald man in einem dieser großartigen Betriebe darinstand, aus deren vielgliedriger Gesamtheit sich das angestaunte Ungetüm des Staates zusammenfügte! Er bohrte den Zeigefinger von oben herab auf den Drücker und ließ ihn einen tiefen Atemzug lang darauf verharren. Das Echo des fernen Läutens durch einige Wände hindurch gab ihm die Ruhe seines Machtgefühls zurück.

Äschlimann erschien atemlos. Er legte den gefüllten gelben Aktendeckel auf den Schreibtisch. Es täte ihm leid, er habe sich eben gerade irgendwo 78 befunden. Der Vorgesetzte schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab . . . Dieser Diener war ein armseliges Männchen mit dünnem und fast keinem Haar. Er sprach schwerfällig, mit schleppender Zunge. Die obere Gesichtshälfte war gerötet und gipfelte in einer funkelnden Nase. Er trug einen abgeriebenen Rock, dessen linkes Knopfloch ringsum mit Nadelknöpfen ausgesteckt war. Stecknadeln und Streichhölzer führte Fritz Äschlimann stets mit sich. – »Das Datum am Abreißkalender ist wieder nicht gewechselt heute morgen!« Der Saumselige holte das Versäumte nach und entschlüpfte betreten auf seinen geräuschlosen Filzfinken.

Ysenschmied flog den neuen Stoß durch, Schieberei, Wucherei, Höchstpreisübertretung und kein Ende. Einiges strich er am Rande mit Rotstift an. Damit hätte es Zeit. Er zog die Schublade auf und entnahm ihr den Brief der Waisenbehörde: die Ernennung zum Vormund und gesetzlichen Beistand der minderjährigen Adelgunde von Luternau. Auch das wieder ein Haufen Arbeit, Laufereien von Pontius zu Pilatus. Ah – was ihm da die geehrten Amtsstellen alles aufbürdeten! Ein Sohn tötete seinen Vater – das war für den Staatsanwalt, und ein hochgeborener Vater bereute es, seine Tochter gezeugt zu haben – das war für den Vormund.

Also sein Freund Wilhelm – der übrigens noch vor Mittag bei ihm vorsprechen wollte! Sehr 79 bequem, weil es ihm zu dumm wurde, warf er den Bettel hin, um sich mir nichts dir nichts den Pfaffen in die Arme zu stürzen. Eine wahre Verwüstung des Familiengefühls – die Verleugnung des einzigen und echten Kindes. Luternau schreckte nicht davor zurück, den Makel der Geburt vorzutäuschen – wahrhaft grotesk!

 

Auch die auswattierte lederne Doppeltüre dämpfte den Schall nur kurze Zeit, dann fuhr der Staatsanwalt empor. Draußen wurde leidenschaftlich nach ihm gerufen. Rücken voran purzelte Äschlimann zu der aufgestoßenen Türe herein, die er hatte sperren wollen.

»Wo ist der Herr Prokurator, ich will zum Herrn Prokurator!« . . .

Ein herkulisch gebauter Mann – aschfahl, das Gesicht schweißbedeckt, wankte ein paar Schritte gegen den Stuhl hin, darauf jener saß. Da überstieg es seine Kräfte. Die hohen stämmigen Beine vermochten den mächtigen Körper nicht länger zu tragen. Er brach ins Knie, die Diele schütterte wie vom Fall eines schweren Sackes. Ysenschmied kannte ihn vom Sehen. Wenn er nicht irrte, hieß er Müller und war in einem der städtischen Betriebe angestellt. Es ging natürlich nicht an, daß dieser Unglückliche einfach bis zu ihm vordringen konnte. Ein Staatsanwalt war kein Beichtvater.

»Herr Prokurator,« stammelte der Kniende, »ich 80 habe mein Kind erschossen – unsern Jungen – es war unser einziges – wir haben viele Jahre keines bekommen gehabt – ich wollte meinen Revolver putzen – er lief von hinten herbei, wollte sehen, was ich da mache – – –« So lallte und stöhnte er in langgedehnten, tierähnlichen Schüttelseufzern. Das Haar hing ihm in Strähnen triefend über die nasse Stirn herunter.

Der Staatsanwalt, immerzu sitzend, stemmte sich die Fläche seiner eigenen linken Hand gegen die Rippen, sein Herz raste. Die sich überstürzenden Schläge pochten vornehmlich den Hals herauf gegen sein linkes Ohr. Endlich fand er Atem. »Ich glaube Ihnen gerne,« bemerkte er. »Ich denke, die Untersuchung verläuft rasch. Ich kann von mir aus nichts weiter tun. Es muß jemand auf dem Amtshaus verhören. Gehen Sie gleich hinüber und geben Sie den Vorgang zu Protokoll.«

Der Zwischenfall hatte sich aus den anliegenden Amtszimmern, in die der Lärm drang, zu einem kleinen Auflauf angewachsen. Der Zopf der Zuschauergruppe quoll in den Flur hinaus, untermischt mit den schwarzgrünen, goldgeknöpften Röcken zweier Polizisten. Da sah der Staatsanwalt über den Köpfen den weißen Roßhaarpinsel des Reiterhelmes schweben. Der Mann, der immer noch schluchzend auf den Knien rutschte, wurde hilfreich aufgerichtet und hinausgeführt. Gegen das Tageslicht des Flurfensters sich wendend, wurde er wie von 81 einer ungeheuren Scham befallen und grub sein Gesicht in die hohlen Hände.

»Ich glaube, diesem Menschen da seinerzeit in Spanien begegnet zu sein,« ließ sich Luternau, als er eingetreten war, vernehmen, »heißt er nicht Müller? Und ist Elektriker? Er vertrat damals technisches Personal bei der Einweihung einer Brücke, die durch den Kardinal-Erzbischof von Sevilla vorgenommen wurde. Ich befand mich im Gefolge des Kirchenfürsten. Der hohe Prälat ließ sich die gesamte Gesellschaft, die sich an dem Bauwerk nützlich gemacht hatte, vorstellen, und reichte jedem einzelnen hintereinander huldvoll die Hand zum Kusse dar. Was tat mein treuherziger Landsmann? Er schob seine biedere Vorderflosse herzu und entblödete sich nicht, mit einem breitgrinsenden Grüßgott ein rechtschaffenes Händeschütteln anzurichten. Auf den ersten Blick habe ich ihn wiedererkannt. Und mit dem Menschen hast du Mitleid?«

Ysenschmied saß immerzu im Armsessel. Seine Finger hatten, auf dem Schreibtisch irrend, ein breites, hölzernes Lineal zu fassen bekommen. Mit dessen Kante erklopfte er sich mechanisch Gehör: »Wilhelm, ich ersuche dich, mich auf der Stelle zu verlassen. Dein Anblick ist mir unerträglich. Du machst den Pajaß in unserem braven schweizerischen Waffenkleid. Die zuständige Behörde hat mich zum Vormund deiner Tochter ernannt. Das Kind dauert mich. Ich werde mich seiner annehmen. Es ist 82 mir nicht vergönnt gewesen, einen Hausstand zu gründen. Ich will die Heiligkeit der Familie schützen, die du mit Füßen trittst . . .«

Mit einer heftigen Gebärde erhob er sich, wandte sich ab und stellte sich ans Fenster . . . Dort hörte er Luternau sagen:

»Bernhard – du hast dich überzeugt, es ist alles auf das genaueste vorgesehen – nur eines wird dich überrascht haben oder dann hast du es noch nicht bemerkt: in der Hauptsache habe ich euch freie Hand gelassen, gerade über Gondas religiöse Erziehung ist keine Klausel eingeschaltet. Es ist das mit voller Absicht unterblieben, auf ausdrückliche Vorschrift.« Er erklärte ihm in längerer, wohlgesetzter Rede, er habe sich in die Erziehung noch mit jemand zu teilen. Und zwar sei das nicht die Tante Marquart. Ein Gefühl wie von einer streichenden Hand lief über Ysenschmieds immerzu abgewendeten Rücken. »Nun – so sprich. Mit wem habe ich mich in die Vollmacht zu teilen?«

»Mit einer Frau!« –

»Die ich kenne?« –

»Ich dächte.« –

»Du bist unerträglich. Sprich!«

»Beate von Diesbach – meine Base! Wir drei gehörten zusammen. Weißt du nicht mehr? Wo habt ihr euch kennen gelernt, wenn nicht an der Junkerngasse? Und wer war der postillon d'amour – haha!« Wilhelms Stimme klang heimtückisch.

83 Bernhard, kauernd, stöhnte: »Alles machst du dir zunutze – der geheimsten Geständnisse entsinnst du dich! Jahrzehnte sind für dich kein sicheres Grab – tote Gefühle werden schonungslos hervorgerissen. Schäme dich!«

Statt jedem Gegenworte hohnlachte der grüne Reiter kurz auf. Ysenschmied hob den einen Fuß und stieß die Ferse stampfend zur Erde. »Auch bei Beate ist es dir nur um das eine zu tun, wonach dir allein der Sinn steht. Auch sie soll katholisch werden.«

»Ja.«

»Auch ich soll es werden –«

»Ja.«

»Adelgunde soll Hand dazu bieten?«

»Ja.«

Ysenschmied stieß hervor: »Ich bitte dich, Wilhelm, hab endlich ein Einsehen. Achte den Frieden zwischen uns. Verlasse mich auf der Stelle. Ich kann deine Anwesenheit nicht länger aushalten.« Er klammerte sich an den Gußgriff des Fensterschlosses und hielt sich daran fest, während ihm ein Rad den Kopf drehte und ein Nebel den ganzen Raum im Schwindel rings um ihn herumschwang. Und in den Nebel hinein tönten ihm die Worte des Renegaten:

»So – und nun bleibt mir noch eine Stunde, ehe ich in die Kaserne muß. Weißt du wohin ich gehe? In euer gottverlassenes Münster! Euer höllisches Lutherlied erbraust – umbrandet Pfeiler – 84 da, aus der Seitenkapelle, als wäre mein Ahnherr, der dort begraben liegt, aus seiner Gruft aufgeschreckt worden, komme ich hervor – gehe in der Runde um, den Helm in der Hand – erklirrend an Sporen und Schwert – als Junker, als Ritter – und vor euerem entweihten Altar will ich ausspucken« – Es verging eine geraume Weile, ehe der Staatsanwalt vorn am Fenster diese entsetzlichen Worte ermaß! Störung – Schändung wissentlich und vorsätzlich angekündigt! Als Ysenschmied sich aber umsah, war das Gemach leer.

So. Und nun?

Sein bedächtiges Temperament überwog. Sonst hätte er von seinen Vollmachten Gebrauch gemacht und der angesagten, gottesdienstlichen Lästerung durch Polizeigewalt vorbeugen lassen. Aber er ließ es lieber drauf ankommen. Vielleicht war Wilhelm nicht ganz bei Sinnen.

Ganz benommen begab er sich zur Mittagsstunde auf die Straße und wurde alsbald von hinten angerufen. Er erkannte den Grüßenden nicht gleich: Direktor Adrian von Roll, Abteilungschef im Bundeshaus. Sie gingen miteinander. Eigentlich hörte Ysenschmied nur mit halbem Ohre zu, bis der andere seine Teilnahme an der Reformationsfeier erwähnte: »Ja, sind Sie denn nicht –?« entfuhr es ihm, ohne zu vollenden.

»Ich habe meine Frau begleitet. Sie ist protestantisch geblieben.« Ysenschmied wagte nicht, sich 85 zu erkundigen, ob nicht etwa eine Störung sich ereignet habe, und verabschiedete sich.

 

IV.

Eine Bürgerstube nach Väterart bot in der Bäckerei Rohr, vorn gegen die Straße hinaus, der Wohnraum des ersten Stockwerks. In dem mächtigen Ofen von glasierten blaugrünen Kacheln, der sich neben der Tür auftürmte, zog und summte wohliger Hausbrand. Am Fenster vorn stand ein vierschrötiges Sofa aus poliertem Nußbaumholz, dessen aufgerüstete Kissen in rot und schwarz gewürfelte Überzüge eingebunden waren. Darüber, an der Wand in großem Format, von hellgebeizten Eichenstäben umrahmt, einer jener neuen, einprägsamen Holzschnitte, die einheimische Kunst dem Bürgerhaus widmet, der Senn auf seiner Alp –.

Tagelang hatte sich Mathilde Rohr auf den heutigen Mittag gefreut – es galt liebe Leute um ihren Tisch zu versammeln. Elisabeth Walthard sprang auf und faßte ihre um vieles ältere Schwester hastig bei den Schultern.

»Liebst du den Prokurator immer noch, Mathilde?«

»Ist das eine Frage!« wehrte die Bäckersfrau ab. »Ich denke, wir haben ihn alle gern.«

»Nein, ich mag ihn nicht mehr,« rief das schöne Mädchen und schüttelte trotzig ihre Gretchenfrisur. 86 »Der Prokurator ist rückständig, er geht nicht mit der Zeit.« Die Schullehrerin schrie es in dem prophetischen Eifer der befreiten Frau, die für die Straße spricht. Der jungfräuliche Schimmer ihrer Züge erlosch – der breite Goldreif ihres gebändigten Haares erhielt durch den kalten, trotzigen Gesichtsausdruck eine leblos metallene Härte.

»Elisabeth hat recht – euer altes Vetterchen hat die Stunde verpaßt,« riefen die Brüder vom Fenster her. »Jetzt wird mit jedem abgefahren, der nicht Farbe bekennt. Wir wollen ihm den Standpunkt klar machen. Wo steckt er? Ist noch nicht da! Riecht Lunte und kneift!«

Mathilde stellte den Teller, den sie mit einem reinen Tuche ausgerieben hatte, auf den Tisch und trat unverdrossen an die jungen Leute heran: »Betragt euch nun bitte nicht im voraus wie ein paar hergelaufene, undankbare Landstreicher. Dir sag ich eines, Elisabeth! Ich habe absichtlich auch noch Alice Forster eingeladen. Nimm dir ein Beispiel an ihr. Sie, die Braut des Umstürzlers, ist doch ganz Weib geblieben – von ihrem frauenhaften Reize hat sie nicht so viel eingebüßt. Jawohl!«

Indessen trat Mutter Rohr ein in einem schweren Seidenstaate und Alice Forster – ihnen folgte der Bäckermeister Otto. Er war dunkel angetan in einem dauerhaften Feierkleid aus schwerem Tuche. »Aber Otto,« klagte seine Mutter, »du hattest zu tun, sagst du. Für den lieben, herrlichen Luther 87 hättest du eine Ausnahme machen dürfen, Otto. Denke doch, Luther! Nicht dein braunes Marengogewändlein, sondern den langen, schwarzen Nachtmahlsrock – jawohl, Otto. Als da geschrieben steht: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jeglichem Worte, das aus seinem Munde geht.« Die erhobene Stimme, die gebieterische Tonart, aus denen heraus sie sprach, färbten auf ihrer Zunge den Bibelspruch derb: ›geschrieben stähet‹ und ›läbet‹ und was solcher mundartlicher Wunderlichkeiten mehr waren. Der Sohn Otto wandte sich mit einer halben Drehung weg. Der gedunsene Leib und der breite Kopf mit den reichlichen Vorderbelastungen, Augenwülste, Doppelkinn, hängender Bauch, zeichneten den kranken Mann.

Da trat der Prokurator über die Schwelle. Sein leises Klopfen war überhört worden. Erst das Knarren der Angeln führte ihn ein. Alle sahen, wie er wohlerzogen mit leisen Händen die Türe ins Schloß legte.

Man ging zu Tisch. Ysenschmied steckte sich sein entfaltetes, schlohweißes Mundtuch zwischen die Weste und sah zu, wie die liebe Mathilde ruhig einen Teller um den andern aus dem Schöpflöffel mit lauterer Fleischbrühe füllte. Den ersten Teller stellte sie vor die Schwiegermutter hin. Er weidete sich im stillen an der geschaffenen Verumständung: das Tischgebet, das die Tante zu verrichten sich anschickte, verzögerte sich. Solange als die Hausfrau austeilte 88 und in demselben vorsichtigen Zeitmaß jedem die dampfende Schale zuwandern ließ, wölbte die alte Mutter unruhig, mit der kaum zu bändigenden Ungeduld des gereizten Appetits, den Rücken, versenkte die Nase in die aufsteigenden Düfte und rieb die bereits gefalteten Hände aneinander. Endlich konnte die patriarchalische Segenspendung vor sich gehen – Teller und Löffel begannen zu klappern.

Ysenschmieds Nachbarinnen brachten nach der leichten und feinen Art der Frauen ein Tischgespräch auf über Tanz und Torheit und Putz. Ysenschmieds Blick fiel auf die Hand der Alice Forster. Sie trug einen einzigen Schmuck, ihren Verlobungsring. Er bestand aus hellem gelben Golde, nicht aus gekupfertem, rotem. Da gedachte er ihres Bräutigams: es gibt dreierlei Menschen, hatte der gesagt, edle, rechtschaffene und gemeine!

»Nun, was lebt er denn?«

»Danke, es geht ihm gut.«

»Ein gescheiter Mensch, wie mir schien – damals – abends –«

»Finden Sie?«

»Seine Rede – kühn, gewiß – sehr kühn – die Charakterlosigkeit der Rechtschaffenen – man traut wahrhaftig seinen Ohren nicht, wenn man so etwas hört – aber vielleicht hat er recht – ich glaube wirklich, so wie er es meinte, war es richtig –« Die Braut leuchtete.

Die Geschwister Walthard erstürmten, das ganze 89 Essen über, Zinnen und Warttürme mit ihren Beweisen und Folgerungen. Pflicht, Wille, Ziel – diese Begriffe wirbelten durch die Unterhaltung. Ysenschmied bestand mit Nachdruck auf seinem Recht, sich auf die Bärenhaut zu legen, wenn es ihm gefalle.

Ihm wurde das gepfefferte, mit Witzen und Anspielungen gespickte Tischgespräch eine Würze mehr für den Genuß der lecker zubereiteten Speisen. Er ließ es sich schmecken. Man saß ja vor lauter guten Sachen, so tat er denn der vorgesetzten Mahlzeit die schuldige Ehre an. Beim Nachtisch spendete er der Tante einen wohlgebauten, gelassen vorgetragenen Satz der Anerkennung für die neuerdings bewährte Kunst ihrer Küche. Als er dann auch noch rauchte, waren alle Geister der Wohligkeit am Werke, ihn einzuschläfern. Der erwärmte Branntwein im Kaffee löste ihm die Bestimmtheiten seines Wesens – er schlürfte den dunkeln, gezuckerten Saft wie einen Beschwörungstrank. Die Vernünftelei der hygienischen Garde fiel ihm auf die Nerven: »Ach, geht mir doch,« rief er ärgerlich.

Als die gute, halbtiefe Stimme Mathildens auf einmal die Weisheit vernehmen ließ, andern Freude zu machen sei mehr wert, als seine Pflicht zu tun, sperrte er die Augenlider, die nun schon geraume Weile zulagen, in einem dankbaren Blickwinken auf.

»Gut, Mathilde!« warf er nach einer Weile ein, 90 »Freude machen ist mehr wert als seine Pflicht erfüllen – gut – gut!«

Der weinfeindlichen Jungmannschaft fiel sein hingeschmolzenes Benehmen unliebsam auf. Werner Walthard gab ihm jetzt heraus. Der Herr Prokurator verkörpere das Recht von Amts wegen und spreche sich geringschätzig über Pflicht und Willen aus: »Wohl bekomm's einem Staate, wenn seine Beamten solchen Grundsätzen huldigen.«

Ysenschmied überhörte diese Kampfansage. Seine Augen, nun gründlich offen, wendeten sich der Buchhalterin zu.

»Wie denket Ihr über Pflicht und Freude?« fragte er und erhielt zur Antwort, die Arbeit verdrieße sie nie, weil sie dann sicher sei, daß ihr der Bräutigam nicht verleide. Wo sie sich auch befinden möge, immer weile sie bei Emil Meisterhans. Vorausgesetzt, daß sie ihn über dem gern und gewissenhaft ausgeübten Berufe nicht zuzeiten vergesse, um ihn dann aufs neue zu entdecken. Das sei der Grund, warum ihr die Pflicht kaum weniger teuer sei als die Liebe. Die Braut des Sozialisten fing ordentlich Feuer und sprach vom Herzen weg.

Bis Werner, der Zeitungsberichterstatter, das Ohr nach der Gasse neigend ans Fenster trat und es aufriß. Er spitzte den Mund, erwiderte ein heraufklingendes Flötsignal – die jungen Frauen stürzten herbei, reckten die Hälse. Gegenüber, an der andern Häuserreihe der breiten Gasse, gestikulierte 91 Emil Meisterhans und deutete eilfertig mit dem Daumen über die Schulter hinter sich.

 

Unter dem runden Sturz eines Laubenbogens stand regungslos ein Jüngling. Ein Tellerhut überschnitt ihm schräg die Stirne. Auch noch im Schatten des breiten Randes zeichneten sich die Querlinien der zusammenstoßenden Brauen, der wagrechte Strich der Nase, die tiefen Furchen der Mundwinkel ab: ein Napoleonsantlitz mit verbissenen, bleich leuchtenden Zügen. Den stämmigen Leib umhüllte ein dunkelgrauer Fledermausmantel. Unter dessen einem Flügel guckte die gelbe Außenkante einer ledernen Aktenmappe hervor.

»Was? Ursprung? Ist das nicht Ursprung? Jakob Ursprung! Der? Im Lande? Wahrhaftig!« Durch Rufen und Winken wurde kundgetan, Meisterhans möchte doch heraufkommen, möchte Ursprung mitbringen. Mathilde sah sich unwillkürlich nach ihrem Gatten um.

Der, all die Zeit in harmloser Genüßlichkeit das Wohlbehagen selbst, geriet jetzt mit einem Schlage außer sich. Der unliebsam bekannte Name des jungen Revolutionärs rief in seinem Gesicht eine schreckhafte Veränderung hervor – mit der blutleeren Haut bauten die gebirgig herausspringenden Backenknochen ein eindringliches Relief auf.

»Der Jugendverderber? Der Irrenhäusler? – 92 kommt mir nicht über die Schwelle! Wir sind hier ein braves Bürgerhaus. Zu mit dem Fenster! Verstanden?« Hustend brach er sich Bahn.

Sein erregtes Eingreifen rief den wirbelnden Aufbruch der Jungen hervor. »Ach so, Schwager Otto,« versetzte achselzuckend Werner – »dann antworten wir mit dem Familienstreik –« Und ehe sich noch etwas beschwichtigen ließ, verschwand das junge Volk unter Reden und Rufen.

Otto Rohr lag erschöpft in der Ecke des Ruhbettes, zwischen den rot und schwarz gewürfelten Kissen. Seine Brust klemmte ihm den Atem ein. Neben ihm knisterte das steife Seidenkleid seiner durch jähe Sorge bewegten Mutter, die an ihm herumtastete, ihn beschwor und schließlich seiner eigenen Frau den Beistand verwies. Nun war sie die Schwiegermutter, wie sie im Buche stand! Ihr Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an: »Ah, Mathilde – wieder deine Sippe!«

»Nein, Mutter, nein –,« raffte sich der Leidende auf, »ich verbiete Euch, Mathilde Vorwürfe zu machen – –« Seine Frau erwiderte einfach, indem sie gefaßt und teilnehmend von ihm zurücktrat: »Ich begreife die Mutter gut – sie kann sich eben nicht mehr umgewöhnen!«

Der Staatsanwalt aber, der unter einem andern Eindruck stand, fragte Mathilde, als sie neben ihn trat: »Sag, liebt denn Elisabeth den Jakob Ursprung?«

93 »Ja, Bernhard, was der liebe Gott einem Christen, – das ist er ihr. Sie betet ihn an.«

 

V.

Der Untersuchungsrichter von Jenner sah den Staatsanwalt, der sich bei seinem Anblick beeilte, unter dem Kornhausdurchgang auftauchen – da hielt er den Schritt an, ein Bein auf der oberen, das andere auf der niederen Stufe der Vortreppe zum Polizeigebäude. Zwei Sprengbomben von sehr achtungheischendem Formate, offenbar bestimmt eine der fremden Gesandtschaften in die Luft zu jagen, waren entdeckt worden und mitten in der Stadt den unachtsamen Fuhrleuten vom Wagen gekollert, ohne zu krepieren.

Staatsanwalt und Untersuchungsrichter fanden den Polizeihauptmann Auenstein zwischen den abgedeckten Sprengkörpern, von denen jeder mit hellen, winzigen Kügelchen in der Art von Reiskörnern gefüllt war.

»Ja, wie habt ihr die Dinger geöffnet?« –

»Es war draußen ein Telegraphenarbeiter beschäftigt – der mußte mir seine Lötlampe leihen –«

»Aufgelötet? Gefüllte Bomben?« Eine Gänsehaut lief ihnen über den Rücken.

»Sie sind beim Zulöten ja auch nicht losgegangen!«

»Aber, wenn Ihre tolle Berechnung nicht gestimmt hätte?«

94 »Dann hätten wenigstens Sie mich nicht mehr erwischt, Herr Prokurator!« Und Auensteins Säbelnarbe furchte ihm beinahe die ganze Wange entzwei, so pfiffig verzog sich das Gesicht über dem unterdrückten Gelächter.

Auenstein hatte nach einem Sachverständigen geschickt, um den Inhalt der Höllenmaschinen zu bestimmen. Doktor Zeerleder wurde hereingeführt. Sein Schulhaus lag zunächst, und eben war Pause. Es brauchte nicht lange Umstände bis zum Ergebnis: »Reine Pikrinsäure! Dreizehn Kilogramm, sagen Sie?«

Auenstein kicherte: »Hätte eine nette Bescherung abgesetzt, was?«

»Jedenfalls auf fünf Minuten im Umkreis ein einziger Schuttabladeplatz!«

»Nun bitt ich einen Menschen, mitten im Herzen der Stadt!« entfuhr es Ysenschmied. Die Tatsache einer so schrecklichen Zerstörungsabsicht innerhalb der bürgerlichen Umfriedung schmetterte auf ihn herunter mit einer Wucht, die ihn überraschte. Zerfiel die Welt nicht ringsumher in diesen grausigen Zusammenbrüchen? Konnte man sich beschweren, daß es auch einmal drinnen im Schweizerländchen ernsthaft knallte? Was wunders! Und darüber zuckten nun bestandene und kluge Amtsleute zusammen, die vom Morgen bis zum Abend nichts anderes trieben als Spitzbuben abfingen!

95 Inspektor Auenstein begann die mit schwarzen Leder beschlagenen Holzstühle von der Wand, wo sie standen, wegzurücken und lud zum Sitzen ein. Schon brachte Jenner die Verhaftung der Ozorai zur Sprache – ihr Anwalt Rysold setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um sie rückgängig zu machen. Einen übergroßen Reiz besaß der Fall für die Behörde nicht.

Auenstein, für den es nur Tatsachen und deren verstandesmäßige Feststellung gab, teilte mit: die Haussuchung war erfolglos verlaufen; der eine Detektiv schaute sich noch nach übersehenen Winkeln um, indem er zu seiner Begleitung bemerkte: ›So, nun haben wir wohl überall nachgesehen?‹ Da entfuhr es der Ozorai gleich einem im Traume ausgestoßenen halblauten Schrei: ›Im Klavier noch nicht!‹ Man hob den Deckel, griff hinunter und bekam die Tuben mit dem Schweinfurter Grün zu fassen . . .

»Das erhöht die Verdachtslast erheblich, reicht aber noch nicht zum Beweise aus,« rief der Untersuchungsrichter ärgerlich, »wir haben das Gift erwischt und zwar in ihrer Wohnung – aber es ist noch nicht auf den Apfelkuchen gestrichen und erst recht noch nicht der Gattin des Herzensfreundes zwischen die Lippen geschoben.«

Er unterhielt sich weiter mit Auenstein über dieses seltsame Gesellschaftsklüngel, das sich um die ausländischen Vertretungen ansetzte: der deutsche Graf, der italienische Graf, der spanische Marchese 96 – und jenes kostbare Uhrenarmband, das vierzehn Tage lang das Stadtgespräch ernährt hatte: zwei drehbare Zifferblätter, die übereinander zu liegen kamen – ersetzte man die Zahl durch entsprechende Buchstaben, so ließ sich ein Geständnis ablesen! Nicht Zärtlichkeiten allgemeiner Art – vielmehr kam ein Leistenvers zum Vorschein und verflocht unverständliche Silben zu einem wohlklingenden Hauptwort. Mit dieser Bestellung hatten verliebte, müßiggängerische Herzen den Scharfsinn und die technische Gewandtheit der Uhrenindustrie auf die Spitze getrieben.

»Ich muß hinüber, – kämet Ihr vielleicht mit, Herr Prokurator, – das wäre sehr artig von Euch?« wandte sich der Untersuchungsrichter höflich an seinen Vorgesetzten und erhob sich. Sie begaben sich zusammen die kurze Strecke nach dem Amtshause, das etwas versteckt in einer Nebengasse nach dem Flusse zu liegt. »Eine schöne Sache für Rysold,« erläuterte der junge Aristokrat lebhaft, nachdem er durch einen Schritt hintenherum den Staatsanwalt auf seine rechte Seite gebracht hatte, und malte in wortreichem Geplauder diesen mysteriösen Mordversuch vor den Schranken aus, indem er Stimme und Gebärden des Verteidigers nachahmte: ›Meine Herren Geschwornen stellen Sie sich eine Giftmörderin so vor?‹ Und er brauche sie dann nur noch ein bißchen auf den Engel hin anzuziehen und zu frisieren – »ich höre ihn schon: Sehn Sie doch, dieses 97 Kind!« – Ysenschmied antwortete trocken, Rysold möge zusehen, daß ihm das Berner Pflaster nicht selber zu heiß werde. Er spielte damit auf umlaufende Gerüchte an, die sich zusehends verdichteten, als hätte er sich des verbotenen Nachrichtendienstes zugunsten einer fremden Macht schuldig gemacht.

»Ich kann ihn bis zu einem gewissen Grade begreifen – ist es für einen fähigen Menschen noch auszuhalten in unserer schweizerischen Mausefalle? Was hat mein Freund Wilhelm von Luternau in seiner Verzweiflung angefangen? Herr von Jenner, der Sie mit vom Metier sind – Hand aufs Herz, haben Sie noch nie einen Zuchthäusler beneidet? Ich möchte mich dessen nicht verschwören.«

Damit betraten sie den Hof des Untersuchungsgefängnisses.

Dort schritten sie an zwei jungen Burschen vorüber, die man ihrer Tracht nach nicht gerade hier gesucht hätte. Der eine in grüner Schürze hielt einen blühenden Strauß in den Händen, der andere im weißen Anzug und weißer gestärkter Mütze einen Tortenkorb. Ein Gefängnisdiener trat aus einer schwervergitterten Tür und nahm den beiden Burschen, dem Gärtner und dem Zuckerbäcker, die Gaben ihres Botenganges ab. Die öffentliche Güte und Barmherzigkeit erbarmte sich auf diese Weise dreier eingekerkerter Gebrüder Sachwalter, die in Betrug und Untreue ein Menschenalter lang eine ehrbare Kundsame getäuscht hatten, also daß die Ersparnisse 98 von Jahrzehnten und der Ertrag mancher saurer Lebensarbeit bei Dutzenden, vorab mittleren und kleineren Leuten, auf frevelhafte Weise zugrunde gerichtet waren. Was aber geschah, nachdem die Trauer und Entrüstung über den eigenen Verlust verwunden war? Das Mitleid erwachte für die Unglücklichen hinter den Eisenstäben – man erinnerte sich ihrer Geburtstage und sah keinen Grund ein, ihrer nicht fernerhin zu gedenken – in einer freien und ursprünglichen Form der Selbstachtung, die sich durch Gemeinheit und Verräterei das ehemalige Vertrauen nicht vergällen lassen wollte. »Da lernt man den Berner Charakter von seiner besten Seite kennen,« bemerkte Jenner, während Ysenschmied erstaunt den Blumenstrauß und die ausgepackte Torte in einer Zelle verschwinden sah.

 

Ein Fahndungspolizist lieferte eben einen Schelmen ein. Der verwahrloste, überdies betrunkene Mensch kehrte zu oberst auf der Treppe wieder um. Kleiner Schrecken ringsum, Rufen, Klingelzeichen, bis unter Püffen und gepfefferten Dialektliebkosungen der Wicht aufs neue gefaßt und dem sichern Gewahrsam zugeführt war . . .

Auf einem Handkarren mit Gummirädern wurden Stöße von Akten vorübergeführt. »Wucherprozeß Meyer und Konsorten – der Kollege mag sich freuen,« stichelte Jenner. Ein Zug Untersuchungshäftlinge – rotblonde Jugendliche und unrasierte 99 Greise mit weißen Bartstoppeln, die auf einer Terrasse hatten Luft schöpfen dürfen, wurden den Zellen zugetrieben und von ihnen verschluckt.

War der Student darunter, der seinen Vater umbrachte? Nein, kam der Bescheid. Wo saß er? »Gleich da geradeaus, im Achte!« Und der Angestellte machte sich anheischig, die angelegte Kette zu lösen, indem er das Malschloß anfaßte. Ysenschmied wollte abwinken, er sähe den Mann ja immer noch früh genug bei der Verhandlung. Das Wort schnitt ihm aber Fürsprech Rysold ab, der in hoher Geschäftigkeit auf die beiden Amtspersonen zusteuerte.

»Eine Unschuldige! Diese ewige Unfähigkeit, Nervenkrankheit und verbrecherische Absicht zu unterscheiden! Wir wünschen, unsere Verwahrung zu Protokoll zu geben. Auf der Stelle!« –

»Schon gut, Rysold – wir haben ein Wartezimmer. Sie werden gerufen werden.«

Aber der Advokat ließ das nicht gelten. Er bat beide, eben einmal bis an die Zelle der Ozorai mitzugehen.

Da bot sich ihnen durch die Türe ein liebliches Bild: in dem dürftigen Gelaß schalteten Mutter und Tochter einträchtig. Als sie sich gestört sahen, richtete sich die Kranke auf dem Bettverschlag gegen die fremden Herren halb auf und stöhnte bang: »Was macht man mit mir?« Der Schlüsselbund klirrte, der Gefängniswärter schloß die Türe 100 wieder. »Der Arzt kann jede Minute eintreffen,« beteuerte Rysold, »ich werde nicht verfehlen, sofort mit dem Befunde mir den erforderlichen Nachdruck zu verschaffen.« Drohend hörte sich das an.

 

Sie überschritten die Anbauluke, die aus dem Untersuchungsgefängnis ins Amtshaus führt. Der Tunnel verlor seine gewölbte Decke und wurde zu einem rechteckigen, langweiligen Gange; eine Türe löste die andere ab, und auf jeder war auf einem Emailtäfelchen irgend ein Titel vermerkt. Sie betraten das Amtszimmer des ersten Untersuchungsrichters. In ihm hatte Ysenschmied beinahe ein Jahrzehnt lang seinem Berufe obgelegen. Ein Gefühl des Wiedererlebens hüllte ihn ein – seine Augen glitten über den Bogen, den ihm Jenner zuschob.

»Hat Auenstein sie von sich aus eingesperrt?«

»Ja – nach der Entdeckung des Tubengrüns glaubte er das seiner Ehre schuldig zu sein. Man kann sie ja wieder springen lassen. Wollen sehen, was Rysold anstellt? Er wird wohl gleich alle Hebel in Bewegung setzen.« Der Untersuchungsrichter erweckte an Mienenspiel und Stimme den Eindruck eines sowohl pflichtgetreuen als auch gleichgültigen Menschen. Er forderte in wohlgesetzten Worten eine anständige Justiz.

Da warf Ysenschmied ein: »Kollega, sind Sie glücklich?«

»Ich bin es,« strahlte von Jenner, und seine 101 rundliche Figur fuhr vom Sitze auf, »Sie kennen meine Frau – ci-devant Agathe von Werdt. Sie hat mir vor drei Wochen den Jungen geschenkt – den Walo Bruno. Ich werde nicht satt ihn zu betrachten. Wie es sich ums Handgelenk herum rundet – jeden Tag ein bißchen mehr! Wie er lallt! Wie er schweigend die großen Augen aufschlägt! Das Entzücken an meiner Vaterschaft macht mich stumpf gegen die Spitzfindigkeiten der Kasuistik. Ich führe die eingebrachten Schufte und Halunken tüchtig aufs Eis – werfe ihnen die Schlinge über, daß sie zappeln. Aber damit basta! Am Herzen laß ich mir meine Pflicht nicht nagen. Abends um sechs geht für mich die Bude auch innerlich zu!« Dabei glitzerten seine Äuglein auf diebische Weise über das geschweifte Bollwerk seiner adeligen Abkunft hinweg. Ysenschmied griff nach Stock und Hut, und Jenner geleitete ihn in die Halle hinaus.

Da stand auf der Schwelle Rysold, Papiere in der Hand. Neben ihm ein Diener in Livree.

Er gab sich großartig. »Hier! Soeben erhalten! Feudale Briefbogen mit einem Adler drauf – ich fordere die Freilassung meiner Klientin.«

Jenner verlängerte unmerklich sein Gesicht. Ysenschmied reichte ihm im Weitergehen die Hand hin: »Empfehl mich Euch, von Jenner!«

Er wollte die Verlegenheit des Kollegen nicht vergrößern. Einen Verhaftungsbefehl innerhalb zwölf Stunden zu widerrufen war kein Heldenstück 102 für einen Unfehlbaren! Und für einen Berner das Gefühl, sich übereilt zu haben, auch nicht eben schmeichelhaft.

Nun ja denn!

Das Fräulein Ozorai konnte heute abend wieder unter den Lauben spazieren, wenn es ihre Gesundheit erlaubte! Eine Frigide, eine Hysterische! Vorsichtiger war es immer, solche Weibersperenzchen dahinzustellen!

Die Plättchen des Korridors hallten unter Ysenschmieds knappen Schritten. Er begab sich mit einer gewissen Selbstsättigung des Übergeordneten an Bahnhof und Bubenberg vorbei auf das Obergericht. Auf der Terrasse, im Beet vor seinem Fenster, glühten brennende rote Geranien, dunkelten runde violette Astern.

 

VI.

Als er zum Feierabend sein Haus betrat, schwankte eine weiße Schürze um breite Hüften in der Dämmerung; die bejahrte, wohlbestandene Haushälterin deutete nach dem Wohnzimmer. Hinter der Türe sprachen Frauen französisch. Merkwürdig, nach Jahren verriet sich ihm an diesen wenigen Silben die Stimme Beatens. Er trat in die unerleuchtete Stube – die Damen hatten im Zwielicht zu warten gewünscht. Auf dem milchig schimmernden 103 Fensterausschnitt zeichnete sich der Umriß eines geschmeidigen, fließenden Wuchses ab – der fremdländische Guten-Abend-Gruß schlug ihm ans Ohr. Er entschuldigte sich für Dunkelheit wie für Verspätung und drehte das Licht auf, um nicht zu stolpern. Sein Blick zwinkerte sich unsicher in der Richtung der Sprechenden zurecht.

Welch ein Paar stand vor ihm! Die in die Wirklichkeit zurückgekehrte Jugendliebe und ein erblühendes edles Mädchen! Liebliche Fracht einer goldenen Wolke, ihm märchenhaft in die Stube getragen! Beatens Augen, die es ihm einst angetan hatten, ihr enggeschlossener Mund, ihr gewelltes dunkles Haar berührten ihn gütig. Auch Gondas Augen, auch ihr Mund, auch ihr Haar trafen ihn wie alte Bekannte – in ihnen begegnete ihm sein Freund, ihr Vater, der es nicht mehr sein sollte und der es doch war und blieb, da ihm sein Kind also sehr aus dem Gesicht geschnitten schien!

In die reichliche Wundersamkeit des Augenblicks fand sich der Staatsanwalt, wie es seine ausgeglichene Bernernatur und überdies seine an Überraschungen geschulte Beamtenzurückhaltung nahelegten. Er faßte das am wenigsten wunderbare Endchen an und begrüßte die alte Freundin, die ihm einen anmutigen Pflegling zuführte. Gonda schwebte auf dem Eckrande eines niedern Sessels und schaute sich ihren neuen Gebieter an.

»Mein Papa tritt in den heiligen Dienst – 104 Sie wollen mir ein guter Vater sein –,« sagte sie in bebendem Deutsch.

Schwester Beate nannte jene höhere Mädchenschule, an der Doktor Edgar Zeerleder unterrichtete. Ob er vielleicht zuhause sei und Auskunft erteile. – Man begab sich nach oben.

Die Mansarde erglänzte. Die Gläser und Metallstücke waren aufs letzte Stäubchen ausgewischt. Seit die Alte – so erzählte Zeerleder – sich auf das Reinhalten auch des Laboratoriums eingelassen hatte, stand die Hexenküche im Dachgeschoß der Hausküche zu ebener Erde in nichts an blitzblanker Sauberkeit nach.

Gonda erstrahlte im Mittelpunkte der Aufmerksamkeit.

Sie gab sich nach außen, wie es ihrem südländischen Blute entsprach – im Kern und Wesen spukte eine praktische Bernerin, die mit dem Leben zu Streich kam. Lachend und in einem Kauderwelsch, in dem drei Sprachen durcheinanderpurzelten, tat sie der Wissenschaft alle erdenkliche Ehre an, ließ Schalter und Hebel und Drücker und Drähte spielen, plante einen verhängnisvollen Kurzschluß, der ihr auf keine Weise gelingen wollte, bis sie die geheimen, raschen Vorbeugungsmaßnahmen des Doktors endlich entdeckte und ihn einen Spielverderber schalt. Das Lieblichste an ihren Kenntnissen war die malerische Unordnung, in der sie auf der Oberfläche ihres Mädchengemüts herumlagen.

105 »Was haben Sie jetzt da wieder angestellt?« rief Zeerleder belustigt und verhütete durch einen raschen Handgriff ein nahendes Kataströphchen, das durch schlangengleich geringelte Drähte sich an deren Endberührungsstelle mit zischendem Vorwitz verriet.

»Ach ja, ich verwechselte glaselektrisch und harzelektrisch,« versetzte Gonda großartig und erhöhte mit diesem kecken, doch gänzlich unsinnigen Bescheid das Vergnügen des Sachverständigen. – Als die Besichtigung des Laboratoriums seinen Zweck erfüllt hatte, verfügten sich die Anwesenden ins Erdgeschoß, wo der Besuch noch auf kurze Zeit Platz nahm.

»Aber, Fräulein von Luternau kann doch wohl nicht nur rechnen,« – bemerkte der Vormund und gesetzliche Beistand, »hoffentlich kann sie auch tanzen?« Die anmutige Haltung der Sitzenden entlockte ihm diesen Einwurf.

»Hoffentlich kann sie's noch nicht,« entgegnete die Diakonissin in pflichtschuldiger Wahrung ihrer Berufspflicht. Zeerleder aber schloß den Dreisatz mit Entschiedenheit: »Hoffentlich kann sie's doch!« Diesen Streit um ihre körperlichen Fähigkeiten entschied Gonda zur Beruhigung der Herren: »Ich bedaure, Tante Beate, dich betrüben zu müssen – tanzen kann ich!« Bei diesen Worten war sie völlig Dame und streckte ihre kleine Hand im hellen Handschuh, die auf dem Griff des auswärtsgeneigten, dünn gerollten Regenschirmes ruhte, weit von sich.

»Aber wirklich, ich finde, Ihr bedeutet für Bern 106 dezidiert eine Bereicherung, Fräulein von Luternau!« stammelte Zeerleder und klebte an ihrem Anblick. »Werdet ihr uns einmal auf spanische Art tanzen – vielleicht sogar mit Kastagnetten: ach, sagt doch, wie tanzt man eigentlich mit Kastagnetten?«

Sie bemühte sich artig um eine Antwort, die sie freilich angesichts der Grenzen ihrer Sprachkenntnisse, auch der französischen, eher mit körperlichen Gebärden als mit Worten beschrieb. Sie wiegte leicht den Oberleib, legte die eine freie Hand an die Hüfte und führte sie dann über sich, wo sie mit den Fingern knallend das Knattern der Tanzteller andeutete. Zeerleder in seinem frisch rasierten kahlen Gesichte war so andächtig geworden, daß an der Linie, die ihm unter der Nase weg schräg ans Kinn hinunter floh, die Unterlippe kugelrund dahing, wie eine dicke, rote Kirsche. Das sah sich komisch an und war stärker als die Wohlerzogenheit des vornehmen Mädchens. So spaltete denn ein verhaltenes Gelächter dessen dicht aufeinanderliegende Lippen, zugleich wurde sie, da ein äußerlicher Beweggrund für ihre ausbrechende Heiterkeit nicht wahrzunehmen war, ihres unverbindlichen Benehmens inne und errötete auf liebliche Weise.

Item, dachte Zeerleder bei sich selber, als die Damen sich nun empfahlen: in den gemessenen Ring der Vätersitten kam aus dem fernen schönen Süden eine höchst echte Bern-Burgerin leichten Fußes gehüpft! »Das ist aber ein zusammengeschüttetes 107 Halbblütchen,« bemerkte er. »Was wird sich durch setzen? Bern? Sevilla?«

»Ich denke, Bern!« versetzte Ysenschmied.

»Ja ja,« bestätigte der Hausgenosse begeistert, »denk wohl, Bern!« 108

 


 


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