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Der Abbé Cénabre hatte seine Hand auf den Arm des jungen Mädchens gelegt und dachte noch nicht daran, ihn freizugeben. Sein trauriger Blick ruhte noch immer auf dem ihrigen. Das Antlitz, dessen gebieterischer Ausdruck seit den letzten Monaten durch das Schlaffwerden der Backen und des Kinns und ein gewisses Welken der einst herrlichen Stirn gemildert war, drückte weder Verlegenheit noch Überraschung, sondern vielmehr eine außerordentliche Mattigkeit aus, die dem Ekel glich.
»Ich bitte Sie um Entschuldigung,« fuhr er fort, »verzeihen Sie mir, wenn es Ihnen nötig scheint. Ist es wirklich nötig?«
Chantal war anfangs ein paar Schritte zurückgewichen und lehnte sich an die Wand. Aber fast sofort fand sie ihre gewöhnliche Ruhe wieder oder schien sie doch wieder gefunden zu haben. Ihre Augen blickten rings im Zimmer umher und hafteten einen Moment auf der Stelle des Bettes, wo sich noch der Eindruck ihrer Arme und Schultern zeigte; dann löschte sie ihn bedächtig mit den Fingerspitzen aus.
»Oh, nein! Das ist durchaus nicht nötig«, sagte sie mit leichtem Achselzucken. »Wozu? Ich möchte nur, daß man ein Ende machte. Mein Gott, ja, daß man ein für allemal ein Ende machte.«
»Ich wünsche es auch«, entgegnete Cénabre nach einer Pause. »Vielleicht hängt es von Ihnen ab? (Er seufzte tief.) Nicht von mir,« setzte er hinzu, »in keiner Weise. Die Erklärung des Wie und Warum würde Sie nichts Wissenswertes lehren. Mir scheint, wir beide sind schon viel zu weit von einer gewöhnlichen Unterhaltung.«
»Oh, es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Unterhaltung«, sagte Chantal bitter, doch mit ebenso ruhiger Stimme wie er. »Ich weiß schon lange nicht mehr, was eine gewöhnliche Unterhaltung ist! Und doch, sehn Sie, siegt die Natur: ich möchte reden wie jedermann, denn trotz des Anscheins leide ich wie jedermann, sogar etwas mehr. Was Sie auch von mir denken mögen, diese Ausnahmebehandlung verdiene ich nicht.«
»Schön«, sagte er. »Übrigens gebührt es sich, daß Sie erfahren, wie ich durch Zufall hierhergekommen bin, ganz gegen meinen Willen, das können Sie mir glauben. An sich ist die Sache fortan ohne viel Belang. Es müßte zweifellos hinreichen, wenn Sie wissen, daß ich unfähig bin, irgendwen auszuspionieren. Ihr Vater …«
»Verzeihen Sie mir,« erwiderte sie, »das alles weiß ich im voraus. Die besondere Lächerlichkeit meiner armseligen Geschichte liegt darin, daß jeder sie besser kennt als ich oder sich dessen rühmt. Im ganzen habe ich stets nur ein einziges Geheimnis gehabt, aber dies angebliche Geheimnis ist das geringste im Hause … Ich muß wohl nicht für Geheimnisse geschaffen sein.«
»Welches Geheimnis?« fragte der Abbé Cénabre, noch immer unerschütterlich ruhig. »Oh, gnädiges Fräulein, Sie haben einen Mann vor sich, der von Ihrer Umgebung recht verschieden ist, das muß ich Ihnen wohl sagen. Einen Mann, der das Gewicht eines Geheimnisses wenigstens aus Erfahrung kennt. Denn die Bedeutung eines Geheimnisses mißt sich an seiner Schwere, an der Art, wie es auf unserm Leben lastet, es bindet. Nun aber sah ich Sie das Ihrige, wenn es eins ist, mit wunderbarer Freiheit tragen. Selbst in diesem Augenblick ist mir Ihre völlige Kaltblütigkeit ein neuer Beweis dafür, daß diese Freiheit ungeheuchelt ist. Gestatten Sie mir, weniger als Priester denn als Mensch zu sprechen, vielleicht sogar als unglücklicher Mensch. Ich glaube fest, daß diese Sprache Ihnen zukommt, auch der Prüfung, die Sie durchmachen. Ich habe kein Anrecht auf Ihr Gewissen, und anderseits wissen Sie, daß meine schlechte Gesundheit, der Umfang meiner Arbeiten, mein Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Einsamkeit mich seit Monaten veranlaßt haben, wenn auch ungern, auf die Sorgen und Tröstungen eines Seelsorgers zu verzichten. Ich gestehe, Ihr Herr Vater hat mit mir mehrfach von seinen etwas naiven Bedenken und von eingebildeten Gefahren gesprochen. Trotzdem beweist mein Benehmen gegen Sie in den letzten Wochen zur Genüge, daß ich wenig Aufhebens von diesen Geständnissen gemacht habe; ich habe sie nur aus Höflichkeit angehört. Noch vor wenigen Minuten wurde ich in einen lächerlichen Streit zwischen Ihrem Herrn Vater und dem Dr. La Pérouse hineingezogen, der anscheinend jede Selbstkontrolle verloren hatte und unsinnige, gefährliche Reden über Sie hielt. Ich weiß, welche Unklugheiten ein wohlmeinender Dummkopf begehn kann, der sich über das Innenleben die ungereimtesten, oft groteske Vorstellungen macht. Um daher ein größeres Übel zu verhindern, übernahm ich es, Ihnen einige Vorschläge Ihres Herrn Vaters mitzuteilen. Ich setze hinzu, daß das Dienstmädchen auf mein Verlangen mehrmals an Ihre Tür geklopft hat, ohne eine Antwort zu erhalten, obwohl sie darauf schwor, daß Sie hier seien. Sie wollte trotzdem hineingehn. Sie fürchtete, Sie seien ohnmächtig geworden oder gar tot …«
Der Abbé Cénabre hielt plötzlich inne, schlug die Augen nieder und schloß trocken:
»Der Eifer dieser Person schien mir wenig klug. Außerdem scheint sie über das, was Sie betrifft, recht gefährlich Bescheid zu wissen. Ich fürchtete irgendeinen Skandal und erlaubte mir, selbst zu kommen.«
Der außerordentliche Mann, dessen tragischer, stets aufs höchste gespannter Wille nur unversehens, gleichsam durch Überraschung brechen sollte, hatte nie ein stärkeres Gefühl seiner Kraft gehabt als in dieser entscheidenden Minute, wo er seinen letzten Einsatz wagte und unwissentlich in sein Schicksal hinabglitt. Obwohl er seine Seele längst jeder tiefen Freude verschlossen, ja die Freude als eine seiner unwürdige Schwäche von sich gestoßen hatte, als die einzige Lüge, die sein Herz wirklich zu brechen vermochte, war er außerstande, einen gewissen Überschwang von Stolz zu zügeln, dessen Rausch sich sofort in seinem Blick ausdrückte.
Jedes Wort dieser nackten, furchtbaren, sinnschweren Rede traf Chantal mitten in die Brust; der Priester konnte jetzt glauben, sie sei ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Was auch noch kommen mochte, durch diesen ersten, rohen Sondenstich hatte er das sichere Gefühl, bis zum letzten Worte Herr eines Kampfes zu bleiben, den er anfangs von sich gewiesen, dann lange hinausgeschoben hatte, um sich heute mit gesenktem Kopfe und unerhörter Gewalt hineinzustürzen. So fühllos er auch gegen die gewöhnlichen Vorahnungen oder gegen jedweden Aberglauben war, dieser unerwartete Zorn, diese Erschütterung des ganzen Wesens angesichts eines Hindernisses, das anscheinend so geringfügig war, rief sein Mißtrauen nicht wach. Er erkannte nicht, daß es die gleiche Raserei war, die ihn einst gegen den Abbé Chevance getrieben oder ihn veranlaßt hatte, eine ganze Nacht lang einem alten Bettler nachzulaufen und sich aller Wut einer mörderischen Neugier hinzugeben. Und gewiß hatte er einst gewünscht, sich Fräulein de Clergerie zu nähern, doch nur, weil er damals nicht ahnte, daß sie die Anvertrauung des alten sterbenden Priesters erhalten hatte, das Geständnis, das der Trübsal seines Todeskampfes entrissen war und dessen Ursache er erriet. So erklärte er sich die eigenartige Zurückhaltung des jungen Mädchens und ihr sorgfältiges Ausweichen vor ihm.
Hundertmal hatte Herr de Clergerie gesagt: »Nach Chantals Zeugnis hat der Abbé Chevance in seinem Delirium immerfort von Ihnen gesprochen.« Der Gedanke, daß ein schwaches, wehrloses Wesen von makelloser Reinheit, von dem er keinen Verrat zu befürchten hatte, etwas von diesem so schweren Geheimnis bewahren und mit dieser Last sterben würde, war ihm angenehm. »Offenbar weiß sie nichts Bestimmtes, was liegt daran?« Doch Cénabre träumte oft von diesem unsichtbaren Spalt in der Mauer, dem bleichen Tagesschein in dem Grabe, in das er sein Leben eingeschlossen hatte. Übrigens war dieser Widerschein jetzt nicht mehr da, seine Einsamkeit war wieder vollkommen. Schon am Tage nach seiner Ankunft in Laigneville, nach der Mahlzeit, als der Professor Abramowitsch mit seiner scheußlichen näselnden Stimme eine Sanskritinschrift buchstabierte, hatte Cénabre das junge Mädchen sanft bis zum Fenster gedrängt und mit seiner Tasse Kräutertee in der Hand einen Blick auf sie gerichtet, in dem sie, wenn sie es gewagt hätte, nur eine Art von unversöhnlicher Traurigkeit hätte lesen können. »Ist es wahr,« hatte er gefragt, »daß der Abbé Chevance mit Ihnen vor seinem Tode von mir gesprochen hat?« – »Oh nein!« hatte sie sofort erwidert, »das ist eine Idee von Vater, die er sich eingeredet hat. Unser armer Freund konnte kaum sprechen. Er hatte einen furchtbaren Blutsturz; sein Mund war voll von geronnenem Blut. Er hat nur mehrmals Ihren Namen genannt und dazu jedesmal eine Handgebärde gemacht, die wir nicht verstanden.«
Ja, jedes Wort dieser Rede hatte Chantal ins Herz getroffen. Den Mann, der so und mit solchem Tonfall sprach, trieb offenbar weder Neugier noch Zorn. Gewiß hatte er tagelang geduldig und schweigend beobachtet, schien mit Muße über dem Urteil gebrütet zu haben, das nun, sie fühlte es, unwiderruflich war. Vorwürfe hätten sie nicht dermaßen erregt; Verachtung hätte sie bereit gefunden; selbst der Ironie gegenüber hätte sie sich nicht wehrlos gefühlt. Was sie jetzt so tief verwirrte, war gleichsam die plötzliche, unerwartete, herzzerreißende Offenbarung ihres eignen Unglücks, in dem sie bisher nur eine ihr gemäße Prüfung, fast einen Kinderkummer hatte sehn wollen. Eine ihr gemäße Prüfung, und auch eine nach dem Maße der schwachen Wesen, bei denen sie gelebt hatte, die so wenig dem parteilosen Schiedsrichter glichen, deren unfreundliche Aufmerksamkeit, eine Art von eisigem Mitleid, sie auf ihrer Seele lasten fühlte. Was konnte sie von ihm erwarten, wenn nicht strenge Gerechtigkeit? Und was hatte sie von einer solchen Gerechtigkeit zu erwarten? Weder vor ihm noch vor einem andern hätte sie sich in diesem Augenblick zu rechtfertigen vermocht, denn sie hatte eben mit einem Schlage blitzhaft erkannt, daß auch das nachsichtigste Verhör sie zugrunde gerichtet hätte, daß sie nicht das geringste von ihrem eignen Abenteuer wußte. Hatte sie doch allzusehr Stunde für Stunde in den Tag hineingelebt. Ein einziger Mensch auf Erden hatte nach und nach, gleichsam Halm für Halm, die schlichte Wahrheit ihres Lebens gesammelt. Jetzt aber lag er unter der Erde, hatte dies Geheimnis mit sich genommen. Er allein – er wenigstens hätte sie verteidigen können … Da tat Chantal sich ungeheuere Gewalt an, um ihre Tränen zurückzuhalten.
»Ich bitte Sie um Entschuldigung«, sagte sie. »Denken Sie von mir, was Ihnen beliebt, ich möchte niemanden beunruhigen. Das mag sehr töricht klingen, und doch ist es die Wahrheit. Aller Schein ist gegen mich; es sieht so aus, als spielte ich eine furchtbare Komödie. Später aber werden Sie begreifen, daß ich diese Frage nur an Sie richten konnte. Und Sie müssen sie beantworten, denn ich habe schon zu lange mit einem Entschluß gezaudert. Heute werde ich ihn fassen; ich habe es satt, aus Unterlassung zu lügen. Was tat ich, als Sie hier eintraten?«
»Was Sie taten?«
Er blickte nacheinander in die vier Zimmerecken; dann schaute er friedlich in das schmale Gesicht, in dem er verzweifelte Erwartung lesen konnte.
»Für wen es auch sei, mein Kind, ich fand Sie schlafend. So tief im Schlafe, wie man es in dieser Jahreszeit, bei so ungewöhnlicher Hitze sein kann. Sie haben sich einen Augenblick hingelegt, der Schlaf hat Sie überrascht, was ist einfacher?«
Er sann noch eine Sekunde nach, preßte die Lippen zusammen. Dann begann ein seltsames Lächeln sich in seinen Wangenfalten zu zeigen, strahlte langsam bis zu seiner Stirn aus und erlosch fast sofort.
»Der Schein«, sagte er, »ist nie für oder wider; der Schein ist nichts. Wenigstens ist er das, was er nach unserm Willen sein soll. Und zunächst soll man ihn nicht fürchten; er verrät nur die Schwachen. Liebes Kind, ich möchte Ihr Gewissen nicht durch einen neuen Skrupel verwirren. Ich merke schon, daß es sich allzu leicht beunruhigt. Ich will Ihnen nur eins sagen: Seien Sie zunächst, was Sie sind.«
Wie in eine Art von innerem Schauen versunken, hörte Fräulein de Clergerie halbgeschlossenen Auges mit wunderbarer Aufmerksamkeit zu. Und ihr plötzlich abgemagertes, hohles, leichenblasses Gesicht nahm nach und nach, aber wohl unwissentlich, jenen Ausdruck männlicher Härte an, der sowohl das Vorgefühl einer noch ungewissen Gefahr wie den Entschluß verriet, ihr die Stirn zu bieten.
»Mein Gewissen ist ruhig«, sagte sie; »ich beunruhige mich nicht so leicht. Nein. Ich verstehe es nicht, das ist alles. Oh, das ist noch viel einfacher, als ich sagen könnte! Wenn ich tastend gehe, schön! Aber ich … ich … ich kann mich nicht darein fügen, Böses zu tun. Alles, was ich je unternahm, war einfach, leicht; und weit entfernt, irgendwem Frieden zu bringen, bin ich eine Ursache der Unordnung, vielleicht ein Anlaß zur Sünde.«
»Welcher Sünde?« fragte Cénabre.
»Ich fürchte ernstlich, sie verzweifeln«, entgegnete Chantal mit ihrer sanften Stimme, als hätte sie das gewöhnlichste Wort gesprochen. »Und sie verzweifeln nur meinetwegen. Habe ich sie denn belogen? Welches Versprechen habe ich gegeben und nicht gehalten? Mein Gott! Das fürchtete ich ja seit langem, aber ich wagte es nicht zu gestehn, nicht wahr? Die Annahme war so unsinnig. Was kann ein armes Mädchen meines Schlages mit der Verzweiflung zu tun haben?«
Einen Augenblick schien der Abbé Cénabre zu zaudern. Er blickte nach der Tür, dann wieder auf sie. Seine unbeweglichen Züge waren wie in Stein gehauen.
»Glauben Sie nichts dergleichen«, entgegnete er. »Man gibt den Nächsten nie, was man zu geben glaubt.«
»Aber ich gab ja nichts!« sagte Chantal. »Was hätte ich auch geben sollen? Gott ist gerecht.«
Sie schwieg. Und plötzlich, mit einer fast groben Bewegung, obwohl sie immerfort schmerzlich weiter lächelte, fragte sie:
»Was meinen Sie damit?«
»Liebes Kind,« fuhr er fort, »die Antwort würde mich zu weit führen. Ich hatte bei Ihnen nur einen ganz unbedeutenden Auftrag auszuführen. Sie aber reden seit einem Augenblick mit mir, als wäre ich der Zeuge oder Mitwisser von Tatsachen, die ich nicht kenne oder nicht kennen darf. Ja, ich darf sie nicht kennen. Woher kommt Ihnen diese seltsame Gewißheit? Bilden Sie sich ein, meine Absichten zu erkennen? Beanspruchen Sie, daß ich heute um einer Kleinigkeit willen gegen die Regel verstoße, die ich mir seit dem ersten Augenblick meiner Ankunft vorgeschrieben habe? Ich mag Ihnen hart, unmenschlich erscheinen. Trotzdem tue ich für Sie, was kein anderer als ich zu tun vermag; ich gebe Ihnen eine Warnung, die Sie sich zunutze machen können.«
»Ich bedarf keiner Warnungen«, sagte Chantal mit bebender Stimme. »Welche Sprache führen Sie mir gegenüber? Ich habe Gott nicht beleidigen wollen; ich wünschte, ihm zu dienen. Habe ich ihm gedient oder nicht? Alles übrige ist mir ziemlich gleichgültig. Und verweigern Sie mir eine Antwort auf die einzige Frage, die sich zu stellen verlohnt, so gestatten Sie, daß ich schweige. Ich habe an all meinen Kräften nicht zuviel; ich ziehe es vor, mich so allein zu wehren. Allein bis zum Ende sein, allein den letzten Schritt tun, – ich kann mir das sehr wohl vorstellen.«
»Ich auch«, sagte Cénabre.
Eine Sekunde blickte Fräulein de Clergerie ihn fragend, überrascht und mißtrauisch an, und plötzlich schien ihr armes Gesicht sich zu entspannen, und die zusammengepreßten Hände öffneten sich.
»Ich kann nicht mehr,« murmelte sie, »mich schwindelt. Was ich Ihnen sagen will, ist wahrscheinlich blöde, um so schlimmer! … Sprechen Sie sanft mit mir. Wollen Sie? Lassen Sie mich nicht leiden. Ich täusche etwas; ich sehe aus, als ob ich standhielte, aber ich tauge schon nichts mehr, ganz und gar nichts. Gewiß glaube ich, nie einen Menschen belogen zu haben, aber leider rufe ich ungewollt Täuschungen hervor. Noch jetzt täusche ich Sie, selbst Sie, das ist unbegreiflich! Ja, Sie glauben, etwas von mir zu kennen, vielleicht nicht viel, aber doch etwas. Oh, natürlich denken Sie nicht an die Dummheiten von La Pérouse oder dem unglücklichen Fjodor; das sind Verrückte! Sie sagen sich einfach, ich müsse mehr wissen, als es den Anschein hat; ein Abbé Chevance hätte sich um ein überspanntes Mädchen nicht so sehr gekümmert, und ich hätte wenigstens einen Begriff von dem, was in diesem Zimmer vor zehn Minuten vorging, ehe Sie eintraten. Wohlan, nein, ich habe nicht den geringsten Begriff davon; ich weiß weniger darüber als vorher. Zieht man einen unglücklichen Ertrunkenen aus dem Wasser, so fragt man ihn nicht, was er gesehn hat. Zudem hat er wahrscheinlich nichts gesehn. Ach, man möchte die Leute reden lassen können oder verschwinden, sobald man uns anblickt, in sein armes Leben zurückkehren wie die Krabben, die die Nase in den Sand stecken und sich verkriechen.«
Cénabre unterbrach sie mit einer gereizten Handbewegung und zuckte die Achseln. Doch sein Blick blieb starr und traurig.
»Gnädiges Fräulein,« sagte er, »Ihr Vater hat mich zu Ihnen geschickt, damit Sie ein Wort mit Herrn La Pérouse reden, der heute abend abreisen wollte und sich in unsinnigen Reden über Ihre letzte Unterredung erging. Ich wollte Ihnen die Bestellung selbst ausrichten, denn so kann ich einen Rat daran knüpfen: lassen Sie sich auf keine Erklärung in Gegenwart von La Pérouse, noch von sonst wem ein. Es ist recht spät, um so viele hochherzige Unklugheiten wieder gutzumachen! Wahren Sie Ihre Geheimnisse etwas besser. Ich selbst habe zuviel davon erfahren, ohne daß ich es irgendwie darauf abgelegt hätte. Das dringt aus Ihnen hervor, ohne daß Sie es wissen; es liegt in der Luft, die Sie atmen. Seien Sie mißtrauisch …«
Er trat grob einen Schritt vor, als wollte er sich mit einem Schlage einem unsichtbaren Hindernis entziehn.
»Dies Zeugnis meines Interesses erstaunt Sie vielleicht«, fuhr er fort. »Wohlan, nehmen wir nur an, unsere Wege kreuzten sich heute, wir träfen uns unterwegs … Ach, mein Kind, Sie wissen ja nicht, wie tief uns das Priestertum im Blute steckt! Es fällt mir schwer zu vergessen, daß Sie mir unter andern Umständen nach dem Wunsche Ihres Vaters anvertraut worden wären. Dieser Gedanke ruft in mir so viele Erinnerungen wach! Zwanzig Jahre der Betrachtung und Arbeit schießen plötzlich wie aus dem Boden auf, leben vor meinen Augen … Haben Sie meine Bücher gelesen?«
»Nein«, sagte Chantal. »Keins.«
»Entschuldigen Sie«, fuhr sie nach einer Pause fort, ohne jedoch ihren klaren Blick von ihm abzuwenden. »Der Herr Abbé Chevance hatte es mir nicht erlaubt.«
»Ach! Ja … Chevance …« wiederholte Cénabre mit träumerischer Stimme, und sie glaubte bei jedem seiner zögernden Schritte tatsächlich, den hohen schwarzen Schattenriß wanken zu sehn, einem Menschen gleich, der allmählich aufhört, gegen den Schlaf anzukämpfen, und stehend einschläft. »Ja … Chevance … Oh! Das war ein recht seltsamer Fall … Aber gerade hier wird jede Kontrolle unmöglich; die Texte fehlen, selbst die Zeugnisse … Es gibt keine Zeugnisse mehr. Wo sie suchen? Was sollten sie auch lehren? Alles zerrinnt in ungewissem Licht … Ich werfe mir ihm gegenüber eine blöde Gewalttat vor, die einzige schlechte Handlung meines Lebens … Warum wies ich ihn hinaus? … Liebes Kind …«
Er schwieg, schlug die Augen auf.
»Was haben Sie endlich beschlossen?« fragte er grob. »Was wollen Sie tun? Wir können die Unterredung nicht endlos fortsetzen. Meine Anwesenheit hier wird albern; das Gespräch hat schon zu lange gedauert.«
»Es ist nicht meine Schuld«, entgegnete Fräulein de Clergerie. »Ich leide zur Genüge; Sie schonen mich gar nicht. Welche Absicht soll ich aus gewissen Worten entnehmen? Sie wären eher geneigt, mich niederzuschmettern. Gott, ich verlange ja nicht, daß man mich bedauert; man soll nur versuchen, mich so zu sehn, wie ich bin. Ihnen ist das gewiß nur ein Kinderspiel. Wie es jetzt steht, sehn Sie, ist es mir völlig gleich, ob ich etwas begreife. Wozu auf die Vergangenheit zurückkommen oder Zukunftspläne entwerfen? Ich gleiche den Kranken, deren Leben man von zwölf zu zwölf Stunden hinauszieht, bis der liebe Gott über ihr Schicksal entschieden hat. Was liegt jetzt selbst an dem Abbé Chevance? Was vermöchte er für mich? Mein unglückliches, wertloses Leben wird von Dummheit zu Dummheit weitergehn und mir schließlich ebenso verwickelt erscheinen wie sein Tod – der Tod eines Heiligen! Da kann ich jetzt nichts besseres erfinden, als um jeden Preis ruhig zu bleiben; ich werde mich so mit der Ebbe zurücksinken lassen, in Erwartung der Flut, wenn sie je wieder steigen sollte.«
Sie errötete leicht, zauderte, dann blickte sie ihn fest an:
»Nicht wahr? Sie wird nie wieder steigen … Oh, mein Schifflein ist gründlich gescheitert; es würde nicht besser gelingen … Nun sitzen sie alle mit mir auf dem Sande; ich muß ihnen etwas komisch erscheinen.«
Chantal versuchte noch zu lächeln. Doch sie war unfähig, die Art von Schrecken, deren düsteres Vorgefühl sie seit dem Morgen empfand, noch länger zu bemeistern. Sie warf ihren leuchtenden Kopf zurück, wie um einen letzten Atemzug reiner Luft einzusaugen; dann glitt sie am Bettrande nieder, klammerte sich verzweifelt mit ihren Händchen daran und sank auf die Knie.
»Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte Cénabre, und seine Stimme zitterte vor kaum verhaltener Wut. »Seit dem Tode des Abbé Chevance haben Sie sich also niemandem anvertraut? Und wie konnte Chevance Sie in so völliger Unkenntnis über … kurz, über den wahren Zustand Ihrer … über Ihren wirklichen Zustand lassen?«
»Mein Zustand!« rief Fräulein de Clergerie, und Tränen strömten über ihre Wangen. »Glauben Sie denn, ich wäre früher so gewesen wie jetzt? Nein, ich glaube nicht, daß man mich jemals so feig gesehn hat. Alles gibt unter mir nach. Mir ist, als schritte ich im Schlamm. Gehe ich weiter, so sinke ich gewiß ein, und rühre ich mich nicht, so versinke ich gleichfalls … Gott, ich würde trotzdem weitergehn, bis an die Augen versinken, wenn es nur irgendwem wirklich nützte. Doch ich mag tun, was ich will, es ist, als sei das Leiden jetzt leer, leer, leer wie ein Traum; selbst mein Tod würde nichts wiegen. Ich bin ein hohles Geschöpf, um das Gott sich nicht mehr kümmert. Was ist in meiner Geschichte? Kaum Stoff für eine überspannte Erzählung, die überdies für niemand eine Lehre wäre! Großmutter, Vater, Fjodor, der arme La Pérouse, dies stille Haus, dieser schöne Sommer – wie habe ich da soviel Unordnung anrichten können? Früher, Sie wissen es wohl, nicht wahr? Sie entsinnen sich? war ich so viel schlichter, ein so schlichtes Mädchen! Der liebe Gott hätte mich nicht so im Stich gelassen. Nicht wahr? Habe ich mich nicht sehr geändert?«
»Nein!« sagte er mit seiner stets rauhen Stimme. »Sie waren schlicht und sind es geblieben. Es gibt wenige schlichte Wesen. Man könnte von der Schlichtheit sagen, was die Juden von Jahwe sagten: Wer ihn von Angesicht gesehn hat, kann sterben!«
Der Abbé Cénabre wiegte sacht den Kopf von einer Schulter zur andern, wie ein Mann, der eine Last heben will und seine Kräfte probt. Sie blickte ihn bestürzt an; obwohl er seinen Blick starr auf sie gerichtet hielt, schien er sie nicht zu sehn.
»Wie kommt es, daß Sie hier sind?« versetzte er. »Warum? Ja, warum? Wer hat Sie auf den unsinnigen Gedanken bringen können, das gemeine Leben zu leben, unter diesen Leuten zu kommen und zu gehn und dabei zu hoffen, Sie blieben unbemerkt – unbemerkt? Sie werden sie wütend machen! Und zunächst mit welchem Rechte? Jawohl, ich weiß, wovon ich rede; ich rede nicht ins Blaue hinein. Mit welchem Rechte stellt man ein Problem, ohne wenigstens den Versuch zu machen, es zu lösen? Denn Sie können es stets nur stellen.«
»Ich ein Problem?« rief sie leichenblaß. »Sie auch! Welches Problem? Herr Abbé … nein, nein! Es ist nicht wahr, ich verteidigte nur mein Leben!«
Chantal hatte sich wankend aufgerichtet; sie vergaß, ihre Tränen zu trocknen. Ihr Mund zitterte so stark, daß sie die ersten Worte nur mit großer Mühe hervorbrachte. Doch ihr Antlitz ward in plötzlicher Veränderung regungslos, als hätte sie wirklich ihre Kräfte zusammengerafft und ihr Leben verteidigt.
»Kann ich denn nicht leben?« fuhr sie fort. »Soll ich verzweifeln? Gibt es denn nirgends einen Platz für mich?«
»Weder für Sie noch für mich«, sagte er nach einer Pause mit gekünstelter Ruhe. »Sie wissen zu vielerlei, und ich fürchte, Sie wissen wesentliche Dinge nicht. Kurz, aus verschiedenen Gründen gehören Sie zu den Menschen, die nicht offen leben können, die eine Zuflucht suchen müssen, und keine Zuflucht ist sicher, wenn ein anderer den Weg kennt. Ob man will oder nicht, die Notwendigkeit zwingt uns, eines Tages Rücksicht auf die Neugier der Menschen, ihre Bosheit zu nehmen.«
»Wie denn!« sagte sie. »Was soll das bedeuten? Sollen wir lügen?«
»Lügen! Mein Kind, es gibt rechtmäßige, ehrbare Zufluchten, denen die Toren oder die Böswilligen leichthin den Namen Lügen geben. Sie sind das letzte Obdach für die unter uns, die sich nicht von andern bewachen lassen, die sich selbst bewachen, die aus eigner Kraft die Achse ihres Lebens, ihren geheimen Mittelpunkt fanden. Ich gehöre zu ihnen, und wenn ich das sage, fürchte ich Ihr Gewissen nicht zu verletzen. Meine Lebensart entkräftet wohl jeden Verdacht eigennütziger Berechnung: mein Dasein ist des Priesters, der ich bleibe, nicht unwürdig. Ich halte mich gewissen Aufdringlichkeiten fern, das ist alles. Suchen Sie keinen andern Sinn in … einfachen Ratschlägen, von denen ich möchte, daß Sie sich sie zunutze machen.«
Er atmete schwer.
»Wenigstens, wenn … wenn Sie nicht imstande sind, sich selbst zu verteidigen, gehn Sie ins Kloster. Ich spreche hier nicht als Seelsorger, bemerken Sie das. Ich rede als Mensch, rede menschlich.«
»Ich merke es nur zu sehr!« sagte sie. »Sie haben für mich nur menschliches Mitleid. Sind Sie deshalb hierher gekommen? Und wegen dieser Kleinigkeit brechen Sie das Schweigen? Nun, da war das Schweigen besser. Weder mein Vater noch Sie noch sonstwer wird mich dahin bringen, Nonne zu werden, wie die Feiglinge sich früher in die Kirchen flüchteten, um sich in Sicherheit zu bringen und ihre Haut zu retten. Überdies kommt Ihr Rat zu spät. Mir scheint, ich habe nichts mehr zu retten: ich habe nichts mehr.«
Sie hielt inne. Cénabres starke braune Hand streckte sich ihr entgegen und drückte ihr so heftig den Arm, daß sie fast aufschrie.
»Nichts mehr!« rief er. »Glauben Sie das? Ja, Sie glauben es; Sie sind unfähig zu lügen. Doch ob menschlich oder nicht, mein Mitleid gilt zunächst nicht Ihnen, mein Kind! Oh, an die Leute hier will ich nicht mal denken, was liegt mir daran! Und doch: sehn Sie, was Sie ihnen schon alles gegeben haben; sehn Sie, welche Art von Freude von Ihnen ausgeht! Sind sie nicht mehr zu beklagen als vorher? Dies Verhängnis mag geheimnisvoll, ungerecht, unsinnig erscheinen: klagen Sie wenigstens nicht Den an, der Sie darauf hinweist. Es ist da. Wir kennen es. Zweifellos kannte Chevance es auch. Es nicht kennen kann nur ein mittelmäßiger Priester ohne Erfahrung und Hirn. Vielleicht fände man hier oder da noch alte schläfrige Domherren … Aber das geht Sie nichts an. Die erste Pflicht eines jeden, der es gut mit Ihnen meint, ist die, Sie zu warnen, nicht vor den andern, sondern vor sich selbst, vor Ihnen allein. Von Ihnen, von solchen Wesen wie Sie, nicht minder unschuldig, nicht minder rein, rein wie die Flamme …«
Vielleicht wagte er nicht fortzufahren … Oder vielleicht war es auch der unbestimmte Traum, der sich seit einer Weile vor seinem Blick auftat wie ein großes dunkles Portal und sich plötzlich mit den halblebenden, undurchdringlichen Gestalten erfüllte, deren unerträgliche Starrheit ihn manchmal frühmorgens jäh aufwachen ließ? … Eine Minute, eine lange Minute blieb er so stehn, selbst starr, aber wie von Bewegung umgeben, wie ein schwarzer Baumstamm am Ufer. Er neigte sich etwas nach rechts, ließ die Schulter sinken, stemmte den gekrümmten Arm in die Hüfte, als hielte er sich mit aller Kraft fest, klammerte sich mit seiner ganzen Schwere an, weil das schwankende Gleichgewicht schon gebrochen war. So glich er einem Strandgut, das die Strömung einen Augenblick gegen das Ufer drückt und dessen Schatten man auf dem hellen Sande des Grundes sich bewegen sieht. Doch Fräulein de Clergeries erste Worte trafen ihn unversehens, und er beantwortete sie mit einer Art von schmerzvollem Stöhnen, dessen unheimlichen Ton er offenbar zu spät merkte, denn er führte langsam die Hand zum Munde und erbleichte.
»Ich habe begriffen«, sagte Chantal. »Es ist zwecklos fortzufahren. Ich hörte das oft schon von einem andern. Auch er sprach von Wunder und Verzückungen … Ein Wunder, ein holdes Wunder … Ich kenne das alles.« Cénabre zuckte die Achseln.
»Sie irren«, sagte er sehr ruhig. »Sie haben mich nicht verstanden. Was ich sagte, war übrigens nicht für Sie bestimmt, sondern für mich, für mich allein. Ich hätte schweigen sollen.«
»Oh! Trotzdem«, rief Chantal aus. »So ist es zu leicht! Klagen Sie mich wirklich an, ich hätte Ihnen solche Worte entlockt? Habe ich Sie nach irgend etwas gefragt?«
»Entlockt oder nicht, sie sind gesprochen worden«, sagte er mit der gleichen düsteren Stimme. »Sie können nun glauben, Sie machten mit mir, was Sie wollen, mit mir und mit den andern. Ja. ob Sie wollen oder nicht, das wird Ihnen morgen das Herz zerreißen, mein Kind. Welches Geschenk Sie auch empfangen haben, wie groß und welcher Art es auch sei, Sie werden doch dahin kommen müssen, es zu teilen, und diese erste Teilung droht für Sie schlimmer als der Tod zu sein, eine Art Tod, die viel schwerer ist als die andere, eine noch schrecklichere Einsamkeit. Auch das weiß ich. Es liegt ein großer Betrug in dem, was man die verschämten Leidenschaften der Menschen nennt, aber die Sünde lügt nicht allein, eine andere Enttäuschung harrt Ihrer; ich hätte sie Ihnen vielleicht ersparen oder Ihnen helfen können, sie zu überwinden.«
»Ich will nicht!« schrie sie mit verzweifelter Heftigkeit, einem Aufruhr ihres ganzen Wesens. »Nein, ich will nicht verschont bleiben!«
»Und doch wird die Stunde kommen, wo Sie es wünschen werden, meine Tochter,« sagte er, »wo Sie bedauern werden, daß Sie den letzten Rat eines Freundes nicht hören wollten. Ja, unter Tränen werden Sie einen so kindischen Trotz bereuen. Niemand außer mir, verstehn Sie? Niemand außer mir vermag Ihnen zu helfen, klar in sich selbst zu sehn, wenn Sie mich anhören wollen …«
Er stieß einen rauhen Seufzer aus, eine Art von Röcheln, das einem wollüstigen Stöhnen glich. Die tiefen Rillen unter seinen Kinnladen am Ansatz des Halses glänzten von Schweiß. Mit Bestürzung sah sie seine starken Schultern zittern, sah die ungeheuere Ermüdung seines Blicks.
»Ich habe es nicht mehr nötig, klar in mir selbst zu sehn«, sagte sie. »Es ist zu spät. Was liegt mir daran, ob ich bin oder nicht bin? Jetzt bin ich in die Kelter geworfen: Gott wird aus mir auspressen, was ich nicht den Mut hatte herzugeben. Nun wird ihn nichts mehr zurückhalten. Noch eben war es mir, als ob sein heiliges Mitleid sich mit tieftraurigem Lächeln von mir entfernte, und ich fühle es: ich werde es erst im Paradies wiederfinden. Von nun an, sehn Sie, ist mir alles ganz gleichgültig. Möglicherweise können Sie den Weg angeben, der mich dahin geführt hat, die Gründe und Ursachen. Was hülfe es mir, Sie anzuhören? Ich könnte weder mit Ja noch Nein antworten. Je näher ich dem Ziele komme, umsoweniger wünsche ich, es zu kennen. Wahrscheinlich hat Gott mir diese Sorge abgenommen. Ja, sogar, um frei herauszureden, auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen sehr verwegen erscheine: wenn ich in zehn Minuten sterben müßte, möchte ich mit Gottes Erlaubnis wie ein Kind sterben, nicht mal das, wie ein unschuldiges Tierchen, das zum letztenmal die frische Luft atmet und einen kühlen Trunk tut, und das auf der Spur seines Herrn zu seinem armseligen Ende geht. Der Herr hält den Strick, es braucht ihm nur zu folgen … Was frage ich da noch, ob ich vernünftig oder wahnsinnig bin, eine Heilige oder eine Visionärin, ja selbst ob mich Engel oder Teufel umgeben? Beide können mich von meinem Wege ja nicht weiter abziehen, als mein Strick lang ist. Was Sie eben sagten oder mich erraten ließen, hätte mich wohl gestern noch erregt oder gar in Versuchung geführt. Jetzt aber …«
»Reden wir nur von diesem Jetzt, wenn Sie wollen«, unterbrach Cénabre. »Nur dies Jetzt interessiert mich. Es interessiert mich fabelhaft. Tun Sie sich Gewalt an, meine Tochter, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Öffnen Sie mir willig Ihr Gewissen. Woher kommt Ihnen dies Vorgefühl Ihrer nahen Einsamkeit, diese Traurigkeit, von der ich sagen könnte, sie hat etwas Überraschendes, Zweideutiges? … Woran glauben Sie zu erkennen, daß sie von Gott kommt und nicht von den Menschen? Von diesem oder jenem Umstand, den Sie bei einiger Aufmerksamkeit wiederfänden? … Dem Tode des Abbé Chevance zum Beispiel …«
»Schweigen Sie!« rief Chantal. »Ich verbiete Ihnen! … Wird mir jemals die Wahl gelassen, so wünsche ich mir einen Tod wie den seinen. Was wissen Sie zudem vom Tode des Abbé Chevance? Er, der soviel gegeben, sich soviel hatte nehmen lassen, behielt sich, wie ich annehme, wenigstens das vor, das allein. Er geruhte, niemanden daran teilnehmen zu lassen, nicht mal mich, seine Tochter … Und Sie, Sie möchten …«
Sie hielt inne, denn er war furchtbar bleich geworden, wenn anders man eine so plötzliche, so völlige Veränderung des Menschenantlitzes Erbleichen nennen kann.
»Chevance! …« stammelte er, »Ach ja, Chevance … Ich sah ihn … ich sah ihn …«
Seine weit geöffnete Hand wies zu Boden, schien langsam eine allzu vergängliche, schon zerrinnende Vision zu liebkosen.
»Ich sah ihn so zu meinen Füßen um Gnade bitten, mich anflehen … Ja, mein Kind, er bat mich weinend um Gnade. Er, Chevance. Was liegt am Übrigen! Was hätte es mir geholfen, ihn sterben zu sehn? Was hätte ich mehr erfahren, frage ich Sie?«
»Wenigstens«, sagte Chantal mit zitternder Stimme, »hätten Sie vielleicht das Eine gelernt, die Einfalt eines armen jungen Mädchens nicht so zu mißbrauchen, daß Sie es über seine Kräfte hinaus versuchen.«
»Über Ihre Kräfte?« entgegnete er mit bitterem Lachen. »Wir werden stets über unsere Kräfte hinaus versucht. Und wer von uns beiden stellt denn Fallen? Entlocken Sie mir seit einer Stunde nicht alles, was Ihnen beliebt? Wohlan! So nehmen Sie auch den ganzen Rest, nehmen Sie volle Wahrheit. Haben Sie Angst?«
»Mein Gott,« sagte sie leichenblaß, »ich fürchte nur für Sie. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Benutzen Sie mich wie ein Ding, das nicht für Sie bestimmt war, aber Ihnen jetzt gleichwohl gehört, weil es wertlos ist und Sie der letzte waren, das ist alles. Der letzte trägt es davon, und es ist zu Ende.«
»Lassen wir es dabei«, sagte Cénabre nach einer Pause. »Ich werde mein kaltes Blut nicht verlieren. Begreifen Sie nur, daß Sie seit einer Viertelstunde wie ein Kind mit einem Geheimnis spielen, das für Sie zu schwer ist. Übrigens habe ich Ihnen dies Geheimnis nicht vorenthalten! Weder Ihnen noch sonstwem. Vom ersten Tage an war ich entschlossen, es dem zu geben, der mich darum bitten würde. Ich bin kein Schauspieler. Doch gestehn Sie es: bevor ich noch den Mund auftat, wußten Sie alles. Chevance hat gesprochen. Oh! ich zeihe ihn keines Verrats! Neben Ihnen, Chantal, war er das einzige lebende Wesen, das mir je der Beachtung wert schien, einer Art von besonderer Beachtung, wie man sie sich selbst zollt. Er hat einfach im Delirium gesprochen. Sie haben es ungewollt gehört. Rechten wir also nicht über die Vergangenheit. Ich bereue nichts. Es mußte so sein. Ich für mein Teil empfinde keinerlei Qual noch Trost; meine Ruhe kann durch nichts gestört werden. Trotzdem wäre es mir schwer gefallen, von Ihnen zu scheiden, ohne Ihnen ins Angesicht geblickt, ohne so mit Ihnen gesprochen zu haben. Sie sind wahrscheinlich allein fähig, es in dem Sinne zu verstehn, wie ich es möchte; anderswo fände ich nur Gleichgültigkeit oder Zorn.«
»Ich kenne Sie wohl«, fuhr er fort. »Ich habe mich zeitlebens über Wesen gebeugt, die Ihnen gleichen. Ich könnte Ihnen das Wesentliche des Dramas, dessen Lösung Sie heute erleben, Strich für Strich nachzeichnen; denn heute, just in dieser Minute, vollzieht sich Ihr Schicksal; ich weiß es. Wir mußten uns so, auf diese Weise, ein für allemal begegnen. Wer vermöchte zu sagen, was der Anblick des Sterbens eines Heiligen und sein letztes Irrereden einem Herzen wie dem Ihren eingeflößt hat! Ich war das Hindernis, das überwunden werden muß, der geheime, unerträgliche Gedanke, das innere Ärgernis, das selbst das Gebet vergiftet und das durch diese Unterredung zu Tage tritt, Ihnen entrissen wird. Denn sehn Sie, ich bin ein Mensch wie die andern. Ich lebe in einem Frieden, von dem Sie sich keinen Begriff machen könnten, weil Ihr Wesen ganz Glut und Leidenschaft ist. Ich lebe in einer Stille, die vorteilhafter ist und besser zu den tiefen Bedürfnissen meines Wesens paßt als jede Art von himmlischer oder nicht himmlischer Harmonie. Einerlei! Wir beiden bleiben im Einklang mit uns selbst, das genügt. Ich verlange nicht, daß Sie mich um meine Ruhe beneiden; es ist recht und billig, daß Sie einen Abscheu davor haben. Alles übernatürliche Leben vollendet sich im Schmerz, aber diese Erfahrung hat die Heiligen niemals abgelenkt. Weder Chevance noch Sie werden mir Gott wiedergeben, und doch: zieht man wenigstens nur den Anschein und so viele unnütze Qualen in Betracht, so fehlt er Ihnen mehr als mir.«
Seine Stimme zitterte bei den letzten Worten kaum, indes ein unbestimmbares Lächeln über seine Züge glitt und in der bitteren Mundfalte zu einer Art schmerzlicher Grimasse erstarrte. Erst jetzt schlug er die Augen ganz auf. Und beim ersten Blick, noch ehe er einen Gedanken gefaßt hatte, wie ein Mensch, der aus einem Traum erwacht, erkannte er die Ungeheuerlichkeit seines Fehlers. Zum zweiten Male hatte er sich umsonst ausgeliefert, sich Chantal für nichts ausgeliefert wie einst Chevance. in einem jener furchtbaren, eiskalten Wutanfälle, deren Gefahr sein Wille stets zu spät erkannte, ja nicht mal mehr vorausfühlte.
Mit einer durch die Scham verzehnfachten Hellsichtigkeit las Cénabre jetzt auf Fräulein de Clergeries Antlitz die ganze niederschmetternde Reihenfolge der erbarmungslosen Bilder, die dies kindliche Herz nacheinander zerrissen hatten. Es war, als hätte er hastig und wütend die Seiten eines Buches oder vielmehr die Blätter eines Aktenstückes durchblättert, bis zum letzten, auf dem das unwiderrufliche Urteil stand. Denn die Neugier des Abbé Cénabre ist nicht von der Art, daß sie sich sättigen läßt, selbst durch die Angst nicht; sie überlebt alles.
Plötzlich ward diese Neugier enttäuscht, blieb ohne Gegenstand. Chantals schmales, verkrampftes Gesichtchen drückte nur noch eine so demütige, so geheimnisvolle Entsagung aus, daß er eine Art von Schrecken empfand. Das Wort, das er sagen wollte, erstarb im Nu auf seinen Lippen.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Fräulein de Clergerie. »Es ist falsch, daß der Abbé Chevance mit mir von Ihnen gesprochen hat. Er ist ohne letzten Willen und ohne Geständnisse gestorben, wissen Sie, sehr klein, sehr klein, wie man leben möchte … Doch ich hätte früher begreifen sollen … Ich hätte … ich …«
Sie schwieg.
»Schön«, entgegnete Cénabre rauh; »kommen wir nicht darauf zurück. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Nein«, sagte sie. »Ich habe noch um eine Gunst zu bitten. Glauben Sie mir, es ist hart für mich, zu denken, daß dies … das … kurz das, was Sie ein Geheimnis nannten, Ihnen gewissermaßen durch Überraschung entrissen … geraubt worden ist. Ja, geraubt. Jetzt möchte ich …«
»Sie möchten, daß ich es Ihnen gebe? Wohlan, nehmen Sie es«, sagte der Priester. »Es gehört Ihnen. Von allen Wesen, die ich kenne, kann ich es keinem andern frei ausliefern. Bleiben Sie in Frieden.«
Er betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen mit einer Art scheuen Mitleids.
»Was werden Sie damit machen?« fuhr er fort. »Es ist ja nichts. Oder vielmehr, vor einem Augenblick war es noch nichts als ein ganz gewöhnliches Geheimnis. Was wird in Ihren Händen daraus werden? Was Sie anrühren, verwandelt sich ja sofort in etwas, das Ihnen gleicht, wunderbar geeignet, Sie zu quälen.«
»Ich?« sagte sie. »Können Sie das glauben? Was ich anrühre, zerfällt, wird zu Staub. Sie sprachen eben ein sehr richtiges, sehr wahres Wort! Gott fehlt mir mehr als irgendwem. Ach, man kennt mich nicht recht. Ich rief Gott, sehn Sie, ich erwartete ihn, aber ich habe ihn nicht genügend gesucht, ich habe mich noch nicht auf den Weg gemacht. Und jetzt wäre ich gewiß ärmer, viel ärmer als Sie, hätten Sie mir nicht dies durch ein Wunder zu bewahren gegeben.«
Langsam ging Chantal zum Fenster, öffnete es weit, sog die glühende Luft ein und kehrte mit dem gleichen Schritt lächelnd zu ihm zurück.
»Welch ein Sommer«, sagte sie. »Nicht wahr? Man sieht das Licht schließlich mit Groll, wie einen Feind. Der Winter wird nur umso schwärzer sein.«
»So ist es«, antwortete er ebenso ruhig, »Wir hassen die Nacht, und der Tag ist nicht weniger hart zu ertragen.«
Sie errötete.
»Ich will mit Ihnen hinuntergehn«, versetzte sie nach einer Pause. »Recht bedacht, ist es besser, ich rede noch heute mit Vater. Die Geschichte mit dem Herrn La Pérouse ist so lächerlich! Nicht wahr, seien Sie gerecht: ich kann doch nicht für alles haftbar sein, was hier geschieht? Wurden sie ohne mich nicht die gleichen Dummheiten machen?«
Sie hatten das Zimmer verlassen und schritten zusammen durch den Flur, dessen Läden geschlossen waren. Sie ging mit ihrem ruhigen, kaum zaudernden Schritt vor ihm her über das glatte Parkett. Und als sie an die Treppe kamen, blieb sie plötzlich auf der Schwelle stehn und drehte sich nach ihm um. Blitzhaft sah er ihr verstörtes Gesicht, den furchtbaren Krampf ihrer Züge. Er trat auf sie zu, um sie zu stützen. Doch kaum sah sie die geweihte Hand sich auf ihren Busen legen, so stieß sie eine Art von unheimlichem Stöhnen aus, entriß sich seinen Armen, drehte sich um sich selbst und sank geräuschlos in die Mauerecke.
Eine Minute, eine lange Minute, zögerte er, trat zweimal an die Tür und horchte. Dann packte er den leichten Körper in plötzlichem Entschluß, trug ihn wieder ins Zimmer, legte ihn auf das Bett, horchte einen Augenblick auf den Herzschlag. Fräulein de Clergerie öffnete die Augen.
»Rühren Sie sich nicht«, flüsterte er. »Es ist nur eine ganz leichte Ohnmacht. Wünschen Sie, daß ich rufe, oder nicht?«
Sie winkte ihm ab, und als sie den Kopf wandte, zog er rasch seine rechte Hand zurück, die er auf das Kopfkissen gestützt hatte. Doch sie ergriff sie in der Bewegung, zog sie an ihre Lippen und küßte sie.
. . . . . . .
»Ich war bei Chantal«, sagte Herr de Clergerie. »Sie wollte heute Abend nicht herunter kommen. Eine gute Nacht, und alles ist wieder in Ordnung.«
Die Fenster des Speisesaales waren eben auf den alten, schon verschatteten Park geöffnet worden. Das versengte Gras der Rasenflächen, hier und da mit rostroten Flecken gesprenkelt, die die Nacht mit lila Tinte bedeckte, war von dem bleichen Kies der Wege umschlossen wie ein riesiger stehender Teich, der im Herbstnebel verschwamm.
»Lieber Freund,« fuhr Clergerie leise fort, als Franziska die Tür hinter sich geschlossen hatte, »ich falle nicht auf Ihre liebevolle Lüge herein. Für mich ist es klar, daß Ihre Unterredung heute morgen nicht so unbedeutend war, wie Sie sagen. Doch leider pflegen die Menschen, die mich am liebsten haben, zuerst nur daran zu denken, mich zu schonen.«
»Diesmal hatte ich nicht daran gedacht«, sagte Cénabre. »Und offen gesagt, habe ich vielleicht nie daran gedacht.«
Herr de Clergerie blickte den Abbé verblüfft an.
»Welche Mücke sticht Sie!« sagte er. »Sie waren der aufrichtigste und verschwiegenste Freund; ich möchte fast sagen, der Richter und Schiedsrichter meines ganzen Lebens … Sollen denn die Launen … Gehn Sie hinaus, Franziska!« schrie er mit schriller Stimme, als das rothaarige Mädchen wieder die Tür öffnete. »Stellen Sie das Tablett auf den Tisch. Gehn Sie hinaus. Ich trinke heute abend keinen Lindenblütentee.«
Sie verschwand.
»Verzeihn Sie diese Regung der Ungeduld«, fuhr er fort. »Das Mädchen guckt durch die Schlüssellöcher. Seit sie mir einige Ausschreitungen meines russischen Chauffeurs hinterbracht hat, begegne ich auf Schritt und Tritt ihrem weinerlichen Blick, diesem Lächeln unsinniger Mitschuld.«
Er legte seine Serviette mit krampfhafter Unruhe zusammen und schlug sie wieder auseinander.
»Antworten Sie mir doch, bitte, etwas. Es ist nicht zu sagen, wie sehr das Schweigen hier im Hause mir auf die Nerven geht. Ich bin ja nun allein, oder doch fast … Denn ich habe keine Hoffnung, Sie noch lange hier zu halten. Jetzt aber mitten in der Hundstagsglut nach Paris zurückkehren, hieße mich umbringen. Könnte ich nur ohne neue Krisen das Ende dieses furchtbaren Sommers abwarten!«
»Lieber Herr,« sagte Cénabre, »ich selbst habe ein dringendes Bedürfnis nach Ruhe und Stille. Die paar Worte, die ich eben sprach und die Sie zu befremden schienen, hatten keinen kränkenden Sinn. Ich habe nie einen Menschen geschont noch verschont, und auch mich hat niemand geschont. Glauben Sie mir, es wäre mir gleichgültig, mit Ihnen über Fräulein Chantal ganz offen zu sprechen, doch ich fürchte, Sie nutzlos zu quälen. Vielleicht haben Sie sogar eben den natürlichen Schluß des Streites gefunden, in den ich mich einzulassen weigere: ›Eine gute Nacht, und alles ist wieder in Ordnung.‹«
Jedes Wort zischte scharf zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor, indes seine langen Finger zerstreut über das Tischtuch strichen. Doch Herr de Clergerie fuhr auf.
»Oh!« sagte er bitter, »ich werde also auch für Sie nur ein zu sorgloser, zu schüchterner Vater sein! … Was geschieht trotzdem? Welche neue, ungewöhnliche Beobachtung hat man gemacht? Mir scheint, meine Tochter ist jetzt nicht anders, als sie im Winter war, vielleicht etwas weniger frei und heiter, aber Fjodors lächerliche Geschichte, mein unvermeidliches Eingreifen, meine Ratschläge, die Erfahrung, die sie dadurch leider mit einer gewissen Bosheit gemacht hat, die sie in ihrer Reinheit nicht ahnte, – alle diese Nichtigkeiten zusammen sind ein Drama für Jugendliche, ein weißes Drama. Sie ist ja so rein! Seien wir gerecht. Die Unruhe, von der ich rede, ist ohne ihr Wissen um sie entstanden. Sie ist nur durch uns alle erhalten worden.«
Cénabre schlug mit der Faust leicht auf den Tisch.
»Verzeihn Sie,« sagte er, »ich habe mich nur auf Ihre Bitten hineingemischt. Anderseits irren Sie seltsam, wenn Sie mich für beunruhigt halten. Worüber beunruhigt?«
»Lieber Freund, wir kennen Ihre Energie. In jeder Lage bleiben Sie Herr Ihres Willens, Ihrer Nerven. Habe ich heute Abend nicht das Recht, eine gewisse Unruhe ernst zu nehmen, von der Sie selten eine Probe geliefert haben? Wozu es leugnen? Ein dunkles Mißverständnis bringt uns auseinander. Abramowitsch hat zuerst das Weite gesucht, der liebe Espelette ist ihm gefolgt, La Pérouse verändert sich zusehends. Nach mehreren seltsamen Gesprächen, die mir das Herz zerrissen haben, hat er mir heute eine noch seltsamere Szene gemacht.«
»La Pérouse scheint mir halb verrückt«, sagte Cénabre und stand auf. »Was liegt uns daran?«
»Noch eine Minute, lieber, alter Freund«, flehte Clergerie. »Sie wissen nicht alles. Ich konnte nicht frei heraus reden. Ich wartete auf eine günstige Gelegenheit. Wenn ich gewisse Reden buchstäblich nehmen sollte … Kurz, La Pérouse hat mir über Chantal, über meine Leute, besonders über Fjodor, die seltsamsten Dinge gesagt. Er behauptet, er habe den Russen schon bei Frau Artiguenave kennen gelernt; er traut ihm die unehrenhaftesten Handlungen zu, selbst ein Verbrechen. Fast hätte er von mir verlangt, daß ich den Unglücksmann entlasse. Gewiß war es falsch von mir, mich zu erhitzen, aber ich bin ein alter Liberaler und erröte nicht über meine Vorurteile; ich hasse alles, was nach einem ungesetzlichen Akt der Regierung gegenüber dem Fürsten aussieht. Zudem kann ich einen alten Diener der Baronin von Montanel nicht ungehört verurteilen, um so weniger, als sie ihn meinem Wohlwollen besonders empfohlen hat. Trotzdem muß ich Ihnen gestehn, daß La Pérouses übereilte, wo nicht unschickliche Abreise mich fabelhaft überrascht hat und mich sehr in Verlegenheit bringt. Was soll ich von diesen wirren Reden halten? Hat meine Tochter Ihnen …«
Er wagte nicht fortzufahren, schloß mit einer unbestimmten Handgebärde und blickte erst mißtrauisch, dann ratlos zum offnen Fenster hinaus. Die Stille war so tief, daß er das gleichmäßige Atmen des Priesters hörte oder doch zu hören glaubte. Er lauschte diesem unmerklichen Röcheln, wie ein Feuerwerker auf die brennende Lunte blickt, auf das Flämmchen, das zwischen den Feuersteinen aufsprüht.
»Ich gebe nicht viel auf das blöde Gerede«, sagte Cénabre ruhig. »Und doch scheinen Sie La Pérouses Charakter und Gewohnheiten recht gefährlich zu verkennen. In der Sache, um die es sich handelt, halte ich sein Urteil für ziemlich wichtig.«
Ein leises trocknes Lachen stieg aus seiner Kehle auf. De Clergerie fühlte buchstäblich, wie der unbeugsame Blick auf seinen Schläfen ruhte. Mit tiefer Bestürzung erriet er darin eine unerklärliche Wut.
»Sie konnten ja die Probe selbst machen,« fuhr Cénabre fort, »schon seit langem. Doch es wäre lächerlich zu denken, daß ich mit Ihrer Tochter nur eine Sekunde von einer Sache gesprochen hätte, deren Regelung Ihnen allein zusteht.«
»Gewiß, gewiß«, beteuerte de Clergerie verzweifelt. »Übrigens ist das ja nur ein Traum, ein schlimmer Traum … Die Psychiater sind erstaunlich! Ihren Hypothesen würden sie den Ruf jedes beliebigen opfern …« Sein banges Gesicht strahlte plötzlich von einem unsinnigen Lächeln. »Ach, selbst die Geschichtsschreiber … Freilich tun wir den Lebenden nur selten Unrecht; für unsere Arbeiten genügen die Toten … Lieber Freund, heute Abend vor dem Essen, habe ich einen Entschluß gefaßt, dessen Bestimmtheit und Willenskraft Sie wohl billigen werden …«
Er stützte beide Ellbogen auf den Tisch, nahm das Kinn zwischen seine zitternden Hände und fuhr fort: »Frau von Montanel kommt morgen durch Paris. Sie war in La Bourbole und kehrt nach ihrem Schloß in Lérinville zurück. Es wäre unpassend, mich dort einzustellen, denn dieser Besitz wird in ein paar Monaten oder Wochen unser gemeinsamer Wohnsitz sein. Doch ich habe beschlossen, meiner Braut unterwegs zu begegnen. Wahrscheinlich werde ich sie bei Frau Marais-Courtin sehn. Deshalb, lieber Freund, habe ich beschlossen, heute Nacht den Zug um elf Uhr neun zu benutzen. In der nächsten Nacht bin ich wieder zurück. Meine Abwesenheit wird also sehr kurz sein. Gebe Gott, daß diese paar Stunden Frau von Montanel von der Notwendigkeit überzeugen, daß ich die Frist bis zu unserer Eheschließung um jeden Preis verkürze! Die Anwesenheit einer klugen Frau hier im Hause, ihr Maß und ihr Takt, ihre ungewöhnliche Erfahrung mit den Herzen junger Mädchen, die sie durch reizende Werke bewiesen hat, kurz ihre Liebenswürdigkeit würde alles ins Gleise bringen … Lieber Freund, die Bosheit wird mich gewiß wieder bezichtigen, ich flöhe vor der väterlichen Verantwortung. Doch ich habe seinerzeit die des Gatten auf mich genommen und darf es nicht auf die Wiederkehr der bedauerlichen Mißverständnisse ankommen lassen, die den Frieden meiner ersten Ehe getrübt, die letzten Tage meiner Gattin verdüstert und meine arme Gesundheit zerrüttet haben.«
Während er so sprach, war Cénabre mit kleinen Schritten zur Tür gegangen. Plötzlich drehte er sich um, als wollte er weniger dem blöden Monolog seines Gastgebers wie einem inneren Kampfe ein Ende machen, dessen Geheimnis er allein kannte. Ein sanfter Schimmer tauchte in seinem Blick auf; der unglückliche Clergerie, der am Ende seiner Kräfte war, glaubte darin eine düstere Ahnung zu sehn.
»Soll ich abreisen?« fragte er tonlos. »Werden Sie mich entschuldigen, wenn ich Sie wegen … außerordentlicher Umstände einen Tag allein lasse? Ich gestehe, La Pérouses unerwartetes Verschwinden hat meine Nerven grausam erschüttert. Ich mag tun, was ich will, ich kann nicht umhin, meine Tochter verantwortlich für einen … einen Zwischenfall zu halten, der … den Erfolg einer seit zwei Monaten begonnenen, ununterbrochenen Behandlung zu gefährden droht. Denn schließlich zählt das doch mit!«
»In der Tat, das zählt mit!« sagte Cénabre. »Reisen Sie also ab. Vielleicht gelingt Ihnen das einzige Unternehmen, das Ihnen wirklich am Herzen liegt, obwohl Sie nicht davon sprachen. Vielleicht bringen Sie La Pérouse wieder mit. Ach, ich kann die Anhänglichkeit eines Kranken an seinen Arzt nicht schelten; ich habe früher etwas ziemlich ähnliches erfahren. Die Bande, welche die Hoffnung knüpft, sind schwer zu zerreißen … Nun also, zerreißen Sie sie nicht, das ist alles.«
Er begann zu lachen, wie in jener Winternacht, der schrecklichen Nacht des letzten Winters … Doch diesmal drückte er die Faust fest auf seine Lippen, so daß Clergerie nur ein seltsames Hohnlachen vernahm, das übrigens seinen Stolz grausam verletzte.
»Sie irren«, sagte er. »Wozu mich rechtfertigen? Die nächste Zukunft wird das besorgen, und ich kenne Sie zur Genüge, um die freundschaftliche Absicht Ihrer scheinbaren Strenge nicht anzuzweifeln. Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht hat La Pérouse zu viel Einfluß auf mich gewonnen. Die Schuld liegt an den Meinigen, an euch allen. Ein Nervöser kann sein Leben so schlecht regieren! Einem schlichten und starken Manne wie Sie muß mein Zaudern, meine Bedenklichkeit, die ewige Unruhe mehr Mitleid als Interesse einflößen. Aber schließlich gäbe ein Wort mir den Frieden wieder. Sind meine Befürchtungen tatsächlich eitel, was kann ich dann tun, um sie zu überwinden?«
»Eitel?« entgegnete Cénabre. »Nein. Ich halte sie nur für zwecklos, nicht eitel.«
Er trat auf de Clergerie zu, faßte ihn sanft an die Schulter.
»Gestatten Sie mir, noch eins hinzuzusetzen. Ihre Tochter weiß vielleicht nicht, wohin sie geht, doch sie geht dorthin. Und wohin sie geht, werden Sie gehn. Wir alle sind in dem entscheidenden Augenblick, wo ein jeder sich aus der Sache zieht, je nach seiner Aussicht und nach seinen Kräften.«
Mit diesen erstaunlichen Worten ging er hinaus und ließ de Clergerie verblüfft zurück.
. . . . . . .
Hatte er sie wirklich gesprochen, oder waren sie nur ein inneres Flüstern, ebenso unbestimmt, so trügerisch wie die geheimnisvollen Bilder, die sich im Laufe dieser friedlichen Unterhaltung immerfort wunderbar an Stelle des Anblicks der Wirklichkeit gedrängt oder sie gar überdeckt hatten wie ein durchsichtiger Dunst, der die Umrisse und Rundungen tückisch auslöschte und diesen ländlichen Saal, der so deutlich und ruhig war, allmählich zu einer schwankenden Welt mit überschichteten Flächen nach Art eines Schieferdaches verwandelte? Denn während Cénabre dem immer unruhiger werdenden Männchen in schmerzhafter Anspannung seines ganzen Wesens eine feste, ja gebieterische Fassung entgegensetzte, hatte er grausamer denn je seine täglich zunehmende Unfähigkeit verspürt, sich völlig von seinem eintönigen Sinnen zu befreien. Es war, als sei er dazu verurteilt, mit sich selbst freiwillig oder gezwungen ein fortan zweckloses, hundertmal unterbrochenes und wieder aufgenommenes Zwiegespräch fortzusetzen. Zudem kannte er schon längst aus Erfahrung die seltsame Schwierigkeit, dem Lebensrhythmus eines andern zu folgen. Er blieb stets hinter der gemachten Gebärde, dem gesprochenen Worte zurück, schleppte hinter sich her eine unsichtbare Last, ein totes Gewicht, die Besessenheit mit einer unvollendeten Handlung – aber welcher? Durch ein Wunder an Willensanspannung glaubte er dies Zurückbleiben bisweilen einzuholen, das verlorene Gleichgewicht wiederzufinden. Eitle Hoffnung! Selbst die Einsamkeit vertrieb dies tiefe Unbehagen nur für eine Weile, oder wenigstens bewahrte er das dunkle Bewußtsein daran, wünschte sich von neuem die Gegenwart anderer Wesen, betrog sich selbst wie ein eigensinniger Spieler, der sich weigert, seine Niederlage zuzugeben. Vor ein paar Stunden, als er alle Kräfte anspannte, um Chantal gegenüber die gefährlichen, zweideutigen, verräterischen Worte zurückzuhalten, schienen sie von selbst hervorzuquellen, sich von selbst zusammenzuschließen wie geschulte Soldaten. Und es waren just die Worte, die er einen Augenblick zuvor umsonst auszusprechen versucht hatte, für sich allein, zu seiner eignen Erleichterung und Befreiung. Ebenso war die letzte Warnung, die er eben de Clergerie erteilt hatte, gleichsam unbewußt gekommen; erst zu spät hatte er sie von den alltäglichen oder vorsichtigen Worten unterschieden. Jetzt zweifelte er fast, ob er sie gesprochen hatte. Er wiederholte sie sich leise, während er die Treppe nach seinem Zimmer hinaufstieg. Er wiederholte sie sich noch, als er sich auf das Fensterbrett über dem rauschenden Park lehnte …
Welche Nacht! Der Duft der erhitzten Baumrinden und des Harzes, der Duft hundertjähriger starker Bäume, die wie Tiere dunsteten, hatte alle zarteren Düfte der feinen Alchemie des Tages zerstört, schwamm jetzt allein in dem mitschuldigen Dunkel, breitete sich langsam und schwer aus wie ein dichter Nebel, der die laue Wärme lebendiger Dinge hatte, hinterließ auf der Zunge einen Geschmack von Schweiß und Blut … »Welche sinnlose Ungeduld treibt mich denn,« dachte Cénabre, »eine so teuer errungene Ruhe immerfort, aus Trotz, aus irgendeinem Rachgefühl aufs Spiel zu setzen? Soll ich denn die Torheiten des Winters von neuem begehn? Kann ich nicht wie jedermann leben? Wer hindert mich daran? Welcher Wahnsinn!«
Noch einmal, doch mit lässiger Aufmerksamkeit, ging er die zurückgelegten Abschnitte durch, und noch einmal empörte ihn die Gewöhnlichkeit und Bedeutungslosigkeit der Erlebnisse bis zum Ekel. Umsonst suchte er in dieser ruhigen, geregelten Vergangenheit eines Schriftstellers, Gelehrten und emsigen Arbeiters irgend etwas, das eine tiefe, wesentliche Ermüdung rechtfertigte, eine Erschöpfung, die so schwer war, daß sie unwiederbringlich nicht nur das geistige Gleichgewicht, auf das er einst allzu stolz gewesen war, sondern selbst die Freiheit seines Geistes, seiner Fähigkeiten bedrohte. Als schweigsames Kind, das sich seiner Herkunft und Armut schämte und bereits entschlossen war, den Sieg über glücklichere Nebenbuhler durch solide Verdienste, vorzeitigen Ernst und kleinbäuerliche Hartnäckigkeit davonzutragen, dann etwas später als fleißiger Schüler, als gewissenhafter Seminarist, als scheinbar untadeliger Priester schien er keine andern Leidenschaften gekannt zu haben als den strengen Ehrgeiz des geistigen Arbeiters. Die einzigen wahrhaft fruchtbaren Freuden, die der Glaube ihm gewährt hatte, waren just die seiner Wißbegier, die sich völlig dem Problem des übernatürlichen Lebens zuwandten, und er dachte jetzt so wenig wie früher daran, dessen Wirklichkeit zu leugnen. Ja, heute wie einst empörten ihn die Thesen des Rationalismus, die lächerlichen, anspruchsvollen Träumereien der Psychophysiologie oder gar die der modernen Psychiatrie durch ihre Grobheit und Jämmerlichkeit. Das einzige Problem, das ihn fesselte, blieb also gestellt, würde es stets bleiben; es hing nur von ihm ab, die Untersuchungen und Beobachtungen, die ihn berühmt gemacht hatten, noch jahrelang, bis zum Ende fortzusetzen. Selbst der Zwang einer argwöhnischen Autorität, die Notwendigkeit, sich geschickt mit ihr zu verhalten, den Fallen, die sie stellt, zu entgehn, bewahrten ihn wunderbar vor jeder doktrinären Voreingenommenheit. Sie hatten seinen manchmal etwas rauhen Geist nur zu schulen und schmiegsamer zu machen vermocht. Niemals hatte er das große Zerreißen, den plötzlichen Bruch mit der Vergangenheit, das heißt mit sich selbst verspürt. Der Glaube, einst nur eine Gewohnheit bei ihm, allerdings eine tiefgewurzelte Gewohnheit, war sacht zerronnen, und bei dem unvermeidlichen Rückschlag, dem letzten Zurückschrecken, war er schon zu tief in den Zweifel oder in die Gleichgültigkeit verstrickt, fühlte sich mit geschlossenen Augen wie ein Stein weitergetrieben. Hätte es nicht von ihm allein abgehangen, still seinen Platz wieder einzunehmen, nachdem die Prüfung vorüber war? Ja, gewiß. Doch er hätte sich Chevance ausgeliefert.
Das war sein erster oder vielmehr sein einziger Fehler. Seitdem hatte das unmerkliche Abirren von dem so sorgfältig vorgezeichneten Weg alle seine Berechnungen gefälscht. Warum? Wer vermöchte es zu sagen? Denn am liebsten hätte er in diesem unsinnigen Schritt nichts als eine verzeihliche Unbesonnenheit gesehn, hätte es mit allen Kräften gewünscht. Ja, das war nur ein Angstschrei gewesen, der unfreiwillige Ruf, der einem Menschen weniger aus Schrecken als aus Überraschung entrissen wird, den ein anderes Ohr nur durch Zufall vernommen hatte. Was er sich nämlich nicht eingestehn konnte, ohne die Art von Frieden zu gefährden, die so teuer erkauft, so hinfällig war, das war dies: er hatte durch jenen bloßen Aufschrei in der Nacht weit mehr getan, als einem alten, bedürftigen Priester sein Geheimnis zu geben. Er hatte sich vor sich selbst enthüllt, hatte einmal, ein einziges Mal den tiefen Ton seines Wesens, die Klage seines Innern vernommen, die er durch die wunderbare Geschicklichkeit seiner Lüge nicht zu ersticken vermocht hatte. Er glaubte, nur an Chevance zu denken. Mit krankhafter Aufmerksamkeit und kindlicher Sorgfalt malte er sich jede Einzelheit der Szene wieder aus, wie ein gewissenhafter Schriftsteller einen wichtigen Dialog zwanzigmal wieder vornimmt, doch er ließ darin nur einen einzigen Handelnden auftreten. Nur Chevance kam und ging, sprach und weinte in einem pathetischen Monolog. Die Gegenwart des andern blieb stumm. Gewiß nicht aus Berechnung, sondern aus einem merkwürdigen Abwehrinstinkt weigerte er sich, abermals einen solchen Schrei auszustoßen, selbst im Traume.
Jetzt, zu dieser Stunde, kam ihm die Erinnerung an sein letztes Gespräch mit Fräulein Chantal langsam ins Gedächtnis, trat an die gleiche schmerzhafte Stelle, und seine vertraute Angst ward dadurch so seltsam gesteigert, daß er sie kaum wiedererkannte. Bei diesem neuen Geständnis, so schien es ihm, hatte er einen noch kostbareren Teil seines Wesens entweichen lassen, ein noch wärmeres, reicheres Blut verloren. Buchstäblich empfand er die hellsichtige Erschöpfung, das klare, blendende Gefühl, das den großen Substanzverlusten folgt. Und zugleich begannen vor seinen Augen die den Irrsinn streifenden Bilder, halbwegs zwischen Irrsinn und Traum, die gleichsam die Gespenster seines eignen Sinnens waren, von neuem ihren seltsamen, durchsichtigen Tanz, ihr dumpfes, schweigendes Dahingleiten. Es war kein Irrsinn. Er beklagte nur seit Wochen die außerordentliche Empfindlichkeit seines überreizten Gehirns, dessen abstrakte Gedankenreihen schließlich etwas von der runden Gestalt und der Bewegtheit des Lebens annahmen. Einen Augenblick glückte es ihm, das Fenster zu verlassen. Er warf sich auf sein Bett und schloß die Augen. Doch sein Kopf, der sich in das Kissen eingrub, triefte vor Schweiß. Er hielt es nicht mehr aus, stand wieder auf und lehnte sich fröstelnd auf das Fensterbrett.
Welche Nacht! … Die hohen Fichtenwipfel hoben sich kaum noch von dem dunkeln Hintergrund ab, an dem ein einziger Stern matt verflackerte. Alles, was ein zwölfstündiger furchtbarer Sonnenschein in erbarmungslosem Kampf in den dürren Abhang hineingepumpt hatte, stieg langsam empor, von der Dämmerung aufgesogen, bildete tausend Schritt über dem Boden eine unsichtbare Wolke. Nur bei längerem Hinsehn erkannte der Blick nach Westen zu noch ihren von der Abendröte kupfern angeschienenen Saum. Ein Regentropfen fiel auf Cénabres Hand, warm und schwer, wie ein Tropfen Narde duftend – die Quintessenz des vergangenen Tages.
Er neigte sich etwas hinaus. Er konnte noch das erleuchtete Fenster von Clergeries Arbeitszimmer sehn, und plötzlich hörte er das Knirschen von Sohlen unter dem Kies, den raschen und zugleich unsicheren, abgebrochenen Schritt des Männchens, sein nervöses Husten. Eine Tür ging auf, der Motor des Autos ratterte, verstummte, stieß ein menschliches Ächzen aus, das die Nacht bis in ihre Tiefen erschütterte, und ratterte von neuem. Fast zugleich schoß der doppelte Lichtkegel der Laternen hervor, sprang gegen den Himmel, zauderte einen Augenblick, und fast unmittelbar darauf drehten sich die beiden majestätischen Fühlhörner um sich selbst, tauchten plötzlich unter und verschwanden.
Warum berechnete der Abbé Cénabre im Geiste diese Fahrt? Er hätte es nicht zu sagen vermocht. Übrigens legte er keinerlei Wert auf diese Ziffern: sie stellten sich von selbst ein. Er berechnete, daß der Bahnhof kaum 800 Meter entfernt war, daß Fjodors Auto vor fünf Minuten zurück sein müsse. Er zog seine Uhr. In der Tat tauchte das irrende Licht, dem geheimnisvollen Stelldichein getreu, nach der fünften Minute auf dem Kamm der Anhöhe auf, während die Pappeln der Allee allesamt hell wurden und sich bleich und zitternd von dem samtschwarzen Hintergrund abhoben. »Nun bin ich diesen Narren für einen Tag los«, sagte Cénabre leise. Und er glaubte, eine unaussprechliche Erleichterung zu empfinden.
Selbst jetzt, in dieser Minute des Vergessens, des Aufschubes, als er sein Fenster wieder schloß, um das wieder gewonnene Gefühl seiner Einsamkeit besser zu genießen, begann das Seltsame ihn wieder zu quälen, erschütterte sacht jeden Nerv in ihm, lief tückisch das Rückenmark entlang und fing an, in seinem Denken zu strahlen, mit starrem, unerträglichem Glanze. Um diesen blitzenden Punkt auszulöschen, zu zerdrücken, konnte er nicht mal eine blöde Gebärde unterdrücken: er fuhr sich mit der Hand heftig an die Stirn, preßte sie zwischen seinen breiten Handflächen. Übrigens war diese erste Bewegung der Überraschung nur von blitzhafter Dauer. Der Stoß war zu hart, zu unerwartet gewesen, als daß die Willenskraft des unbezähmbaren Mannes nicht sofort mit aller Gewalt darauf geantwortet hätte. Und beim völligen Versagen seiner niederen Fähigkeiten gelangte der gebieterische Ruf der Vernunft bis ins Hirn, schob den schicksalsvollen Augenblick hinaus. »Eine ähnliche Krise wie im letzten Winter«, dachte er. »Werde ich denn wahnsinnig?«
Er lief ans Fenster, öffnete es wieder, bohrte seinen Blick in die Nacht. Kaum widerstand er der Versuchung, sich hineinzustürzen, mit ausgebreiteten Armen hineinzufallen, sich mit seinem gehässigen Geheimnis endlich darin zu verlieren. Und doch hatte er damals nicht so sterben wollen, als er sich den Lauf seiner Waffe kalt entschlossen ins Gesicht hielt. Diesmal rief nur das Fleisch nach dem Nichts wie nach der Ruhe, oder es rief überhaupt nicht, es floh … Er floh … Er floh vor einer unbekannten Gefahr, deren Ursache nicht in ihm lag. Oder besser gesagt, er entwich.
Jetzt umklammerten seine Hände das Fensterkreuz und rüttelten ruckweise, heimtückisch daran, als wollte er es aus seinen Fugen reißen. Dieser grobe Kraftaufwand beruhigte ihn. Noch bebend von dem furchtbaren Stoß, mit erschöpftem Blick und bitterem Munde, ergriff er nach und nach wieder Besitz von den Gedanken und Bildern, die der plötzliche Ausbruch des Schreckens umhergestreut hatte wie dürres Laub. Er versuchte, mit den armseligen Überbleibseln der Katastrophe zu denken, wie ein halb untergegangenes Schiff seine letzten Feuer benutzt.
»Was ist denn geschehn?« stammelte er. »Nichts. Ich sah nichts, hörte nichts, dachte sogar an nichts. Es hat mich gleichsam in den Rücken getroffen.« In der Tat hatte er sich bezwingen müssen, um nicht kehrtzumachen, die Stirn zu bieten. So sehr er auch wünschte, in diesem plötzlichen Anfall nur einen vielleicht milderen Rückfall des ersten zu sehn, er konnte sich doch nicht mehr lange darüber täuschen. Diesmal war die Angst nicht langsam aus ihm aufgestiegen, nicht am Schluß endlosen Brütens und einer gefährlichen Prüfung, die bis zum lebendigen Teil der Seele getrieben war: der Schlag kam von außen … Ja, außer ihm, außer seiner Macht war ein Ereignis entstanden, das er nicht kannte, vielleicht nie erfahren würde, und das doch so wirklich, so gewiß war wie irgendeins von denen, die er mit eignen Augen gesehn. Welches?
Denn umsonst ließ er seinen Blick über die bescheidenen Zeugen seines seltsamen Abenteuers hingleiten, den geblümten Baumwollstoff der Wände, das massige Bett, – er erblickte dort keins der Phantome, deren Gegenwart er gewünscht hätte; denn der Stolz wird mit den Phantomen fertig oder kann ihnen doch die Stirn bieten. Statt dessen nahm in ihm eine unumstößliche Gewißheit zu, die tausendmal widersinniger war als irgendein Phantom und die seinen Stolz weit tiefer demütigte. Es war, als sei ihm jede Selbstkontrolle über sein Bewußtsein genommen, als sei er fortan nicht mehr Herr irgend eines jener Geheimnisse, die auch der gröbste Mensch noch vor der Neugier der andern zu schützen weiß. Natürlich besaß er keinen Beweis für diese unumstößliche Gewißheit. Trotzdem konnte er sie nicht anzweifeln: sie strahlte in wildem Schein. Denn Schein muß es genannt werden, weil diese völlige Entselbstung seit dem ersten Angriff ihr körperliches Zeichen gehabt hatte, gegen das die Vernunft sich nicht mal mehr auflehnte, das sie wenigstens mit einer Art verzweifelten Verzichts hinnahm: eine Lichtflut war in ihn eingedrungen, und er schloß die Lider, um ihre Strahlen nicht auf seinen bleichen Händen zu sehn.
In dieser Minute hätte jeder andere als der Abbé Cénabre den Wahnsinn als Hilfe herbeigerufen oder wäre in die Knie gesunken. Doch seine starke Natur sträubte sich noch, sich zu ergeben, oder vielleicht dachte er nicht mal daran. Er dachte nur daran, sich aus eigner Kraft zu befreien, das heißt absichtlich, entschlossen an diesem furchtbaren Spiel teilzunehmen, dessen Einsatz er war. Seit so vielen Jahren war er ja nur allzu vertraut mit diesem geheimen, undurchdringlichen Leben, in dem sein seltsamer Geist sich verausgabt hatte, um die Gestalten seines Traumes, seine heiligen Männer und Frauen, lebendig zu machen. Zudem stand er über den Überraschungen oder dem Schrecken eines uneingeweihten Zuschauers. Fräulein de Clergeries Bild, ihre letzten Worte, der demütige Kuß ihres Mundes, diese dreifache Erinnerung schwebte einen Augenblick lang über diesen maßlosen Scheinbildern. Er war fortan sicher, daß die Feuersbrunst dort und nirgendswo anders, an diesem Punkt seines schon verletzten Hirns ausgebrochen war. »Seltsames kleines Mädchen«, dachte er. »Ich werde sie morgen wiedersehn. Ich werde erfahren … erklären, erklä…«
Während er so murmelte, warf er seinen Mantel über die Schulter, schritt nach der Treppe, tastete bedächtig nach dem Geländer, ging mit seinen schweren Schritten die Stufen hinab. Noch tastend, ließ er die Eisenbarren der Eingangstürfallen, schob mechanisch die Riegel zurück, hörte den Sand unter seinen Sohlen knirschen und trat in die Nacht hinaus. Sein hoher Schattenriß war noch immer von prachtvoller Ruhe und völlig im Gleichgewicht, und doch hatte er schon seine Kraft verloren, war bereit zur Verzweiflung oder zur Vergebung. Was er noch an Willenskraft und Stolz besaß, seinen letzten Rückhalt, verschwendete er, warf ihn in prachtvoller Gleichgültigkeit wie mit vollen Händen hin, um noch ein, zwei Stunden, die ganze Nacht lang standzuhalten, Minute für Minute, bis zur Dämmerung. Denn von nun an war ihm der Gedanke unerträglich, in sein Zimmer zurückzukehren, dort den stummen, entnervenden Kampf wieder aufzunehmen. »Morgen wird es zu Ende sein«, dachte er. »Bis dahin werde ich meine Nerven abstumpfen …« Morgen!
Er ging blindlings drauflos, nur von dem bleichen Schein der Mauer des Wirtschaftsgebäudes geleitet, die kürzlich frisch getüncht worden war. Beide Hände hatte er flach auf die Brust gelegt, wie ein Verwundeter, der seinem Mörder den Rücken kehrt und mit verstörter Miene ein paar Schritte drauflosgeht, den Dolch im Herzen. Er stieß gegen die Einfassung eines Gebüsches, strauchelte, fiel auf die Knie, ging weiter, ohne etwas zu fühlen, völlig versunken in seinen Gedanken, der kaum ein Gedanke war, wie ein Leichnam nicht bloß ein Ding, aber kein Wesen mehr ist, – lediglich ein Bild ohne Lebensregung. Und doch hätte er gern geglaubt, daß diese Betätigung des Geistes eher seine Befreiung verkündete, denn er fühlte, wie seine Lüge sich etwas lockerte. Durch eine Art innerer Starre entrann er gewissermaßen dem furchtbaren Zwang, den er seit Monaten geduldig, heldisch ertragen hatte. Das geheimnisvolle, aber gewisse Ereignis, dessen Vorgefühl ihn gestreift hatte, ohne daß er schon etwas Gutes oder Schlimmes von ihm wußte, gehörte nichtsdestoweniger zu denen, die das Gleichgewicht des Unglücks brechen und nur glücklich sein können, selbst wenn sie einen Untergang vollenden, dessen Erwartung fast unerträglich geworden ist.
Wie ein Sterbender, der zum erstenmal in seiner Brusthöhle, an seinem Herzen, den ersten Schauder des Todeskampfes verspürt hat, die erste kalte, verstohlene Berührung, und ihre Wiederkehr wünscht, ohne zu ahnen, daß er sich vor einem Augenblick mit entscheidender Gebärde vom Leben abgewandt hat, sich dem Tode auftut, sträubte der unglückliche Priester sich nicht mehr. War er doch am Ende seiner Kräfte, durch fünf Monate eines Kampfes erschöpft, von dem er nicht ahnte, daß er nur eine lächerliche Herausforderung seines eignen Wesens war, eine Wette, die unnütz war, seit der erste Schlag gegen das Gebäude seiner Lüge geführt worden war, als er sein Geheimnis verraten hatte. Denn die Heuchelei ist kein Laster wie die andern, Schwäche und Stärke, Instinkt und Berechnung, ein Laster, mit dem man sich abfinden kann. Eine so vollkommene Lüge, die jede unserer Handlungen bestimmt, um bis ans Ende getragen zu werden, muß vielmehr das Leben eng umspannen, seinen Rhythmus annehmen. Schleicht sich auch nur die geringste Unstimmigkeit zwischen ihr und uns ein, so erwacht schon die Aufmerksamkeit, der Wille strafft sich, das Bewußtsein richtet seinen starren Blick auf den empfindlichen Punkt. Welcher Wille könnte eine solche Anstrengung lange aushalten? Cénabres Wille war eben zerbrochen, und er ahnte es nicht. Er ahnte es nicht, weil dieser prachtvolle Wille zu spät nachgab, nachdem er den Widerstand eines Gehirns erschöpft hatte, das schon an einem alten Schaden litt. Und da er das Gefühl zu haben glaubte, daß seine unerträgliche Last sich allmählich erleichterte, öffnete er die Hände und sank zusammen.
Übrigens wäre er diesmal nicht so unvorsichtig gewesen, zu Hilfe zu rufen; er wünschte die Gegenwart keines Menschen. Früher hatte ihn plötzlich das Gefühl der Einsamkeit ergriffen, wenn der Name Gott von selbst auf seine Lippen trat, und dies Gefühl hatte seitdem immer mehr zugenommen. Im Laufe der letzten Wochen aber war es fast erloschen. Zu eng hatte sich der Kreis um den unerbittlichen Priester geschlossen, als daß er fortan seinen Weg zu suchen gehabt hätte. Doch er fragte nicht danach. Seine Verblendung war die eines Menschen, der außer Gefahr, doch schon verloren ist. Vor ein paar Wochen hatte er bei einem Spaziergang am Meeresstrand zwischen Ollioules und Toulon mit einem Dorfarzt gesprochen, den er zufällig im Wirtshause traf und der ihn anhörte, ohne ihn zu verstehn. Da hatte er ein furchtbares Wort gesagt, das nachher dem Pater Domange hinterbracht ward: »Es gibt Verhältnisse, unter denen der Mensch Gott nur noch als ein Hindernis empfindet, als letzte Prüfung, die überwunden werden muß.«
In diesem Augenblick schritt er auf ein solches Hindernis zu. Er schloß halb die Augen, um die Art von unbestimmtem Schein zu vergessen, der vor einem Moment, wie er wähnte, aus seinen zitternden Händen hervorgedrungen war, als wäre er innerlich so davon gesättigt, daß er nach außen überquoll. Woher kam dieser Schein? Wie war er in seine Brust gelangt? Durch welche Lücke? Gewiß, so furchtbar seine Vernunft auch wankte, er war doch noch nicht das Opfer einer so groben Halluzination. Doch er konnte ihn auch nicht völlig abstreiten, weil die besondere Angst wunderbar zu dieser neuen, unerwarteten Gewißheit stimmte, daß er fortan durchsichtig war, unfähig, irgendeine Lüge für sich zu behalten, wehrlos dem preisgegeben, was er zeitlebens mehr als jede Gefahr gefürchtet hatte: die Neugier der Menschen, die Grausamkeit des menschlichen Urteils. Und weniger um der geheimnisvollen Helle zu entgehn als in der bescheidenen Hoffnung, vielleicht das so roh verlorene Geheimnis, die Sicherheit seiner Lüge wiederzufinden, drehte er dem hohen Hause den Rücken, dessen Mauer unbestimmt im Dunkeln leuchtete, und ging triebmäßig in die Nacht hinaus. Plötzlich, als er an einem Eibengebüsch vorbeikam, stieß er mit der Brust gegen ein lebendes Wesen. Die Überraschung entlockte ihm zwar keinen Schrei (denn er befand sich in einem Zustande nervösen Blutflusses, in dem der erschöpfte Körper nicht mehr auf die Furcht antwortet), sondern ein unheimliches Stöhnen.
»Der Herr Abbé hat mir einen Schreck eingejagt«, sagte die Köchin Ferdinande mit leiser Stimme. »Der Herr Abbé hatte mich wohl nicht gesehn? Sie kamen gerade auf mich zu«, setzte sie sofort in ärgerlichem Ton hinzu. »Ich dachte wirklich, Sie hätten mich gesehn. Die Nacht ist schon nicht mehr so schwarz, der Mond wird in zehn Minuten aufgehn.«
Der Abbé Cénabre erkannte das ihm zugewandte Gesicht schlecht, und doch las er darin eine Art von Unruhe und Schrecken, die seine nachlassende Aufmerksamkeit einen Augenblick wachrief.
»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch. »Was soll diese Komödie?«
Sie stieß ihn mit der Hand sanft zurück; er spürte, daß die dicke Frau zitterte.
»Der liebe Gott schickt Sie«, sagte sie einfach. »Ich will Ihnen sagen … Doch nein. Halt! Das ist zu lang. Sie müssen mir jetzt aufs Wort glauben … Der Herr ist doch abgereist; sollte ein armes Weib wie ich sich in solche Geschichten mischen! Aber das verteufelte Haus ist schlimmer geworden als ein Rattennest, Herr Abbé … Wohlan, so wahr Gott lebt, es war ein Mann im Zimmer des gnädigen Fräuleins. Ich habe ihn gesehn!«
»Und deshalb halten Sie mich auf?« sagte Cénabre voll Ekel. »Das Gewitter ist Ihnen auf die Nerven gegangen, arme Frau. Gehn Sie zu Bett.«
»Zu Bett?« entgegnete sie hohnlachend. »Das ist rasch gesagt! Das habe ich mehr als einmal getan, wie ich hier vor Ihnen stehe, wo ich die Augen und Ohren hätte aufmachen sollen. Täusche ich mich heute, um so schlimmer; ich weiß, dann werde ich nicht mehr wagen, Ihnen auch nur ins Gesicht zu sehn. Jawohl, Herr Abbé, dann haben Sie das Recht, mich zu verachten! Jetzt denken Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie mich nicht allein hinaufgehn. Ich habe es schon zwanzigmal versucht, ich werde es niemals wagen. Was macht Ihnen das aus? Nur auf die Treppe, Herr Abbé! Sie sollen auf der Treppe bleiben, Sie werden hören, wenn ich rufe.«
»Lassen Sie mich!« befahl Cénabre mit einem schon seltsam zitternden Tone. »Um mich zu erschrecken, meine Tochter, haben Sie sich die Zeit schlecht ausgesucht. Ich habe heute Abend eine andere Last zu tragen.«
Bemerkte sie das fast unmerkliche Umschlagen seiner Stimme bei diesen letzten, so dunkeln Worten? Ehe sie antwortete, näherte sie ihr Gesicht dem des Priesters und fragte ihn mit stummem Blick.
»Wohlan,« sagte sie, »das ist nicht der Augenblick, um den Kopf zu verlieren. Nein! Ich gerate nicht wegen Dummheiten außer mir: Der Chauffeur war betrunken, Herr Abbé, stark betrunken … Sein Ätherdreck quoll ihm aus den Augen; er sah aus wie ein wahrer Teufel. Er hat Franziska geschlagen; ich fand sie auf ihrem Bette auf dem Bauch liegend, die arme dumme Gans; sie spie aus vollem Halse Blut … »Achtung auf das gnädige Fräulein!« sagte sie zu mir, die Unglückliche! Man könnte sie totschlagen und brächte doch nicht mehr aus ihr heraus; sie wird ihren Liebsten nicht verkaufen. Als der Wagen des gnädigen Herrn zurückkam, habe ich den Russen überall gesucht. Vermaledeit! Man möchte glauben, er kriecht durchs Schlüsselloch, das Vieh! Ich dachte: da ich die Treppe nicht aus den Augen gelassen habe, muß er also draußen im Freien geblieben sein. Nun, sehn Sie, kann man über den kleinen Boden in den ersten Stock gelangen, braucht nur durchs Fenster zu klettern … Oh, Herr Abbé, als ich Ihnen begegnete, die Minute vorher hab' ich … hab' ich …«
»Ich begleite Sie«, sagte Cénabre plötzlich mit sanfter Stimme. »Gehn Sie langsam. Es ist wohl möglich, daß dies alles nur ein Traum ist. Ich muß meine Kräfte schonen.«
Er seufzte tief, dann begleitete er sie mit seinen stets gemessenen, stets ruhigen Schritten. Doch am Treppenfuße hielt Ferdinande nicht mehr an sich, sprang die Stufen in großen Sätzen hinauf. Einen Augenblick hörte sie den kurzen Atem des Priesters, eine Art kindliche Klage, dann nichts mehr. Übrigens riß sie in derselben Sekunde die Tür auf und stürzte in das Zimmer. Das Licht sprang heraus und mit ihm ihr Schrei:
»Herr Abbé, Herr Abbé! Sie sind da! Er hat sie getötet!«
Sie lief ans Geländer, beugte sich noch geblendet hinüber, vermochte in diesem schwarzen Abgrunde nichts zu erkennen.
»Herr Abbé, Herr Abbé! Sie müssen mir helfen, dies Schreckensbild wegzuschaffen. Die Leute dürfen nicht vorher kommen.«
Eine Stille … Dann stieg die Stimme aus dem Dunkel empor; sie war völlig verändert.
»Geben Sie mir, bitte, die Hand«, sagte Cénabre. »Mir scheint, ich kann nicht einen Schritt machen.«
Sie fühlte sich krampfhaft am Arme gepackt. Und sofort kam er neben ihr die Treppe herauf, langsam und schwer, als stieße er mühsam eine schwere Last mit der Stirn zurück. Da fiel das Licht auf sein von übermenschlicher Angst versteinertes Antlitz. So groß auch der Schrecken des armen Weibes war, sie konnte einen Schrei des Mitleids nicht unterdrücken.
»Mein Gott! Mein Gott!« klagte sie, »ich will versuchen, es selbst zu machen … Helfen Sie mir nur, das liebe Fräulein auf ihr Bett zu legen. Herr Gott! Ihr armes Köpfchen ist nur eine große Wunde. Fassen Sie sie unterm Arm, Herr Abbé; das Herz versagt mir; ich habe allein nicht die Kraft dazu.«
»Einen Augenblick, erlauben Sie …«, sagte Cénabre ruhig. »Ja, gedulden Sie sich noch ein, zwei Minuten. Im Augenblick kann ich Ihnen noch nichts nützen; ich sehe Sie nicht einmal.«
Sie kniete neben dem armen hingestreckten Körper nieder, versuchte, den zerbrochenen Nacken mit ihrem gebeugten Arme zu stützen, aber inmitten ihrer Bestürzung und Verzweiflung traf sie Cénabres Stimme mitten in die Brust. In einer unwillkürlichen, unsinnigen Regung stand sie auf, als wollte sie dem allmächtigen Schmerze die Stirn bieten, der lauter sprach als der Tod.
Der Priester stand aufrecht in dem harten Licht. Keine menschliche Weisheit, nicht mal der Geist des göttlichen Mitleids hätte in den unbeweglichen Zügen etwas zu lesen vermocht. Ein wunderbarer Wille zum Sterben meißelte sie von innen heraus, drückte ihnen den Stempel des Ewigen auf. Eine lange Minute schwankte die Wage zwischen der noch lebenden Toten und diesem schon toten Lebenden.
»Treten Sie näher«, sagte er schließlich leise, als sparte er selbst seinen Atem.
Er wandte ihr sein blindes Antlitz zu, und plötzlich glaubte sie zu erkennen, wie der Bogen seines Mundes sich entspannte, die Falten seiner Wangen erschlafften, das ganze Gesicht sich verdunkelte. Doch er bewegte die Schultern wie ein Mann, der seine Last wieder aufnimmt. Und fast gleich darauf hörte sie die erstaunlichen Worte:
»Frau, sind Sie imstande, das Vaterunser zu sprechen?«
»Ja, Herr Abbé«, sagte sie demütig. » Vater unser, der du bist im Himmel, dein Name …«
Er hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt; sie fühlte ihn immer schwerer lasten.
»Sprechen Sie«, sagte er sanft. »Ich kann nicht.«
» Vater unser, der du bist im Himmel«, begann sie leise in ihrem heimischen Akzent.
»PATERNOSTER«, sagte Cénabre mit übermenschlicher Stimme. Und er fiel mit dem Antlitz zu Boden.
Der Abbé Cénabre starb am 10. März 1912 im Sanatorium des Dr. Lelièvre, ohne daß er den Verstand wiedererlangt hätte.
Ende
Gesetzt und gedruckt
Frühjahr 1929 bei Jakob Hegner in Hellerau