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Zweiter Teil

Herr de Clergerie ist weder besser noch schlechter als ein anderer, aber jede Größe löscht ihn aus, läßt nichts von ihm übrig. Das angeborene Mißtrauen, in dem seine Nebenbuhler den Stempel der Rasse, die normannische Prägung zu sehn glauben, ist nur die Abwehrbewegung eines Schwächlings, der abwechselnd und vielleicht gleichzeitig der Sklave seiner Bewunderung oder seines Hasses wäre, wenn er sein Wesen überhaupt so zu verschwenden vermöchte. Kurz, er wünscht nicht den Glanz des Ruhmes, er will nur seine Vorteile. Unter diesen tausend Vorteilen, um die sich die knechtischen Ehrgeizigen streiten, sind es übrigens die kleinsten, nach denen er trachtet. Seine geduldige Betriebsamkeit versteht sie so kunstgerecht auszunutzen, daß er aus diesen Kleinigkeiten wünschbare Nichtigkeiten macht, und seine Nebenbuhler sind wütend, sie einst verschmäht zu haben. Leider hat nie ein Mensch ungestraft der Versuchung nachgegeben, aus seiner eignen Mittelmäßigkeit Vorteil zu ziehen. Kein Mensch baut sein Leben auf den unedelsten Teil seines Wesens auf, ohne eines Tages Gefahr zu laufen, daß er geistig herabsteigt und die Ängste der inneren Vereinsamung kennenlernt, gewissermaßen das Zerrbild jener geistigen Verbannung, in der das Genie das Lösegeld für den Ruhm findet. In dem Maße, wie der Verfasser der Geschichte des Jansenismus sich dem Ziele nähert, das er seit seiner Jugend bescheidentlich angestrebt hat, – einen Sitz in der Akademie – sieht er den Kreis, in den er selbst sein Schicksal hat einschließen wollen, nach und nach immer enger werden.

Seine mannigfachen Intrigen, die sich ineinander verstricken, gelangen jetzt zu dem kritischen Punkte, über den hinaus jeder Schritt gefährlich, jeder Beschluß endgültig wird. Indem er einem winzigen, scheinbar harmlosen Ehrgeiz diente, hat er um seinetwillen das Leben ausgehöhlt, und dieser leere Raum saugt ihn ein: er fühlt, daß er hineingleitet wie ins Nichts.

»Was haben sie nur?« fragt er den Monsignore Espelette, dem die gleichen Ängste vertraut sind, denn er hat nach dem Tode des Herzogs von Lesparre seine Kandidatur nicht offen anzumelden gewagt, und beim Freiwerden des nächsten Sitzes erwartet er sich von dem Herausgeber der Revue Internationale nichts Gutes. »Ja, was haben sie nur? Wir haben keine Unvorsichtigkeit begangen, haben es so gut wie möglich gemacht, jedem sein Teil werden lassen, kurz, wir waren geschäftig. Woher kommt es, daß man sich von uns zurückzieht? Ach, lieber Freund, der behutsame, zurückhaltende Ehrgeiz wird von niemandem mehr geschätzt. Ich fürchte sogar, er bleibt unverstanden. Wer kann sich heute rühmen, mit halben Worten verstanden zu werden? Sich bewerben hat keinen Sinn mehr. Man muß seine Karten grob auf den Tisch legen, sein Spiel zeigen.«

Doch der Bischof von Paumiers beruhigt ihn.

»Verehrter Herr, jedes Dasein hat seine kritische Zeit, seinen toten Punkt. Man findet diesen Zug der Natur selbst bei den Heiligen. Sogar die Heiligkeit hat ihre unfruchtbaren, dürren Wegstrecken. Klagen Sie nicht. Das Aufsehn, das Ihre neue, so durchaus passende Heirat macht, wird die Sympathie wieder beleben und eine Stellung befestigen, die nie ernstlich erschüttert war … Zudem bringt die Marquise von Montanel Ihnen ihren persönlichen Einfluß zu, und was mehr wert ist, die Erfahrung einer Weltdame.«

Die letzten Worte versinken in Schweigen; Herr de Clergerie scheint sie nicht gehört zu haben.

»Welch trauriger Sommer!« sagt er. »Ich hätte nie geglaubt, daß das schöne Wetter auf die Dauer so eintönig und niederdrückend ist. Wieviel Gewitter!«

Von früh bis spät hört man trotz der geschlossenen Fensterläden das kaum vernehmliche Knistern des Kieses in der Sonnenglut, und wenn die Nacht sinkt, riecht der aufkommende Abendwind nach Fieber oder nach dem Kuhstall. Alle Kräfte des Tages finden sich in ihm zersetzt wieder, wie der Saft der Wurzeln und Blätter in der Tiefe eines stehenden Wassers. Auf den Viehweiden, längs der noch warmen Hecken, richten die kurznackigen normannischen Stiere, die den ganzen Tag lang hingedämmert haben, ihren gedrungenen Kopf langsam auf. Ein Schauer der Wollust durchrieselt sie von der Halfter bis zur Kruppe; sie fletschen ihre schwarzen Lefzen und atmen wild die schwere Luft ein.

»Ich fürchte, die Jahreszeit geht mir stark auf die Nerven«, vertraut Herr de Clergerie seinen Gästen allabendlich an, wenn die Lampen angezündet werden.

Er wünscht diese Stunde herbei und fürchtet sie doch, denn das Alter hat ihn von seinen einstigen nächtlichen Ängsten nie ganz geheilt. In einem einsamen Zimmer bei Mitternacht wird er wieder zu dem furchtsamen Kinde, das nach den geschlossenen Türen schielt, beim geringsten Geräusch zusammenfährt oder die Backe in das Kopfkissen drückt und dem Schlag der Schläfenader lauscht, die Verhärtung der Gewebe, eine Schwäche des Herzens, eine Verletzung mutmaßt. Bisweilen steht er auf, öffnet das Fenster, späht in den dunkeln Park hinaus, erhält seinen heißen, tierischen Atem mitten ins Gesicht. Eines Nachts hat er an einer Mauerecke, im Mondschein, den hohen, unbeweglichen Umriß des Abbé Cénabre gesehn, von seinem Schatten unmäßig verlängert. Vor Schreck hat er bis zum Morgen keinen Schlaf gefunden.

Übrigens ist seine Enttäuschung tief, bedroht tatsächlich seine Gesundheit. Sie hat verschiedene Ursachen, deren einige geheim, unmitteilbar blieben. In diesem Jahre ist er schon im Juni aus Paris entflohen, müder denn je, angeekelt durch seinen letzten Fehlschlag in der Akademie. Die halböffentliche Verkündung seiner bevorstehenden Heirat hat in den wohlgesinnten Salons schon ein leises Lachen erweckt, dessen Widerhall er vernommen hat. Das hat ihn erstarren lassen. Und doch hatte er schon seit Monaten in tiefstem Geheimnis seine Aussichten berechnet, die Vorteile und Gefahren abgewogen, sich im voraus auf die nötigen Demütigungen gefaßt gemacht, den Spott oder die üble Nachrede durch Geduld oder Totschweigen zu beschwören beschlossen. Und plötzlich hat er gemerkt, daß eine Gattin noch etwas anderes ist als eine wachsame Freundin, eine Verbündete. Je näher der Tag rückt, desto mehr entdeckt er auch die Persönlichkeit der Marquise de Montanel, ihr körperliches Dasein, und er küßt die kleine runde Hand mit den Grübchen nur noch gelangweilt und übersättigt.

Nie ist ihm sein Haus, an das ihn doch ängstliche Ehrfurcht und Gewohnheiten ketten, die stärker sind als die Liebe, weniger zur wahrhaften Sicherheit, zur Ruhe geschaffen erschienen. Die Vergangenheit lebt darin nicht mehr, aber sie scheint vollends zu verwesen. Der Geschichtsschreiber fühlt ihre dunkle Drohung. Man sieht ihn an den Wänden entlangstreichen; sein Gesicht ist von einem unsagbaren Ernst vorzeitig verwelkt. »Der Herr ist hier nicht mehr gelb, er ist grün«, klagt die Köchin Ferdinande. Besonders unerträglich schienen die ersten Tage zwischen den Koffern und Kisten, mit dem Geruch von schimmligem Baumwollstoff, unter dem Blick tückischer und mitleidiger Dienstboten. Umsonst ließ der Unglücksmann die Fenster öffnen. Der Wind mochte durch die Flure streichen, der Dachboden vom Knirschen des alten Gebälks widerhallen, die weitläufige Wohnung belebte sich schließlich doch, wurde wieder lebendig. In sich zusammengekauert, schien sie dem vorzeitigen Sommer, dem schon glühenden Himmel zu trotzen. »Ich vertausche einen Keller mit einem Backofen«, schrieb Herr de Clergerie an seinen Arzt La Pérouse, der seit zwanzig Jahren seine Angstzustände behandelt und den er schließlich überredet hat, schon im Juli nach Laigneville nachzukommen, um dort eine neue Behandlung der Angstneurose zu versuchen, von der der berühmte Psychiater seinen Kollegen alsbald erzählen will.

Denn seltsam, seit drei Monaten denkt Herr de Clergerie, wie von einer geheimnisvollen Vorahnung getrieben, nur noch daran, sein leeres Haus zu füllen. In seiner Hast, um jeden Preis alle wohlwollenden Freunde um sich zu versammeln, indem er sie begierig aufnimmt und sie am nächsten Tage wieder ziehen läßt, erinnert er an einen Sterbenden, der eine unsichtbare Gegenwart an sich zieht und an seine Brust drückt, um sich mit ihr zu bedecken. Diese ungewohnte Schrulle hat anfangs Lachen erregt, dann aber sind die Lacher verstummt. Die Welt versteht gern oder will sich doch vormachen, daß sie verstände. Die Gäsle aber, die nacheinander nach Laigneville kamen, haben das Gerücht verbreitet, daß dort nicht alles richtig sei. »Warum diese plötzliche Abreise, so kurz nach Pernichons Tode?« hat der alte Clodius Poupard in einem Flur der Akademie der Geisteswissenschaften gefragt. »Clergerie ist unangreifbar … Aber es ist falsch von ihm, Anlaß zu selbstsüchtigen Verleumdungen zugeben. Er scheint einen Skandal zu fürchten. Seine Tochter war nicht mal verlobt …«

Was langsam wie ein eisiger Novembernebel auf den Ärmsten herabsinkt wie das Vergessen auf einen Toten, ist die Langeweile … Er langweilt. Trotz aller seiner Sorgfalt, seiner großen persönlichen Zurückhaltung, seiner wunderbaren Geschicklichkeit wird es ihm nicht gelingen, die geschäftige Lüge seines Rufes bis zum Ende, bis zur Leichenfeier aufrechtzuerhalten.

Doch sein Leben birgt noch ein anderes Geheimnis, ein anderes Todesprinzip. Die seltsame Leere, in der sich die Arbeit so vieler Jahre mehr und mehr verliert, nimmt immerfort zu, und schon verschwindet der Boden unter seinen Füßen. »Chantal hat mich enttäuscht«, gesteht er dem Monsignore Espelette. »Ich habe von ihr was anderes erwartet. Ich verstehe sie nicht mehr.«

»Lieber Freund,« wendet der weise Prälat ein, »ich fürchte, seit dem Tode des guten Abbé Chevance sind Sie einer Art von fixer Idee zum Opfer gefallen. Was haben Sie denn von Fräulein Chantal erwartet? Was haben Sie dem heiligen Priester vorzuwerfen, dessen schlichte Einfalt für uns doch eine so große Lehre ist? Trotz harmloser Schrullen, die ich selbst ziemlich häufig bei den besten Schülern meines Seminars entdecke – wenigstens bei solchen von bescheidener Herkunft –, war er ein verständiger Mann, der die Vorsehung walten ließ. Gewiß, Verschwiegenheit ist nicht Feigheit. Und doch nehmen wir so viele Verantwortungen auf uns, deren Bürde sich Klügere zu ersparen wissen! Für mich ist es nicht zweifelhaft, daß Ihr Fräulein Tochter schon offenkundige Zeichen ihres religiösen Berufes gegeben hat. Gleichwohl hat Gott diesem jungen Herzen sein letztes Wort gewiß noch nicht gesagt.«

Doch Herr de Clergerie antwortete bitter, mit unbewußter Grausamkeit:

»Wir wollen uns nicht mit Redensarten abspeisen! Euer Gnaden wissen, daß ich stolz auf Chantal war! Noch im letzten Jahre sprach die Frau Oberin von Sankt-Gudula, die sie erzogen hat, mit mir über sie in Ausdrücken, die auch den anspruchsvollsten Vater mit Freude erfüllt hätten. Ja, dies Kind besaß eine Art übernatürliche Kraft für das Gute: ich habe gesehn, welchen Eindruck sie ernsten Männern gemacht hat, die nicht einer ersten unbedachten Regung nachzugeben pflegen und nur bewundern, wenn sie sicher sind. In dem kleinen Kreise der Baronin Mellac, die sie für kurze Zeit zu ihrem schönen Werk der »Sozialen Krippe« herangezogen hat, war jedermann von ihr entzückt: die Damen lauschten ihr wie einem Orakel! Offenbar sind mir gewisse Bedenken nicht so fremd, wie man meint; ich weiß, eine zarte Seele fürchtet die Lobsprüche. Ich hätte es gebilligt, wenn meine Tochter vor allzu nachsichtigen älteren Frauen zurücktrat und günstigere Umstände abwartete, um sich ganz zu offenbaren. Aber die Wahrheit liegt ganz woanders! Der Abbé Chevance scheint dem armen Mädchen die engste, alltägliche Lebensregel vorgeschrieben zu haben, die jeder beliebige Beichtvater einem Ferienkinde gibt. Ich hatte geglaubt, eine so starke Persönlichkeit würde diesen Rahmen schließlich sprengen. Keineswegs. Die liebe Kleine scheint sich dabei durchaus wohlzufühlen … Oh, der Blick eines Vaters täuscht sich darüber nicht! Sie erstickt darin. Gewisse Anzeichen beweisen es zur Genüge. Jawohl, in jeder ihrer Gebärden, selbst in ihrem Lachen, das mir fast unerträglich geworden ist, liegt etwas von einer gewollten Selbsttäuschung, einer unschuldigen Falschheit.«

»Gestatten Sie mir, in dieser übermäßigen Besorgnis etwas väterliche Selbstgefälligkeit zu sehn«, sagt der Bischof.

»Das glauben Sie alle!« protestiert de Clergerie bitter. »Wie kommt es dann aber, daß Sie mit mir dies Unbehagen, diese Unruhe teilen? Doch! Warum es ableugnen? Geben Sie lieber zu, welche eigentümliche Stellung ein anscheinend so schlichtes junges Mädchen hier in dieser Einsamkeit, im Kreise von Männern einnimmt, die das Leben kennen! Was verbirgt sie uns? Was verbirgt sie ihren besten, ihren einzigen Freunden? … Welche seltsamen Stunden stehn uns bevor?«

Doch der Bischof von Paumiers versichert, das sei nicht der Fall; offenbar sei eher La Pérouse die Ursache alles Übels.

»Ich fürchte, er gefährdet Ihre Gesundheit ernstlich, indem er zuviel Wert auf kleine Nervenanfälle legt, mit denen jedes geistige Leben bezahlt wird. Er soll selbst sehr leidend sein. Gott behüte mich, etwas auf mich zu nehmen, was vielleicht nur selbstsüchtiger Klatsch ist. Aber ich hörte ihn von ihr … verblüffende Seltsamkeiten erzählen.«

Er errötet, macht mit seiner schönen Hand eine Bewegung ins Leere, um diese unbedachten Worte auszulöschen. Einerlei, der nächste Abend wird ebenso sein wie der letzte, ebenso trübsinnig; die Fenster werden auf die Augustnacht geöffnet sein, die niemals schläft. Der verlassene Bridgetisch bleibt mit Büchern und Zeitungen bedeckt; die einzige elektrische Birne hebt nur einen schmalen Streifen aus dem Dunkel; ein Nachtfalter tanzt darin und verschwindet schwankenden Fluges mit seinen müden Flügeln. Seit vierzehn Tagen ist der Professor Abramowitsch nach Prag abgereist; vor dem nächsten Winter wird man ihn nicht mehr Sanskrit näseln hören, während er den Zeigefinger an sein fettes levantinisches Kinn hält. Der Bischof von Paumiers hat sich ein Zimmer im Hôtel du Sagittaire in Vichy bestellt und gedenkt bald seine jährliche Kur zu beginnen. Selbst La Pérouse will fort, um der Schlußsitzung des internationalen psychoanalytischen Kongresses in Bremen beizuwohnen. Und Herr de Clergerie denkt mit geheimem Schrecken daran, daß er Gefahr läuft, allein in Gesellschaft des Abbé Cénabre zu bleiben.

Der berühmte Verfasser von Taulers Leben, dessen Ansehn bei seinen Lesern nur noch zugenommen hat, führt nämlich auch seine besten Freunde vollends irre. Auch er vergräbt sich langsam in das Dunkel. In der Umgebung gewisser Ausnahmewesen, die für die großen einsamen Leidenschaften, für Ehrsucht und Geiz, die geheimsten Formen der Lüge geschaffen sind, wird die Luft rasch erstickend, sobald die starken Reserven an Lebenskraft verderben, die jeder von ihnen in sich trägt und die sie nur langsam verbrauchen können, wie der Zufall es fügt oder nach einem strengen Plane. Nun aber empfindet der Unglückliche, seit er sich selbst nichts mehr vormacht, seit er nicht täglich und stündlich sein eignes Bild wie in einem Zerrspiegel wieder herzustellen hat, seit die strenge Zucht seines Lebens ihren Zwang nur noch auf den äußeren Menschen ausübt, das Gefühl einer Leere, die auch die zähe, fast wahnsinnige Arbeit der letzten Wochen nicht völlig hat ausfüllen können. Er hat seinen Betrug nicht mehr zu nähren; der ist in ihm wie eine tote Frucht. Gewiß hat der letzte Band seiner Florentiner Mystiker durch strenge Konstruktion, größere Kraft, einen gewissen eigenwilligen Ton überrascht, der sich bisweilen bis zum Pathetischen steigert, dessen Geheimnis man umsonst zu ergründen sucht. Und doch hat die Arbeit den Abbé Cénabre nicht wie ehedem befreit, nicht einen Augenblick. Im Gegenteil, die Anstrengung hat seine Wunde bloßgelegt. Was er sich seitdem auch vormacht, er hat sich selbst das entscheidende Geständnis abgelegt: er vermag nicht mehr dies schreckliche Spiel zu spielen, nicht mehr die Wahrheit, seine eigne Wahrheit, abwechselnd zu fliehen oder sie in den Finsternissen seiner Seele zu suchen.

Die seltnen vertrauten Freunde, die ihm noch nahen dürfen, haben ihn anfangs bedauert; schließlich sind sie versucht, ihn zu hassen, so hart, konzentriert, unerträglich ist das Schweigen, das sich um einen solchen Mann niedersenkt. Übrigens hat er seinen Aufenthalt in Deutschland auf ein Vierteljahr ausgedehnt, dann seine Wohnung in der Rue de Seine aufgegeben, einen Teil seiner Bücher verkauft. Als er aus Karlsbad zurückkehrte, bemerkte jedermann, daß sein Gesicht abgemagert war. Die vorspringenden Knochen und Muskeln geben ihm ein seltsames Gepräge von roher, fast blinder Kraft. Vor allem die Stimme ist verändert. Sie ist rauh, kurz und leicht gereizt. Man flüstert sich zu, die Erschöpfung habe schließlich über seine starke Natur gesiegt, er habe eine ernste, wahrscheinlich tuberkulöse Kehlkopfentzündung. Und wie um diesen Auguren recht zu geben, hat er Paris verlassen, sich bei Draguignan ein Häuschen mit glasierten Ziegeln gekauft, das am Eingang eines Weilers von sechs Feuerstellen unter Palmen versteckt liegt. An den ersten schönen Lenztagen hat er sich auf die staubige Böschung in die volle Sonne gesetzt und ist erst bei Dunkelwerden heimgekehrt. Eine Alte hat ihm den Haushalt geführt und in einem Verschlage gewohnt. »Er und krank,« rief sie aus, »ei geht doch! Der arme, liebe Mann, ich habe ihn noch nicht mal husten gehört!« Die nächste Kirche liegt anderthalb Wegstunden entfernt; der Weg dorthin ist wenig bequem. Man hat ihn nie darin gesehn.

Aus diesem Weltwinkel ist er durch mehrere dringende Briefe de Clergeries nach der Normandie zurückgeholt worden. Der Geschichtsschreiber hat ihm seine bevorstehende Heirat eröffnet, und da er schon nicht mehr imstande ist, seine täglich offenere Wunde völlig zu verbergen, hat er sich über die geistige Einsamkeit beklagt, in der ihn in einem so ernsten Augenblick seine kindisch gewordene Mutter und seine Tochter ließe, die durch den Tod des Abbé Chevance gewissermaßen betäubt sei. Sehr geschickt hat er dann hinzugesetzt, das lange Fernbleiben des Abbé Cénabre gäbe den Übelwollenden ein leichtes Spiel; es sei nötig, wo nicht nach Paris zurückzukehren, so sich ihm doch zu nähern. Zudem stände ein heißer Sommer bevor, und kein Mensch würde begreifen, was er so lange im Süden triebe.

Acht Tage später kündigte der Abbé Cénabre seine bevorstehende Ankunft in Laigneville an. De Clergerie selbst war darüber erfreut; er hatte nicht auf einen so leichten Sieg gerechnet.

Ach! Beim ersten Blick, den er mit ihm austauschte, hatte er mit Bangen gefühlt, daß das Unternehmen umsonst sein werde: fast bedauerte er seine Unklugheit. Binnen wenigen Stunden hatte Cénabre selbst das unermüdliche Wohlwollen des Monsignore Espelette enttäuscht. Er verließ sein Zimmer nicht, blieb bei den Mahlzeiten stumm, befolgte eine strenge Diät, und da er über Schlaflosigkeit klagte, machte er jede Nacht einen Gang um den Rasenplatz, zur großen Wut des Psychiaters, den das Knirschen des Kieses um den Schlaf brachte. Aus dieser Stimmung war er nur erwacht, um Chantal begierig nach den letzten Augenblicken des Abbé Chevance zu fragen. Dann war er nach kurzer Debatte in sein Schweigen zurückgesunken, als wäre er enttäuscht.

Seitdem wagte Herr de Clergerie in seiner Gegenwart kaum von seiner Tochter zu sprechen. Ein seltsames Schamgefühl, das er selbst nicht näher hätte erklären können, hielt ihn davon ab. In diesem einsamen Hause, in diesem allzu leuchtenden, drückenden Sommer, im Kreise dieser aufmerksamen Männer klang Chantals sanfte, schlichte und klare Stimme, ihr Lachen, das man zufällig vernahm, fast grausam und gleichsam gekünstelt. Zudem waren die Bedenken des Geschichtsschreibers, die naiven Geständnisse, die er nach und nach allen seinen Gästen gemacht hatte, nicht geeignet, dies Unbehagen zu verscheuchen. Es nahm vielmehr ohne ihr Wissen zu, verstärkte sich nach und nach zu einer Vorahnung, einem Augurensinn. Das unsichtbare Netz schloß sich über der schönen Beute …

. . . . . . .

»Die große Hitze ist mein Verderben«, gestand Herr de Clergerie traurig.

Fast versunken in seinem Lehnstuhl aus schwarzem Plüsch, schwenkte er eine sterbende Hand hin und her. Mit der andern betupfte er seinen bloßen Schenkel wiederholt mit einem in Äther getauchten Wattebausch. Durch die geschlossenen Läden fiel ein heller Sonnenstrahl auf den Rücken La Pérouses, der mit priesterlicher Feierlichkeit die dünne Platinnadel abwischte. Eine widersinnige Schwermut lag auf den Dingen.

»Nicht wahr?« fragte der Geschichtsschreiber schon ungeduldig.

Der berühmte Psychiater wandte langsam sein dreieckiges Gesicht nach ihm um; die beiden Wangenknochen glühten darin in verdächtigem Glanze.

»Verderben, lieber Freund«, sagte er; »das ist ein zu grobes Wort. Ich vermute kaum ein leichte Infektion. Klagen Sie darüber nicht! Eine leichte Infektion immunisiert uns gegen schwerere; sie begünstigt die Bildung der so wertvollen Gegenkörper. Die Gesundheit ist nur ein Hirngespinst. Dies Wort führt in unsere Hypothesen den Begriff des Gleichgewichts, der Schönheit ein. Ich aber bin der Ansicht, daß ein Biologe, ein Arzt, der mit der Illusion einer Art von allgemeiner Harmonie arbeitet, stets nur Dummheiten machen wird. Denn das Leben hat weder Methode noch Grundsätze; es hat lediglich gemeine Widersetzlichkeit. Sehn Sie doch, was es verdirbt, um ein Nichts zu erreichen!«

Er erhob die Arme, öffnete und schloß die Hände, als ob er einen weichen, klebrigen Stoff knetete, während eine wütende Grimasse seinen schon leichtverzerrten Mund entstellte. De Clergerie lachte gezwungen.

»Nicht doch, nicht doch, lieber Freund und Meister … Wo so viele Unglückliche Sie segnen! Wozu sich stets verleumden? Welch bitterer Scherz!«

Doch La Pérouse fing wieder an, einen unsichtbaren Schlamm zu kneten.

»Ich bin keusch«, sagte er mit der gleichen sanften Stimme. »Ich bin keusch wie so viele Arbeitstiere, Balzac, Zola. Die Begierde vergiftet dem Durchschnitt der Menschen das Blut. Was wollen Sie? Man mag die Dinge so oder so nehmen, es ist doch stets nur ein Geflecht von Schmutzereien!«

Er hielt kurz inne, errötete und steckte die Hände plötzlich in die Taschen, offenbar um das leichte Zittern der Finger zu verbergen, das tragische Zeichen, das seinem Personal schon seit Monaten nicht entging.

»Ich sehe nicht ein … Nein, ich sehe nicht ein!« wiederholte de Clergerie in kläglichem Tonfall.

Dunkel empfand er den täglich zunehmenden, bereits unabwendbaren Verfall der starken, übersprudelnden Natur, unter deren Einfluß er so lange gestanden hatte. Aber noch hätte er nicht gewagt, den wohltätigen Zauberer, den Meister der Ängste und fixen Ideen, dem er seine Seele anvertraut hatte, offen zu verleugnen. Die schäumenden Paradoxien, die bald naiven, bald grimmigen Widersprüche, diese schmutzigen Schmähungen, selbst diese Schmerzensschreie – waren das nicht die verstreuten Trümmer von zehn Bänden tadelloser klinischer Beobachtungen und kühner Verallgemeinerungen, die einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Weisen gefesselt hatten? Das ganze Lebenswerk mit dem kostspieligen, trügerischen, bibliographischen Apparat, seinen Tafeln, schematischen Darstellungen und Statistiken war jedenfalls aus dem Brüten eines schüchternen, phantastischen Jünglings entstanden, der die Schrecknisse, die Lüste oder den Ekel der Pubertätszeit nicht hatte überwinden können. Elende Paradoxien, doppelt elend, seit der hinsterbende Wille sie nicht mehr für sich zu behalten vermochte und sie so, wie sie waren, der boshaften Neugier der Schüler und Nebenbuhler preisgab … Übrigens hätte wohl keiner der unbarmherzigen Kollegen, die sich lächelnd die letzten Reden des altersschwachen Meisters wiederholten, den bestimmten Punkt, die Schicksalsstunde anzugeben vermocht, wo die starke, aber kindliche Einbildungskraft in ihrem gesteigerten Rhythmus begonnen hatte, das Denken zu vergiften, statt es zu befruchten.

»Ach! … Sie sehn nicht ein?« rief La Pérouse im Tone tiefer Überraschung.

Er richtete den Oberkörper wieder auf, stützte die Arme noch immer auf die Stuhllehne, gab sich sichtlich Mühe, ruhig und gleichgültig zu bleiben, machte mit dem Kinn jene gebieterische Bewegung, die so viele Feiglinge wieder mit Hoffnung erfüllt hatte. In seinem starren Gesicht bewegte sich nichts mehr als ein Schatten auf der rechten Wange, das unmerkliche Zucken eines widerspenstigen Nervs, wie eine Furche im Wasser.

»Sie sind ein edles, enttäuschtes Herz!« protestierte de Clergerie verzweifelt.

»Nein … nein … erlauben Sie … Ich fasele«, versetzte La Pérouse nach langem Schweigen. »Ich fasele ganz gewiß … Das macht das Wetter. 785 Millimeter Druck, denken Sie doch!« fuhr er mit finsterem Ernst fort.

Und als wäre selbst der Klang seiner Stimme wie aus fremdem Munde nur langsam an sein Ohr gedrungen, lauschte er aufmerksam, fuhr leicht auf und erbleichte. Allmählich nahm sein Gesicht wieder den Ausdruck verträumter, verstörter Sanftmut an, der in seltsamem Gegensatze zu seiner etwas rohen Gesichtsbildung stand, den Vorsprüngen und Vertiefungen, selbst zu der Haut, die durch Sonne und Regen, die frische Luft und die Jahreszeiten rissig geworden war und deren verdächtige Schwellung, deren gedunsene Welkheit, die den Kranken seines Schlages eigentümlich ist, auf die Dauer erkennbar wird. Dann trat abermals Schweigen ein.

Herr de Clergerie hustete, spuckte und putzte, des Streites müde, sorgfältig seinen Kneifer.

»Ich bin so überrascht, so erstaunt«, sagte er. »Gerade heute Morgen wollte ich mit Ihnen von einer ernsten, sehr ernsten Angelegenheit reden … kurz, von einer von denen, die unsere Voreltern Familienangelegenheiten nannten. Sie sind ja nie gleichgültig.«

Er richtete seine unruhigen Augen verstohlen auf La Pérouse, schlug sie fast sofort wieder nieder und blickte auf den Teppich.

»Also … Ich mußte mich allmählich an den Gedanken einer neuen Ehe gewöhnen … Bisher habe ich mich übrigens sehr geschickt geschont … Ach, lieber Freund, Sie haben Recht! Wo der Wille fehlt, werden alle Erschütterungen durch eine gewisse Vorsicht, eine sorgfältige Aufmerksamkeit wunderbar gemildert. Man hält mich für viel erregbarer, wo ich doch immer mehr eine gewisse Sensibilität abstreife, deren Übermaß mir soviel geschadet hat … Denn ich bestrebe mich ja auf Ihren Rat hin, die für meine Ruhe gefährlichen Eindrücke durch Gebärden, Haltungen loszuwerden. Selbst meine Tochter täuscht sich darin … Es tut mir leid, sie zu beunruhigen … Warum runzeln Sie die Brauen?«

»Ich höre nicht gern, daß Sie von Ihrem Fräulein Tochter reden«, sagte La Pérouse einfach und begann, im Zimmer auf- und abzugehn. »Medizinisch weiß ich nichts von ihr und will nichts wissen. Nur hätte ich früher wegen gewisser erblicher Einflüsse gewünscht, daß Sie Bauer oder vielleicht Duriage konsultiert hätten … in der kritischen Zeit der Geschlechtsreife. Die Gelegenheit ist verpaßt. Reden wir nicht mehr davon.«

»Also Sie glauben … Sie fürchten … Sie können fürchten«, flehte Clergerie, bereits ganz verwirrt. »Was fürchten Sie?«

Er stammelte, stotterte, vermochte aber nicht zu schweigen, als hätte der merkwürdig aufmerksame Blick des Meisters ihm dies armselige Geständnis entlockt. Denn er war tatsächlich der einst geehrte Meister, der glückliche Nebenbuhler des alternden Charcot, der grobe, aber mächtige Erzwinger von Geheimnissen, der grausame Wiederaufrichter versagender Willenskräfte, der Hirt einer verstörten Herde, der ihn jetzt, den Kopf leicht auf die rechte Schulter geneigt, von einer erbarmungslosen, ungestillten, wütenden Neugier wie von einer ewigen Jugend verklärt, sanft aufforderte fortzufahren …

Aber noch ehe er geantwortet hatte, sagte La Pérouse über seine Schulter weg mit harter Stimme, – jener berühmten Stimme, deren gebieterischer Klang durch ihre Gewöhnlichkeit nicht entehrt ward:

»Reden wir offen wie stets. Sie straucheln über einen Strohhalm. In Wahrheit fürchten Sie etwas, ohne zu wissen, was, und es geschieht, daß dies dumpfe, unbestimmbare Unbehagen sich allmählich auf die Person Ihrer Tochter gerichtet hat, deren Meinung über Ihre Ehe Ihnen, wie Sie klagen, nicht bekannt ist, obwohl Sie, übrigens ganz willkürlich, annehmen, daß sie sie mißbilligt. Aber ist es nicht etwas anderes? Und ist es nicht gerade mein Beruf, dies andere durch die einfachste, allereinfachste Auslegung, ich will wohlgemerkt nicht mal sagen: durch die vernünftigste, in den kleinen Blickkreis emporzuheben? Ich will Ihnen nichts Schreckliches sagen; ich verlange nur Ehrlichkeit, kaltes Blut … Nun also, lieber Freund, Sie zweifeln an Ihrer Tochter. Das ist der Punkt, auf den man den Finger legen muß. Tut Ihnen das weh? Ich rede wohlgemerkt nicht mal als Arzt … Meine Bemerkung ist nur die irgend eines verständigen Zeugen.«

So schmerzhaft für den unglücklichen Clergerie ein zu roher Stich mit der Lanzette war, er empfand anfangs doch nur die köstliche Befreiung von der Scham, die dem Geständnis folgt, und in seiner Freude, endlich ein Geheimnis loszuwerden, das ein stärkerer Wille seinem Gewissen entriß, traten ihm Tränen in die Augen. Mit wahrer Inbrunst sprach er den Namen Chantal aus.

»An Chantal zweifeln? Nicht doch! … Wofür halten Sie sie übrigens?«

»Für sehr naiv«, entgegnete La Pérouse, der bereits auf den Ausgang des ungleichen Kampfes blickte und seinen Patienten mit gelangweilter Miene zerstreut beobachtete. »Es gibt auf Erden wenige Väter, die nicht eines Tages die gleiche Erfahrung gemacht haben. Man merkt stets zu spät, daß die Kinder ihr eignes Leben haben, das uns unzugänglich bleibt. Umsonst würden sie sich bemühen, uns darin einzuführen.«

»Nein, ich zweifle nicht an ihr«, wiederholte de Clergerie. »In keiner Weise. Die bloße Annahme ist unsinnig. Kaum könnte ich gestehn – oh, nur aus Gewissenhaftigkeit, aus völliger Aufrichtigkeit –, daß ich seit ein paar Wochen das dunkle Gefühl gewisser Verpflichtungen habe … vielleicht gewisser Pflichten, denen ich mich bisher entzogen habe … in gewissem Maße, unbewußt … Jawohl, vielleicht habe ich zu sehr auf die frühe Verständigkeit, die Erfahrung gebaut, auf den Sinn für Maßhalten … Vielleicht ist meine Tochter gegen die Lockungen, die Illusionen einer wunderbaren Hochherzigkeit weniger geschützt, als ich annahm.«

»Das sagte ich ja«, entgegnete La Pérouse ruhig. »Gewiß neigen Sie nicht allzusehr zu Argwohn. Man beginnt mit harmlosem Brüten, findet Geschmack daran und wird schließlich unmerklich zu einem richtigen Paranoiker. Das ist alltäglich.«

»Gestatten Sie, gestatten Sie …«, protestierte der Geschichtsschreiber schwach. »Auch ich habe Rechte, Pflichten … Ich vermag nicht völlig interesselos zu sein …«

»Lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen,« fuhr der Psychiater fort, »denn wir müssen zum Schlusse kommen. Sie haben weder in Ihrer Tochter noch früher in Ihrer Gattin das ergänzende Wesen gefunden, das jeder sucht, den bevorrechtigten Zeugen unseres Lebens, der gerade soweit unter uns steht, daß er unsern Stolz schont, dem gegenüber Nachsicht leicht und bequem ist, vor dem wir nie zu erröten haben. In Ihrem Alter aber haben die früheren Enttäuschungen und Demütigungen die Neigung, wieder an der Bewußtseinsschwelle aufzutauchen, wie jene chronischen Wunden, die bei jeder herbstlichen Tag- und Nachtgleiche eitern. Es wird immer klarer, daß das Bild Ihrer Tochter sich in Ihrem Denken über das Ihrer verstorbenen Gattin legt. Darin sehe ich eine Gefahr, eine ernste Gefahr. Man wird mit den Toten nie fertig, sie sind hartnäckig … Sie verstehn, daß ich scherze? Wir sind es, die die Toten auferwecken. Die Toten sind unsere alten Sünden. Na, etwas Mut! Suchen Sie mit dem demütigenden Gefühl der Überlegenheit eines andern keine List zu brauchen und Winkelzüge zu machen. Geben Sie vielmehr zu, daß es Ihr Verhalten bestimmt. Ihre Frau, Ihre Tochter waren niemals besser oder schlechter als Sie. Es fehlte Ihnen nur in gewissem Grade an dem poetischen Sinn, durch den wir unserm Handeln seine geistige Farbe geben. Doch Schluß damit … Vergessen Sie unsere kleinen Vereinbarungen nicht. Gewiß streite ich die Wohltaten der Beichte nicht ab, wie die katholische Kirche sie ihren Gläubigen bietet … Trotzdem wissen Sie, daß wir Psychiater eine ziemlich abweichende Auffassung haben … Wir suchen nicht nur das Bewußte, sondern auch das Unbewußte auszuleeren; die Operation ist schwieriger. Also nochmals: erschrecken Sie nicht, daß Sie Absichten, die Ihnen noch vor zehn Minuten unvornehm erschienen wären, grob, zynisch auszudrücken haben. Nur zu! Sie werden es mir deutlich nachsprechen, mit lauter Stimme, jede Silbe betonen …«

»Nein«, sagte de Clergerie, »und abermals nein! Ich verkenne Ihre Absichten nicht, lieber Freund, ebenso wenig Ihre Methoden. Sie waren mir nützlich, das gestehe ich. Es ist ein heroisches Mittel … heroisch … heroisch …«

Er wiederholte das Wort dreimal wie einen mächtigen Zauberspruch, stieß es mit letzter Kraft aus, seinem Henker ins Gesicht.

»Wie Sie wissen, weigere ich mich für gewöhnlich nicht …, derart … auf Ihren Rat hin … Gefühlen … bis zum Widersinn … bis zum Gehässigen … Gewalt anzutun … unfreiwilligen, unwillkürlichen Gefühlen, die zu beurteilen und aus nächster Nähe zu prüfen ein Ehrenmann sonst vermeidet. Doch ich meine, Ihre Wissenschaft – selbst Ihre Fürsorge … muß an der Schwelle … der heiligen Schwelle … kurz, an der Schwelle der Familie Halt machen. Nicht wahr? Bitte denken Sie nach …«

»Genug!« unterbrach La Pérouse sehr trocken, obwohl er dies lakonische Wort so aussprach, daß es nahe an den entscheidenden Eingriff eines groben, aber wohltätigen Chirurgen gemahnte. »Wir verlieren jedesmal Zeit. Reden Sie zu mir, wie Sie zu einer Wand reden würden. Was macht Ihnen das aus, wo wir doch moralisch nur für unser Bewußtsein verantwortlich sind! Das Unbewußte ist ja unkontrollierbar. Übrigens habe ich noch ganz andere Dinge gehört!«

»Sie … Sie laufen Gefahr, Mißbrauch zu treiben!« sagte de Clergerie flehentlich. »Tatsächlich, Sie treiben Mißbrauch … mit einer geistigen Depression … Meine Erschöpfung …«

»Ein ausgezeichnetes Symptom«, sagte La Pérouse fast lachend. »Ihr Unbehagen verrät, daß ich richtig geraten habe … Wir sind im Begriff, tiefe, verteufelt zusammenhängende Wurzeln zu lockern … Ach, lieber Freund, wir werden für unsere Mühe reichlich belohnt, wenn wir sie ausreißen, an den Tag bringen …«

Seine Lippen rundeten sich; begierig sog er die Luft zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen ein.

»Welch ein Alpdruck …« stöhnte de Clergerie. »Welche Grobheit! Wo wollen Sie hinaus? Wohin schleppen Sie mich?«

Vielleicht hörte La Pérouse das gar nicht. Übrigens drang die elende Klage wahrscheinlich nicht über den Wall von Büchern und weißen Blättern hinaus. Bisher hatte der berühmte Professor einen Sieg über sein hinfälliges Opfer noch nie so mißbraucht. Diesmal schien er für einen Augenblick jede Zurückhaltung, jede Kontrolle seiner gefährlichen Kurzweil zu verlieren.

»Doch, doch! Ich verstehe Ihren Abscheu!« sagte er. »Bitte keine Kindereien! Bleiben wir ruhig und ernst. Das geistige Leben ist auch Leben – das heißt ein tückisches, gemeines Manöver gegen die Reinheit, die Majestät des Todes. Vergebens träumt man von Kälte und reinem Weiß … Halt, noch besser, von der gestirnten unbefleckten Nacht, dem völligen, glatten, leeren, unfruchtbaren Schwarz … Ach, auch die Sternenräume sind geschwängert, das kalte Licht trägt den Keim von einem Himmel zum andern, wiegt ihn in dem wahnwitzigen Rhythmus von fünfhundert Milliarden Schwingungen in der Sekunde, ohne ihn zu töten. Weder Kälte noch Hitze werden der verworfenen Ausstrahlung des Lebens Herr; auch ein Gott vermöchte nicht alle Eiterherde mit einem Schlag auszubrennen … Der unschätzbare Wert, den ich darauf lege …«

Er schlug mit der Handfläche leicht gegen die Fensterscheibe und streichelte sie.

»Ich war im Begriff durchzugehn. Was kann Ihnen das ausmachen? Behalten Sie nur eins: die kleine Gewalttat, die ich Ihnen antun will, hat nur einen Zweck. Nichts ist schlimmer als eine fixe Idee, die das Wesen eines religiösen, moralischen Bedenkens annimmt. Ich beweise Ihnen, daß diese verdächtig ist, denn ich zwinge Sie, sie in meiner Gegenwart einzugestehn, um ein Gefühl der Enttäuschung, der Scham zu fixieren, wie der Photograph ein flüchtiges Bild auf der lichtempfindlichen Platte durch geeignete Bäder fixiert.«

Er ging durch das Zimmer, unterstrich jede Silbe mit einer energischen Bewegung des rechten Armes. Dann machte er kehrt und blieb plötzlich vor seinem seltsamen Patienten stehn. Clergeries Gesicht blickte glühend zwischen seinen gespreizten zehn Fingern hindurch. Tränen und Schweiß mischten sich darauf zu einer Art Schaum … Er weinte.

»Ich bin ein Narr«, stammelte er. »Ein Narr … Ein unglücklicher Narr … Erbliche Neurose … Angst vor dem Leiden … Gleichwohl … Diese scheußliche Komödie zu spielen … Der Verzicht … Der Verzicht auf meine Würde … Habe ich das Recht?«

Doch als der ungewöhnliche Psychiater das Wort Narr fallen hörte, warf er den Kopf mit wütender Schulterbewegung zurück.

»Narr? Wieso Narr? … Was soll dieser Scherz? Narr?« Seine Stirn und sein Nacken färbten sich sofort scharlachrot. »Ich nehme die größte Rücksicht auf meine Kranken. Immerhin darf ich nicht dulden, verstehn Sie? ich darf es in ihrem Interesse nicht dulden, daß sie die Achtung verlieren. Wo kämen wir hin? Bemerken Sie, daß ich nicht mal mehr das Mittel habe, Ihnen meine Hilfe zu entziehen, mein Herr. Nein, mein Herr! Ich kann Sie in dem Zustand, in dem Sie sind, mitten in der Behandlung, nicht irgendeinem meiner Kollegen überlassen, jetzt, wo wir erst beginnen, die Psychogenese Ihrer Neurose festzustellen. Dies berufliche Bedenken zu mißbrauchen, wäre feig, mein Herr, jawohl, feig … Durchaus!«

»Bitte … Bitte …« flehte Clergerie. »Sie haben mir doch stets die nötige Zeit gelassen … sehr höflich …, menschlich. Glauben Sie mir, ich sehe darin gewiß nur eine Art von Brauch ohne Bedeutung, einen sinnreichen Brauch … Kurz, eine bloße Förmlichkeit … Trotzdem …«

»Dann gehn Sie zum Teufel! Sie tragen allein die Verantwortung für die Folgen. Man gibt eine Kur wie diese nicht ungestraft auf, mitten in der Übertragungsperiode. Sie dürfen nicht vergessen, daß eine Neurose von der Art der Ihrigen den Kristallisationskern oder das Vorstadium einer richtigen Psychoneurose bilden kann. Es ist nicht so selten, daß ein Mensch mit Angstzuständen hysterisch und ein Hypochonder besessen wird.«

»Gestatten Sie, lieber Freund … Sie werden mir nicht einreden, daß der geringste Widerstand gegen einen Ihrer Ratschläge notwendig so schwere Folgen hat. Ich fürchte, Sie haben diese unbestimmten Besorgnisse, die wohl alle Familienväter kennen, zu tragisch genommen … Vielleicht habe ich unvorsichtige Worte geäußert … Sie erhitzen den Streit furchtbar …« schloß er mit schmerzlichem Lächeln.

La Pérouse hatte seine Hände hastig hinter dem Rücken versteckt und schrie:

»Sie haben mich doch nach meiner Ansicht über den besonderen Fall Ihrer Fräulein Tochter gefragt.«

»Gewiß … Ich nehme nichts zurück.«

»Nun also, da sind wir uns einig. Ich will Sie ja nur aufklären. Ich will mit äußerster Vorsicht zu Werke gehn, schlage keine Behandlung vor. Was soll man auch behandeln? Das junge Mädchen scheint normal, durchaus normal. Sehr fromm, sagen Sie. Und weiter? Ich habe hier nicht die Versetzung ins Religiöse wie bei anderen Fällen von Sublimierung zu unterscheiden … Wir halten den Versetzten nicht für einen Neuropathen, sondern für einen Geist in labilem Zustand. Es ist nur unerläßlich, daß wir übereinstimmend handeln … Warum soll ich Ihnen nicht gestehn, daß dieser Fall mich interessiert? Ich habe den Abbé Chevance nur um Haaresbreite verfehlt. Frau d'Arpenans wollte dafür sorgen, daß ich ihn bei Ihrem Freunde Tissier träfe. Er war damals – wie nennen Sie es doch? Aushilfspriester, Pfarrgehilfe, einerlei, in Notre-Dame des Victoires. Mein Kollege Dubois-Danjoux behauptet, an seinem Beichtstuhl hätten sich alle hysterischen Köchinnen eingefunden. Daher sein Name Beichtvater der Dienstmädchen, den ich bis dahin nicht verstand … Übrigens ein erlesener Geisteskranker, eine Art Heiliger …«

»Ich beklage seinen Tod«, sagte de Clergerie feierlich. In dem Maße, wie die Aufmerksamkeit seines wohltätigen Henkers sich von ihm abzuwenden schien, schöpfte er wieder Mut. »Ich habe selbst gehört, wie er vor zahlreichen Zuhörern über den Mangel an Verschwiegenheit bei seinen Beichtkindern klagte.«

»Wirklich? Sind Sie sicher?« entgegnete La Pérouse mit ungemeinem Interesse.

Sofort erlosch das Feuer seines Blickes. Er begann sacht den Kopf zu wiegen und fletschte seltsam die Lippen, so daß nicht nur die Zähne, sondern auch das Zahnfleisch sichtbar wurde.

»Man wirft mir bisweilen groben, rohen Materialismus vor. Welche Torheit! Ich habe mein Leben damit verbracht, reine Quellen zu suchen, mir scheint, ich wittere sie in der Welt, in den Menschen … Was können wir von unsern Kranken erfahren, frage ich Sie? Fast nichts. Alle unsere Ergebnisse sind gefälscht. In neun Fällen von zehn ist das Simulieren offenbar, ohne daß man durch die eingehendsten Fragen die Lüge einzukreisen vermöchte.«

»Lieber und großer Freund,« entgegnete der Geschichtsschreiber, indem er – vielleicht unbewußt – seinen Ernst, seine Gewichtigkeit verdoppelte, »ich bin kein untadelhafter Vater, aber ich glaube wenigstens kein blinder Vater zu sein. So ungerecht, so grausam Sie auch meine bescheidenen Absichten angeklagt haben, ich danke Ihnen dafür. Der Kampf mit mir selbst, den ich seit Wochen führe, muß ein Ende haben. Ich brachte meinen Verstand, meine Gesundheit, das Brot unserer Familie, meine Aussicht auf eine baldige Heirat in Gefahr. Kurz, ich war im Begriff, die gleichen Fehler zu begehn, durch die meine erste Ehe so unglücklich geworden ist. Ich trete Ihnen gern einen Teil meiner Vaterrechte ab. Merken Sie sich nur, daß meine Tochter die Aufrichtigkeit selbst ist. Sie werden, wenn ich dies unkorrekte Bild gebrauchen darf, dem zartesten, feinsten Gewissen gegenüberstehn … Oh, gewiß, ich bewundere Ihren Respekt vor der religiösen Tatsache. Für so gläubig ich mich auch zu meiner Ehre halte, ich unterschätze doch nicht die Dienste, die Gelehrte wie Sie einem modernisierten, fortschrittlichen Katholizismus leisten. Heute hat die Psychoanalyse, eine vernünftig gewordene Psychoanalyse, gestern der Pragmatismus von James, der Irrationalismus Bergsons, und warum nicht gar selbst Renouvier? … kurz, ein gewisser Idealismus hat alle Glaubensmeinungen zusammengeführt. Aber man ist nie schonend genug gegen eine allzu zarte Sensibilität … Sie sind Psychiater. Es geschieht, daß Sie einen Kollegen, einen Spezialisten, über die Brust, das Herz, die Nieren um Rat fragen … Nun wohl, ich hatte unsern hervorragenden Freund Cénabre gebeten, seinerseits mit seinen Mitteln eine kleine Untersuchung anzustellen … Meine Seelenruhe wäre vollkommen, wenn Sie einwilligten … seine Erfahrung … zu Rate zu ziehen. Er ist einer der Meister des geistigen Lebens. Andrerseits seine Ehrlichkeit als Gelehrter …«

La Pérouses Stirn und Nacken färbten sich abermals, so plötzlich wie das erste Mal.

»Ihr Cénabre,« stammelte er, »Ihr Cénabre! … Aber was erzählen Sie mir da? Cénabre! Ich soll in meiner Stellung, in meinem Alter …«

Er dachte nicht mehr daran, seine Hände zu verstecken. Sie zitterten vor der Nase de Clergeries, der durch den Ausbruch dieser unbegreiflichen Wut entsetzt war.

»Mein Cénabre! Sehn Sie mal, großer Freund … Selbst die Persönlichkeit des Abbé Cénabre …«

»Ich bin nie darauf eingegangen, die Verantwortung für eine Behandlung mit irgendwem zu teilen«, sagte der Psychiater anscheinend etwas ruhiger, obwohl er mit eintöniger, unerträglicher Stimme sprach. »Begreifen Sie diese Regung schlechter Laune. Sie haben mir Ihre Tochter anvertraut. Sie ist mir fortan heilig. Jawohl, Herr, niemand soll diesem jungen Mädchen ohne meine Erlaubnis, ohne meine Aufsicht ein Haar krümmen. Hier geht es um meinen Ruf, mein Herr … Cénabre, der …«

Er schritt nach der Tür, aber schon bedeckte sie der unglückliche Clergerie mit seinem Körper.

»Bitte!« flehte er, »man kann uns hören … Wie konnte ich ahnen? Was ist denn los? Kurz, Sie werden es mir später erklären … Die Herren sind zwei Schritt von uns in der Bibliothek … Bedenken Sie doch? Hinter dieser Papierwand!« sagte er und stieß mit dem Ellbogen verzweifelt gegen die Wand.

»Ich werfe ihm ja nichts vor«, fuhr La Pérouse fort, ohne leiser zu sprechen. »Sie scheinen nicht zu wissen, was für eine heikle, intime, höchst intime Sache diese Art von Untersuchung ist, die ich bei jedem neuen Kranken vornehme … Das geringste Versehn in der Methode kann uns in den Aberwitz oder ins Gehässige stürzen. Um das feine, dünne, zarte Geflecht der Komplexe zu verfolgen, Stück für Stück die Systeme sinnreicher Ersatzmittel für die sinnlichen Tendenzen zu zergliedern, den unmerklichen Endpunkt, die Zäsur einer zu späten oder zu frühen Entwicklung zu finden – wieviel Kaltblütigkeit ist dazu nötig, wieviel Reinheit der Absicht, wieviel Lauterkeit! Ja, wieviel Reinheit! Man müßte den Geist beider Geschlechter zugleich haben, die Stärke des einen, die Schamhaftigkeit und das Zartgefühl des andern, müßte sozusagen zweigeschlechtlich sein – mein Traum! Und da schlagen Sie mir das Zusammenarbeiten mit einem Manne vor, was sage ich, die Beaufsichtigung durch ihn, der die Männlichkeit aus allen Poren ausschwitzt …«

Er erbleichte vor Ekel.

»Ich beschwöre Sie …«, begann Clergerie.

Überraschung und Zorn, aber auch die Todesangst, daß sie gehört würden, gab seinem demütigen, sonst so scheuen Blick eine unangenehme Starrheit. La Pérouse lachte laut auf.

»Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Arbeitsam, sittenstreng … ja, ja! Sittenstreng ist leicht gesagt! Aber es kommt darauf an, die Sittenstrenge nicht mit einer der Formen der Schwermut zu verwechseln, die wir alle kennen –, dem Vorgefühl der Rückenmarklähmung, mein Lieber. Haha!«

»Ich beschwöre Sie, werden Sie wieder kaltblütig … La Pérouse, wie können Sie es wagen, derart von einem Meister zu reden … einem vorbildlichen Meister … dessen Privatleben über jeden Verdacht erhaben ist. Doch! Hören Sie mich an … Noch ein Wort! Ich glaube, ich muß Ihnen wiederholen … Aber zum Teufel, wohin gehn Sie! Was haben Sie vor? … Das ist ja eine richtige Herausfor…«

Der Rest verlor sich in wirrem Gemurmel, denn der Psychiater hatte eben die Tür geschlossen. Sein letztes Bild war das eines Mannes, der vor Verblüffung so sprachlos war, daß er in dem Wirrwarr seiner Gedanken das unbestimmte Gefühl hatte, etwas Falsches getan zu haben, jenes Kneifen im Zwerchfell, das den Zerstreuten eigentümlich ist, wenn die kaum wahrgenommene Gegenwart eines andern sich ihrem Traume schon aufdrängt. Aber das System halb wahnsinniger Bilder, das die Wut und Enttäuschung vor einem Augenblick hervorgerufen hatte, blieb so zusammenhängend, daß es wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde selbst über das Zeugnis der Sinne siegte. An dieser fast unmerklichen Verspätung, diesem Zerbrechen des inneren Rhythmus hätte man zweifellos den Fortschritt seines Wahnsinns messen können, denn lange bevor das schließlich versteinerte Denken für immer zu einer ungeheuerlichen, wahrhaft mineralischen Unbeweglichkeit erstarrt, die einen so grausamen Kontrast zu der zwecklosen Bewegung der Glieder bildet, werden die Bilder seltsam klebrig, ballen sich zusammen, verlassen schließlich das Feld des Bewußtseins nicht mehr, hinterlassen darin eine glänzende Spur. Und doch ging La Pérouses Gebärde auch diesmal dem Denken voraus, so daß sein Benehmen tatsächlich das eines unbesonnenen Menschen war, der sich in der Tür geirrt hat und sich im Halbdunkel einer Bibliothek mit geschlossenen Fensterläden wiederfindet, wo er doch in einen Garten zu treten glaubte. Nur seine Stimme hätte ihn vielleicht verraten.

 

»Ich bitte Sie um Entschuldigung«, sagte er. »Wo hatte ich nur meinen Kopf?«

»Auf Ihren Schultern, Herr Professor«, entgegnete der Abbé Cénabre. »Gestatten Sie mir einen harmlosen Scherz. Wenn man einigen Untergebenen des Statthalters Pescennius Glauben schenkt, hätte der erste Bischof von Paris nebst seinen Gefährten Rusticus und Eleutherius das nicht von sich sagen können.« Man hörte das einzige Gelächter, das Lagarrigue mit dem Rollen der kleinen sudanesischen Korktrommel vergleicht und das in einem Zuge aus dieser tiefen Brust heraufzudringen schien.

Aber La Pérouse war nicht der Mann, um das Feld zu räumen. Er besaß mehr als die Kaltblütigkeit des Höflings, den nichts in Verlegenheit setzt: die unerschütterliche Grobheit des Herrn über so viele schmähliche oder klägliche Geheimnisse. Er war es gewöhnt, mit ein paar erbarmungslosen Worten wie mit Widderstößen gegen Seelen anzurennen, die sich im voraus ergeben haben und die zu schonen gefährlich wäre.

»Ich spreche zu laut und zu deutlich,« sagte er mit wilder Offenherzigkeit, »und es war unrecht von Ihnen zu lauschen. Über das Thema gewisser Erscheinungen von besonderer Art ist ein Priester stets etwas zurückhaltend. Die alte empirische Moral hielt den übergeschlechtlichen Menschen fälschlich für gefährlich, für den Menschen der Unordnung. Man sollte sich doch entsinnen, daß alle Revolutionen von Eunuchen gemacht worden sind; Rousseau, Robespierre, Cromwell waren Erzphlegmatiker.«

Der Abbé Cénabre legte sein Buch ohne Hast aus der Hand, und bei der Bewegung des Aufstehns blieb sein Kopf nebst den Schultern im Schatten. Ein dünner Sonnenstrahl spielte auf seiner armseligen Uhrkette.

»Ich errate, daß Sie ein Mißverständnis vermeiden möchten, das infolge übermäßiger Offenherzigkeit möglich ist«, sagte er. »Aber ich verstehe kein Sterbenswörtchen von dem, was ich eben gehört habe. Was habe ich mit Rousseau, Robespierre oder Cromwell zu tun? Das sind Reden von Medizinern. Beruhigen Sie sich übrigens: es ist unmöglich, hier ein Gespräch von einem Zimmer zum andern zu hören. Ein Versuch wird Sie leicht davon überzeugen.«

Er setzte sich gemächlich wieder hin. Das Licht spielte jetzt um sein dichtes, kaum ergrautes Haar. Sein aufmerksamer Blick leuchtete darüber. Seine unerbittliche Schwermut fiel La Pérouse auf. Eine freche Antwort, die er geben wollte, erstarrte auf seinen Lippen. Er zuckte nur mit den Achseln, machte eine Gebärde des Zweifels oder der Ohnmacht und kehrte in das Arbeitszimmer zurück, das er durchschritt, ohne den Kopf zu wenden. Hinter seinem Wall großer Bücher blickte Clergerie nur mit schmerzlichem Lächeln zu der Tür auf, die sich allzu rasch schloß.

. . . . . . .

Der Tag glitt vom Zenith herab, rann in breiten schrägen Streifen an den hohen weißen Steinen entlang, sprühte an den vier Ecken der Rasenplätze in buntfarbigen Garben wieder auf – gelb und purpurn bei den Dahlien, rosa und weiß bei den Nelken, – und verrann schließlich im dunkeln Grün der Einfassungen. Doch das war gleichsam nur das Hauptmotiv der Symphonie, das in das dichte Gespinst des Orchesters eingewoben war. Die weite Lichtfläche war schon in der Luft an irgendeinem durchsichtigen Riff zerschellt, und der unsichtbare Wind blies ihren Schaum wie zum Spiel bis zu den unzugänglichsten Stellen, auf die Höhlung einer verschatteten Böschung, auf das letzte Blatt eines Fliederbusches oder auf die äußerste Spitze einer schwarzen Fichte. Es war weniger das große, allgemeine Zerbersten des Tageslichts, als das tückische Feuerfangen eines dürren Unterholzes, wenn die plötzliche Flammenwelle wie eine winzige feurige Zunge von Zweig zu Zweig läuft. Denn in manchen Stunden eines allzu drückenden Sommers öffnet und weitet sich die Natur nicht unter der leuchtenden Liebkosung, sondern scheint sich stumm und scheu in sich selbst zurückzuziehn, in die Regungslosigkeit, die stumpfe Ergebung einer Beute, die gefühlt hat, daß die Kinnladen des Siegers sich in ihre Weiche, in den Sitz des Lebens eingebohrt haben. Und fürwahr, an einen Biß, an Milliarden und Milliarden kleiner beharrlicher Bisse, an ein riesiges Zermalmen gemahnte der trockne Regen, der vom trüben Himmel gefallen war, die Flut weißglühender Stacheln, das unzählige Saugen des Gestirns.

Fjodor, mit Ledergamaschen an seinen langen Beinen, die Ärmel bis zur Schulter hochgekrempelt, wusch seinen Wagen. Er wandte sich nicht mal um. »Vorsicht, Lieber«, zischte er zwischen den Zähnen. »Der Idiot ist an der Pumpe«.

Er wich zwei Schritte zurück, griff nach dem Eimer, schwenkte ihn gemächlich ohne Anstrengung, als wäre er ein leichtes Heubündel.

»Vorsicht da!« rief er, seine weißen Zähne zeigend. Das Wasser klatschte zehn Meter weiter gegen die Mauer. »Welcher Idiot?« fragte La Pérouse. »Welche Pumpe?«

»Sie sind ein Kind! Es war ein Scherz … Ich kann es nicht ausstehn, daß man so überraschend ankommt, so unversehens. Weiter nichts.«

Er warf den Eimer hinter sich auf einen Haufen fettiger Lappen und nahm seinen Rock von der Mauer ab.

»Schöne Schweinerei, was?« sagte er. »Freund, das erinnert mich an meine Jugend. Auch Großmutters Haus hatte keine Fenster, nur eine breite, benagelte, starke Tür, die gegen Axt und Kugel stand hielt, mit einer Vertiefung für das Ikon. Doch nach Vaters Tode, denk mal, zerbrach sie das Ikon und spie darauf, die alte Jüdin! Und am Boden gleichfalls Lumpen – was für Lumpen! Fünf-, zehn-, zwanzigtausend Rubel an Lumpen, was weiß ich? … Wurmzerfressene Lappen, ganz steif von Talg, verfaulte Wäsche, und daran, Freund, hättest du reiche türkische oder persische Besätze sehn können, schöne, kaum beschmutzte Stickereien aus dem Kaukasus, unschätzbare Dalmatiken, hohe byzantinische Tiaren aus Goldbrokat … Tag und Nacht saß und hockte sie auf diesen Schätzen wie eine alte Henne, und mit wunderbarer Fingerfertigkeit zerrupfte sie mit ihren schwarzen Händen im Nu die bitteren gesalzenen Fischchen und schob sie nacheinander mit dem Daumen in meinen Mund.

»Ich möchte schwören, es ist kein Wort von dem wahr, was du mir da erzählst«, bemerkte La Pérouse. Einerlei … Ich habe dir zwei, drei Fragen zu stellen.«

»Kein Wort wahr?« wiederholte der Russe frech. »Aber wo hab' ich denn meinen Geist? Hier Edelmann, da Jude, gestern Kosakenfürst, Gouverneur eines Distrikts, General, morgen was anderes: selbst eine Popenfrau verlöre den Faden so vieler Lügen … Denk an den Tag, Väterchen, wo die gute Dame Artiguenave dich kommen ließ: sie glaubte, ich wollte mich umbringen. »Retten Sie ihn, Doktor, berühmter Meister, Herr Professor … Ich gestehe, er ist mein Liebhaber. Ich gäbe mein halbes Vermögen her, um ihn zu retten. Heilen Sie ihn! Er soll ehrlich mit Ihnen reden, es muß sein. Wenn er lügt, ist es nicht seine Schuld, er hat die Selbstachtung verloren! …« Wahrhaftig, die hatte ich verloren.«

Er zog eine Zigarette aus der Tasche, brach sie auf, blies das leichte Blatt fort, rollte den goldgelben Tabak zwischen seinen Handflächen und schob ihn mit den Fingerspitzen sorgfältig unter seine Zunge. »Jetzt höre ich dir zu«, fuhr er nach einer Pause fort. »Was willst du denn wieder von mir?«

La Pérouse machte mit dem Nacken und den Schultern eine jähe Bewegung, die seinen Zorn oder seine Verlegenheit verriet, und in einem Tone, als wollte er ein eigensinniges Kind zur Vernunft bringen, begann er:

»Was habt ihr denn alle, du und die andern? Dies Mädchen macht euch verrückt, mein Wort darauf. Sie war doch niemandem aufgefallen, spielte keine größere Rolle als ein Hund oder ein Kanarienvogel … Und jetzt wird dies kleine Pensionsmädchen, das alles in allem vielleicht an nichts weiter denkt, als ihren Gänseweißsauer und ihre Pasteten nicht zu verpfuschen, von fünf Narren mit komischer Angst beobachtet. Sie lauschen auf jedes Wort von ihr, erspähen ihre Gebärden … Offen gesagt, sie scheinen Angst vor ihr zu haben …«

»Ich für mein Teil pfeife darauf«, unterbrach Fjodor.

»Das sagt man so«, bemerkte La Pérouse … »Bah, ich kenne meine Schwäche. Ich habe stets das Ohr gespannt, wenn Schwätzer ihre Geschichten erzählten. Ich liebe den Klatsch ungemein! Und du bist pfiffig, scharfsinnig, der reine Fuchs … Einerlei! Es ist besser, wir lassen die Sache auf sich beruhen. Wunderliche Frauenzimmer gibts überall; die Sorte ist nicht rar. Übrigens, unter uns: was du mir da erzählt hast, ist merkwürdig, sehr merkwürdig, aber was wirklich Neues kommt für mich dabei nicht heraus.«

»Und ich wiederhole, ich pfeife darauf«, sagte der Chauffeur. »Ich habe seltsame, unglaubliche Dinge gesehn, das genügt … Warum sollten sie neu sein? … Jetzt antworten Sie mir. Kriege ich heute das Pulver, ja oder nein?«

»Ihr seid einer wie der andere«, erklärte La Pérouse unerschütterlich. »Du mußt Vorrat haben, ein richtiges Lager. Danach verschleuderst du das Mittel, teilst es dir mit Kumpanen … Dumme Jungenstreiche … Sag mal, willst du fünf Gramm?«

»Das ist zu viel«, sagte der Russe leichtfertig. »Zwei Gramm genügen, danke. So, nun ist meine Arbeit getan.«

So rasch auch sein Blick war, es gelang ihm nicht, dem schärferen Blick des alten Meisters auszuweichen, und er ließ sich sein Geheimnis entschlüpfen. »Jetzt hab' ich dich, mein Junge«, sagte La Pérouse mit seinem furchtbaren Kinderlächeln. »Zwei Gramm genügen in der Tat. Hältst du mich für so dumm? Ich bin der gleichen Meinung wie die gute Dame Artiguenave; ich glaube, du willst dich umbringen. Reg dich nicht auf: Du hast zu viel gesagt, aber von allen Besessenheiten kommt man der des Selbstmords am leichtesten auf die Spur … Du verfällst auf Weiberlisten, auf Listen von Wilden, aber jede Muskel macht uns ihre Geständnisse ohne dein Wissen und Wollen. Ja, du wiederholst die Gebärde hundertmal am Tage, man kann sich darin nicht täuschen … Man müßte ja blind sein.«

»Vieh!« murmelte Fjodor zwischen den Zähnen.

»Übrigens glaube ich nicht sehr an den Selbstmord von Leuten wie du«, fuhr der Arzt in väterlichem Tone fort. »Ihr seid zu gescheit, zu neugierig. Das kleinste Hindernis hält euch auf, hindert euch so lange wie nötig; das krankhafte Bild wird nicht bestimmt genug … Sonst wärst du schon seit zwei Jahren tot. Was du uns damals vorführtest, mein Junge, das waren schöne Anfälle! Geh, du bist zu lasterhaft, um dich umzubringen!«

Doch Fjodor hatte seine Ruhe wieder gefunden.

»Reden wir von ernsten Dingen«, sagte er. »Wissen Sie, Freund, warum ich hier bin, in dieser Stunde? Der dicke Schwamm, die blaue Leinenhose, die Eimer, das ist nichts, das ist Schwindel; ich habe den Wagen schon gestern gewaschen … Aber ich werde sie im nächsten Moment vorbeigehen sehn, wenn sie aus der Messe kommt … Schon Freitag … Denke dir: ich fahre wie ein Teufel aus der Garage. Mir ist, als stürzte ich wieder in den Fluß, wie einst mit dem Pferde von der Brücke in Grodno – betrunken. Die Luft pfeift in meinen Nasenlöchern, ich verliere die Puste … Wer beschützt sie? Woher kommt es, daß ich jetzt solche Anstrengung machen muß, die Zähne zusammenbeißen, um sie anzureden, mit ihr zu sprechen? Sie wirft mir einen Blick zu, voller Schrecken, Verachtung, Mitleid, was soll ich sagen? … Da übermannt mich die Schande, Bruder; sie rinnt durch meine Adern, erfrischt und entspannt alle Wurzeln meines Wesens. Was liegt daran, ob dergleichen neu ist oder nicht? Für mich ist es neu. Das einzig wirklich Neue, was ich je gesehn habe.«

»Genug, genug«, sagte La Pérouse roh. »Laß das, Fjodor, nicht wahr? Es gibt hier kein Wunder, verstehst du, kein anderes Wunder als die Einbildungen eines Russen, dessen Hirn von Äther gefroren ist … Übrigens beunruhigt sich der Vater schon, die Dienstboten schwatzen. Franziska hat sich neulich mit Morphium sehn lassen, das sie dir verdankte; ich mußte sie zu Bette schicken. Sie sah zum Erschrecken aus. Ein hübsches Schauspiel, dreihundert Kilometer von Paris, mitten in bukolischer Staffage. Du mußt überall Brand stiften, das ist deine Natur. Du bist vom Schlage der Leute, die mit Zündhölzern spielen … Doch ich verbiete dir, von dem jungen Mädchen zu reden. Ob krank oder nicht, sie ist mir anvertraut. Ich werde sie selbst ausfragen, wenn der Fall mich fesselt. Es hat keinen Zweck mehr, sie durch die Schlüssellöcher zu beobachten … Warum siehst du mich so an?«

»Ich sehe Sie allerdings an«, sagte der Chauffeur. »Ich sehe Sie mit Vergnügen an.« Er war wie eine Katze auf einen Haufen von Benzinkästen geklettert, stemmte die Ellbogen auf die Knie und stützte das Knie in die hohlen Handflächen, indes sein Blick bald zu erlöschen, bald aufzuflammen schien. »Früher, wenn wir zusammen die Nacht bei dem armen kleinen Fürsten Wassilow verbracht hatten, Kuprin, Dorolenko und dieser Autobusfahrer Alexis … Alexis Semjonow – in seinem langen, von Drecoll entworfenen Schlafrock und mit Tuberosen und Lilien in seinem schon grauen Haar – verließ ich die Werkstatt von Renault, um Sie am nächsten Morgen im großen Amphitheater der Schule unter den Lehrern zu hören. Es machte mir Freude, Sie besser als jeden von ihnen zu kennen, denn geliebt habe ich Sie niemals. Nein, geliebt habe ich Sie niemals. Gehören Sie zu den Unsern oder nicht? Das weiß niemand. Vielleicht haben Sie in uns immer nur Tiere gesehn, an deren Spielen Sie teilnahmen. Die Neugier des Gelehrten ist so seltsam, so kindlich … Vielleicht verstehn Sie auch nur Tiere unseres Schlages anzulügen.«

Er spie seine Zigarette in goldgelbem Strahl dem Arzt vor die Füße.

»Mein Lieber,« fuhr er mit verächtlicher Miene fort, »ich will Sie keineswegs kränken. Erlauben Sie mir trotzdem, noch eins zu sagen. Ehe Sie sich mit mir, mit meinem Selbstmord befassen, sollten Sie auf das hören, was hier oder dort über Sie geredet wird, selbst in der Küche … Gestern hat Franz, dieser Idiot, vor uns Ihre Stimme, Ihre Gebärden nachgeahmt. Anscheinend zerbrechen Sie jedes Glas, das Sie in die Hand nehmen; Ihre Finger zittern. Pfui, und da rühmen Sie sich, ungestraft unter Verrückten zu wandeln, sie zu klassifizieren, für jeden einen Platz in der Vitrine zu finden, mit Zettel und Nummer. Pfui, Pfui! Der Bär freut sich, wenn der Jäger in seinen eignen Jagdspieß fällt, sagt unser alter Puschkin. Haha! …«

»Du redest wie ein Tor, Fjodor«, entgegnete La Pérouse ohne das geringste Beben seines bleichen Gesichts. »Ich lache über das Geschwätz.«

Er atmete geräuschvoll, preßte die Lippen zusammen.

»Sieh her, ob meine Finger zittern, du Tropf!«

Er hielt dem Russen seine breite Hand unter die Nase und ließ langsam die Finger spielen.

»Na, zittert sie, Schafskopf?«

Beide platzten laut heraus.

»Möglich«, brummte Fjodor, der von seinem Sitz herabgestiegen war. »Strengen Sie sich nicht an, mein Lieber … Sie sind bleich. Du bist bleich«, sagte er halblaut. »Sieh dich vor. Laß eine Heilige Gottes in Frieden, die von Engeln besucht wird. Wozu? Sie hat mich unglücklich gemacht …«

»In Frieden?« wiederholte La Pérouse. »Weil ich dich fälschlich ein- oder zweimal gefragt habe, hältst du dich für kostbar, für unentbehrlich. Armer Tropf! Angenommen selbst, du hättest wirklich gesehn, was du mir erzählt hast, so habe ich beobachtet und beobachte täglich andere Erscheinungen, die ganz anders merkwürdig sind als deine Narrenspossen. Doch ein Exaltierter wie du reicht hin, um ein ganzes Haus auf den Kopf zu stellen. Ich werde schließlich ein ernstes Wort mit Herrn de Clergerie reden. Und zunächst, warum hast du mir abgeschlagen, in die Klinik von Devambèze einzutreten? Hier ist nicht dein Platz.«

»Rede, soviel du willst«, brummte der Russe zwischen seinen langen Zähnen, unverschämter denn je. »Ich habe einen Fehler begangen, das gestehe ich. Trotzdem möchte ich das Ende von alledem sehn.«

»Das Ende? Man wird dich bei der Rückkehr an die Luft setzen, mein Junge. Zu deinem eignen Glück. Bürgerlicher Friede, ein stilles Haus, die Provinz und gute Sitten, das reicht aus, um dich umzubringen … Aber die Abende bei Briançon, die durchwachten Nächte, die Musik und das Frösteln der Morgendämmerung auf den menschenleeren Straßen, das die Nerven wieder in Zug bringt, das paßt für dich; das paßt dir wie ein Handschuh … Sieh mal, Leute deines Schlages erfinden sich ihr Leben von Tag zu Tag. Sie verfassen es wie ein Buch, möchten die Rollen an uns verteilen … Wenn man dich so hört, ist dieser unglückliche Winkel der Normandie ein wahrer Treffpunkt für den Sabbat … Du Tropf! Jede Familie hat ihre kleinen Geheimnisse. Davon können wir was erzählen! Das Beruhigende ist, daß alle diese Geheimnisse sich gleichen. Man geht von einem zum andern wie in die Gärtchen um die Ziegelhäuser der Arbeiterstädte: man muß auf die Nummer achten. Ein braver Mann, der von Skrupeln geplagt wird, eine geizige und kranke alte Dame, ein exaltiertes, sentimentales junges Mädchen, unzuverlässige Freunde –, mein Gott, die Dienstboten sind – dank dir – noch das Drolligste, was ich hier finde. Und nun gar in Paris, da fiele das gar nicht auf …«

Während er so sprach, hatte Fjodor seinen Rock und seine Stiefel sorgfältig abgebürstet. Mit größter Natürlichkeit antwortete er:

»Behalten Sie Ihr Pulver für sich, Freund. Behalten Sie es nur. Sie werden mich nicht für zwei, selbst für fünf Gramm Gift zum Reden bringen. Ich kann es mir verkneifen. Nein, fortan sollen Sie von mir nichts erfahren. Es hat keinen Zweck, List anzuwenden. Tun Sie also, was Ihnen beliebt, in voller Freiheit. Weshalb um den Topf herumkriechen? Sie sind wie ein großer schwarzer Kater. Ja, Sie sind wie …« Er sprang mit einem Satze zurück, so heftig, daß er die Doppeltür der Garage aufstieß. Sie drehte sich in ihren Angeln und ging weit auf. Der große Wagen, seine lackierten Seiten, seine Kupferbeschläge, sprang aus dem Dunkel, als wäre er vom Himmel herab in das Licht gefallen, von Schaum umsprüht.

. . . . . . .

Der Schrei, den sie eben gehört hatten, blieb über ihnen in der Luft schweben, zu eigentümlich, zu anders, um mit dem friedlichen Tageslärm zu verschmelzen. Er erhob sich kaum höher als die tausend vertrauten Geräusche, die in ewigem Wechsel auf- und absteigen, nach einem bestimmten Rhythmus, vielleicht stets dem gleichen, obwohl das Ohr nur ihr scheinbares Durcheinander vernimmt. (Und doch, wer hat nicht durch Nebel, Teer- und Schlammgeruch hindurch eine große Seestadt bloß an ihrem starken Atem erkannt, an ihrem gewaltigen Herzschlag, etwas unbestimmt Furchtbarem und Kindlichem?) Dieser Schrei erhob sich kaum höher, doch er sank nicht herab. Sie blickten sich einen Augenblick lang stumm an, mehr überrascht als erschrocken, lauschten mit gespanntem Ohr. Ihre Nerven waren so erschüttert von diesem unerwarteten, geheimnisvollen Abschluß, der aus der hohen Luft, aus der Leere des Raumes in ihren dunkeln Streit fiel, daß eine plötzliche Entspannung, eine beruhigende Erklärung sie laut hätte auflachen lassen. Schon stieg ein zweiter Schrei dem ersten nach, als wollte er ihn an der gleichen Stelle des Raumes einholen. Doch er hielt scheinbar auf halbem Wege inne, klang in ein schwächeres, kaum vernehmliches Röcheln aus, und fast unmittelbar darauf hörten sie auf dem Kies eines Baumganges das ungleichmäßige Knirschen eines erschöpften Laufes.

»Die alte Dame ist ausgerissen«, sagte Fjodor. »Wiedermal. Verdammte Franziska!«

Das Geräusch kam durch die dünne Ziegelwand und die Wandfliesen aus Steingut auf sie zu. Um zu sehen, was los war, mußten sie durch eine Stalltür hinaus eilen, an den Wirtschaftsgebäuden entlang laufen. So gelangten sie bis zum äußersten rechten Flügel des Schlößchens, der etwas zurücktrat und einsam im Schatten riesiger Linden lag. Das Stück des Parks, das sie überschauten, reichte nicht über die anstoßenden Wiesen hinaus. Links wurde es durch den plötzlichen Abfall des Geländes begrenzt, rechts durch die letzten verwilderten Buchengebüsche, den Lieblingsort von Frau de Clergeries täglichen Spaziergängen. Über die vor kurzem frisch getünchte Mauer des Gemüsegartens, die in der Sonnenglut bebte, huschte ein Schatten, aber schwächer als ein Schatten, wenn auch kaum dichter, ein wunderlicher, kleiner, deutlicher Umriß, der geheimnisvoll stehn blieb, plötzlich weiter lief, mit unwahrscheinlichem Gleichgewicht, wie ein aus den Fugen gegangener Hampelmann. Einen Augenblick verloren sie ihn aus den Augen, fanden ihn wieder, verloren ihn nochmals, je nach der Laune der Wegebiegungen. Endlich tauchte er zwanzig Schritte vor ihnen auf, stieß einen letzten schwächeren Schrei aus, einen schrillen und zugleich rauhen Schrei, wie ein altes Weib oder ein Vogel.

»Rühre dich nicht! Rufe nicht!« hauchte La Pérouse seinem Gefährten zu. »Wir wollen sie ganz sacht rekognoszieren. Kein Geräusch! … Wenn der arme Clergerie dazukäme, gäbe es einen schönen Anfall!«

 

Die Irre war stehn geblieben. Die Kräfte versagten ihr. Sie suchte auf die beiden Männer einen bald wütenden, bald angstvollen Blick zu richten, den ihr erlöschender Wille immerfort hervorbrechen ließ. Ihr glühendes Gesicht blieb trocken, ihre zitternden Hände, so rot wie ihre Backen, hielten noch unbewußt den schweren Wollrock, den sie aufgeschürzt hatte, um besser zu laufen, so daß ihre dicken, durch Kniebänder entstellten Strümpfe zum Vorschein kamen. Ein bis zwei Sekunden lang schwankte ihr Kopf heftig auf ihren Schultern, während sie vergebens gegen die furchtbare Stille anzukämpfen suchte, die ihren Zorn erstickte, die stumme Leere, in der sich das schwache Bündel der Gedanken und Bilder, das die Allmacht des Hasses einen Augenblick zusammengerafft hatte, allmählich auflöste. Doch die Stille war stärker. Aus der Tiefe ihrer Not rief sie ein letztes Mal die beiden fühllosen Zeugen und das Haus selbst an, das geliebte Haus, das ebenso gleichgültig war wie die Menschen … Dann begann der Nebel, den sie nur zu wohl kannte, langsam über die Menschen und Dinge zu ziehn. Sie wurden immer unkenntlicher, ohne Rundung und Gewicht, wie ihr eignes Abbild im Wasser. Sie verzweifelte im voraus daran, ihr Gesetz einer Welt von Phantomen aufzuzwingen, die sich beständig verschoben, und mit rascher, abgebrochener Stimme, als sagte sie ihre Lektion her, versetzte sie:

»Das Mädchen hat mich geschlagen … Das Mäd…chen hat mich ge…schlagen.«

Sie trippelte hin und her, hielt ihren schwarzen Rock noch immer in der Faust, kam aber keinen Schritt näher, denn in ihrem ohnmächtigen Zorn mischte sich bereits die kindliche Furcht vor den beiden Unbekannten, die ihr den Weg versperrten, dicht vor der Schwelle ihres Hauses, im Anblick ihrer Schande.

»Bleib hier«, sagte La Pérouse halblaut. »Nein! Rufe niemanden. Es ist übrigens möglich, daß das Mädchen sie geschlagen hat … Sieh die Spur der Finger auf der Backe. Tauche ein Tuch in die Bütte, einen Lappen, dein Taschentuch, einerlei was. Ich will mit ihr reden.«

»Reden Sie nicht!« sagte plötzlich hinter ihnen die leicht zitternde Stimme Chantals. »Versuchen Sie vor allem nicht, ihr den Kopf zu bedecken! … Mein Gott, Fjodor, gehn Sie doch weg … Nein … das heißt … Sagen Sie es Franziska. Sie muß irgendwo stecken, nicht weit von hier. Sie soll sich nicht blicken lassen … Herr La Pérouse, es ist besser, Sie lassen mich einen Moment allein … Oh, nur einen Moment … Diese Anfälle sind so häßlich, schrecklich! Wenn Vater nur nichts erfährt … Großmutter,« fuhr sie leise fort, »arme Großmutter …«

Plötzlich umfing sie die Irre mit den Armen, trug sie sanft fort, drückte ihre frische Wange auf den kläglichen Mund.

»Gehn Sie voran«, sagte sie, etwas schwer atmend, zu La Pérouse. »Rühren Sie sie noch nicht an. Sie darf Sie nicht sehn … Gehn Sie Treppe da hinauf. Ich trage sie bis in Ferdinandes Zimmer … Oh, sie ist nicht schwer …«

Beide legten sie auf das Bett der Köchin, aber zweimal entlief sie ihnen, ohne zu schreien, mit einem Klagelaut, der jetzt vom Schrillen zum Tiefen überging und in einem modulierten Seufzer endete. Schließlich, als sie mit dem Rücken die Mauerecke berührte, schmiegte sie sich hinein, raffte Laken und Bettdecke an sich und schauderte vor Erschöpfung und Wonne.

»Verzeih, Großmutter«, sagte Chantal. »Verzeih mir … Ich habe dich verletzt, entsinnst du dich? Ich tat es nicht absichtlich, ich konnte dich nicht halten, wir sind beide hingefallen.«

Die alte Dame zauderte, zuckte die Achseln. Sie war sichtlich verwirrt, außer Fassung gebracht durch dies plötzliche Eingreifen, das dunkle Zimmer, die kahlen Wände, die Stille.

»Bah, bah! Das Mädchen hat mich geschlagen. Jawohl, die gemeine Person! Sie hat mich geschlagen … Da … da … sogar hier.«

Und sie legte nochmals den Finger grob auf ihre Wange. »Nicht doch, Großmutter! Sieh mal, du hast geträumt. Träumst du denn immer? du hattest nur Angst, etwas Angst … Das wird schon vorübergehn. Es wird gleich vorbei sein. Sieh mich an, Großmutter. Würde ich es denn dulden, daß man dich schlägt, ich, Chantal, deine Großtochter?«

»Schwöre es«, sagte die verschlagene Alte nach kurzer Pause. »Schwöre es, daß ich diese … diese … nicht erhalten habe … daß ich nicht geschlagen worden bin. Dir will ich's glauben, mein Kind, du lügst niemals.«

»Schwören Sie doch, keine Kinderei!« sagte La Pérouse, fast ohne den Ton zu senken. (So sprach er zu seinen Assistenten in Gegenwart der Kranken, mit eintöniger Stimme, die nur den Eingeweihten verständlich ist.) »Vorsicht: sie wird gleich versuchen, Sie zu beschwatzen.«

Doch die Irre wartete die Antwort nicht ab, und zum Erstaunen des Arztes fuhr sie fort:

»Du möchtest mich nicht betrügen, du bist ein gutes Mädchen. Leg dein Händchen in meinen Nacken, hilf mir die Beine ausstrecken. Du mußt einen Schreck vor mir kriegen. Ich sehe aus wie eine Verrückte. Halte mich fest, mein Schätzchen. Ich denke an unsern Spaziergang von neulich, entsinnst du dich? du trugst mich in deinen Armen …«

Langsam zog sie ihre beiden geschlossenen Fäuste bis zum Kinn hinauf. Dann schien sie die Augen zu schließen. Ihre Züge entspannten sich, obwohl das Mißtrauen sich noch in den beiden Winkeln ihres dünnen Mundes ausdrückte. Und schon schlich La Pérouse auf den Fußspitzen zur Tür. Chantals Stimme bannte ihn auf der Schwelle; er war verblüfft.

Bisher hatte er nur den gewohnten Rhythmus dieser Stimme, ihren Tonfall gekannt, aber plötzlich entdeckte er ihren Ausdruck, ihre Klangfarbe, irgend etwas im gewöhnlichen Gespräch Unfaßbares. Und als er dies entdeckte, glaubte er sie stets gekannt zu haben. Doch er hätte nicht sagen können, ob Fräulein de Clergerie lauter oder leiser sprach, und die Ergriffenheit, die er empfand, war nicht von der Art, die das Ohr angenehm überrascht, keine völlige Konsonanz. Was ihn einen Augenblick so ergriffen hatte, war die gleichsam augurenhafte Traurigkeit dieser Stimme, eine mit nichts vergleichbare Traurigkeit, denn auch der feinste Beobachter hätte darin nichts entdeckt, was dem Verdruß glich, der Trübsal der enttäuschten Liebe, die jede menschliche Traurigkeit verbittert. Eine selbstlose, übernatürliche Traurigkeit, einem Vorwurf der Engel vergleichbar. Und zugleich so schlicht und klar, so von Unschuld und Lieblichkeit bebend, daß sie in La Pérouse das verborgene Kämmerlein, den unberührten Teil der Seele erreichte. Kaum unterschied er sie noch von dem plötzlichen, wonnigen Zerreißen seines eignen Herzens.

»Sieh mal, Großmutter«, sagte sie. »Wozu das? Du bist nicht wahnsinnig. Bist du es denn jemals gewesen? Das frage ich mich. Im ganzen aber seid ihr es alle … Jawohl, ihr seid es alle, das fühle ich wohl. Man brauchte jahrhundertelang, brauchte alle Zeit, über die Gott verfügt, um euch zu lehren, glücklich zu sein. Oh! du magst mich ansehn, die Erstaunte spielen … Du verstehst mich doch ausgezeichnet, arme Großmutter. Warum mir was vormachen? Ich weiß alles, sogar das, was du mir neulich verheimlicht hast, durchaus alles, ich bin nicht so dumm! Seit zwanzig Jahren treibst du es so, regst dich auf, erfindest tausend Ausflüchte, sträubst dich nachzugeben, hältst dein trauriges kleines Leben an die Brust gedrückt, wie deine Schlüssel … Man müßte dir beide Arme abreißen, um es zu nehmen … Aber sieh mal, du magst lachen, du hast Angst vor mir, wie du Angst vor meiner Mutter hattest. Ist das nicht sonderbar? Und das schlimmste, ihr seid alle so. Was habe ich euch getan?«

Sie drückte den Arm der Irren noch immer an ihre Brust. Doch in einer so unerwarteten, so freien Bewegung, daß La Pérouse nicht daran denken konnte, ihrem Blick auszuweichen, wandte sie ihm ihr nachdenkliches Antlitz mit unaussprechlichem Ausdruck zu, einer Art von verzweifelter Bosheit.

»Ja, ihr alle. Jetzt weiß ich es; ich habe es schließlich begriffen. Man erwartet etwas von mir, aber was? Kein Mensch hat eine Ahnung davon … Ich beginne zu erraten, was es ist … Selbst Vater interessiert sich wunderbar für seine Tochter, so ganz plötzlich; es ist, als ob ich Orakel erteilte. Ich fragte mich schon: »Werden sie denn alle verrückt?« Wohlan, nein! Sie interessieren sich für mich, wie meine Thisbe sich für die Lerchen interessiert! … Eine Lerche ist nur ein Knäul Federn und im Innern ein Gesang, kein Wild. Aber gerade deshalb frißt meine Hündin sie mit Vorliebe … wahrscheinlich, weil sie nicht so sind wie die andern …, weil ihre Kleinheit, ihre Leichtigkeit ein Wunder ist und weil nicht viel dran ist, eine Nachspeise, eine Laune … Ihr sollt euch hüten, ich werde mich wehren … Ist's denn meine Schuld, daß ihr den lieben Gott so oft belogen habt? Bin ich dazu da, daß ihr mir eure Lügen zum Aufbewahren gebt? Ich werde eure Lügen nicht tragen … Ich habe nur eine kleine, winzige Wahrheit, meine Wahrheit; ich bin nicht gewillt, sie euch zu geben; sie würde euch zu nichts dienen.«

Sie verbarg ihre Stirn in der Bettdecke; am Zucken ihrer Schultern erkannte La Pérouse, daß sie weinte. »Gnädiges Fräulein,« sagte er, »ich schäme mich vor mir.«

Sie hob plötzlich den Kopf, und mit einem jener Blicke voll unerschrockener Traurigkeit, in denen er sein Schicksal zu lesen glaubte, gebot sie ihm Schweigen. Doch fast unmittelbar fiel sie wieder in den Ton eines betenden Kindes, um mit ihrer Großmutter zu reden. »Wir werden dich in dein Zimmer bringen, Großmutter. Du siehst ja, du bist in Ferdinandes Zimmer. Du mußt versprechen zu gehorchen, bis du eine gute Nacht gehabt hast.«

»Gehorchen?« fragte die Irre nachdenklich. »Muß ich auch Franziska gehorchen?«

»Denke nicht an Franziska. Du wirst sie nicht mehr sehn, das verspreche ich dir.«

»Ich werde sie nicht mehr sehn? Um so besser. Weder sie noch eine andere. Ich muß mich verstecken. Ich habe nicht mehr die Kraft, nicht wahr? Aber behalte das für dich, mein Töchterchen! Die Arbeiter werden gleich wieder kommen, auch der Händler aus Beaumesnil wegen der Äpfel zum Apfelwein … Wir werden im voraus abschließen, werden diesmal eine Pauschsumme ausmachen … Sag ihnen, ich sei leidend.«

»Ich werde sagen, du seist alt, Großmutter, sehr alt … Oh, weißt du, das ist für niemand was Neues außer für dich! … Mehr noch! Weil du nicht so sicher bist, ob du heute auf den Händler aus Beaumesnil warten kannst, auf ihn und auf die andern, denn es sind viele, viele, möchte ich dir die Leute vom Halse schaffen … Was willst du mit diesen Leichen anfangen? Puh! Sie sind alle tot, seit dem Tage, wo wir uns da unten trafen, eines Morgens im Sonnenschein, entsinnst du dich? Ich trug dich nämlich in meinen Armen, federleicht, so leicht, wie du in Gottes Hand wiegen wirst – eine Ameise, eine arme Ameise … Eine Ameise verbringt ihre Zeit damit, ihre Speicher zu füllen. Dann geht sie sterben, allein, hinter einem Steinchen … Wir sollten sie nachahmen.«

»Allein?« fragte die alte Dame neugierig. »Wirklich allein? Ist's möglich? Das alles regt sich doch, flüstert … Ich bin nie allein.«

Sie legte ihre Hand zart auf Chantals Schultern, und nach einer Pause sagte sie mit geschlossenen Augen und einem tiefen Seufzer der Gespanntheit:

»Und doch, wenn du sprichst, höre ich nur noch dich … Ich verliere die Neigung, mich zu wehren, mein Kopf erholt sich. Ganz gewiß bin ich alt, jawohl! Trotzdem habe ich mehr Urteil als sie … Du lügst nicht, mein Schätzchen, du nicht … Man hört dir zu, atmet auf, wie kühl ist das … Du hast recht, ja! In meinem Alter sollte ich alles aufgeben … Meine Finger halten nichts mehr, ich quäle mich mit Dummheiten ab.«

Sie ließ zwischen ihren Lidern hindurch einen unbestimmbaren Blick, halb angstvoll, halb verschlagen, auf ihre Großtochter fallen.

»Was soll ich dir geben? Da ist der Smaragdschmuck, der von deiner Tante Adoline stammt … Wozu, du könntest ihn ja doch nicht tragen … Wähle lieber was Solides.«

»Bah,« sagte Chantal, »suche nicht … Ich weiß, um was ich dich bitten will … Nachher kannst du schlafen, auf beiden Ohren, wie du nie geschlafen hast.«

Die Irre schlug beide Augen weit auf.

»Gib mir deine Schlüssel, Großmutter, deine geliebten Schlüssel.«

»Meine Schlüssel!«

»Jawohl, deine Schlüssel. Deine Schlüssel rauben dir den Schlaf. Jeder von ihnen ist ein kleiner Teufel für sich, schwerer als ein Berg. Mit einer solchen Last, arme Großmutter, brächten dich selbst alle Engel zusammen nicht bis ins Paradies.«

»Meine Schlüssel!« wiederholte die alte Dame leichenfahl. »Was redest du mir da von Engeln und Teufeln? Wegen einer Schrulle von mir! Du bist gerissen, mein Schätzchen, aber sieh, diesmal irrst du. Ich habe sie hier in meiner Wollweste, da drin, du kannst es fühlen … Ich liebe ihr Geklimper … Horch! Ticktack, klingkling, ticktack … Nun ja, das macht mir Spaß … Was schadet das? Schlüssel! Ich lache über die Schlüssel! …«

»Dann gib sie mir erst recht, gib sie heraus … Vor einer Minute sagtest du, in deinem Alter faßten die Finger nichts mehr, man müsse alles aufgeben … Oh, Großmutter, es ist lange her, daß die Toten dir verziehen haben! Du bist es, die sich absichtlich an die Vergangenheit klammert. Was! Wenn der liebe Gott Gewissensbisse gibt, so tut er es nicht, damit wir sie mit der Zeit zu alten Gewohnheiten machen! Deine alten Gewohnheiten, das sind deine Schlüssel.«

Die Irre hörte mit äußerster Aufmerksamkeit zu, nickte bei jedem Worte leicht mit dem Kopf. La Pérouse sah, wie sich die zerstreuten Lichter ihres Blickes immer mehr sammelten.

»So etwas hat man noch nie gesehn«, brummte er zwischen den Zähnen.

Doch so leise er diese Worte aussprach, Frau de Clergerie hatte ein verdächtiges Murmeln im Fluge erhascht. Die Anstrengung, die sie machte, um sich zu sammeln, entstellte ihre Züge von neuem, und sofort nahmen sie wieder denselben Ausdruck von Trübsal und Listigkeit an.

»Meine Schlüssel! Glaubst du, ich hielte einen elenden Schlüsselbund für das Heilige Sakrament? Ich würde dich sehr in Erstaunen setzen, Kleine, wenn ich dir sagte, wie es damit steht …«

Fräulein Chantal legte sanft ihre Wange auf das Kopfkissen. »Vielleicht nicht so sehr«, sagte sie. »Du weißt sehr gut, daß deine Schlüssel hier keine Tür, keine Schublade öffnen. Du brauchst sie niemals; es sind Schlüssel zum Lachen. Nur willst du so tun, als ob du es nicht merktest … Ja, Großmutter, laß dir's sagen, werde nicht böse … In deinem Alter, wo du Gott so nahe bist, ist auch eine kleine Lüge noch zu viel! Die Seele ist nicht mehr stark genug, sie zu tragen. Und dann sind ja noch die andern Lügen da, bedenke doch, die des ganzen Lebens! … Es bleibt stets etwas von ihnen; sie müssen die alten Leute vergiften. Reiße wenigstens diese Lüge aus, die andern werden allesamt nachfolgen wie die Winden an einem Johannisbeerstrauch … Erst dann wirst du mit den Lebenden und mit den Toten versöhnt sein, das schwöre ich dir … Dann kannst du in Frieden schlafen.«

»Du hast es erraten! Ist's möglich!« sagte die Irre mit freudebebender Stimme. »Du errätst alles, das ist wunderbar. Ja, ja, ich wußte es. Sie taugen zu nichts … Ich kann dir den Tag sagen, wo sie mir auf den Tisch gelegt wurden, an Stelle der richtigen. Sie rochen noch rostig; der Mann hatte sie tags zuvor unter meinem Fenster mit Sand gescheuert … Jetzt, wo du es weißt, wozu sollen sie mir da noch dienen? Zudem bin ich müde … Selbst mein Herz schläft ein, mein Schätzchen. Von jetzt ab, siehst du, kann ich nach Herzenslust müde sein.«

Ihre Schultern zuckten kaum leicht zusammen. Sie schlief.

 

»Was meinen Sie?« fragte Fräulein de Clergerie. »Es ist besser, man läßt sie bis zum Abend hier. Sie wird zum Abendessen aufwachen, ich kenne sie.«

»Gnädiges Fräulein,« sagte er, »Ihre Großmutter wird heute nicht zu Abend essen. Sie haben ihr zu viel zugemutet; sie kann nicht mehr.«

»Und ich erst!« sagte sie. »Auch ich bin sehr müde.« Sie trat ans Fenster, drückte die Stirn stumm gegen die Scheiben, und ihm schien, daß ihre Lippen sich bewegten. Der Gedanke, daß sie betete, war für ihn ein unerträglicher Schlag.

»Ihre Methode ist sinnreich«, sagte er, und zugleich beobachtete er das Hochfahren ihres blonden Nackens beim plötzlichen Ausbruch seiner Stimme. »Ich finde sie etwas grausam. Warum ihr dies Spielzeug nehmen? Jedes Alter hat das seine.«

Sie drehte sich sofort um.

»Wirklich? Ist das Ihre Meinung?« fragte sie mit banger Stimme. »Nein, Sie reden nur so, um mir Schmerz zu machen, mich zu kränken. Wieso ist meine Methode sinnreich? Meine Methode? Ich habe keine Methode, Herr Professor. Man hat mir nichts beigebracht, und ich bin unfähig, irgendwas zu erfinden. Jeder beliebige hätte so gehandelt wie ich … Ich kenne Großmutter besser als Sie. Sie hat das Leben zu sehr geliebt, daran liegt es. Das Alter demütigt sie; sie sträubt sich, nachzugeben, beißt ihre armen alten Zähne zusammen … Allerdings ist der Kopf nicht mehr sehr kräftig, aber sie besitzt Bosheit genug, um Vorteil aus allem zu schlagen! Sie hat sich auf diese Weise ihre Geschichte Halm für Halm zusammengesetzt, wie ein Vogel sein Nest baut, Lüge für Lüge, und Sie tun, als ob Sie daran glaubten, statt sie zu befreien. Gott, und doch glaube ich, es gibt keine furchtbareren Lügen als die gegen sich selbst.«

Sie sprach die letzten Worte fast flüsternd. Ihre Hände, die die Bettdecke behutsam bis zu den Armen der Kranken herabzogen, zitterten vor Ungeduld und Ermüdung. Als sie sich über das Bett neigte, versagten ihr die Knie. Kaum fand sie noch Zeit, den Ellbogen auf das Kopfkissen zu stützen. Doch sie tat es so geschickt, daß La Pérouse diesen Schwächeanfall nur im Fluge erhaschte. Er glaubte eine Herausforderung in ihren stolzen, traurigen Augen zu lesen. Da geriet er vollends in Wut.

»Auch an Sie wird die Reihe kommen, gnädiges Fräulein«, sagte er. »Jawohl, die Stunde wird kommen, wo Sie unter so vielen, heute verschmähten Lügen die letzte armselige Lüge suchen werden, die Ihnen zu leben und zu sterben hilft. Ich habe dreistere junge Menschen gesehn als Sie, die sich doch schließlich ergeben haben … mit Leib und Seele ergeben.«

»Ist's möglich?« sagte sie und blickte den Psychiater mit unsäglicher Bestürzung an. »Kann man sich ergeben?«

Er begann so gemein, so roh zu lachen, mit solcher Begier, sie zu demütigen, daß sie purpurrot wurde. Man hörte nur noch die leisen Atemzüge der alten Frau und das Scheuern eines Zweiges an der Fensterscheibe.

»Verstehn Sie mich recht«, sagte sie. »Wem ergibt man sich? Wem würde man seine Seele geben? Ich glaube, man versagt sich oder man gibt sich hin, aber sich ergeben?« Ihre Stimme wurde immer schwächer und erlosch beim letzten Worte.

»Oh,« rief La Pérouse, »der Wortschatz eines alten Arztes ist nicht reich, entschuldigen Sie mich … Sich hingeben, sich versagen – das sind für mich Ausdrücke ohne Sinn. Ich sah nie einen Menschen sich dem versagen, den er liebt, noch sich dem hingeben, den er haßt. Der Mensch und seine Begierde sind nur eins. Aber ich behaupte, man ergibt sich schließlich stets, sobald die Kräfte abnehmen und mit ihnen der Wunsch zu gefallen. Und da diese Erörterung Sie fesselt, so setze ich hinzu: die Rolle des Austreibers von Lügen ist zweifellos mehr vorteilhaft als nützlich. Zudem ist das Experiment schon oft gemacht worden; die Methode ist bekannt. Für meinen alten Lehrer Durault de Séverac war das Simulieren …«

»Ich bitte Sie!« sagte Fräulein Chantal. »Ich habe unwillkürlich, töricht gehandelt, auf gut Glück … Ich wäre sehr in Verlegenheit, plötzlich, gleichsam Stirn gegen Stirn, einem berühmten Professor gegenüberzustehn. Im Ernst«, fuhr sie alsbald fort, »glauben Sie nicht, ich spaßte. Ich bin ein unwissendes Mädchen, das ist alles, und ich will es nicht halb sein, ich will dabei bleiben. Es gibt nichts dümmeres als einen Liebhaber der Medizin, wo nicht einen Liebhaber der Malkunst.«

»Es gibt noch was Dümmeres und Grausameres,« sagte La Pérouse, »das ist, was ich den Liebhaber der Seelen nenne, – den Wahnsinnigen, der uns ein Bewußtsein zuschreibt, um sich darin einzunisten, seinen eignen Hausrat darin unterzubringen … Jeder von uns findet sich mit seinem Teil Wahrheit ab … Auch ich …«

»Warum reden Sie von sich?« fragte Fräulein de Clergerie sanft. »Ich bin gewiß nicht fähig, in das Bewußtsein eines Menschen einzudringen. Was habe ich Ihnen getan? Wozu verteidigen Sie sich? …«

»Gestatten Sie, ich verteidige mich nicht! Ich weigere mich nur, irre geführt zu werden. Jawohl, gnädiges Fräulein, ich bin über das Alter hinaus, wo man dem Einfluß des ersten besten unterliegt. Nach dreißig Jahren eines Lebens, das ich darauf verwandt habe, dem oder jenem Narren aus den Überresten seiner Seele eine neue Seele zu machen, verachte ich mich hinreichend, um das Recht zu haben, mir gewisse zwecklose und demütigende Experimente zu ersparen. Seien wir ehrlich: es ist mir mehrmals passiert, daß ich Sie beobachtet habe, mit einem Interesse … einer Neugier, die Sie mit Ihrem Scharfsinn ja längst bemerkt haben. Sei es nun aus Gleichgültigkeit oder aus Verachtung, Sie haben diese Neugier geschickt gereizt, ohne einen Augenblick daran zu denken, sie zu befriedigen. Was ist ein Neugieriger für Sie, für alle Ihresgleichen? Ein widerlicher Mensch. Heute, grade heute Morgen befragte mich Ihr Vater über Sie … Oh, wie man einen alten Freund befragt! – Potztausend, ich kannte Sie ja schon als Mädchen mit den Haaren im Rücken und Kinderhänden, unglaublich kleinen, weißen, spitzen Händen. Was sollte ich ihm antworten? Sie haben offenbar von niemandem Hilfe nötig …«

»Vater hat Sie befragt?« sagte sie. »Befragt? Gewiß werde ich alles gesehn haben! Was wirft er mir vor? Mein Leben hat gewiß nichts Eigenartiges. Ich will es so haben. Ich ziehe es sogar nach Kräften herab. Unter dem Vorwande, daß meine arme Mutter einen Graus vor ihrem Haushalt hatte, werde ich schließlich den schönsten Teil meiner Zeit in der Küche verbringen. Genügt das nicht? Was soll ich wohl verbergen? Ein Geheimnis, ein richtiges Geheimnis? Aber das ist ein Luxus! Dazu hab' ich keine Muße … Geben Sie übrigens zu, daß Vater wunderlich ist. Seit zwei Jahren hat er meine Gegenwart kaum bemerkt, und nun schlägt er plötzlich ins andere Extrem um, zählt meine Schritte, befragt Sie, kommt auf den Einfall, mich von einem Professor der Psychiatrie untersuchen zu lassen. Selbst Sie … Oh, unterbrechen Sie mich nicht; es hat keinen Zweck, Großmutter aufzuwecken … Ich bin nicht so dumm, ich sehe, wie Sie meine bescheidene Person immer enger einkreisen; ich werde Ihnen nicht mehr entrinnen … Um so schlimmer für Sie … Es kommt vor, daß man im hohen Klee einen prächtigen Hahn zu umstellen glaubt, und eine graue Fasanenhenne fliegt auf. Sie ahnen ja nicht, wie grau ich bin …«

»Und was weiter?« fragte La Pérouse grob.

»Weiter … Ihnen wird nichts anderes bleiben, als eine schöne Geschichte zu erfinden, um sich zu trösten. Die Märchen dienen ja zu nichts anderm … Heute sind Sie noch dabei, einen charakteristischen Zug zu erhaschen, irgendwas, wodurch Sie mich klassifizieren können. Ich sehe, wie Sie solche armseligen kleinen harmlosen Fallen stellen, mit der Unschuld eines biederen Entomologen, der einen unglücklichen Käfer zwanzigmal hintereinander auf den Rücken legt. Man will wissen, woher ich komme, wohin ich gehe … Man läßt mich frei laufen, aber alle Ausgänge sind besetzt – man wird es schon sehn! Die weltliche Tür steht unter Ihrer Hut, und will ich mich ins Paradies retten, so erwartet mich der Abbé Cénabre am Eingang zur geistlichen Welt … Immerhin! Nehmen Sie an, es gefiele mir, dazubleiben und nirgends hinzugehn? Ich bin geboren, um in den Tag hineinzuleben, wie ein alter Rabe im Schnee, der seine Federn putzt und das Frühjahr abwartet … Jawohl, ein alter Rabe! Halten Sie mich nur nicht für so jung … Ich wünschte, daß Sie nicht närrischer sind als ich. Ich verliere selten den Kopf. Ich bin von einem sehr gewöhnlichen, sehr widerstandsfähigen, frühgereiften Schlage, der die gute Luft in jeder Jahreszeit zu nutzen weiß … Und dann, sehn Sie, will ich Ihnen etwas sagen. Sie vergessen noch eine Einzelheit: Sie sind erstaunlich! Auch ich beobachte Sie zuguterletzt! Wenn Sie von Zeit zu Zeit daran dächten und dieser Gedanke Sie zu etwas Zurückhaltung und Vorsicht bewöge, liefen Sie weniger Gefahr, mich nutzlos leiden zu lassen.«

»Wer hat Sie denn nutzlos leiden lassen? Warum?«

Sie zauderte, zuckte die Achseln; der Blitz der Bosheit schien zu erlöschen, wich zurück in die Tiefe, in die letzte Tiefe ihres traurig-zärtlichen Blicks.

»Dann hätten Sie Angst, lächerlich zu sein«, fuhr sie in ihrem Gedanken fort. »Jawohl, Sie würden sich schämen, unter irgendeinem Vorwand, selbst aus Freundschaft für mich, mein Leben zu stören … Mein Leben ist sehr leer, verstehn Sie! Es gleicht einer Studentenbude, – Bett, Tisch, zwei Stühle –, ich kann es rein und hell halten … Mit welchem Rechte will man es zu einem Kramladen machen, einem jener Magazine für Kuriositäten, die ich verabscheue? Nun also, ich werde meine Tür schließen, weiter nichts … Man muß dann seinen Namen nennen, seinen richtigen Namen, sein Gesicht zeigen. Künftig soll nicht jeder beliebige eintreten.«

»Sie hätten klug gehandelt,« sagte La Pérouse, »wenn Sie diese elementare Vorsicht früher gebraucht hätten, und gegen andere als mich.«

Er schleuderte ihr die Schmähung kalt, besonnen ins Gesicht, mit bedachter, hellsichtiger Wut. Und doch fühlte er in demselben Bruchteil einer Sekunde, wie aus seinem Innern ein ganz anderer Zorn aufstieg, eine Art panischer, wütender Raserei, die der Auflehnung gegen den Tod glich.

Sie blickte ihn lange an, mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Überraschung. Umsonst hätte er das geringste Zeichen von Furcht oder Verlegenheit gesucht. Sie errötete nicht mal; der Bogen ihres Mundes blieb gespannt; nichts regte sich in dem feinen aufmerksamen Gesicht als der goldene Schatten der Wimpern. Schließlich sagte sie:

»Herr La Pérouse, Sie haben zu spät gesprochen. Ja, es ist jetzt zu spät, Sie werden mich nicht kränken. Wenn Sie aber dies armselige Geheimnis kennen, was wollen Sie noch mehr? Sie wissen ja genug.«

»Nein«, sagte er. »Fjodor ist ein Tropf, ein Narr. Was liegt daran, was er gesehn oder nicht gesehn hat. Von Ihnen, aus Ihrem Munde werde ich hören, ob er gelogen hat.«

Sein Gesicht kam dem ihren so nahe, daß er fast ihre Wangen berührte. Sein Lächeln war das eines Wahnsinnigen oder eines Menschen, den eine tiefe Enttäuschung an der Quelle des Lebens getroffen hat. Nach und nach sah sie seinen Blick sich bewegen, als ob zwei dünne, kaum getrennte Kristallblätter langsam übereinander glitten.

»Hören Sie mich an!« sagte er. »Ich war Arzt, das ist richtig, ich bin es nicht mehr; morgen werde ich nichts mehr sein … Jawohl, Sie werden noch jung und kräftig sein, werden den frischen Duft von Brombeeren ausströmen, und ich werde hören, wie das Wasser auf meinen Sarg tropft, die Erdmassen sich über ihm häufen. Vielleicht höre ich auch durch dicke Kreide- oder Tonschichten hindurch das Rieseln einer kleinen Quelle, die emporsteigt, zum Lichte drängt, wie ein kleines Tier zwischen zwei bemoosten Steinen im Grase aufspringt … Ich lache über die Wissenschaft, die Gelehrten, und fürwahr, ich war nie einer der ihrigen; mögen sie alle krepieren! In Wirklichkeit habe ich nichts geliebt. Wen hätte ich auch lieben sollen? Ich habe mein Leben damit verbracht, mich im Gesicht meiner Verrückten zu spiegeln … Ich kenne den besonderen, unveränderlichen Sinn meiner Grimassen, kann mich nicht mehr zum Lachen noch zum Weinen bringen … Aber ich bin Ihnen noch über, mein Kind. Früher genügte ein einziger Blick, ein einziger Pumpenzug dieser Augen, um einem Besessenen, einem an Verfolgungswahn Leidenden seine fixen Ideen auszutreiben, wie bei einer Punktierung in der Herzgrube. Die Schüler sahn das Ding aus dem Munde herauskommen, stießen sich mit den Ellbogen an, und das Lachen verging ihnen … Das sind die schönen Augenblicke des Lebens. Kurz, ich weiß vielleicht, was ein Kranker ist! Nun also, als Sie vorhin zu der Großmutter sagten: »Die Ameise füllt ihre Speicher, dann geht sie hinter ihrem Steinchen sterben«, – oder so ähnlich –, da dachte ich mir: sie hat mit Fjodor Komödie gespielt. Sie hat uns zum besten. Nun, gestehn Sie es: Sie haben sich den Kopf des Russen spendiert.«

»Oh, Herr La Pérouse, haben Sie denn alle geschworen, mich zur Verzweiflung zu treiben? Was! Ich habe versucht, Geduld zu üben, abzuwarten, wollte für ein paar Wochen, ein paar elende Wochen ein … eine … kurz, Zustände verbergen … (Ich bin ja nicht allein so. Sehn Sie mal, Maria von Sankt-Andreas war in der Pension wirklich Nachtwandlerin; Sie haben sie behandelt. Sie lief über die Dächer; dann blieb sie eine, zwei Stunden lang leblos, ohnmächtig, was weiß ich, stocksteif.) Und nun fällt alles über mich her, weil eine Figur aus einem russischen Ballett auf den Einfall gekommen ist, mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen, wie man einen Tierbändiger verfolgt, in der Hoffnung, daß er aufgefressen wird. Denn schließlich bin ich nicht prüder als andere, aber es gibt Augenblicke, wo Kräftigere als ich den Kontakt verlieren und närrisch werden … Nun, man beneidet die Mädchen, die ihren Müttern solche peinlichen Geständnisse machen können … Derartige Geschichten einem Vater wie dem meinen erzählen! … Und selbst angenommen, ich hätte etwas gezaudert, wäre etwas feig gewesen, so bin ich dafür wohl genügend gestraft? Übrigens: schuldete ich euch die Wahrheit? Bin ich vor Gott für euch verantwortlich?

»Keineswegs«, sagte La Pérouse. »Wie könnten Sie sich auch den geringsten Begriff von der letzten Illusion eines Verurteilten machen? Ich habe an Sie geglaubt. Das Wort lieben hat für mich keinen Sinn mehr. Es läßt sich nur in einer andern Sprache ausdrücken: ich habe an Sie geglaubt. Selbst heute, noch in diesem Augenblick, würde ich in Ihrem Antlitz vergebens nach einer Spur, einem Zeichen, nach dem unmerklichen Eindruck der Vergangenheit suchen! Für Sie gibt es keine Vergangenheit, oh Wunder! Wenn man so viele Fratzen beobachtet hat, die von weitem so aussehn, als ob sie lebten, die aber nur starre Grimassen sind, vielleicht seit Jahrhunderten, durch irgendein erbliches Leiden erstarrt, wie überrascht ist man dann plötzlich, wenn man ein Wesen, das bescheidenste Wesen, wenigstens in tiefem Einklang mit sich selbst, frei und unberührt entdeckt! Sie waren dies Wesen. So kannte ich Sie. Ich habe nie etwas dergleichen gesehn … Sie waren … Sie waren …«

»Ich weiß, was ich war«, sagte sie mit einem so pathetischen Beben der Lippen, daß ihr herrlicher Blick sich dadurch zu verdüstern schien. »Ich habe verstanden … Also? Es ist also wahr? Wie? In zwanzig Jahren werde ich vielleicht eine jener Unglücklichen sein, die man in Ihren Vorzimmern trifft? Entsinnen Sie sich? Frau Ascott, die arme Helene Walsh, oder noch schlimmer: eine abscheuliche Betschwester jenes Schlages, der den Abbé Chevance zur Verzweiflung brachte. »Sie sind immerhin langweilig«, pflegte er zu sagen … Oh Gott!«

Sie blickte ihn einen Augenblick fragend an, mit kläglichem Lächeln, das ihn unbewußt anflehte. Das war ihre einzige Schwäche.

»Nun also«, fuhr sie kopfschüttelnd fort, mit der gleichen Gebärde, wie wenn sie auf der breiten wagrechten Straße von Dombreville nach Trévières ihren Wagen laufen ließ und sich zur Seite neigte, um das Sausen der Luft besser in ihren Ohren zu hören. »Herr La Pérouse, auch wir müssen die Schlüssel herausgeben.«

Er blickte sie verblüfft an und stammelte:

»Ich habe nichts dergleichen. Sie sind … Sie sind …«

»Nun,« sagte sie, »suchen Sie nicht danach. Es kommt ja gar nicht darauf an, wer ich bin; die Benennungen führen stets irre … Ja, ich hätte mir ein Leben ohne Geschichte gewünscht, so klar wie möglich, bis ich schließlich ein rotwangiges altes Weiblein geworden wäre, das von früh bis spät ganz allein lacht, rosig wie ein Bonbon, und das so ruhig stirbt, wie ich einst in der Christnacht meine Schuhe in den Kamin stellte. Und nun bin ich eine Art Heroine, irgend etwas Tragisches, Verdächtiges, bin dazu verurteilt, Narren und Besessene hinter mir herzuziehen wie Mücken. Nicht der russische Chauffeur, sehn Sie, müßte fortgeschickt werden; ich müßte fortgehn. Aber wohin?«

»Sie fortgehn?« rief er aus. »Und wir? Und ich? Wollen Sie mir vielleicht weismachen, Sie hätten nichts gemerkt? Nein, nicht doch! In Paris mag es noch hingehn, aber hier? Das springt doch in die Augen. Sie sagten vorhin selbst: »Man erwartet fast etwas von mir«. Potztausend! Sie haben schließlich über uns alle gesiegt, über einen nach dem andern. Wir sind Ihnen alle ausgeliefert. »Ein Leben ohne Geschichte, ein rotwangiges altes Weiblein«. Sie machen sich über uns lustig …«

Sie schien ihn nicht zu verstehn, obwohl sie ihren ernsten, aufmerksamen Blick nicht von ihm abwandte. Und plötzlich erhob sie ihre Stimme, erfüllte die Stille mit so reinem, so herzzerreißendem Klang, daß er unwillkürlich die Augen schloß, um ihr tiefes Beben in seiner Brust zu fühlen.

»Allerdings«, sagte sie, »hätte ich vorsichtiger sein sollen, denn ich hatte ja nichts zu geben. Oh! das sind Dinge, die Sie nicht leicht verstehn werden. Ich hoffe nicht sehr, mich zu rechtfertigen! Im Grunde dachte ich nur an Gott. Nur seinetwegen war ich schlicht und heiter …, ein Kind, ein kleines Kind … Doch nur die Heiligen sind Kinder! Es gibt auch Menschen, Herr La Pérouse, uns alle … Die Menschen sind traurig, so traurig! Ist es nicht seltsam? Jahrelang habe ich gebraucht, es zu lernen, denken Sie nur … Man ist zu sehr in seiner Gewohnheit, man sieht nicht, wie traurig die Menschen sind … Wenigstens möchte ich es nicht glauben. Ich glich jenen törichten Menschen, die eine Miene mitschuldiger Heiterkeit aufsetzen, um mit den Kranken zu sprechen; man möchte sie ohrfeigen. Gewiß gibt es die Freude in Gott, die Freude kurzweg. Jeder von uns macht sich einen Begriff davon … Doch die großen, die sehr großen Heiligen hüten das Geheimnis, Freude ohne Schaden für den Nächsten zu zeigen. Ich sagte mir: Was könnte ich besseres tun? Ich bin so unbedeutend wie möglich, aber trotzdem kann ich mich nicht unsichtbar machen! Was verwundert Sie denn? Weil wir in der Beachtung des Nächsten, wie Sie sich wohl denken können, leicht zwischen dem unterscheiden, was zum Gesicht, zur Gestalt, zur Kleidung gehört, und dem andern, bevorrechtigten Teil, dem heiligen Teil … Mein Gott, ich besaß keine Erfahrung, kein Amt und auch nicht den mindesten Ehrgeiz … Ich war schlicht, war es allzusehr. Ihr andern, ihr habt gelebt, gelitten, Gott beleidigt, was weiß ich? Ihr habt eure Reue, eure Gewissensbisse, seid wie alte Soldaten mit ihren Narben … Unser Herr verzeiht euch unablässig; ihr seid ganz überströmt vom Blute des Kreuzes. Was hatte ich in dieser Menschenschlacht zu schaffen? Mir gelingt nur das Leichte. Und weil ich nie etwas anderes versuche, bildet man sich ein, ich vermöchte alles, verlangt von mir Wunder. Da kommt notgedrungen ein Tag, wo man mich auf die Probe stellt, und bei der Probe bin ich nichts.«

»Schweigen Sie, ich bitte Sie«, sagte er. »Ich hatte kein Recht, Sie auf die Probe zu stellen. Ich verdiene nur Ihre Verachtung.«

»Sie flößen mir keine Angst ein«, entgegnete sie. »Das ist die Hauptsache. Weil ich völlig gewiß bin, keinen Menschen zu verachten. Oh nein, ich verachte niemanden. Die Verachtung ist das Gift der Traurigkeit, Herr La Pérouse. Hat man die Traurigkeit getrunken, so bleibt die Verachtung als Bodensatz … ein schwarzer, bitterer Schlamm. Und so unglücklich ich eines Tages auch werden mag, die Traurigkeit ward an mir keinen Teil haben, niemals … Sie flößen mir keine Angst mehr ein, Herr La Pérouse, weder Sie noch die andern. Früher fürchtete ich das Böse – nicht so, wie man es fürchten soll, ich hatte Abscheu davor. Jetzt weiß ich: man soll vor nichts Abscheu haben. Ein frommes Mädchen, das in die Messe geht und kommuniziert, das scheint Ihnen sehr töricht, sehr kindlich; Sie sind rasch bereit, uns für unschuldig zu halten … Nun wohl, wir wissen oft mehr über das Böse als die Leute, die nur gelernt haben, Gott zu beleidigen. Ich sah einen Heiligen sterben, ich, die vor Ihnen steht, und das ist nicht so, wie man es sich denkt, nichts von der Art, wie es in den Büchern steht. Da muß man standhaft sein: man fühlt, wie die Rüstung der Seele kracht. Da habe ich begriffen, was Sünde war … In der Sünde sind wir alle, die einen, um sie zu genießen, die andern, um darunter zu leiden, aber schließlich ist es das gleiche Brot, das wir am Brunnenrand brechen und hinunterwürgen, der gleiche Ekel. Gewiß war es unrecht von Ihnen, etwas von mir zu erwarten … Doch ich gebe Ihnen das, was ich habe, das bißchen, was ich habe, nicht mehr noch weniger. Ich sagte vorhin: Hüten Sie sich, ich werde Ihre Sünde nicht tragen, werde mich wehren. Nein! ich habe keine Lust mehr, mich zu wehren; das ist zu Ende … Man hat kein Recht, sich zu wehren … Gott hütet keinen von uns wie einen kostbaren Vogel im Käfig … Er gibt seine besten Freunde preis, gibt sie für nichts hin, an die Guten wie an die Bösen, an jedermann, wie der Heiland an Pilatus ausgeliefert ward: »Da, nehmt, dies ist der Mensch!« Ach, Herr La Pérouse, wie außerordentlich war doch in diesem Karneval von Kriegsknechten, jüdischen Priestern und geschminkten Dirnen die erste Kommunion des Menschengeschlechts!«

Sie entwich auf den Fußspitzen bis zur Schwelle des Stübchens und öffnete sacht die Tür.

»Hören Sie nur, wie sie schläft, die arme Großmutter. Es ist erschreckend … Herr La Pérouse, glauben Sie, ich könnte sie jetzt ohne Gefahr wecken? Ich möchte, daß sie durch das Vestibül ruhig in ihr Zimmer zurückkehrt und bis zum Frühstück im Bette bleibt. Ich werde Zeit genug haben, mir herauszuhelfen.«

»Sie vergessen nur Fjodor.«

»Mein Gott!« rief sie aus, »das stimmt wirklich … Er war dabei, er hat alles gehört, er wird das Haus auf den Kopf gestellt haben. Armes Haus, es steht ja stets auf dem Kopfe! … Das ist die Art seines Gleichgewichts. Es wird nie gelingen, es lotrecht hinzustellen. Daran muß man sich gewöhnen. Ich werde schließlich eigens mit dem Kopfe nach unten gehn …«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und mit unsäglicher Rührung, einem grausamen und wonnigen Vorgefühl, erkannte er die zärtliche Bosheit des Blickes, sein stummes Lächeln.

»Welch ein Glück, eines Tages in der Erde zu liegen, flach hingestreckt, die Arme auf der Brust gekreuzt, wie jedermann. Unsere unseligen Knochen etwas morsch, aber gut in Ordnung! Ich liebe die Ordnung so sehr, Herr La Pérouse, vielleicht zu sehr! Niemand wagt so zu lieben wie ich.«

»Wie können Sie lachen«, sagte er. »Welch ein Wunder! Wo doch hier kein Mensch ist, nein, kein einziger, dem Sie ungefährdet trauen können. Selbst …«

»Selbst Ihnen nicht? Wohlan, nein. Das stimmte vor einer Stunde, weil Sie nicht wußten, wer ich bin … Sie hielten mich für kühn, hartnäckig, oder wer weiß, wohl gar von den Engeln beraten. Aber ich bin nur ein armes Mädchen in großer Verlegenheit. In Verlegenheit, ich habe kein anderes Wort dafür. Die großen Worte verderben alles. Hätte ich auch einen Erzengel zu meinem Dienst und könnte Wunder tun, ich wäre doch in Verlegenheit … Sehn Sie, Herr La Pérouse, ein guter Christ liebt die Wunder nicht so sehr, denn ein Wunder ist das, wenn Gott seine Geschäfte selbst besorgt, und wir ziehen es vor, die Geschäfte Gottes zu besorgen. So habe ich Fehler über Fehler begangen, blindlings gehandelt; jetzt muß ich mich ganz allein herausziehen. Vater wird mir keine Hilfe sein, wie Sie sich denken können … Oh, auch Sie nicht, Herr La Pérouse, Sie weniger als irgendwer. Wir haben uns alles gesagt, wir haben uns nichts mehr zu sagen … Jawohl, Sie und ich, wir sind fortan aus dem Spiel … Mein Gott, warum weinen Sie?«

»Wirklich,« sagte er, »ich weine? Nun wohl, sehn Sie mich nicht an; es sind Tränen der Scham. Seit fünf Minuten, denken Sie sich, suche ich umsonst nach einem einzigen Augenblick meines Lebens, den ich Ihnen darbieten könnte, der Ihrer würdig wäre. Mir fallen nur Albernheiten oder Gemeinheiten ein … Ein ganzes Menschenleben reichte nicht hin, um die hohle Hand auszufüllen.«

»Was ficht Sie das an?« entgegnete sie sanft. »Nur die Gegenwart zählt. Und sehn Sie: im Augenblick wäre es sehr nützlich, wenn Sie Vater vorbereiten. Sagen Sie ihm, Großmutter sei bei der Rückkehr von ihrem Morgenspaziergang schlecht geworden. Wir hätten sie hierher gelegt. Er solle sich nicht beunruhigen; wir würden sie in ihr Zimmer bringen … Das wird wohl bis zum Frühstück dauern. Nachher kommt die Reihe an mich.«

Sie blieb auf der Schwelle stehn, hob ihren lachenden Kopf, kreuzte die Arme über der Brust und sagte achselzuckend:

»Bah, Herr La Pérouse, wozu sich wehren? Die Reihe ist an uns.«

. . . . . . .

»Hätte ich auf das gnädige Fräulein gewartet,« bemerkte die Köchin, »so hätte ich festwachsen können. Fjodor ist eben nach Verneuil gefahren; er wird bei Jeanne Marchais das Seine finden. Aber was ist denn mit Franziska los? Sie ist wütend zurückgekehrt; man darf ihr nicht nahe kommen.«

Sie wollte die Tür schließen, kehrte um, setzte sich und sagte mit einer Stimme, die ruhig zu bleiben versuchte, obwohl sie vor Ungeduld bebte, zu überzeugen und Glauben zu finden.

»Alle hier, einer wie der andere, sehn Sie. Kein Verstand, und Laster von Milliardären. Man stellt jetzt Galgenvögel in anständigen Häusern an, gibt richtigen Hanswursten ein Bett, ich frage mich immer mehr, ob das gnädige Fräulein wohl ahnt, mit was für Strolchen wir zu tun haben? Um nur von einem zu reden: der Russe ist zu allem fähig.«

»Mein Gott,« sagte Chantal, »genug! Arme Ferdinande, sehe ich denn so aus, als wollte ich mit Ihnen über diese Dummheiten streiten? Ich kann nicht mehr, mein Kopf dreht sich, ich bin müde, müde, sterbensmatt.«

Sie zuckte die Achseln und fuhr mit einem so schlichten, so traurigen Lächeln fort, daß es für einen Augenblick das Strahlen ihres Blickes, ihren Stolz auslöschte:

»Zu allem fähig? Ich glaube vielmehr, sie sind zu nichts fähig. Mein Gott, mein Gott, sie lügen zu viel, das ist es. Schließlich verliert man den Mut. Man weiß nicht mehr, was sie sind. Sie tun anscheinend so, als ob sie lebten; sie werden es nie fertig kriegen, richtig und ernstlich zu sterben. Jawohl, man möchte ihnen wenigstens beibringen, wie arme Geschöpfe Gottes zu sterben, wie Menschen zu sterben!«

Ihre ausgestreckte kleine Hand streifte die Lippen der Köchin.

»Pst! Still! Erzählen Sie mir keine Schauergeschichten, arme Ferdinande. Ich hätte eher Beruhigung nötig, ich bin keine Heldin. Na, schauen Sie mir wenigstens grade ins Gesicht, ohne zu reden, mit Ihren guten, blauen Augen. Selbst wenn Sie pfiffig sein wollen, sind sie noch zu klar; sie können nichts verhehlen: man möchte sagen, sie sind jeden Morgen blank geputzt. Wohl Ihren Töchtern, ja, selbst der schlechten, die mit dem Bahnwärter durchgebrannt ist, wohl ihnen, daß sie sich in diesen Augen sehn konnten!«

Ehe die verblüffte Köchin eine Bewegung machen konnte, küßte sie sie auf beide Backen und verschwand ebenso rasch. Hinter der geschlossenen Tür vernahm man ihre Stimme, ihr leicht bebendes Lachen:

»Ich werde Ihnen alles gleich erklären … Und dann, wissen Sie, schade drum, ich spüre, daß ich heute zu nichts gut bin.«

. . . . . . .

»Wenn Sie sich für verloren halten werden,« pflegte der alte Chevance zu sagen, »so ist es, weil Ihre kleine Aufgabe bald zu Ende sein wird. Dann suchen Sie nicht zu verstehn, quälen Sie sich nicht, bleiben Sie nur sehr ruhig. Selbst das Gebet ist manchmal eine harmlose List, ein Mittel wie ein anderes, zu fliehen, sich zu entziehen – wenigstens Zeit zu gewinnen. Unser Herr hat am Kreuze gebetet, und er hat auch geschrien, geweint, geröchelt, mit den Zähnen geknirscht wie die Sterbenden. Doch es gibt etwas Kostbareres: die Minute, die lange Minute des Schweigens, nachdem alles vollbracht war.«

Oft war er darauf zurückgekommen, mit geheimnisvollem Starrsinn, als spräche er nicht von einer wahrscheinlichen Gefahr, sondern von einem gewissen Zustand, als fürchte er für seine Lieblingstochter nichts als eine letzte, fast ungewollte Gebärde der Abwehr, ein letztes Aufbäumen. War das übrigens nicht auch die Lehre seines eignen Todes, der verborgene Sinn eines Sterbens von solcher Dürftigkeit und Verlassenheit, daß es selbst Fräulein de Clergerie mit Schrecken erfüllt hatte? Denn noch lange nachher hatte sie sich eines andern, nicht minder seltsamen Wortes entsonnen: »Ich habe die Furcht zu sehr verachtet,« hatte er eines Tages gestanden. »Ich war jung, war zu heißblütig.«

»Wie! Sie reden so!« hatte sie ausgerufen, »Sie! Wollen Sie denn jetzt die Furcht ins Paradies einführen?«

Da hatte er sie mit einer Gebärde seiner armen, schon roten und geschwollenen Hand beschwichtigt und sein stilles Lachen gelacht.

»Nicht so geschwind! Nicht so geschwind! In gewissem Sinne, sehn Sie, ist die Furcht doch Gottes Kind, das in der Karfreitagsnacht erlöst ward. Sie ist nicht schön anzusehn, nein! Sie wird bald verspottet, bald verflucht, von allen verleugnet … Und doch: täuschen Sie sich nicht: sie sitzt am Bett jedes Sterbenden, legt Fürsprache für den Menschen ein.«

. . . . . . .

»Wie müde ich bin! Gott, wie müde ich bin!« murmelte Chantal, als sie die Treppe hinaufging und ihr weit geöffnetes Händchen über die kühlere Wandfläche gleiten ließ. »Ich habe mich noch nie so müde gefühlt. Der arme La Pérouse hat vielleicht wahr gesprochen. Es gibt Tage, wo man nichts abschlagen noch geben kann, wo man nur versucht ist, zu kapitulieren, sich zu ergeben, sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben.«

Sie ließ sich in einen niedrigen Stuhl am Fuß ihres Bettes sinken, stand mit einem Satz wieder auf, voller Angst und Abscheu. Sie hatte sich selbst bei der Gebärde der Erschöpfung betroffen, die um Gnade bittet. »Nein und abermals nein!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Nein!« Und sie begann durch das Zimmer zu gehn, wie sie es früher so oft bei dem ehemaligen Pfarrer von Costerel gesehn hatte, wenn er am Ende eines jener schwarzen Tage des letzten Winters, an furchtbaren Magenkrämpfen leidend, zu Frau La Follette gesagt hatte: »Ich schläfere meine Leber ein.«

Sie hätte sich auf die Knie werfen, ihr Haupt in den Händen verbergen, verschwinden mögen – jawohl, verschwinden, in jene wundersame Stille zurücksinken, deren bloße Vorstellung ihr Herz schwach werden ließ. Und zugleich drang aus ihrem tiefsten Wesen, dem stets wachen Teil des Wesens, der gebieterische Befehl empor, noch eine Minute Widerstand zu leisten, eine Stunde, einen Tag (wer hätte es sagen können?), kurz, den schicksalvollen Schlag aufrecht zu erwarten. Umsonst ging sie vom Bett zum Fenster, hob den Vorhang mit zitternder Hand, legte zerstreut die Kissen zurecht oder pfiff ganz leise die ersten Takte der »Arabeske« von Claude Debussy, die sie so liebte. Sie wußte bereits, daß der Kampf aussichtslos war, daß sie, freiwillig oder gezwungen, schon zu weit gegangen war, bis zu dem Punkte, wo unbekannte Gesetze walten, wo der Wille nur noch ein Schleuderstein am Ende seiner Schleuder ist, der nach und nach von der Schwere ergriffen wird. Was lag daran? So würde sie dem unvermeidlichen Fall wenigstens als Zuschauerin beiwohnen. Ein Stein fällt, aber der Mensch unterliegt seinem Schicksal.

Zudem wäre Fräulein de Clergerie angesichts einer bestimmteren, gewissen Gefahr vielleicht weniger erregt gewesen. Doch die Unsinnigkeit des so unbestimmten und zugleich so starken Vorgefühls befreite sie von jeder andern Sorge. Da sie sicher war, unversehens einen unwiederbringlichen Schlag zu erhalten, dachte sie an keine Verteidigung, war nur auf jene stoische Fügsamkeit bedacht, die selbst der Opferung eines gemeinen Verurteilten solchen Adel verleiht, weil seine letzten gehorsamen Schritte zum Tode allzusehr an seine ersten Schritte ins Leben an zitternden Mutterhänden gemahnen, weil sie irgendeine kindliche Majestät verkörpern, ein Gemisch von Schrecken, Hast, Vertrauen, eine geblendete Überraschung, eine heilige Unbeholfenheit. Denn er denkt ja nur noch daran, jede Minute der Gnade zu nützen, achtet nur noch darauf, einen letzten Versuch des Fleisches, des fleischlichen Schreckens zu vereiteln, die Auflehnung, den wilden Wahnsinn der Panik oder Verzweiflung. Und in diesem Bemühen, die letzten Sekunden, die sein Sterben unnütz verlängern, eine nach der andern zu vernichten, sie ins Nichts zurückzustoßen, durch diesen letzten Aufschwung ins Leere erreicht er die Nacht, die er herbeiruft, ist schon nicht mehr am Leben.

Gewiß war Chantal noch weit entfernt, einen Namen für die Bestürzung zu finden, die sie gepackt hatte, oder für diese Ungeduld, in der sie durchaus nur ein Zeichen von Schwäche und Feigheit sehn wollte. »Habe ich denn wirklich Angst?« fragte sie sich. »Und doch gibt es nichts Neues, nichts … Werde ich auch an Ahnungen glauben?« Doch es gelang ihr kaum zu lächeln, wie sie dem alten Chevance im Todeskampfe zugelächelt hatte, mit einem kläglichen, bangen, flehenden Lächeln, das sich bemüht zu begreifen. »Wohlan, richtig,« sagte sie plötzlich, »ich soll ja nicht begreifen. Warum etwas tun? Offenbar hat der arme La Pérouse mir etwas den Kopf verdreht; er sah zu unglücklich aus. Ich habe geredet, geredet, das hat keinen Zweck.« Ihre Fingerspitzen knüllten die Tüllgardine; sie sah ihr bleiches Gesicht in der Fensterscheibe schwellen. »Was suche ich denn hier? Jetzt sehe ich aus wie eine Ratte in der Falle; ich nage an den Gitterstäben meines Kerkers, das ist schmählich! Wohlan, ich bin doch frei, frei, völlig frei. Alle Kinder Gottes sind frei.« Sie ging stracks zur Tür, öffnete sie, wich zurück, kehrte wieder um, blieb einen Augenblick lang auf der Schwelle stehn … Einen Augenblick lang witterte sie in den warmen, erstickenden Schatten hinein, verzog unwillkürlich die Lippen zu einer Miene des Ekels … Aber noch ehe ihr seltsames Lächeln erstorben war, schloß sie die Tür wieder sanft und sorgfältig und kehrte besiegt in ihr Zimmer zurück.

»Der Abbé Chevance hatte recht«, sagte sie. »Es ist besser, in einem solchen Augenblick ruhig zu bleiben; ich würde doch nur Torheiten begehn. Im Grunde weiß ich ja nicht recht, was eine große Prüfung ist, eine wirkliche Prüfung. Diese kommt so plötzlich, alles erlischt auf einmal, ich fände ja niemals meinen Weg. Und doch gibt es einen! Mein Gott, wie glücklich war ich im Vergleich noch vor ein, zwei Stunden! Wie soll man glauben, daß man unversehens, in einem Augenblick, so allein gelassen werden kann? Früher wäre ich wenigstens hier oder dort hingesunken, zu Füßen meines Kruzifixes, einerlei wo …« Sie hielt sich mit ihren beiden Händchen krampfhaft am Fensterriegel fest, um nicht wirklich zu fallen. »Jetzt darf ich sogar zum lieben Gott nur mit Schonung und Vorsicht beten. Umso schlimmer! Ich werde mich keinen Zoll breit rühren, bis es wieder hell wird; ich bin nicht geschaffen, um tastend zu gehn. Ich muß wissen, wohin ich den Fuß setze.«

»Bis es wieder hell wird«, hatte sie gesagt, und doch wartete sie es nicht mehr ab. Sie wartete nur noch auf die Nacht, bot der Nacht mit ihrem ruhigen Blicke Trotz … Der Nacht, der Leere, dem Fall, dem raschen, holden Hingleiten … Die Illusion ward so stark, daß sie tatsächlich fühlte, wie ihre Muskeln sich entspannten, ihre Hüften nachgaben. Sie fühlte das tiefe Röcheln ihrer Kehle und gleichsam das Hinstreifen der Luft über ihre Brust. Die demütige Sicherheit, die alles Tun ihres wunderbaren Lebens bestimmt hatte, die Gewißheit, daß sie stets, in jeder Lebenslage, nur ein nichtiges, kleines Ding gewesen war, geschaffen, um für einen Augenblick, zur Freude eines einzigen Augenblicks zu dienen und dann unbekümmert fortgeworfen zu werden, erhielt hier ihren vollen Sinn. Sie war in der Tat fortgeworfen.

Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie schon einmal einen solchen Schwindel empfunden hatte, als sie sich über den hingestreckten Körper des alten Chevance beugte. Und fast in der gleichen Sekunde tauchte die Vision aus dem Dunkel empor, kam mit furchtbarer Schnelligkeit auf sie zu. Zuerst erschien das schmutzige Bett, schwoll plötzlich an, blieb kurz stehn, war jetzt ganz nahe, wiegte sich noch in unsichtbarem Gewoge. Mit beiden Händen hätte sie den herabhängenden Zipfel des Lakens, die graue Bettdecke fassen können, auf der das geronnene Blut einen dunkelvioletten Fleck bildete. »Sind Sie es?« fragte sie traurig. »Sind Sie es?« Übrigens empfand sie weder Neugier noch Schrecken; sie sah sich nur wieder an der alten Stelle, um den gleichen Kampf zu bestehn. Heute wie damals hatte sie von ihrem Seelenfreunde keine Hilfe, kein Trosteswort zu erwarten. Sie mußte einfach fest und ruhig bleiben wie damals, aufrecht und aufmerksam, mußte den alten, unbegreiflich dahingerafften Lehrer mit ihrem Schatten zudecken. Kaum wagte sie einen im voraus verzweifelten Blick bis zum Kopfkissen zu erheben, um ihn sofort wieder zu Boden zu schlagen. Die graue Leinwand trug noch den Eindruck des Nackens, der Schultern, gleichsam das Siegel völliger Dürftigkeit. Aber das Bett war leer.

 

In Wahrheit hatte sie nie etwas anderes erwartet; sie wußte, es war leer. Sie wußte: es stand von Ewigkeit her geschrieben, daß sie allein an der letzten Wegebiegung anlangen, daß er das letzte Stelldichein verfehlen werde. Und sie wußte auch: das geheimnisvolle Bett, das jetzt so dicht vor ihr stand wie ein winziges Schiff, das auf der Oberfläche der Nacht noch leicht an seinem Anker schaukelte, war nur eine halbfreiwillige Halluzination, ein Bild, kaum stärker als die andern, die ihre Angst im Vorbeigehn erfaßt hatte. Doch sie nahm das alles als ein Zeichen hin, als wahrscheinliches Sinnbild ihres bescheidenen Schicksals. Die großen Prüfungen waren für sie nicht gemacht, so wenig wie die großen Freuden, und was sie aus Mangel an besserem ihre Angst nannte, mußte daher bis zuletzt das Gepräge jener kindlichen Enttäuschungen behalten, die den Träumen so ähnlich sind … Sie hätte zeitlebens so sorgfältig, heroisch über mittelmäßige, kaum wirkliche Wesen oder über wertlose Güter gewacht. Und jetzt mußte sie vielleicht ihre letzte Wacht für die zwecklose Erinnerung an einen Toten an einem leeren Bett halten.

Sie trat einen Schritt auf die Vision zu und lächelte. Sofort begann das Bild zu verblassen, sank in milchigen Schatten zurück, zerrann völlig. Trotz der geschlossenen Fenster und der dreifachen Tüllvorhänge hörte sie jetzt Ferdinandes wütende Stimme, das Klirren der Eimer am Brunnen, ein schrilles Lachen. Anfangs lauschte sie mit einer Art von erschöpfter, fast ungläubiger Überraschung, als kämen diese Geräusche von einem andern Ufer, über eine endlose, rauschende Wasserfläche. Dann war es ihr, als entfernte sie sich mit dem Bruchteil jeder Sekunde unwiederbringlich von den bisher geliebten Menschen. Wie ein Blitz durchfuhr sie der Gedanke, daß sie in einem Augenblick nichts mehr für sie zu tun vermöchte, daß sie tausendmal mehr verloren hätte als ihre klägliche Gegenwart, das Geheimnis ihrer Traurigkeit, ihres Elends, ihrer Lüge, daß das himmlische Band des Mitleids auf ewig zwischen ihnen zerrissen sei, daß sie sie nicht mehr beklagen, ihr dunkles Leiden teilen könne. Sie konnte wähnen, ihr werde abermals ein übernatürlicher Streich gespielt. Die Mutlosigkeit dieser letzten Wochen, die Reihe von Enttäuschungen, der Kampf, den sie eben mit ihrer Großmutter, mit La Pérouse, mit sich selbst bestanden hatte, erschienen ihr als lauter Fallen, als Hindernisse, die vor ihr aufgetürmt waren, um ihre Kräfte zu erschöpfen, sie jetzt in dem Augenblick zur Ohnmacht zu zwingen, wo sie im Begriffe war, das einzige Werk zu vollbringen, zu dem sie geschaffen war: das Heil der schwachen Wesen, für die sie sich vor Gott verantwortlich fühlte. Als sie das gewöhnlichere Teil erwählte, eine Aufgabe, der auch die Ungeschicktesten und Mutlosesten gewachsen waren, hatte sie tatsächlich nur an ihre Sicherheit, ihre Ruhe gedacht. »Geben Sie Gott, was man von den kleinen Kindern verlangt«, hatte der Abbé Chevance gesagt. Und auch er hatte wie ein Kind gelebt, hatte die Wette mit ihr gehalten, auf dieser Herausforderung beharrt, bis er – plötzlich enthüllte sich die List – in den Tod versunken war, ohne ein Wort, ohne eine Träne, nur noch ein Mensch unter Menschen, in feierlicher Preisgabe.

Da trat auf Chantals Lippen das »Zu spät«, die beiden trostlosen Worte, in denen alles Unglück unseres Geschlechts liegt, löste sich in einer erstickten Klage, einem rauhen Aufschrei, der sich gleichsam der Mutterbrust entrang. Wieder sah sie sich, wie sie die alte Frau, an ihr Herz gedrückt, in den Armen trug, durch den Staub und das Blenden des Mittags, unter der mächtigen Sonne. Gott hatte sie geduldig und stark gemacht, um solche Lasten zu tragen; sie aber hatte die harmlosen Spiele der göttlichen Gnade gewählt, die tägliche Aufgabe, die bescheidne Freude, hatte sie mit soviel Sorgfalt und Liebe genährt, obwohl sie niemandem etwas genützt hatte, von keinem begriffen worden war! … So hatte der alte Chevance ihr Leben langsam in Knechtsdiensten aufgebraucht und war schließlich verlassen gestorben, von allen verkannt, selbst für die Tochter seiner Seele ein ungelöstes Rätsel, ein Geheimnis, fast ein Gewissensbiß. »Ich hätte gekonnt, ich hätte gesollt …« stammelte sie mit brennenden Wangen und trocknen Augen. »Ja, wenn es wahr ist, daß sie von mir alles erwarten, was habe ich dann gegeben?«

Sie senkte den Kopf, lauschte abermals durch das geschlossene Fenster, in der unsinnigen Angst, nichts mehr zu hören, als hätte es sein können, daß die kleine Welt, die sie nicht zu retten vermocht hatte, auf einmal untergegangen, in Vergessenheit versunken wäre … Vergessenheit … »Ach, sie hatten ja nur mich«, sagte sie. »Gott vergißt sie.«

Kaum wagte sie, diesen Gedanken an die unwiederbringliche, ewige Einsamkeit zu fassen, so brach er mit einem Schlag jeden Widerstand, gab ihr den letzten Stoß. Mit begierigem Blick schaute sie zu dem Kruzifix an der Wand empor, vermochte sich in ihrem verzehrenden Durst nicht mehr von der unaussprechlichen Quelle abzuwenden. Sie sank in die Knie, stürzte sich ins Gebet, mit zusammengepreßten Lippen, geschlossenen Augen, wie man fällt, wie man stirbt.

 

Bisher hatte sie niemals die seltsame Welt betreten, zu der sie nur auf einen unmerklichen Abhang gelangt war: jetzt fühlte sie, wie sie senkrecht hineinstürzte. Sie glaubte buchstäblich zu hören, wie ein tiefes Wasser über ihr zusammenschlug, und in der Tat sank ihr Körper alsbald unter einer ungeheuern Last nieder, die unablässig zunahm, deren unwiderstehlicher Andrang alles Leben aus ihren Adern vertrieb. Es war gleichsam ein Losreißen von ihrem Wesen, so roh, so schmerzhaft, daß die vergewaltigte Seele nur durch ein furchtbares Schweigen darauf antworten konnte … Und fast in den gleichen unberechenbaren Zeitteilchen schoß das Licht von allen Seiten hervor, bedeckte alles.

»Was habe ich denn gesucht?« fragte Chantal sich. »Wo war ich?« (Sie glaubte, jeden vertrauten Gegenstand nacheinander zu erkennen; es war, als könne sie alle mit jenem inneren Blick, der in ein anderes Licht tauchte, umspannen und umfassen.) »War es denn so schwer, mich in Seine Hände zu geben? Da bin ich.«

Denn nun ward die Vorstellung, die Gewißheit ihrer Ohnmacht zum blendenden Mittelpunkt ihrer Freude, zum Kerne des Flammengestirns. Gerade durch diese Ohnmacht fühlte sie sich Eins mit dem noch unsichtbaren Meister; just dieser gedemütigte Teil ihrer Seele tauchte in den Abgrund von Wonne. Langsam, mit unendlicher Sorgfalt, sog sie liebevoll dies ganze verstreute Licht ein, sammelte es zum Lichtbündel in einem einzigen Punkt ihres Wesens, als hätte sie gehofft, dadurch ein letztes Hindernis zu sprengen, sich durch diese Bresche in Gott zu verlieren. Noch für eine kurze Weile stand die Flut; dann begann die Flammenwoge langsam, tückisch zu sinken, sprühte hier und dort ihren Schaum hin. Der Schmerz tauchte wieder auf wie der schwarze Zahn eines Riffs zwischen zwei Säulen von Sprühregen, doch ohne jedes andere Gefühl, auf das Wesentliche beschränkt, glatt und nackt wie ein von der Flut abgespülter Fels. An diesem Zeichen erkannte Chantal, daß die letzte Strecke durchschritten, ihr bescheidenes Opfer angenommen war, daß die Ängste der letzten Stunden, die Zweifel, ja selbst ihre Gewissensbisse, in dem wunderbaren Mitleid Gottes versunken waren.

Sie wagte weder eine Gebärde zu machen, noch selbst die Augen zu senken. Sie blickte noch immer auf die gleiche Stelle an der Wand, etwas über ihrem Kruzifix. Deutlich empfand sie die Ermüdung ihrer Knie und Hüften, die Schwere ihres Nackens, jene Art von Verhärtung der Augäpfel, die ihren Blick lähmte. Und doch gehörte ihr eigener Schmerz ihr schon nicht mehr an; sie hätte ihn nicht in sich zurückzuhalten vermocht; es war wie das Strömen des kostbaren Blutes eines andern Herzens außerhalb ihres zerbrochenen, vernichteten Leibes. »Ich besitze nichts mehr«, dachte sie mit einer noch naiven und doch schon feierlich-erhabenen Freude, die sie gern wild an ihre Brust gepreßt hätte wie die köstliche Frucht ihrer außerordentlichen Vereinigung … »Wenn Er es wollte, könnte ich sterben.«

Doch es war weniger die Erwartung des Todes oder ihre klare Wonne, was ihre Seele hinschmelzen ließ, als die übermenschliche Gewißheit einer Selbstvernichtung, die so tief war, daß sie ebensowenig leben wie sterben konnte. Gefiel es Gott also, ein so völlig enteignetes, armseliges kleines Wesen zu vernichten, so mußte er mit ihr seinen eignen Todeskampf teilen, sich das letzte erschöpfte Pochen seines Herzens, den letzten Odem seines Mundes nehmen lassen. Ja, sie empfing den Tod aus dieser Hand, die sich für nichts mehr schließen kann, die durch die Nägel für immer geöffnet bleibt. Wie ein Kind die Worte, die es nacheinander von den Mutterlippen empfängt, mit heiliger Folgsamkeit nachspricht, ohne sie zu verstehn, sollte sie Schritt für Schritt in der Finsternis eines Todeskampfes weitergehn, dessen Schwelle noch kein Engel überschritten hat, sollte sie jede Krume dieses furchtbaren Brotes tastend auflesen … Und in derselben Minute wogte die Stille, die sie rief, über sie hin und bedeckte sie.

Gewiß, das Bild des Abbé Chevance, selbst sein Name, schien ihrem Denken ganz fern zu liegen … Und doch geschah das einzige Wunder, daß sie in einer Seelenregung von solcher Reinheit und Unschuld wie keine jener ungeschickten Gebärden, die die Mutterherzen vor Liebe und Mitleid entzücken, die unbestimmte Furcht hegte, ungehorsam gewesen zu sein. Sie wandte sich nach ihrem alten Lehrer um, wie ein neugeborenes Kind im Schlafe weint. Was hätte er wohl gesagt? Was gedacht? Hätte er sie nicht schon längst durch das bange Lächeln, das ihm eigen war, jenes traurige, zärtliche Lächeln zurückgehalten? Hätte er erlaubt, daß sie ihm auf solchen Wegen voranschritt? Denn, o Wunder, es war ja nicht der Überschwang der Verzückung, der sie den letzten Schritt tun ließ, sondern vielmehr die kaum bewußte Bemühung, sich ihr zu entreißen, wieder zu sich zu kommen. Einerlei! Sie war jetzt zu tief in die schrankenlose Gegenwart eingedrungen, vermochte nur noch hinzugleiten wie ein Läufer am Ziel seines Laufes, und während sie die köstliche Gabe, deren sie sich für unwert hielt, noch abzulehnen wähnte, brach das göttliche Sterben über ihr sterbliches Herz herein und trug sie in seinen Fängen fort.

Übrigens hätte sie kaum gewagt, dies neue Wunder vom einfachen Gebet zu unterscheiden, in dem sie so oft den Sinn ihres eignen Lebens, ihr Gleichgewicht, ihr Geheimnis wiedergefunden hatte. Wie oft hatte es sie seit der Kindheit in Gedanken zu dem einsamen Gotte hingezogen, der sich in die Nacht geflüchtet hatte wie ein gedemütigter Vater in die Arme seiner letzten Tochter, der seine menschliche Angst unter schwarzen Ölbäumen im Vergießen von Blut und Tränen langsam aufgezehrt hatte … Eine andere wird morgen bis zum Kreuze gehn, das zu dieser Stunde durch die Türspalten späht, mit dem Hahnenschrei, dem Mondschein, den sie für den ersten Schimmer der grausamen Dämmerung hält. »Wie! Wird diese Nacht denn nie enden?« … Aber Chantal will weiter nichts, als still und geräuschlos, so dicht wie möglich, zu dem großen schweigenden Schatten heranzukriechen, zu dem hohen, kaum gekrümmten Schattenriß, dessen Knie sie zittern zu sehn glaubt. Da wirft sie sich ihm zu Füßen, schmiegt sich an den Boden, fühlt auf Brust und Wangen die herbe Frische der Erde, die eben mit wütender Gier das Naß der unsäglichen Augen getrunken hat, deren einziger Blick, der die Welt schuf, alle Morgenröten und Abende enthält. Der Nebel sinkt nicht mehr Der Wind tut sich über dem kläglichen kleinen Hügel auf. Der steinige Weg mit seinen Schmutzlachen zieht sich einen Augenblick auf dem Kamme hin, dann senkt er sich plötzlich, taucht ins Leere … Ein Fenster glänzt noch an den Abhängen. Woher wird der Verrat kommen?

 

Denn an den Verrat denkt Er, und sie denkt gleichfalls daran. Über den Verrat weint Er; den scheußlichen Gedanken des Verrats sucht Er umsonst aus sich zu vertreiben, Tropfen für Tropfen, mit dem blutigen Schweiß … Wie ein Mensch, als Mensch, hat Er die bescheidene Erbschaft des Menschen geliebt, seinen armen Herd, seinen Tisch, sein Brot und seinen Wein, – die grauen, vom Regenguß vergoldeten Straßen, die Dörfer mit ihrem Rauch, die Häuschen in den Dornhecken, den herabsinkenden Abendfrieden und die Kinder, die auf den Hausschwellen spielen. Das alles hat Er menschlich, wie ein Mensch geliebt, aber so, wie kein Mensch es je geliebt hatte noch lieben wird. So rein, so innig, mit jenem Herzen, das Er mit eigner Hand dazu geschaffen hatte. Und am Vorabend, da stritten die letzten Jünger miteinander über die morgige Tagereise, das Nachtlager und die Lebensmittel wie Soldaten vor einem Nachtmarsch, – wenn auch etwas beschämt, daß sie den Rabbi fast allein dort hinauf hatten gehn lassen. Sie schrien absichtlich laut mit ihren fettigen Bauernstimmen und schlugen einander auf die Schultern wie Viehhirten und Pferdehändler. Er aber segnete die Erstlinge seines nahen Sterbens, wie Er noch am selben Tage Weinstock und Weizen gesegnet hatte, weihte sein Werk, den heiligen Leib, den Seinen, dem schmerzvollen Geschlecht, bot ihn allen Menschen dar, hob ihn ihnen entgegen mit seinen heiligen, ehrwürdigen Händen, über die weite schlummernde Erde, deren Jahreszeiten Er so geliebt hatte. Er bot ihn ein für allemal dar, noch im Glanz und der Kraft seiner Jugend, bevor Er ihn der Furcht preisgab, ihn der scheußlichen Furcht Auge in Auge gegenüber ließ, die ganze endlose Nacht lang, bis zur Auslieferung am Morgen. Und zweifellos bot Er ihn allen Menschen dar, aber Er dachte nur an einen Einzigen. Und dieser Einzige, dem sein Leib wirklich und menschlich gehörte, wie der eines Sklaven seinem Herrn, hatte sich durch List seiner bemächtigt, schon über ihn verfügt wie über ein rechtmäßiges Gut, auf Grund eines ordentlichen, rechtmäßigen Kaufvertrages. Der Einzige also, der das Erbarmen herausfordern, der ebenen Weges in die Verzweiflung eintreten, sie zu seiner Wohnung machen, sich mit Verzweiflung zudecken konnte, wie der erste Mörder sich mit der Nacht zugedeckt hatte. Der einzige Mensch unter den Menschen, der wirklich etwas besaß, der versorgt war, der fortan in alle Ewigkeit nichts mehr von irgendwem zu empfangen hatte.

Doch was liegt daran, was Fräulein de Clergerie mit ihren leiblichen Augen sah oder nicht sah? Der Schrecken, der sie gepackt hatte, blieb klar, glich keinem der Schrecken, die aus den Träumen entstehn und mit ihnen zerrinnen. Während die gewöhnliche Angst untrennbar ist von einer gewissen geheimen Scham, die unsere letzten Kräfte auflöst und uns vollends erniedrigt, quälte dieser die Seele ohne jede Verwirrung. Ihr blitzender Schmerz war so durchsichtig und rein, daß er sie weit über die fleischliche Welt hinausstrahlen läßt. Und doch erkannte das außerordentliche junge Mädchen in dieser Art von wunderbarer, unerträglicher Spiegelung, die Gottes eignes Leid war, die treue Gefährtin, die demütige, aufrichtige Freundin ihres Lebens, ihr eignes Leiden wieder. Wie sie jede tägliche, gewohnte Prüfung, die Beschämung über ein spöttisches Wort, ein mißglücktes Gericht, hingenommen hatte, ohne sie zu suchen noch abzuwehren, so brachte sie sich auch hier naiv dar, verschenkte sich selbst nochmals treuherzig. Keine der Märtyrerinnen, die sie liebte, hatte das Schwert oder das Beil mit gleich holder Hingebung geküßt. Kaum überflog eine leichte Röte ihr Antlitz, während ihre Arme und Schultern aus der Tiefe ihrer Verzückung heraus eine Gebärde versuchten, als wolle sie eine teure Gegenwart beschützen, bedecken, dem schicksalsvollen Schlage entgegengehn …

Nur wenige Schritte weit sah sie angesichts des verlassenen Gottes, der verachteten Liebe, deren feierliches Keuchen sie vernahm, das seltsame, unbegreifliche Wesen, das der Hoffnung entsagt, die Hoffnung des Menschen für dreißig Silberlinge verkauft und sich dann erhängt hat. Sie sah es nicht in dem lächerlichen Akt seines Verrates, als es nur ein kleiner, hungriger, boshafter Jude war, der mit seinen schmutzigen Fingernägeln die Silberstücke in seiner Tasche befühlte und in seiner ungesunden Haut jedesmal zitterte, wenn das Schwert des Zenturio in der Scheide klirrte, sondern zu der Stunde, wo er sein Schicksal vollendete, wo er als schwarze Frucht eines schwarzen Baumes für alle Zeit an der Schwelle des schmählichen Schattenreiches ragte, wie eine gewissenhafte, unbestechliche Schildwache, gegen die das Erbarmen umsonst anstürmt, die keine Vergebung durchlassen wird, damit die Hölle ihren furchtbaren Frieden in Sicherheit auskoste. Der Baum hebt sich langsam über den Horizont, teilt den Himmel in zwei gleiche Teile, reckt seine entfleischte Stirn ins Gewölk empor. Und sie sieht nur noch einen Stamm, eine riesige, mit Rinde bedeckte Säule, als hätte der Baum sich über seiner Frucht geschlossen. Alle Tränen, die sie jetzt auf den Stein rinnen hört, gäben diesem riesigen Galgen keinen Tropfen Saft wieder.

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Da vernahm sie zum letzten Male die unsägliche Klage, sammelte sie in ihrer Seele, wie ein Taucher seine Brust mit Luft anfüllt. Sie wagte es nicht, den Kopf der wunderbaren Vision zuzuwenden, denn sie fürchtete, ihren Blick nicht mehr von ihr ablassen zu können, bevor sie ihre Aufgabe vollbracht hatte. Nein! sie wird nichts empfangen, solange ihr noch etwas zu geben bleibt! … Ihr kam nicht mal der Gedanke, daß sie etwas vollbrachte, was sich vom Tun ihres gewöhnlichen Lebens unterschied, denn ihr kam überhaupt kein Gedanke. Schlicht, wie sie sich sooft für die Sünder dargebracht hatte, mit der gleichen Bewegung schritt sie diesem Sünder aller Sünder mit ausgebreiteten Armen entgegen, bot sich dieser undurchdringlichen Verzweiflung mit einem geheimnisvollen Gefühl dar, das weder ganz Abscheu noch Mitleid, sondern eine Art heiliger Neugier war.

So furchtbar dieser Galgen auch gewachsen war, schon beim ersten Schritt schrumpfte er zusammen, stand plötzlich in Reichweite vor ihrer kleinen Hand, nur noch ein schwarzer, gekrümmter Ölbaum. In seiner tiefen Gabelung war er durch eine dicke Narbe entstellt, dem Kopf einer Weide ähnlich, mit grauen Schuppen und einer Art winterlich verdorrten Mooses bedeckt. Trotz der tiefen Stille, die auf dieser öden Hochfläche herrschte, seit der Wind sich gelegt hatte, glaubte Fräulein Chantal zu hören, wie die starken, knotigen Glieder des Baumes und seine Wurzeln ächzten und knarrten. Dann sah sie die äußerste Spitze der Zweige erbeben, und dies Zittern setzte sich von Blatt zu Blatt fort, bis der mißgestaltete Kopf langsam seine Schale von Moos und Rinde durchbrach und mit scheußlicher Feierlichkeit um sich selbst zu kreisen begann … Doch was Chantal hinwegtrieb, war weniger das Grauen vor einer so groben Vision als die unbestimmte, halbbewußte Angst, daß ein solcher Alp das Ende ihrer Verzückung bezeichnete. Ein letztes Mal maß sie das Hindernis mit den Augen, dann schritt sie darüber hinweg.

»Wohin gehn Sie?« fragte eine sehr langsame Stimme, deren Tonfall sie sofort erkannte. »Gehört es sich, daß ich Sie so hinausgehn lasse?«

Der Abbé Cénabre stand vor ihr.


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