Hilda Bergmann
Von Wichtelmännchen und anderen kleinen Leuten
Hilda Bergmann

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Peter Hax und sein Gang zum Wurzelweiblein.

Unten im Städtlein wohnte ein kleiner Junge, der trug den seltsamen Namen Peter Hax. Er war ein gutes Kind, hing von Herzen an seinem Mütterlein, das sich recht und schlecht mit Nähen fortbrachte, quälte nie ein Tier, zog Hunde nicht am Schweife, pflückte niemals Blumen, um sie fortzuwerfen, ja wenn er in der Regentonne im Garten unten ein Bienchen zappeln sah, das dem Ertrinken nahe war, dann zog er es mitleidig heraus und setzte 74 es auf eine Blume in der Sonne, damit seine Flügelchen trocken wurden. Darum liebten ihn auch Vögel und Blumen und alle die stummen Geschöpfe draußen in der Natur; die Falter setzten sich ihm zutraulich auf die Hand, die Hummeln summten, ohne ihm etwas zu tun, um seinen Kopf und die Blumen ließen sich gerne pflücken, denn sie wußten, sie bekämen täglich frisches Wasser und ständen in einem bunten Glase auf des Mütterleins Nähtisch.

Da wurde das Mütterlein aber eines Tages krank, so krank, daß es nicht mehr beim Nähtisch sitzen und arbeiten konnte, sondern im Bett liegen mußte und viele Schmerzen leiden. Und weder der Doktor mit seinen Arzneien, noch der weise Schäfer aus dem Dorfe konnten dem Mütterlein helfen. Traurig stand Peter eines Tages in dem kleinen Gärtlein hinter dem Hause, das er und die Mutter sommerüber mit den schönsten Blumen bepflanzten. Jetzt war es freilich erst Frühling, die braune Erde duftete und in den Beeten blühten bunte Aurikeln und schlanke, gelbe Narzissen, die dem Peterlein Prinzessinnen zu sein schienen, so stolz trugen sie den Kopf und so schön sahen sie aus in ihren schimmernden Kronen.

»Ach, meine lieben Prinzessinnen,« sagte der kleine Peter und kniete andächtig vor den schlanken Blumen ins Gras, »ach, wenn ihr mir nur sagen könntet, wie mein Mütterlein gesund zu machen wäre. Ich habe solch einen großen Kummer!«

Da war es dem Knaben, als käme aus den goldenen Kelchen ein Flüstern und ganz, ganz leises Singen und als er nun erstaunt hinhörte und vorsichtig näherkam, vernahm er die Worte:

»Wir sind die blühenden Narzissen,
die um verborgne Dinge wissen.
Du hast uns immer wohlgetan,
drum sag' uns deine Wünsche an!«

Da rückte Peter auf den Knien noch näher und sagte den schönen Blumen alles, was er auf dem Herzen hatte und wie der 75 Doktor den Kopf schüttle und der Schäfer in den Bart brumme und niemand seinem Mütterlein helfen könne.

Die Narzissen wiegten ihre Häupter sachte im Winde hin und her. Es schien dem Knaben, als berieten sie sich miteinander und endlich kamen aus dem Kelch der größten und stolzesten von ihnen leise wie Windhauch über Sommerwiesen die Worte:

»Du bist ein herzensgutes Kind,
drum sind wir dir auch wohlgesinnt.
Wer helfen kann, weiß ich genau:
im Walde, die alte Wurzelfrau!«

»Dann will ich mich gleich auf den Weg machen,« sagte das Büblein erfreut und dankbar sprang es auf. »Aber wie finde ich den Weg nach der Wohnung der Wurzelfrau? Der Wald ist groß und tief und ich habe mich schon einmal beim Pilzsuchen darin verirrt!«

»Der gelbe Falter wird dich leiten und Bienen sollen dich begleiten!« sangen die Narzissen abermals mit so feinem Stimmchen, daß Peters Ohr Mühe hatte, sie zu verstehen. Da kam auch schon ein Zitronenfalter von den Aurikeln herübergeflattert, eine Anzahl Bienen summte ebenfalls heran und von diesen geflügelten Boten geleitet, machte das Büblein sich auf den Weg in den Wald, nachdem es noch rasch der schlafenden Mutter ein Tränklein ans Bett gestellt und einen Kuß auf die Hand gedrückt hatte. Als sich die kleine Gesellschaft nun auf den Weg machte, kam noch eine dicke Hummel geflogen mit dem Anerbieten:

»So wahr ich eine Hummel bin,
ich führ' dich zu der Waldfrau hin,«

und ein Heuschreck sprang mit langen Sätzen voraus und rief:

»Hältst du mit mir nur gleichen Schritt,
nehm' ich dich nach dem Walde mit.« 76

So ging es nun ins Freie und eine seltsamere Gesellschaft hatte man wohl noch nicht erblickt, als das Peterlein und seine Kameraden.

»Ja wohin denn, wohin denn?« rauschten die Bäume, fragte der Wind und plätscherte das Bächlein. »Laß uns mitgehen, laß uns mitgehen,« riefen die Tiere in Wiese und Wald und schlossen sich dem Zuge an: ein Häschen, ein Rehlein, ein paar große Frösche und ganz zuletzt eine Weinbergschnecke mit ihrem Haus.

Das war ein lustiges Wandern in den schönen Frühlingswald hinein. Die Birken hatten grüne Festkleider angelegt, die Tannen zum Empfange neue Triebe angesteckt und allenthalben war ein Duft, ein Vogeljubel und eine Glückseligkeit, daß das Peterlein am liebsten juchhe geschrien hätte, wenn da nicht der Gedanke an das kranke Mütterlein gewesen wäre. Tief im Walde, der dem Büblein immer so ernst, feierlich und dämmerig wie eine Kirche erschienen war, – tief im Walde lag eine verborgene, schöne Waldblöße. Peterle kannte sie wohl, denn in ihren gesunden Tagen hatte die Mutter ihn manchmal hergeführt und nirgends waren die Erdbeeren so groß, rot und wohlschmeckend gewesen wie hier. Jetzt freilich gab es noch keine Erdbeeren. Aber am 77 Waldrand neben Gebüschen von Farrenkräutern stand blühender Waldmeister mit weißen Blütensternen und feinem, feinem Duft und die ganze Lichtung war blau von Vergißmeinnicht, so daß es schien, als wäre auf Erden ein zweiter Himmel aufgegangen. Ja, es war über alle Vorstellung schön auf der Waldlichtung.

An ihrem Rande stand ein Häuslein aus Rinden und Moos, gerade groß genug, daß ein Kind eintreten konnte. Hierher führten die Tiere das verwunderte Peterle und sangen, summten, schnarrten, brummten im Chor:

»Wurzelweiblein, komm heraus,
heute will ein Gast ins Haus!
Ist bei uns gar wohlgelitten,
will sich deinen Rat erbitten,
wandert über Stock und Stein,
Wurzelweiblein, laß ihn ein!«

Da tat sich die Tür auf und heraus trat ein winziges Weiblein, so grau und runzelig anzusehen, wie eine knorrige Baumwurzel, aber mit freundlichen, hellen Äuglein in dem faltigen Gesicht. Das Weiblein beschattete die Augen mit der Hand, sah nach der vielköpfigen Gesellschaft hinüber, die vor ihrem Hause saß, stand oder umherflatterte, dann auf das höchst verwunderte Büblein und sagte:

»Ei zum Kuckuck und zum Dachs,
ist das nicht der Peter Hax?«

»Woher kennen Sie mich?« stotterte Peterle ganz verwundert und starrte das Wurzelweiblein mit großen Augen an.

»Ja, ich habe überall meine Boten,« lachte das Wurzelweiblein und zeigte auf die Tiere. »Über und unter der Erde. Es ist mir nie eine Klage über dich zu Ohren gekommen, kleiner Peter! Hast du die roten Marienkäferlein an deinem Fenster gesehen? Hat sich nicht einmal ein Schwälbchen in eure Stube verirrt? Sind nicht jeden Morgen hundert Kohlweißlinge in euer 78 Gärtchen gekommen? Die haben mir alle gesagt, daß du ein gutes Kind bist und keinem Geschöpf ein Leid tun kannst.«

Nein, das hätte das Peterle freilich nicht für möglich gehalten, daß das Wurzelweiblein im tiefen, tiefen Walde seinen Namen kannte und so gut Bescheid wußte.

»Kennen Sie denn auch die andern Kinder?« fragte das Büblein und mußte dabei an die Nachbarskinder denken, die jedes Tier quälten, das ihnen in den Weg kam.

»Freilich, freilich,« sagte das Wurzelweiblein. »Ist oft genug ein Maikäfer mit ausgerissenen Flügeln zu mir gekrochen gekommen und hat sich beklagt. Denen wird weder Blume noch Tier je einen Dienst erweisen und das Wurzelweiblein auch nicht. Aber was führt dich zu mir?«

Da erzählte das Peterlein von seiner kranken Mutter und wie sie nicht stehen und gehen konnte vor Schmerzen. Und weiter, wie die blühenden Narzissen ihm den Rat gegeben hätten, zum Wurzelweiblein zu gehen und um seine Hilfe zu bitten.

»Komm' nur herein,« sagte das Weiblein jetzt und führte den Knaben in die Hütte. Neugierig sah er sich um: Da waren Tisch und Bank, Schrank und Bett, alles so klein, wie es eben für das Wurzelweiblein paßte, da war ein Herd mit einem Kessel darüber und da war ein zahmer Rabe, der den Knaben mit klugen Augen ansah, und eine große Ringelnatter, die zusammengerollt in einem Winkel lag. Ja, der Rabe mußte großes Wohlgefallen an Peterle gefunden haben, denn er flog ihm auf die Schulter und sagte krächzend, aber deutlich: »Peter Hax« zu ihm.

Das Wurzelweiblein hatte inzwischen in dem Schranke gekramt und eine Handvoll getrockneter Wurzeln und Kräuter auf den Tisch gelegt.

»Heilsame Kräuter habe ich die Menge,« sagte sie zum Peterlein. »Für Herz und Magen, gegen kranke Füße und schmerzenden Kopf. Da ist roter Fingerhut, da ist gelbe Arnika, da 79 ist bitteres Tausendguldenkraut. Wollen sehen, mein Büblein, wollen sehen, ob etwas für dein Mütterlein darunter ist!« Und das Wurzelweiblein nahm Kräuter und Wurzelwerk, warf sie in den Kessel, schob ihn übers Feuer, rührte eifrig um und murmelte halb singend dazu:

»Fingerhut und Baldrian
Klettenwurzel, Löwenzahn,
grüne Nieswurz und so weiter,
gute Wurzeln, brave Kräuter,
eingeholt zu nächt'ger Stund',
kommt und macht die Frau gesund.«

Während sie so sprach, flog der Rabe auf ihre Schulter, ringelte sich die Schlange zu ihren Füßen und aus dem Kessel stiegen blaue Dämpfe und starke Gerüche auf, davon bald die ganze Hütte erfüllt war.

Dann goß das Weiblein etwas von dem Inhalte des Kessels in ein Fläschchen, darin es grün und golden schimmerte wie ein Frühlingswald im Morgenglanz, und sagte: »Wenn du nach Hause kommst, Peterle, gib dieses Tränklein deinem Mütterchen und sag' ihr einen schönen Gruß von der Wurzelfrau. Die Arznei soll ihr wohl bekommen!«

Dem Peterlein war es zumute, als träume es und müsse jeden Augenblick erwachen, so seltsam war die Hütte, das graue Weiblein und das Geleite der zahmen Tiere. Jetzt stand es, sein Fläschlein in der Hand, auf der Waldwiese, von deren Rand die Sonne schon ganz schläfrig herüberblinzelte, denn es war mittlerweile spät geworden. Auch die Tiere hatten sich verlaufen, Hase und Reh in den Wald, Falter, Hummel und Bienen in ihre Bettlein. »Geh' nur immer dem Wässerlein nach« sagte die Wurzelfrau. »Das bringt dich auf dem kürzesten Weg ins Tal hinab. Aber zerbrich nur das Fläschchen nicht! Und wenn 80 du wieder etwas brauchst, komm ruhig zu mir, guten Kindern helfe ich immer gern.«

Peterle bedankte sich vielmals, gab dem Wurzelweiblein die Hand und machte sich auf den Heimweg. Die Vergißmeinnicht hatten ihre blauen Kinderaugen schon geschlossen, der Waldmeister war schlafen gegangen und im Walde drinnen war es gar schon dunkel unter den hohen Fichten und Tannen. Aber mit lustigem Geplauder lief das Bächlein über Moos und Steine und sagte zum Peterlein.

»Dunkelheit umhüllet bald
Feld und Wiese, Hag und Wald.
Doch das Bächlein frisch und munter
leitet dich ins Tal hinunter.
Komm, wir springen flink und stracks
bis nach Hause, Peter Hax!«

So lief Peterle neben dem Bächlein her und das paßte wohl auf, daß dem Büblein nichts geschähe.

»Achtung, ein Stein,« rief es und hops, sprang Peterle drüber. Und so eilten die beiden durch den tiefen Wald und über die schlafenden Wiesen bis zum Städtlein hinunter, wo Peterle zu Hause war.

Die Mutter schlief noch immer, als das Büblein ins Zimmer kam. »Ich will sie ein wenig an das Tränklein der Wurzelfrau riechen lassen,« dachte es und hielt der Schlafenden das Fläschchen unter die Nase. Ein feiner, wundersamer Duft entstieg ihm, ein Duft blühender Blumen und Gräser, ja einer ganzen in Blüte stehenden Wiese. Die Mutter atmete den Duft in langen Zügen, dann öffnete sie die Augen und sah sich verwundert um. »Ach, Peterle,« sagte sie und zog das Büblein zu sich. »Jetzt hatte ich einen ganz wundervollen Traum. Ich saß auf der Waldlichtung oben im Grase, vor mir blühte roter Fingerhut und blasser 81 Baldrian, Königskerze und Natternkopf; die Sonne schien so unbeschreiblich schön, die Bienen summten und ich war ganz, ganz gesund!«

»Das kommt schon noch, Mütterlein,« tröstete sie der Kleine. »Ich habe dir ein Tränklein mitgebracht, da sind alle guten Kräuter von Wiese und Wald darin; die werden dir schon gut tun!« Er goß den grünen Trank in eine Schale und die Mutter schlürfte ihn bis zum letzten Tropfen. Dann schlief sie wieder ein.

Am nächsten Morgen war Peters erster Gedanke, wie die Medizin der Wurzelfrau der Mutter angeschlagen haben mochte. Die ganze Nacht hatte er von seinem Erlebnis geträumt: Die Wurzelfrau hätte den Raben auf der Schulter und die Schlange um den Arm gewickelt gehabt und ihr Sprüchlein gemurmelt:

»Fingerhut und Baldrian,
Klettenwurzel, Löwenzahn,«

er aber wäre mit dem Fläschlein gestolpert und hätte es zerbrochen, kurz, Peter war froh, als es Morgen war. Da saß aber die Mutter auch schon aufrecht im Bett, hatte frische Augen und rosige Wangen und sagte: »Lauf', Peterle, und geh' die Ziege melken, ich habe schrecklichen Hunger!«

Ihr könnt euch denken, wie glücklich Peterle war. »Die ganze Nacht träumte ich von der Sommerwiese,« setzte die Mutter mit seligem Lächeln fort. »Jetzt glaube ich, daß ich wieder gesund werde!«

Und so war es auch. Von Tag zu Tag ging es ihr besser. Bald konnte sie in der Stube herumgehen, dann das Gärtchen besuchen und als der Sommer ins Land kam, da hatte sie ihre alten Kräfte wieder und das Peterle führte sie auf die Waldlichtung hinaus. Hier stand jetzt gelbe Arnika und Baldrian, Fingerhut und Ehrenpreis neben vielen wohlriechenden und heilsamen Kräutern und ein Heer von Bienen und Schmetterlingen schwirrte darüber hin. Jetzt erzählte Peter der Mutter sein Erlebnis 82 mit dem Wurzelweiblein und wie es geholfen hatte und führte die verwunderte Frau zu der Stelle, wo das Rindenhäuschen gestanden hatte. Aber von dem Häuschen war keine Spur zu sehen, so wenig wie von dem Wurzelweiblein selbst oder seinen zahmen Tieren.

»Das tut nichts,« tröstete Peterle sich und die Mutter. »Das Wurzelweiblein hat überall seine Boten; die werden es ihm schon sagen, daß wir hier waren und uns bedanken wollten, weil das gute Tränklein dir geholfen hat. Ich will den Bienen und Käfern, den Grillen und Faltern ein Sprüchlein hersagen, damit sie es dem Wurzelweiblein bestellen.« Und das Peterlein stellte sich mitten unter die Blumen und sprach mit lauter Stimme:

»Fingerhut und Baldrian,
Klettenwurzel, Löwenzahn,
grüne Nieswurz und so weiter,
Arnika und gute Kräuter,
habet Dank zu dieser Stund',
seht, die Mutter ist gesund!« 83

 


 


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