Hilda Bergmann
Von Wichtelmännchen und anderen kleinen Leuten
Hilda Bergmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vom Jaköblein, das immer weinen tat.

»Huh,« hörte man es eines schönen Sommertages auf der blühenden Waldwiese weinen . . . Die Blumen hoben die Kelche, die Gräser steckten die Köpfe zusammen und der Wind sah sich neugierig nach der Stelle um, von der das jämmerliche Schluchzen kam. Aber der große, grüne Heuschreck stellte für einen Augenblick sein Gezirpe ein und sagte: »Ach, es hat weiter nichts zu sagen. Das ist nur das Jaköblein, das immer weinen tut.« Das Jaköblein, das sich also bemerkbar machte, war ein Mäuserich, ein allerliebster, kleiner Mäuserich. Er besaß ein glänzendes graubraunes Fell, eine appetitliche, spitze Schnauze mit zwei feinen Nagezähnchen darin, er hatte zwei blanke, schwarze Äuglein und hätte sorglos und in Freuden leben können, hätte er nur nicht den großen Fehler gehabt, immer weinen zu müssen.

Sagte die Mäusemutter früh am Morgen zu ihm. »Steh auf, Jaköblein, die Sonne ist schon am Himmel, wir wollen schnell einmal nach dem Kornfeld laufen und sehen, ob die Körnlein noch nicht bald reif werden,« da erwiderte das Jaköblein: »Huh, dort wird es heiß sein, die Sonne wird mit ihren Strahlen nach mir stechen!« und weinte bitterlich. Und regnete es, dann weinte der kleine Mäuserich wieder, weil der Regen sein schönes Pelzlein verdürbe. Vom guten Mond behauptete er, er schnitte ihm ein höhnisches Gesicht, um ihn zu ängstigen und zu erschrecken, die Gräser jagten ihm Furcht ein mit dem leisen Geflüster ihrer Rispen und der Wald mit dem feierlichen Rauschen seiner Bäume. Kurz, kein Tag stieg blau über der schönen Wiese auf und ging dämmernd zur Ruhe, an dem das Jaköblein nicht Ursache zum Weinen gefunden hätte. Ja, er war ein recht törichter Tropf, der ewig 22 betrübte kleine Mäuserich; gab es schon gar keinen Grund zur Klage, tanzten die Schmetterlinge, spielten die Mücken, dufteten die Blumen und jubelten die Vögel ringsum vor Sommerfreude und Seligkeit, dann grübelte das Jaköblein, ob nicht einmal ein Gevatter Storch oder ein Habicht kommen und es verzehren könnte. Und dann war es natürlich mit aller Freude vorbei. Weit und breit lachte alles, das ihn kannte, den dummen, kleinen Mäuserich gehörig aus. »Weinprinz und Heulpeter«, nannten ihn seine Geschwister, die anderen Feldmäuse; die Grillen kicherten, wenn sie ihn sahen, das Wässerlein gluckste vor heimlichem Lachen und die Kröte sagte: »All mein Lebtag hab' ich solch ein Kind nicht gesehen. Das müßte zu meinem Vetter, dem Doktor Frosch, geschickt werden. Der würde ihm schon das Weinen vertreiben.« 23

Das hörte die Mäusefrau, die eben an der Wohnung der Kröte vorüberlief. »Mann,« sagte sie zu dem Mäusevater, als sie am Abend dieses Tages vor der Haustüre saßen und auf den Gräserwald der Wiese blickten, die im Mondlicht dalag:

»Mann, mit dem Jaköblein geht das nicht so fort. Soeben hat es wieder geweint, weil der Mond ihm ein schiefes Gesicht schnitte und aus der Mäuseschule schicken sie es mir alle Augenblicke heim, weil es den Unterricht stört. Da hörte ich von der Kröte, daß ihr Vetter, der Doktor Frosch, da helfen könnte. Ich muß es doch einmal versuchen!« »Hm,« brummte der Mäusevater ärgerlich. »Eine zu dumme Geschichte! In meinem Leben habe ich nicht geweint und muß ein Kind haben, das früh, mittags und abends weint, so wie andere Leute essen. Wirklich, eine dumme Geschichte!« Und er stopfte sich ein Pfeifchen und begann dicke Wolken Rauchs von sich zu blasen. 24

Die Mäusin aber bürstete am nächsten Morgen dem Jaköblein das silberige Fellchen mit besonderer Sorgfalt, kämmte es, wischte ihm die Augen aus, hing ihm ein Proviantkörbchen um und sagte: »Jaköblein, wir besuchen heute den Onkel Frosch in seinem Wasserschloß! Der Tag ist so lieblich, die Luft so frisch, just das richtige Wetter für eine Landpartie!« Für jedes andere Mäusekind hätte die Aussicht, an dem schönen Tag schulfrei zu sein und eine Landpartie machen zu dürfen, den Gipfel der Seligkeit bedeutet. Jedes andere wäre gesprungen und hätte getanzt und gejubelt. Nur das Jaköblein machte ein grämliches Gesicht! »Wie weit ist es zum Wasserschloß vom Onkel Frosch? Werden mir nicht die Füße weh tun? Werden die Wege nicht schlecht sein? Wird . . .«

Aber da faßte die Mutter es an der Hand und zog das widerstrebende Jaköblein mit sich fort.

Es war wahrhaftig ein himmlischer Tag, den Mutter Maus für den Ausflug gewählt hatte. Wiese und Wald, Feld und Au strahlten in Sonne und Morgentau. Alles freute sich. Nur das Jaköblein hatte keinen Blick für all die Schönheit ringsum. »Ich habe Hunger,« jammerte es nach der ersten Viertelstunde und aß den Vorrat aus seinem Eßkörbchen auf. »Ich habe Durst,« klagte es nach der zweiten Viertelstunde, nach der dritten aber setzte es sich am Wegrande nieder, zog sein Taschentüchlein heraus und begann zu schluchzen, daß ihm seine Beine weh täten von dem langen Weg und daß es um keinen Preis weiterginge. »Schäme dich doch, Jaköblein, alle Leute lachen dich aus!« sagte erzürnt die Mäusemutter und zog dem Jaköblein das Taschentuch fort. Und wirklich, die Birken am Wege schüttelten sich vor Lachen über das betrübte Mäuslein, die Wellen des Bächleins kollerten kichernd über die Steine und selbst die fleißigen Ameisen blieben stehen und schüttelten die Köpfe. Nein, niemand hatte noch einen so törichten kleinen Mäuserich gesehen. Das Wasserschloß des Doktors Frosch lag am Ende des großen Weihers zwischen 25 Steinblöcken und Brombeergerank verborgen und oftmals mußte Mutter Maus nach dem Wege fragen. »Wart nur, Jaköblein, hier wirst du das Weinen verlernen,« sagte die Mutter zu dem jammernden Sprößling, den sie hinter sich herzog. Durch Wälder von Huflattich und Sumpfpflanzen ging es, durch Brennesseln und Dorndickicht. Als sie um eine Ecke bogen, lag auf einem flachen Stein ein großer, dicker, brauner Frosch und sonnte sich. »Koax, was für Besuch bekomme ich?« sagte er mit fetter Stimme und sprang klatschend von seinem Stein. Das war der berühmte Doktor Frosch, der dem Jaköblein das Weinen vertreiben sollte.

»Gib dem Onkel schön die Hand!« mahnte die Mutter den kleinen Mäuserich, der sich hinter ihr versteckt hatte. »Huh,« heulte indessen das Jaköblein hinter ihrem Rücken hervor. »Der Onkel Frosch hat einen breiten Mund! Er hat eine garstige, braune Haut! Er hat häßliche Füße! Hier bleibe ich nicht! Heim will ich!«

Aber da hatte der Doktor Frosch auch schon das Mäuslein bei der Hand gepackt. »Werdens schon machen!« nickte er der Mäusemutter zu. »Von heute in vier Wochen kann das Bürschchen abgeholt werden! Ein bißchen kalte Kur, ein paar Kniegüsse und etwas Wassertreten und das dumme Weinen vergeht.« Und er führte das Jaköblein in das Innere seiner Behausung, die sich zwischen Steinblöcken und Wasserpflanzen weit in den grünen Weiher hineinzog. Hier kamen den beiden noch andere Patienten des Doktors entgegen, von gar verschiedener Art: da war die berühmte Sängerin Drossel, die ihre Stimme verloren hatte, da war ein Maulwurf, der sich in einer Falle ein Bein verletzt hatte und ein großer, grüner Heuschreck mit geschwollener Backe. Sie alle wollten in der Kuranstalt des Doktor Frosch wieder gesund werden.

»Hier bringe ich das Jaköblein, das immer weinen will,« stellte Doktor Frosch den Mäuserich vor und brachte ihn einer älteren Dame, die ihn durch große Brillengläser aufmerksam 26 ansah. »Das ist meine Wirtschafterin, Frau Unke,« setzte er hinzu. Frau Unke hatte eine große weiße Schürze über ihr braunes Kleid gebunden, streichelte dem Jaköblein Kopf und Fell und rief: »Nein, was für ein allerliebster kleiner Mäuserich! Dem wollen wir das Weinen schon vertreiben!« Bis hieher war alles gut gegangen. Jetzt setzte man sich zum Essen und das Jaköblein fühlte nach der langen Wanderung einen kräftigen Hunger. »Was es wohl hier zum Mittagstisch geben wird?« dachte es neugierig und schnupperte mit dem spitzen Schnäuzlein. Als Vorspeise kamen gebackene Weizenkörner, die konnte man sich gefallen lassen. Das Jaköblein knabberte mit seinen Nagezähnchen daran und ließ auch nicht ein einziges stehen. Aber dann! Aber dann!

In einer Sauerampferbrühe schwammen gesottene Fliegen, denkt euch nur, gesottene Fliegen!

Der heiseren Singdrossel machte das gar nichts, sie pickte die Fliegen mit dem Schnabel heraus. Auch der Maulwurf war von seinen Engerlingen her nicht verwöhnt. Der Heuschreck mit der geschwollenen Backe stocherte drinnen herum, entschuldigte sich dann mit Zahnschmerzen und sprang ins Freie. Das Jaköblein aber begann zu weinen und zu schreien. »Huh, gesottene Fliegen esse ich nicht, das kann niemand von mir verlangen!« Und es schluchzte zum Steinerweichen.

Onkel Frosch schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Gesottene Fliegen sind ein nahrhaftes und liebliches Essen,« sagte er in verweisendem Tone. »Ich wüßte nichts, das mir besser schmeckte.« Aber das Jaköblein weinte fort. Da gab der Doktor Frau Unke einen Wink und sie führte das Jaköblein an den Rand des Wassers. Onkel Frosch aber sprang in seiner ganzen Größe und Breite hinein, also daß das Jaköblein vom Kopf bis zu den Füßen naß und gebadet dastand und einen jämmerlichen Anblick bot. »Jetzt einen Kopfguß,« kommandierte Onkel Frosch und spritzte. »Jetzt einen Knieguß,« setzte er fort und spritzte. »Wa–wa–wa–warten Sie 27 ein bißchen,« war alles, was das entsetzte Jaköblein hervorstottern konnte, denn das Reden war ihm ebenso wie das Weinen völlig vergangen. Nun kam Frau Unke mit einem großen, grünen, an der Sonne gewärmten Huflattichblatt angelaufen und rieb das Jaköblein trocken. »Jetzt eine halbe Stunde spazierengehen,« befahl der Frosch, »und dann ins Bett!« Und mit den Zähnen klappernd gehorchte der Mäuserich.

Am nächsten Morgen gab es gebratene schwarze Nacktschnecken und das Jaköblein zeterte aufs neue. Und als darauf wieder die kalten Güsse folgten, dachte der kleine Mäuserich, Heimweh im Herzen, an die schöne, sonnige Wiese, die Eltern und Geschwister und wie gut es ihm daheim gegangen sei, und während es in seinem Huflattichbademantel am Ufer saß, kollerten ihm die dicken Tränen über die Wangen. »Das werd' ich meinem Papa sagen,« schluchzte er. »Das wird mein Papa nicht erlauben, daß man mich so behandelt.«

Am dritten Tage aber schien die Sonne so hell, über dem glänzenden Wasser des Weihers tanzten die goldgrünen und blausilbernen Libellen mit klirrenden durchsichtigen Flügeln, am Teiche ruderten schwarze Schwimmkäfer mit gelben Borten vergnügt umher und die dünnen Wasserspinnen schossen hin und her, ja, eine gelbe Teichrose hatte ihre Blüte aufgetan und auf ihren grünen Blättern saßen kleine Fröschlein und hatten Singstunde, – da vergaß zum ersten Male in seinem Leben das Jaköblein aufs Weinen und sah mit helleren, ja beinahe schon vergnügten Augen in die Welt, in der alles so vergnügt flatterte oder tanzte, brummte oder sang. Und das Jaköblein weinte an diesem Tage nicht einmal, als es Mückensalat und Nesselgemüse gab, ja, es aß sogar tüchtig mit.

»Mir scheint, meine Kur beginnt zu wirken,« quakte Onkel Frosch und lachte mit seinem breiten Mund, der von einem Ohr zum andern reichte, und badete, begoß und bespritzte den kleinen 28 Mäuserich, daß es eine Art hatte. Und schon machte sich das Jaköblein nichts daraus, schon spritzte es selber im seichten Wasser umher und Doktor Frosch meinte anerkennend: »Wie schade, daß du nicht mit Schwimmfüßen auf die Welt gekommen bist, du hättest einen ganz ordentlichen Frosch abgegeben, Jaköblein!«

Auch den andern Patienten hatte Doktor Frosch mit der Zeit geholfen. Der Maulwurf konnte wieder laufen, die Heuschrecke hatte ihre geschwollene Backe verloren und die heisere Drossel begann schon ganz, ganz leise zu flöten. Gewiß, sie würde ihre Stimme wiederbekommen. Auf den Tag, als die vier Wochen um waren, erschien die Mutter Maus im Wasserschloß. »Wie werde ich mein Jaköblein wiederfinden?« hatte sie den ganzen Weg gedacht. »Was wird das arme Kind machen!« Aber schon vor dem Weiher kam ihr der Onkel Frosch entgegen und führte an der Hand einen munteren kleinen Mäuserich, der die Ohren nicht mehr hängen ließ, sondern vergnügt spitzte und der Mutter freudig in die Arme lief.

»Ja, du meine Güte,« staunte die Mutter Maus und wußte nicht, ob sie ihren Augen trauen solle: »Soll das am Ende gar mein heulendes Jaköblein sein?«

»Das Jaköblein ist es wohl,« lachte Doktor Frosch übers ganze Gesicht. »Aber das Weinen haben wir ihm gründlich ausgetrieben! Das lacht und piepst, tanzt und springt jetzt den ganzen lieben Tag!«

Die Mutter Maus konnte sich noch immer nicht fassen und fiel von einem Erstaunen ins andere: »Und zu Hause? Wird da die ewige Weinerei nicht wieder angehen und das Jammern und Klagen?« fragte sie. »Ich glaube nicht,« entgegnete der Doktor Frosch. »Das Jaköblein sieht jetzt, wie schön die Welt ist, wie sonnig die Wiese, wie blumig die Au. Auf das Weinen hat es ganz vergessen.« 29

Da bedankte sich die Mäusemutter vielmals bei dem guten Frosch und überglücklich trat sie mit ihrem lustig gewordenen Söhnlein den Heimweg an. »Da kommt ja das heulende Jaköblein,« sagten die Ameisen schon von weitem und blieben neugierig am Wege stehen. »Lieber Himmel, ist das nicht der weinende Mäusejunge?« plätscherte das Bächlein und begann gleich zu lachen und zu glucksen. Und die Grashalme und die Blumen am Weg steckten die Köpfe zusammen und machten sich über den Heulpeter lustig. Aber als das Jaköblein näher kam, da war es gar kein weinendes mehr, im Gegenteil, es lachte übers ganze Gesicht und alle Ameisen, Gräser, Blumen und das flinke Bächlein lachten mit.

»Grüß Gott, liebe Ameisen,« grüßte das Jaköblein und das hätte es in seiner vielen Betrübnis all sein Lebtag nicht getan. »Immer eilig, immer fleißig bei dem schönen Wetter?« Die Mäusemutter traute ihren Ohren nicht. War das ihr trübseliges, unfreundliches Jaköblein? Das war unverdrossen zum Bächlein gekommen und sagte. »Ei, guten Morgen, lustiges Wässerlein! Wie freue ich mich, daß du so munter über Stock und Stein springst!« Zu den Blumen und Gräsern aber sagte das Jaköblein: »Wie schön heute die Sonne scheint! Ist es nicht ein Vergnügen, auf der Welt zu sein?«

Die angeredeten Ameisen, Wellen, Kräuter und Blumen waren ganz erstaunt, das betrübte Jaköblein so verändert zu finden und riefen: »Wie schön, daß du ein lustiger Mäuserich geworden bist, kleines Jaköblein!«

Auf der Wiese hub erst recht ein allgemeines Staunen und Kopfschütteln an: »Nein, Jaköblein, wie freundlich du geworden bist,« zirpten die Grillen. »Ach, Jaköblein, wie vergnügt du geworden bist,« läuteten die Glockenblumen. »Es ist viel netter, wenn du mit uns lachst und spielst, als das ewige Weinen,« meinten die Schmetterlinge. »Nichts langweiliger als ein 30 heulender Mäuserich,« brummten die Bienen. Daheim aber war eine Inschrift angebracht: »Willkommen in der Heimat,« und auf dem Tische stand die Lieblingsspeise des kleinen Mäuserichs, eine feine Weizenkörnertorte mit der Widmung: »Dem lustigen Jaköblein«! Ja, jetzt fand es das Jaköblein auch viel, viel schöner, lustig und guter Dinge zu sein, und es war dem Onkel Frosch von Herzen dankbar, der ihm dazu verholfen hatte. 31

 


 


 << zurück weiter >>