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6

So leichtfüßig wie seine Wünsche ist niemand. Es sei denn, daß jemand sich selbst vorausspringen könne. Was schwierig scheint.

Immerhin waren Spreemanns Pläne schon so weit gediehen, daß man sie bei allen Mahlzeiten besprach.

Ilka meinte, daß Hans und Christian als Soldaten jeden Morgen an ihren Fenstern vorüberreiten und hinaufgrüßen müßten.

Als sie hörte, daß man zu Fuß marschieren müsse, war sie sehr enttäuscht.

»Zu Fuß? Pfui!« rief sie.

Hans meinte, daß sie doch stolz sein solle, daß sie die Rappen aus ihres Vaters Ställen reiten würden.

Da lachte sie.

Auch Spreemann lachte. Der Junge hatte auf alles die rechte Antwort.

Ob Christian von alledem etwas hörte, wußte man nicht. Er war nicht gesprächig. Wenn er wieder eine Frage überhört hatte, riefen Hans und Ilka:

»Christian ist in Schöneberg!«

Der Grund zu dieser Neckerei war, daß sich Christian mit den Schöneberger Verwandten angefreundet hatte und viele Sonntage bei ihnen verbrachte.

Ein Vergnügen, das ihm keiner mißgönnte und niemand streitig machen wollte.

Denn in der Mühle herrschte ein dumpfes, gehässiges Schweigen. Wer eintrat, bekam etwas Unangenehmes zu hören. Der Müller war vor der Zeit alt geworden. Sein einziger Sohn war im Krieg gefallen. War fortgezogen, und niemand hatte ihn wiedergesehen. So glaubte er sich um alles Glück und Gedeihen betrogen. Trotzdem er eine Tochter hatte, die sechzehnjährig war.

Aber Christian war gern dort. Die weiten Wiesen und das Surren der Mühlenflügel gefielen ihm. Auch die blonde Annalise. Sie war stets traurig, aber wurde froh, wenn er kam. Sie war ganz das Gegenteil der schwarzen Ilka.

Weithin gehörten die Felder dem Müller. Wenn er ein Spargeld hatte, kaufte er ein neues Wiesenstück dazu.

Er wollte sehen können, was er besaß. Der Geldschrank war ihm zu finster.«

Seine Verwandtschaft spottete, daß er Sümpfe sammle.

Nur Christian lobte die Wiesen. Wenn sie grün und wenn sie weiß waren. Das brachte eine gewisse Eintracht zwischen ihn und den knurrigen Müller.

»Vielleicht nehmen sie nur Hans zu den Soldaten«, sagte Annalise, hob die Augen von der Häkelarbeit und sah über die Wiesen und Tausendschönchen.

Christian antwortete, daß dies eine rechte Freude für Ilka sein würde, die er ihr nicht gönnen möchte.

»Sorgt auch sie sich um dich?« fragte Annalise sehr eilig.

»Sie würde mich auslachen«, sagte Christian. »Angst kennt sie nicht.«

Er wurde redselig und erzählte vieles von Ilkas Keckheit.

»Sprich nur«, sagte Annalise. »Es ist gesund, wenn man sich Unangenehmes vom Hals redet.«

Und Christian sprach von Ilka, bis alle Felder im Abendrot standen und er eilig Abschied nehmen mußte. Ilka mußte ihm wirklich ganz besonders unangenehm sein ...

»Wenn sie nur einen nehmen würde ...«

Auch in andern Köpfen war dieser Gedanke schon aufgesprungen.

»Einen? Aber wen? Man hatte doch jeden so lieb wie den andern.«

Nur eins war merkwürdig, man konnte sich einen blonden Soldaten nicht so deutlich vorstellen wie einen brünetten.

Es sind nicht immer die andern, die uns betrügen ...

Aber besser ist, man weiß, was man will.

Hans litt an keinem Zwiespalt.

Er sagte sich, daß es doch wieder Krieg werden könne und eine Kanonenkugel viel unangenehmer sein könne als Ilkas spitzester Spott. Und wenn auch nicht jede Kugel treffen würde, denn wo gibt's ein Geschäft, wo alles reüssiert – man konnte trotzdem nicht wissen, was einem geschehen könne. Es war kein Handel, der sich berechnen ließ.

Unsichere Abschlüsse aber liebte Hans nicht. Es war Tradition in ihm ...

So plante und vermutete sich jeder auf seine Weise durch die Zeit der Erwartung.

Und eines Tages war die Entscheidung da.

Spreemanns saßen wieder um den Abendtisch, über dessen weißem Tuch die Lampe klar und gleichmäßig wie immer brannte. Man aß Rührei und Bückling, wie man es in jeder Woche einmal gewohnt war. Aber heute wußte man plötzlich, daß der blonde Christian Soldat werden würde. Hans aber wegen Weitsichtigkeit dienstfrei geworden sei.

Ilka, die schon oben mit ihrem Vater gespeist hatte, schwippte zwischen ihnen auf einer Stuhllehne und äugte mit schrägem Kopf nach Christian.

Den ganzen Tag lang umsummte sie heute das Stück eines Liedes: »Und alle Mädchen freuen sich, wenn die Soldaten kommen«, rauschte es beständig in ihre rosa Ohrmuscheln.

Aber die blonde Schmachtmamsell in Schöneberg würde gewiß Tränen weinen, daß eine ganze Kommission Christian wert befunden hatte, ein Beschützer des Vaterlandes zu werden.

Christian kaute das Rührei, wie wenn es Steine wären. Er sah vor sich hin. Natürlich dachte er an sie und war in Schöneberg.

Jetzt drehte er doch den Kopf. Kaum, daß Ilka noch Zeit fand, ihre Blicke geschwind auf Hans zu richten.

Christian wendete seine Augen langsam wieder fort. Er hatte sich von etwas überzeugt, das er schon vorher gewußt hatte. Daß es für Ilka nur Hans gab.

Spreemann und Lieschen hatten viel mit Hans zu reden.

Sie waren über alle Maßen erstaunt. Sie hatten gar keine Ahnung gehabt von dieser sonderbaren Eigenart der Sehkraft ihres Sohnes.

Hans meinte, daß man früher doch keinerlei Gelegenheit gehabt, dies zu bemerken. Alles muß sich schließlich einmal zum erstenmal zeigen.

Sie fragten, ob er nicht eine Brille brauchen werde. Er war der Ansicht, daß es auch ohne eine solche gehen würde. Genau wie er doch bis heute keine nötig gehabt hätte.

»Bist du froh, daß du frei bist?« fragte Ilka.

»Es paßt zufällig in meine Pläne«, antwortete Hans. »Ihr werdet staunen, was ich vorhabe. Papa soll nicht umsonst vorgebaut haben.«

Madame Lieschen sah von ihm zu Spreemann und fand, daß sich Vater und Sohn ähnlich sahen wie Brüder.

Spreemann aber sagte, daß Hans nicht immer so laut zu sprechen brauche, er sei noch nicht taub. Und dann meinte er, daß »vorgebaut« doch ein etwas schwacher Ausdruck in diesem Falle sei. Hans könne wohl dreist aufgebaut sagen. Hans lächelte. Er öffnete den Mund, wie wenn er reden wollte, aber dann schwieg er.

Madame Lieschen, die ihn beständig beobachtete, weil sie seinen Augen gern das Besondere angesehen hätte, fand die Ähnlichkeit mit dem Vater in diesem Augenblick noch mehr verschärft. Der Junge hatte genau das gleiche Lächeln unter den Augen, das sie bei Spreemann gekannt hatte, als die Jungen klein waren und Dummheiten machten.

Wovon hatte man denn eigentlich gesprochen? Bei aller nachdenklichen Beobachtung hatte sie wieder ganz vergessen, zuzuhören.

Mit verlegenem Lächeln bot sie noch einmal das Rührei und den Bratfisch an. Aber alle dankten.

»Bist du bange, weil du Soldat werden sollst, mein kleiner Christian?« tönte Ilkas Stimme scharf in das Schweigen.

Christian hob ruhig den Kopf und lächelte.

»Froh bin ich«, sagte er. »Wie schön muß es sein, stundenlang auf der Landstraße zu marschieren, weit hinaus – weit – weit alles hinter sich – und bei jeder Ecke, um die man biegt – Neues – Unbekanntes vor sich.«

Spreemann, der gerade seine Pfeife anzünden wollte, zog sie erstaunt wieder aus dem Mund. Die Hand um den schwarzen Bären, der mit dem Halsring am Pfeifenkopf klebte, dachte er:

An wen nur erinnert der Junge jetzt ... ?


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