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2

Friedlich war dieser sonnige Tag in die Nacht gesickert. Man hatte die Fenster offenhalten können, bis man schlafen ging. Und während man um den Abendtisch saß, hörte man von der Straße her das Lachen und Geplauder der heimkehrenden Ausflügler.

Um acht wurde Tante Karoline müde. Jeder der langen Zwillinge reichte ihr feierlich einen Arm, um sie im Polonaisenschritt nach Hause zu geleiten.

»Ist es möglich, daß man diese Riesen auf den Knien geschaukelt hat«, sagte sie, und mit einem glücklichen Lächeln in den verhutzelten Zügen ließ sie sich davonführen.

In der Tür gab es noch eine kurze Begrüßung. Kreisrat Giesecke kam mit seiner Rätin noch einen Augenblick herunter. Er berichtete die neuesten Kriegsmeldungen und versicherte, daß man bald Sieg und Frieden haben würde. Und die Rätin notierte sich rasch das Rezept der roten Himbeergrütze, die Madame Lieschen so vortrefflich zu bereiten verstand.

Denn eigentlich war es ein Abschiedsbesuch. In wenigen Tagen verließ die Familie Giesecke ihre alte Wohnung. Man war pensioniert und zog zur Stadt hinaus, wo man für wenig Miete sehr viel Luft und grüne Bäume hatte.

Sie kannten schon Spreemanns künftigen Nachbarn. Es war ein Schuhfabrikant. Einer von den neuen Männern, die mit den neuen Maschinen das alte Handwerk ruinierten.

»Es wird sich manches verändern«, sagte der Kreisrat.

Und ehe sie sich empfahlen, erzählte er noch, daß auch das ehemalige Haus des Herrn Jung – der nun längst viel höher geflogen war als seine Tauben – ein drittes Stockwerk aufgeklebt kriegen sollte.

»Sie können jetzt nicht hoch genug hinaus«, sagte er.

Aber Spreemann hatte das alles wenig berührt. In tiefem Sonntagsfrieden waren Herz und Gedanken bei seinem Lieschen, seinen großen Jungen und seinem Geschäft geblieben. Alles andere lag weit draußen.

Aus unserm Innern aber wächst unser Schicksal.

Wie oft dachte Spreemann an diesen Sonntag zurück. Je mehr Zeit sich dazwischenschob, um so friedlicher und sonniger leuchtete er auf. Er wurde ein Markstein.

War er nicht der letzte Tag gewesen, wo man sich so recht am richtigen Platze gefühlt? Als Mann, der es zusammen mit seiner Arbeit zu etwas gebracht hatte.

Nur daß man vergessen, daß uns die Zeit, die uns großzieht, auch auffrißt. Langsam mästet sie uns. Bedächtig kaut sie uns ...

Schon am andern Morgen regte sich fremde Unruhe in den stillen Stuben.

Lieschen ließ Spreemann aus dem Laden rufen. Sie hatte mit ihm zu sprechen.

Was war es?

Lieschen hatte unter Christians Kopfkissen Zeichnungen gefunden. Rundliche, sehr rundliche Frauengestalten. Ohne jede Art von Kostümierung. Trotzdem Christian gerade in der Bekleidungsbranche hätte bewandert sein müssen.

Spreemann sah sich die Zeichnungen genau an. Er setzte seine neue schärfere Brille dazu auf und meinte, daß sie wohl übertrieben, aber eigentlich recht nett seien.

Lieschen zog ihm die Blätter ärgerlich fort und sagte, daß dies Nebensache sei. Es war nicht zu fassen, woher der Junge diese Ideen habe. Denn auf der Handelsschule sehe er doch auch nicht dergleichen Unrat.

»Unrat ist zuviel gesagt«, lenkte Spreemann ein.

Aber Madame Lieschen sagte, daß seine väterliche Nachsicht hier zu weit ginge.

Schließlich schien beiden ratsam, den Geheimrat zu fragen.

Der Geheimrat war niemand anders als Sanitätsrat Knapp, der inzwischen einen Rang höher und damit auch dem Himmel um viele Stufen näher gestiegen war. Er hörte schlecht, und sein alter Kopf verwechselte Namen und Ziffern. Aber da er sich immer noch darauf beschränkte, der Natur ihren Lauf zu lassen oder Brustpulver und Baldrian zu verordnen, brachte seine gütige Praxis niemandem Schaden. Eine Verwechslung dieser Medikamente war ungefährlich.

Madame Lieschen schrie ihm ihre Sorgen durch das Hörrohr zu. Es war sehr peinlich, und obendrein verstand sie der Geheimrat nicht. Da legte sie ihm einfach die Zeichnungen vor.

Er schmunzelte und verstand.

Nachdem er sie eingehend untersucht hatte, versuchte er auszurechnen, wie alt die Zwillinge waren. Er erinnerte sich noch so genau, wie wenn es heute gewesen wäre, daß er seinen Frühschoppen aufgeben und seine Pfeife ausklopfen mußte, als man ihn zu Madame Lieschen gerufen hatte. Aber mit den Zahlen haperte es.

Madame Lieschen half ihm nach. Der Junge war siebzehn Jahre alt.

Der Geheimrat nickte zufrieden. Das stimmte. Dabei wäre durchaus nichts Beunruhigendes. Vielleicht ein bißchen Baldriantee am Abend und turnen und schwimmen. Aber in der Hauptsache müsse man der Natur ihren Lauf lassen. In jenem glücklichen Alter haben die jungen Leute nun einmal sehr viel Phantasie.

»Ja, wenn man noch einmal so jung sein könnte«, sagte er zum Schluß seiner Verordnungen. Er seufzte, stand steifbeinig auf, nahm lächelnd eine Prise und humpelte davon.

Madame Lieschen fand, daß der Herr Geheimrat wirklich alt geworden war. Die fünfzehn Groschen für seinen Besuch hätte man sparen können.

Aber sie goß doch Baldriantee auf. Das Geld für den Arzt sollte doch nicht so ganz und gar hinausgeworfen sein.

Der scharfe Geruch des Tees erinnerte sie an die zarte Zeit, ehe sie die Jungen erwartete. Es wurde ihr weich und wehe im Herzen.

Böse konnte man den Jungen nicht sein.

Darüber waren sich Klaus und Lieschen einig, als sie sich bei Tisch gegenübersaßen und beide die Sache noch einmal besprachen. Sie waren heut allein. Die Jungen hatten gleich nach dem Unterricht einen Ausflug nach Tempelhof unternommen. Wo sie schwammen und turnten. Nur des Vaters wegen waren sie am gestrigen Sonntag zu Haus geblieben. Heute aber holten sie den Feiertag nach.

Nach langem Grübeln waren Vater und Mutter übereingekommen, die bewußten Zeichnungen wieder dahin zurückzulegen, wo man sie gefunden hatte. Mochte Christian denken, daß sie niemand gefunden. Das ersparte allen miteinander Peinlichkeit und Beschämung.

Vorsichtig ging Lieschen mit den Blättern in das Schlafzimmer.

Als sie zurückkehrte, war sie rot im Gesicht, als ob sie am Herd gestanden hätte. Sie sagte, daß ihr zumute sei, wie wenn sie sich mit der Sünde auf einen Fuß gestellt habe. Man hätte den Unrat doch vielleicht verbrennen müssen.

»Nur keine Gewalttätigkeiten«, sagte Spreemann, »es kommt alles zurecht.«

Zum Abendbrot waren die Jungen wieder da. Voll von Wiesenluft und Appetit. Sie hatten Eichenlaub am Hut und Kornblumen im Knopfloch. Wie Raubtiere stürzten sie sich auf die Bratwurst mit Sauerkohl, die ihnen die Mutter vorsetzte.

»Die ganze Stadt könntet ihr ablaufen, ehe ihr wieder jemanden findet, der so zu kochen versteht wie eure Mutter«, sagte Spreemann, der sich über ihren Wolfshunger freute.

Kaum, daß sie satt waren, gähnten die Jungen und wollten schlafen gehen.

Als sie in ihrem Zimmer verschwanden, bekam Lieschen so starkes Herzklopfen, daß sie sich an der Tischdecke halten mußte.

Sie hatte nämlich auch neben Hansens Bett eine Tasse Baldriantee gestellt. Er war ja ebenso alt wie Christian. Er hatte wahrscheinlich auch ebensoviel Phantasie.

Neben die Tassen hatte sie nach einiger Überlegung einen Zettel gelegt, auf den sie geschrieben: Bitte trinken, es wird euch guttun.

Nun horchten Spreemann und Lieschen gespannt. Die Jungen hatten das Licht angezündet.

Da – ein schallendes Gelächter. Ein brüllendes Gelächter, das immer wieder anschwoll, wenn neuer Atem geschöpft war.

Jetzt miauten sie wie Katzen. Sie foppten wohl den Baldrian aus, dessen Geschmack ja den Katzen bedeutend angenehmer sein soll als den Menschen.

Nun hörte man Spritzen und Geplätscher. Es konnte kein Zweifel walten, sie gossen den Inhalt der Tassen in den Wassereimer. Unter Pfeifen und Gejohle.

Lieschen fuhr zusammen. Der schreckliche Tag war ihr eingefallen, jene große Stunde, wo der arme Herr Hirschhorn Herrn Spreemanns kleinen Zeh verwundete.

Drinnen pfiff und johlte es weiter.

»Sie lachen mich aus«, sagte Lieschen. Tränen kugelten über ihre Backen, auf denen sie manchen Fahrstreifen fanden.

Spreemann sah hoch und folgte mit Staunen ihrem raschen Lauf. In den letzten Jahren hatte er ganz vergessen, wie leicht Lieschens Augen tropfen konnten. Auch seine Erinnerung ging zurück.

»Meine Jungen lachen mich aus«, wiederholte Lieschen.

»Na, na«, sagte Spreemann. »Aber gewiß, sie haben nun schon ihre eigenen Anschauungen und Meinungen. Sie bewundern nicht mehr alles an uns. Das hab' ich längst heraus. Aber das muß wohl so sein. Und – immerhin – in diesem Fall fällt doch alles auf Knapp zurück. Ob Baldrian hier das ganz richtige gewesen ist, ist noch sehr die Frage. Man hat doch heute viele neumodische Mittel für alles, was im Leben vorkommt. Der gute Knapp ist recht alt geworden.«

Lieschen sagte nichts. Spreemann konnte nicht wissen, ob sie seiner langen Rede, die er mühsam zusammengesucht hatte, um sie zu trösten, überhaupt gefolgt war.

Sie starrte in die freundlich erleuchtete Stube, als ob sie in tiefe Finsternis spähe. Sie fand sich nicht zurecht in ihren Gedanken. War denn Altwerden ein ebensolches Unglück wie jung zu sterben? Was soll der Mensch denn wünschen für sich und seine Kinder?

Im Zimmer nebenan war es nun still geworden. Wenn man ganz scharf aufhorchte, konnte man deutlich die kräftigen Atemzüge der Schlafenden hören.

Lieschen löschte die Lampe aus, und Spreemann nahm das Licht in die Hand.

Auf Zehenspitzen schlichen sie zu den Schlafenden, um ihnen den gewohnten Gutenachtkuß zu geben.

Abend für Abend war es so gewesen. Kein Wunder, daß man dabei übersehen, daß aus den Jungen Männer geworden.

Auch heute vergaß man es wieder, sobald man die Schläfer mit glücklichem Lächeln betrachtete.

Da lagen die Zwillinge, der Braune und der Blonde. Mit dem gleichen weichen Lächeln, das einen froh gemacht, wenn sie als Säuglinge nach langem Geschrei plötzlich friedvoll und lieblich eingeschlafen waren.

Wieder einmal kamen Klaus und Lieschen überein, daß sich die beiden kaum verändert hatten. Nur ein wenig länger waren sie.

Aber Lieschens Schlaf wurde doch nicht friedlich in dieser warmen, dämmrigen Sommernacht. Immer wieder sah sie aus jeder Zimmerecke große, häßliche Köpfe grinsen. Sie glichen Knapp und dann wieder Spreemann und einige Male sogar Hans und Christian. Aber alle kreischten sie: Alt – alt – alt.


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