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Viertes Kapitel

Im gleichen Jahr 1799, dieser vielschichtigen Schwelle eines neuen Jahrhunderts, in dem Beaumarchais starb und Kant die «Bestimmungen zu seinem Begräbnis» festlegte, wurde NAPOLEON BONAPARTE Erster Konsul von Frankreich und damit sein Beherrscher und der Neugestalter Europas.

Napoleons Leben ist das glänzendste Gegenbeispiel jedes Spießbürgertums, jeder bürgerlichen Weltauffassung. Sein Ziel war immer die Zukunft, niemals etwas Gegenwärtiges, Vergangenheit war Vergangenheit. Unmögliches zu verlangen war ihm das Natürliche. Seine gewaltige Machtidee, die ganze Welt vereinigt unter ein Zepter zu zwingen, die ihm am Ende seines Daseins nichts eingebracht hatte, als – um seine eigenen Worte zu gebrauchen – «die Dornenkrone», wird einmal doch vielleicht Wirklichkeit werden müssen. Der Weltbürger marschiert ...

Für Napoleon gab es nichts Nebensächliches. Kleine Dinge, wenn er sich damit beschäftigte, wurden bedeutend.

Ein schnell diktierter Brief an seine erste Frau, an Josephine, könnte heute noch als männliches Manifest an die Ehefrauen aufgestellt werden. Man überzeuge sich:

An die Kaiserin in Paris.

Meine Freundin, Dein Brief vom 20. Januar hat mir viel Schmerz bereitet; er ist zu traurig. Es ist schlimm, wenn man sich nicht ein wenig fügen kann! Du sagst, Dein Glück mache DEINEN Ruhm aus; das ist nicht edel, es muß heißen: das Glück der ANDERN ist mein Ruhm! Das wieder ist nicht ehelich, sondern man muß sagen: das Glück MEINES MANNES ist mein Ruhm! Aber das ist nicht mütterlich, sondern es müßte heißen: das Glück MEINER KINDER bedeutet meinen Ruhm; oder, da die Völker, Dein Gatte, Deine Kinder nicht glücklich sein können als mit ein wenig Ruhm, muß man ihn nicht so unter seiner Würde halten! Josephine, Sie haben ein vortreffliches Herz, aber eine schwache Vernunft; Sie empfinden sehr tief, können aber nicht vernünftig denken!

Doch nun genug des Streitens! Ich will, daß Du froh, mit Deinem Schicksal zufrieden bist, und daß Du alles tust, was ich wünsche, nicht brummend und weinend, sondern mit freudigem Herzen und mit ein wenig Zufriedenheit!

Adieu, meine Freundin; heute nacht begebe ich mich auf meinen Vorposten!

Napoleon.

Den Tatenmarsch Napoleons kennzeichnet das Geschick Europas. Seinen leibhaftigen Weg zeichnet uns ein Querschnitt durch die Absendeorte seiner Briefe: Paris, Nizza, Carru, Lodi, Mailand, Brescia, An Bord des «Orient», Alexandrien, Salihije, Kairo, Ghaszze, Jaffa, Berg Karmel, Martigny, Aosta, Marengo, Lille, Boulogne, Dünkirchen, Köln, Trier, Luxemburg, Elchingen, München, Lambach, Schönbrunn bei Wien, Brünn, Austerlitz, Bamberg, Gera, Jena, Berlin, Posen, Pultusk, Warschau, Friedland, Tilsit, Dresden, Fontainebleau, Venedig, Bayonne, Erfurt, Aranda, Benavente, Ingolstadt, St. Pölten, Rotterdam, Wesel, Moskau, Szaninivski am rechten Ufer der Beresina, Pegau, Neumarkt, Bauzen, Mainz, Elba, Reims, Ile d'Aise, An Bord des «Bellerophon», Longwood auf St. Helena.

Aus diesen Namen braust der gewaltigste Lebenssang. Nichts kann da hinzugefügt werden.

Mysteriös wirkt das Gegensätzliche in der Geschichte der Menschheit auch hier: daß es Napoleons übermenschlicher Wille indirekt gewesen, dem Europa jene vier friedlichen Jahrzehnte verdanken sollte, die die Blüte des Biedermeiertums gedeihen ließen, die enge Behaglichkeit, die Heiligmachung der warmen guten Stube. Es war ein Friede der Ohnmacht, ein «Friede der Erschöpfung» (wie ihn Wells nennt), aber ein Friede, den das vulkanische Herrschertum Napoleons zur Folge haben mußte.

Biedermeier-Wohnzimmer ca. 1820, nach einem zeitgenössischen Aquarell.

Wir suchen, wir finden einen geheimen Zusammenhang vielleicht in der merkwürdigen Familienanhänglichkeit Napoleons zu seinen Geschwistern, die sich als bittere Schwäche an seinem eigenen Schicksal rächen sollte. Napoleon machte aus seinen Schwestern Fürstinnen, aus seinen Brüdern Könige. Aber es geht schneller, einen degenerierten König um seinen Kopf zu bringen, als ein bürgerliches Haupt daran zu gewöhnen, kleidsam die Krone tragen zu können. Napoleons Geschwister, ihren Stellungen nicht gewachsen, untergruben ungewollt die Säulen seiner Macht. Die Gewalt dieser korsischen Blutsverwandtschaft fällt in das Reich der Mystik.

Das 19. Jahrhundert begann, dieses Jahrhundert der tausend Fortschritte, das ein englischer Chronist der bürgerlichen Entwicklung «das wundervolle Jahrhundert» nennt.

Aber bis zur gemächlichen Gemütlichkeit und Beschaulichkeit war noch ein weiter Schritt zu Beginn dieses Zeitabschnitts, obwohl sich trotz «Krieg und Kriegsgeschrei» die Bürger ihr umfriedetes Leben schlau und bescheiden aufzubauen begannen. In allen Ständen, vor allem natürlich im Kaufmannsstand, der gewissermaßen als die Ahnburg des Spießbürgertums anzusehen ist. Hier reckt sich allmählich wachsend und anwachsend der Götze alles späteren Spießbürgertums: das Kapital.

W. Brücke / J. Schütze. Parade vor dem Kronprizenpalais Berlin, 1839.

Noch sind wir bei seinen Urstoffen: sie heißen Rechtlichkeit, Sparsamkeit, Vorsicht, Umsicht, Solidarität, gemäßigter Wagemut und schlaue Bescheidenheit.

Wenn «draußen fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen» und selbst wenn die kriegerischen Unternehmungen in nahen Umkreis rückten, läßt man sich's drinnen nicht verdrießen, zu wagen, zu wägen und abzuwiegen, genau nach der Elle zu messen, statt nach den unbestimmbaren Maßen des politischen Horizontes.

Wie ungefähr es damals zugegangen im Kaufmannsstand, seinem Leben und Betrieb, zeigt uns folgender Einblick in Georg Steinhausens Werk «Der Kaufmann»:

«Größere Kaufleute besaßen meist die stattlichsten Häuser in der Stadt, sie hielten Wagen und Pferde. Sie gaben meist etwas auf elegante Kleidung, und der Eheherr pflegte, wenn er von seinen Reisen nach Hamburg, Amsterdam, Frankfurt oder Paris zurückkehrte, meist teure Luxusgeschenke mitzubringen. In den Häusern dieser Handelsherren wurde eine ziemlich starke Geselligkeit gepflegt, in der Familie wurde viel Musik getrieben, daneben war der Kaufmann ein Freund und Förderer des Theaters. An dem täglichen Familienmahl nahmen die Kontoristen teil, aber stumm und respektvoll. Meist waren die Handlungsdiener größerer Kaufleute selbst Söhne von solchen. Sie wurden im allgemeinen gut bezahlt, blieben auch wie von jeher und trotz der Strafpredigten der moralischen Wochenschriften achtzig Jahre vorher, meist etwas eitel und pflegten ihre äußere Erscheinung. Doch waren sie im Hause meist sehr unbehaglich untergebracht und standen unter strenger Zucht. Man redete sie mit er und schlechtweg mit ihrem Namen, allenfalls unter Hinzufügung von MUSJÖ an. Weit schlimmer hatte es natürlich der Lehrling, JUNGE oder BURSCHE genannt, den man beim Vornamen rief, der, wie früher, viel niedrige Dienste tun mußte und im übrigen höchst rauh behandelt wurde. In Bremen mußten die Lehrlinge z. B. abends ihrem ALTEN , der aus der Gesellschaft kam, mit der Stockleuchte vorangehen, von welchem Geschäft sie aber zu Anfang unseres Jahrhunderts schon befreit wurden.»

Meyer Amschel Rothschild (1743 - 1812)

Das war der Großkaufmann in seiner Anfangszeit. Wir denken dabei an MEYER AMSCHEL ROTHSCHILD, der zu Anfang des Jahrhunderts schon als der zehntreichste Jude Frankfurts galt und vielleicht als Vorbild des richtig rechnenden, sparsamen und hochsteigenden Kaufmanns und Bürgers. Sein Leben birgt die Entwicklung des Geldes vom Goldklumpen an bis zum «bargeldlosen Geldverkehr», birgt die Geschichte der Juden vom kleinen Münzensammler im Haus «Zum grünen Schild» des Frankfurter Ghettos bis zum Baron. Amüsant ist der erste Wappenentwurf der Familie Rothschild, der an Löwen, Leoparden und Geflügel beinah einen kleinen zoologischen Garten illustriert. Der Text dazu lautete:

«Erstes Feld: Durchschnittenes rotes und gelbes Feld, halber schwarzer Adler in gelbem Felde. Anspielung auf das k. k. österreichische Wappen.

Zweites Feld: Leopard in rotem Felde; Anspielung auf das königlich englische Wappen.

Drittes Feld: Löwe; Anspielung auf das kurfürstlich hessische Wappen.

Viertes Feld: Arm mit fünf Pfeilen in blauem Felde; Symbol der Einigkeit unter den fünf Brüdern.

Rotes Schild in der Mitte des Wappens. Das Wappen wird zur Rechten von einem Jagdhunde, dem Symbol der Treue, und zur Linken von einem Storche, dem Symbol der Frömmigkeit und des Glücks gehalten. Das Ganze hat eine Krone, aus der sich der hessische Löwe erhebt.»

Das der Familie Rothschild schließlich bewilligte Wappen zeigt sich bedeutend einfacher.

Kriegszeit, Kriegslist in England, Spanien, Frankreich, Österreich von 1770 bis 1830. Meyer Amschel Rothschild schafft sich hindurch, erringt sich das Vertrauen des reichen Kurfürsten von Hessen und den Titel «Oberhofagent». Er sorgt auch für den Privatbesitz von fünf gesunden Söhnen, ihm ebenbürtig an Klugheit, Überblick und Geschäftsgenie.

Man lebt zwischen Kriegen, Besetzungen, Plünderungen, Haussuchungen. Man führt doppelte Bücher, solche, die der Obrigkeit und der Steuerbehörde vorgelegt werden, und andere, die die verschwiegensten und einbringlichsten Geschäfte buchen. Kein einseitig jüdischer Zug damals. Der reiche Kurfürst gibt sich 1799 als «bescheiden begütert» aus, am Tag, wo der emsige Herr Hofagent Rothschild gerade aus eingelaufenen Zinsen hundertfünfzigtausend Pfund in englischen Consols dreiprozentig in London anlegt. Solche Transporte übernimmt Meyer Amschel Rothschild persönlich, in eigener Kutsche mit Geheimfach unter dem (nicht schlecht gewählten!) Pseudonym eines «Herrn von Goldstein».

Orthographie und Briefstil sind ihm nie gelungen in seinen «fußfälligen Schreiben». Aber das Bürgertum Frankfurts blüht empor unter seiner Wirksamkeit. Der österreichische Gesandte Freiherr von Hügel schreibt: «Der Luxus hier ist aufs Unglaublichste gestiegen. Das bare Geld wird viel öfter umgesetzt. Für Spitäler, Bibliotheken, Museen und dergleichen ist aufs ausgiebigste gesorgt. Handel und Industrie blühen auf. Alles treibt solide Spekulationen.»

1810, am 27. September, ändert sich die fortgeschrittene Firma auch äußerlich. Sie heißt jetzt Meyer Amschel Rothschild und Söhne.

Die Geschäftsfreunde erhalten die gedruckte Mitteilung, daß drei Söhne zur Fortführung des seit vierzig Jahren bestehenden Handelsgeschäftes hinzugezogen sind. Der Vertrag zwischen Vater und Söhnen ist ein Muster an Diplomatie, Geldliebe und kaufmännischem Überblick.

1811 erbittet Meyer Amschel durch die Macht seiner Position und einer großen Abkaufsumme die Gleichberechtigung der Juden in dem unvergleichlichen Deutsch seiner übrigen Schriftstücke. Ein Mahnbrief in dieser Angelegenheit sei hier mitgeteilt, als Beweis dafür, daß schon früher einmal Geld über Orthographie ging. Er war an den Landesregistrator gerichtet und lautete:

«Ich winschte Gerne, der erste Botschafter zum Gute sein, so bald solches von Sr Königl Hoheit unserm durchlauchtigsten Lands Herrn und Groß Herzog Zu unseren Gunsten unterschrieben ist, wo ich meiner nation die werdliche Freute mit theilln kan mir solches durch der Post Gnädigst Benachrichten zu lassen, ich gestehe ich Misbrauche ihre Güte und Gnade ich Zweifle aber nicht daß Hochderselbe und wehrte Familie Große Himlische Belohnung zu erwarten haben, und viel Glück und Segen zu erhalten haben ... weill in wahrheit, unsre Gantze Judenschafft mit großer Freyde, wan sie das Glick habe gleiche rechte zu bekommen, alle abgabe was der Bürger zu geben hatt Herzlich gerne auch geben.»

Die Juden wurden frei durch eine Kaufsumme, keine geringe, aber für die Juden durchaus erschwingliche. Mit diesem Tage begann ihre Emanzipation auf allen Gebieten der menschlichen Gesellschaft.

Ein Jahr, nachdem Meyer Amschel diese Mission erfüllt hatte, erkrankte er am Abend des höchsten Feiertages der Juden, dem Versöhnungstag, den er, wie stets, stehend im Gebet in der Synagoge verbracht hatte.

Noch einmal bietet er alle kaufmännische und bürgerliche Schlauheit auf. Er verkauft (weit unter Wert natürlich) seinen ganzen Besitz, auch den sehr wertvollen Weinkeller, seinen Söhnen. Er bestimmt den größten Teil dieser Kaufsumme (hundertneunzigtausend Gulden) zu lebenslänglicher Nutznießung für seine Frau Gutle, teilt den Rest auf unter die Schwiegertöchter und verhindert damit, daß die Söhne genötigt werden können, den schon damals kolossalen Wert des Vermögens vor den Behörden zu deklarieren.

Dies ist das Testament des Meyer Amschel Rothschild:

Im Namen Gottes.

Ich Meyer Amschel Rothschild verordne Kraft dieser meiner gewissenhaftesten väterlichen Disposition, wie es nach meinem in Gottes Händen stehenden Ableben mit meiner Nachlassenschaft unter meinen Kindern gehalten werden soll.

Art. I. Vordersamst gebe ich meinen Kindern auf meine väterliche Pflichten und Gewissen zu vernehmen, daß nach einer genauen und gewissenhaften mit meinen Handlungs verassocirten Söhnen gepflogenen Berechnung, und respe'e meinen sämtlichen Kindern zum wahren Besten und Vortheil gereichenden Uibereinkunfl diese meine Söhne mein in Staatspapieren, Wechseln, Obligationen, Wein, baar Geld, liquiden und illiquiden Acktiven besitzendes respe'e Vermögen und Handlungsantheil, jedoch mit Ausschluß des in meinem Wohnhause in der Judenstraße sich befindlichen sämmtlichen Mobiliare, um die Summe von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden in baarem Gelde mit meiner vollkommensten Zufriedenheit an – und übernommen haben, dergestalten, daß sonach mein gegenwärtiges ganzes Vermögen, mit Ausschluß des besagten Mobiliare in der baaren Summe von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden besteht; ich verordne und will daher, daß meine Töchter und Töchtermänner und deren Erben an der unter der Firma «Meyer Amschel Rothschild und Söhne» bestehenden Handlung keinen Antheil haben, und noch weniger eine Forderung aus was immer für einem Grunde machen können und dürfen, sondern vielmehr gedachte Handlung meinen Söhnen ausschließlich zusteht und gehört; Keine meiner Töchter, Tochtermänner und deren Erben ist daher befugt, Einsicht der Handlung, deren Bücher und Scripturen zu verlangen, Caution, Obsignation, Inventur pp zu fordern; indem keine meiner Töchter und deren Erben einiges Recht noch Anspruch auf erwähnte Handlung zu machen befugt ist, und ich würde es nie einem meiner Kinder vergeben können, wenn dasselbe gegen diesen meinen väterlichen Willen sich beigehen lassen würde, meine Söhne in dem ruhigen Besitz ihrer Handlung zu stören.

Art. II. Meine geliebte Ehegattin Gutle gebohrne Schnapper soll von meinem besagten dermaligen baaren Vermögen von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden die Summe von Siebenzig Tausend Gulden zum lebenslänglichen Nießbrauch und Nutzgenuß erhalten. Das Capital selbsten soll in der Handlung meiner Söhne gegen Verzinsung von fünf Procent; jedoch ohne Caution, und nach ihrer Willkühr, wie lange sie das fragliche Capital in der Handlung behalten wollen, verbleiben; nicht minder soll meine geliebte Ehefrau Gutle den lebenslänglichen ohngestörten Besitz und Genuß meines Hauses in der Judenstraße, sammt allem sich darin befindlichen Mobiliare, bestehend in Silber, Weißzeug, Möbel pp so wie es sich bei meinem Ableben vorfindet, verbleiben.

Art. III. Meine noch ledige Tochter Jettchen soll bei deren Verehelichung die Summe von Drei und Dreißig Tausend Gulden als Heurathsgut bekommen, bis wohin diese Summe in der Handlung meiner Söhne ohne Cautionsleistung verbleibt.

Uibrigens will und befehle ich meiner Tochter Jettchen auf das Nachdrücklichste, daß dieselbe nur mit Einwilligung meiner Ehefrau, und meiner beiden Söhnen Amschel und Salomon, welche ich meiner Tochter als besondere Beistände und Beivormünder nebst der natürlichen Vormundschaft ihrer Mutter anordne, zu einer ehelichen Verbindung sich entschließen, und solche eingehen dürfe.

Art. IV. Meine noch beide ledige Söhne Salomon und Jacob sollen gleichfalls bei ihrer Verehelichung ein jeder von ihnen die Summe von Zwanzig Tausend Gulden zur Ausstattung erhalten; das Capital verbleibt ebenfalls in der Handlung.

Art. V. Die sonach von meinem Vermögen von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden übrig bleibende Summe von Sieben und Vierzig Tausend Gulden soll nachstehendermaßen unter meine Kinder vertheilt werden:

· 1.) Bekömmt meine Tochter Gotton, vereheligte Meyer Beyfus die laut deren Ehepackten annoch zu erhaltende Zehen Tausend Gulden.

· 2.) Soll meiner Tochter Breunle, vereheligte Seligmann Beyfus, welche nur Eilf Tausend Gulden zur Mitgift erhalten, zur Gleichstellung ihrer Schwester Gotton annoch Siebenzehen Tausend und Zwei Hundert Gulden bekommen; sowie

· 3.) Meine Frau Tochter Betty Sichel, welche ebenfalls nur Eilf Tausend Gulden erhalten, auch die Summe von Siebenzehen Tausend und Zwei Hundert Gulden annoch haben soll.

Art. VI. Die hiernächst verbleibende zwei Tausend Sechs Hundert Gulden sollen die Kinder meiner abgemehrten Frau Tochter Schoengen Worms als ein Legat erhalten; das Capital verbleibt ohne Caution bis zu deren Verehelichung in der Handlung meiner Söhne, welche dasselbe mit fünf Procent an meine Tochter und Tochtermann Worms verzinsen sollen.

Art. VII. Meine Söhne Amschel und Salomon Rothschild, welche durch die Uibernahme meines Handlungs Antheils laut gepflogener Berechnung und Uibereinkunft gegen die Eingangs bemerkte mein Vermögen ausmachende Summe von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden für deren Heurathsgüter und respe'e dermalige Erbschafts Ausgleichung befriedigt sind, haben demnach dermalen hierunter keine Forderung und Ansprüche gegen ihre Geschwister, jedoch ohnbeschadet der Bestimmung der nachfolgenden Verordnung in Art. VIII (8).

Art. VIII. Die zum lebenslänglichen Nutzgenuß meiner Ehegattin Gütle ausgesetzte und verbleibende Siebenzig Tausend Gulden sollen nach deren Ableben unter meine sämmtliche Kinder zu gleichen Theilen vertheilt werden.

Art. IX. Den drei löblichen milden christlichen Stiftungen vermache ich ein Legat von Hundert Gulden.

Art. X. Indem ich mir ausdrücklich vorbehalte jederzeit diesen meinen letzten Willen zu mehren zu mindern und gänzlich wiederum aufzuheben, erkläre ich auch alle meine frühere Testamente für aufgehoben und zurückgenommen. Schließlich.

Art. XI. Empfehle ich meinen sämmtlichen lieben Kindern, sich mit steter wechselseitiger Liebe und Freundschaft einander zu begegnen, sowie gegen die Anordnungen dieser meiner wohlgemeinten und gewissenhaften väterlichen Disposition mit kindlichem Gehorsam sich zu betragen. Würde sich wider Verhoffen ein oder das andere meiner Kinder beigehen lassen, dieser meiner väterlichen Willensmeinung nicht nachzukommen, oder meine Söhne in deren Handlung zu stören, so soll dieses pflichtvergessene Kind nur in den Pflichttheil, wohin alles dasjenige aufzurechnen ist, was dasselbe bereits bei meinen Lebzeiten an Ausstattung und sonst erhalten, eingesetzt seyn, und der Uiberrest meinen übrigen Kindern zufallen; wobei ich ausdrücklich bemerke, daß der nach dem Napoleonischen Gesetzbuch zu berechnende Pflichttheil durch mein gegenwärtiges Vermögen von Einmal Hundert und Neunzig Tausend Gulden mit Zurechnung dessen, was einjedes meiner Kinder bereits bei meinem Leben erhalten, so wie den Werth des in dem Nutzgenuß meiner Ehegattin verbleibenden Mobiliare sich ergiebt.

Nachdem ich dieses mein wohlgemeintes und gewissenhaftes Testament reiflich und mehrmalen erwogen und überlesen habe, so habe ich solches eigenhändig unterschrieben und besiegelt. So geschehen Frankfurt den Siebenzehnten Septembr Ein Tausend Acht Hundert und Zwölf.

Nachträglich verordne ich auf die kurze annoch dauernde Minderjährigkeit meines Sohnes Jacob, meine beiden Söhne Amschel und Salomon zu Beiständen und respee Beivormünder nebst der natürlichen Vormundschaft meiner Ehefrau. Geschehen wie oben.

Meyer Amschel Rothschild.

L. S.

Ich verordne ferner nachträglich, daß das von mir noch nicht vergebene Ein Quart meines Hauses Nr. 148 in der Judenstraße mein Sohn Amschel als der älteste meiner Söhne zu seinem bereits bei seiner Heurath schon erhaltene Ein Quart als ein Prälegat bekommen soll, jedoch ohnbeschadet der meiner Ehefrau gebührenden Oberhand.

Meyer Amschel Rothschild.

Meyer Amschel Rothschild wußte wohl, daß sein unermüdlicher Fleiß und Mut, seine Schlauheit und Frömmigkeit seine Familie aufs weiteste vor Not gesichert hatte. Daß er eine Weltmacht gegründet hatte, ahnte er wohl kaum. Denn erst nach seinem Tode begann das grandiose Schachspiel seiner Söhne, die fünf Brüder «kutschierten Europa».

In London saß Nathan, der begabteste. Er konnte noch kein Wort Englisch, als ihm sein Geld und die Art, es zu kassieren, weithin Achtung und Vertrauen verschafften. Er war der erste, der die Lukrativität des Rohstoffhandels erkannte und sich danach richtete.

In Paris saß James, in Vertrautheit mit Napoleons Finanzminister.

Karl war in Neapel.

In Wien machte Salomon mit Gentz und Metternich «angenehme Geschäfte».

Amschel beherrschte das Stammhaus in Frankfurt und damit Frankfurt, die Stadt der Kongresse.

Wie selbstsicher und klug Anselm von Rothschild, der geadelte Sohn, geworden war, bezeugt eine lustige Anekdote, die, wenn sie nicht wahr sein sollte, sicher gut erfunden ist. Als ein wichtigtuender Hofmann unangemeldet zu ihm hereinkam, ließ er ihn ruhig warten und bat ihn, sich einen Stuhl zu nehmen. Dieser Empfang schien dem hochgestellten Manne wenig angemessen, und er wiederholte noch einmal seinen Namen mit sämtlichen Titeln und Würden.

«Dann nehmen Sie sich zwei Stühle», antwortete Anselm und schrieb ruhig weiter.

Das Bankhaus Rothschild Söhne half Wellington aus seiner Geldnot, rettete den König von Spanien aus letzter Verlegenheit, stützte Österreich, lenkte Frankreich. Seine Macht reichte von Spanien bis Dänemark, von London bis Prag. Man verkehrte nun mit Königen und Künstlern «mit Muße».

Um diesen grandiosen Einzelfall kaufmännischen Aufstiegs gruppierte sich die große Schar der kleinen Kaufleute. Das Leben des kleinen Kaufmanns war noch sehr bescheiden. Wir lesen bei Steinhausen auch darüber:

«Der Kaufmann kleinerer Städte begann seine Laufbahn mit vierzehn Jahren als in strenger Zucht gehaltener Lehrling und wurde nach fünf bis sechs Jahren Ladendiener. Der Dienst im Laden unterschied sich wenig von dem heutigen. Nur mußte bei der damaligen Buntscheckigkeit der Münzverhältnisse besonders scharf auf böses Geld aufgepaßt werden. Auch hier war der Ladendiener oft ein Kaufmannssohn. Er übernahm dann später das heimische Geschäft, das wohl auch schon der Großvater besessen hatte. Nach der Übernahme kam er nur noch selten aus der Stadt heraus, er wurde vom Grossisten versorgt, oft nur von einem, hielt niemals große Vorräte, die ja verderben konnten, war im übrigen ein pünktlicher Zahler und ein sparsamer und ordentlicher Hauswirt. Die Bezeichnung KAUFMANN gab man übrigens meist nur den Material- und Kolonialwarenhändlern. Viele dieser Kaufleute waren wohlhabend, trugen ihren Wohlstand aber nie zur Schau. Der bessere Kaufmann nahm in der Kleinstadt eine sehr angesehene Stellung ein. Zu den Honoratioren gehörte er zwar nicht, aber er war doch das Haupt der eigentlichen Bürgerschaft, wie er das Orakel für die Landkundschaft war. Seine Gesetzeskenntnisse, seine Erfahrungen und eine gewisse Abneigung gegen die Beamten machten ihn meist auch zum Führer der städtischen Opposition. – Immer wichtiger wurden für das Geschäft die früheren REISEDIENER . Die Reisen waren damals kostspielig genug, und der kleine Kaufmann, den auch sein kleiner Betrieb an den Ort fesselte, konnte sie sich nicht leisten. Er wurde dafür jetzt von den Reisenden der Grossisten aufgesucht, die auch zugleich, wie früher, das Einkassieren der schuldigen Beträge besorgten. Viele dieser Reisenden ritten nach alter Tradition zu Pferde, woher die später spöttisch gewordene Bezeichnung MUSTERREITER stammt, die meisten aber zu Wagen. In den mitteldeutschen Gebirgen waren solche Wagentouren noch bis vor wenigen Jahrzehnten üblich.»

Über den Schreibpulten in den Kontoren hing damals der Spruch: «Sparsam, fleißig und mäßig». Sein Urheber war BENJAMIN FRANKLIN, der Amerikaner, den Balzac als «Erfinder des Blitzableiters, der Zeitungsente und der Republik» charakterisierte.

Benjamin Franklin

Werner Sombart stellt Franklin in seinem äußerst interessanten und persönlichen Buch «Der Bourgeois» als den «Höhepunkt der bürgerlichen Weltauffassung» hin. Es ließe sich nichts Besseres sagen, als Sombart hier zu wiederholen:

«Die Vernünftigkeit und Wohlabgemessenheit dieses Amerikaners benehmen einem förmlich den Atem. Bei ihm ist alles zur Regel geworden, wird alles mit richtigem Maß gemessen, strahlt jede Handlung von ökonomischer Weisheit. Er LIEBTE die Ökonomie! Folgende Anekdote wird von ihm erzählt, die den ganzen Menschen in seiner ganzen monumentalen Größe uns vor die Augen stellt: Eines Abends wurde in einer größeren Gesellschaft eine neue Lampe mit glänzendem Lichte bewundert. Aber, so fragte man allgemein, wird diese Lampe nicht mehr kosten als die früheren? Es sei doch sehr wünschenswert, daß man die Zimmerbeleuchtung so billig wie möglich herstelle, in den jetzigen Zeitläuften, wo alle Ausgaben so gestiegen seien. ‹Mich freute›, äußerte sich dazu Benjamin Franklin, ‹dieser allgemein ausgesprochene Sinn für Ökonomie, die ich außerordentlich liebe. Das ist der Gipfel: darüber hinaus führt kein Weg mehr.› – Man kennt seine energische Vertretung der Zeitökonomie; man weiß auch, daß von ihm das Wort ‹Zeit ist Geld› geprägt worden ist.

‹Ist dir das Leben lieb, so verschleudere die Zeit nicht, denn sie ist der Stoff des Lebens ... Wie viele Zeit verschwenden wir unnötigerweise aufs Schlafen und bedenken nicht, daß der schlafende Fuchs kein Geflügel fängt, und daß man im Grabe lange genug schlafen wird ...›

‹Ist mir aber die Zeit das Kostbarste unter allen Dingen, so muß Zeitverschwendung die größte aller Arten von Verschwendungen sein ... verlorene Zeit läßt sich nie wieder finden, und was wir Zeit genug heißen, ist immer kurz genug.›

Und der vollendeten Zeitökonomie muß die vollendete Stoffökonomie entsprechen: Sparen, sparen, sparen, hallt's uns von allen Seiten aus den Schriften Franklins entgegen.

‹Wollt ihr reich werden, so seid aufs Sparen ebensowohl wie aufs Erwerben bedacht. Beide Indien haben Spanien nicht reich gemacht, weil seine Ausgaben noch größer sind als seine Einkünfte. Weg also mit euren kostspieligen Torheiten.›

Das A und O der Franklinschen Lebensweisheit ist in die zwei Worte zusammengefaßt: INDUSTRY UND FRUGALITY . Fleiß und Mäßigkeit. Das sind die Wege, um zu Reichtum zu gelangen: ‹Vergeude nie Zeit noch Geld, sondern mache immer von beiden den denkbar besten Gebrauch.›»

Franklins Ausnutzungstrieb ging so weit, daß er sogar das Grabmal seiner Eltern zur Reklame seiner Theorie ausnutzte. Sein Gedenkstein trägt die aufrufartige Inschrift:

Hier ruhen
Josiah Franklin
und
Abiah, sein Weib.
Sie waren liebend verbunden
fünfundfünfzig Jahre.
Ohne Vermögen noch einträgliches Amt,
durch stete Arbeit und Fleiß
ernährten sie mit Gottes Beistand
behaglich eine große Familie
und zogen dreizehn Kinder
und sieben Enkel
in Ehren auf.
Aus diesem Beispiel, Leser,
schöpfe Mut zum Eifer in deinem Beruf
und vertraue der Vorsehung.
Er war ein frommer und kluger Mann;
sie eine verständige und tugendsame Frau.
Ihrem Andenken zu Ehren
errichtet ihr jüngster Sohn
in kindlicher Liebe diesen Stein.

Am deutlichsten wird Franklin, dieser Mann, der «die heilige Wirtschaftlichkeit anbetet, der sich weder Schlaf noch Licht gönnt aus Sparsamkeit und der das Vorbild seiner Zeit gewesen», wohl durch sein Manifest der Mäßigkeit gezeichnet, in dem er dreizehn (man hüte sich vor Aberglauben!?), sage dreizehn Tugenden aufstellte und obendrein durch einen kurzen Leitsatz erläuterte. Dieses Manifest lautete:

· 1. Mäßigkeit. – Iß nicht bis zum Stumpfsinn, trink nicht bis zur Berauschung.

· 2. Schweigen. – Sprich nur, was anderen oder dir selbst nützen kann; vermeide unbedeutende Unterhaltung.

· 3. Ordnung. – Laß jedes Ding seine Stelle haben und jeden Teil deines Geschäfts seine Zeit haben.

· 4. Entschlossenheit. – Nimm dir vor, durchzuführen, was du mußt; vollführe unfehlbar, was du dir vornimmst.

· 5. Genügsamkeit. – Mache keine Ausgabe, als um anderen oder dir selbst Gutes zu tun: das heißt, vergeude nichts.

· 6. Fleiß. – Verliere keine Zeit; sei immer mit etwas Nützlichem beschäftigt; entsage aller unnützen Tätigkeit.

· 7. Aufrichtigkeit. – Bediene dich keiner schädlichen Täuschung; denke unschuldig und gerecht, und wenn du sprichst, so sprich danach.

· 8. Gerechtigkeit. – Schade niemandem, indem du ihm unrecht tust oder die Wohltaten unterlässest, welche deine Pflicht sind.

· 9. Mäßigung. – Vermeide Extreme; hüte dich, Beleidigungen so tief zu empfinden oder so übel aufzunehmen, als sie es nach deinem Dafürhalten verdienen.

· 10. Reinlichkeit. – Dulde keine Unreinlichkeit am Körper, an Kleidern oder in der Wohnung.

· 11. Gemütsruhe. – Beunruhige dich nicht über Kleinigkeiten oder über gewöhnliche oder unvermeidliche Unglücksfälle.

· 12. Keuschheit. – Übe geschlechtlichen Umgang selten, nur um der Gesundheit oder der Nachkommenschaft willen, niemals bis zur Stumpfheit und Schwäche oder zur Schädigung deines eigenen oder fremden Seelenfriedens oder guten Rufes.

· 13. Demut. – Ahme Jesus und Sokrates nach.

Damit noch nicht zufrieden, legte sich Franklin auch noch eine Methode zurecht, um sich in diesen dreizehn Tugenden täglich prüfen zu können. Er gibt uns darüber folgende Beschreibung:

«Ich machte mir ein kleines Buch, worin ich jeder der Tugenden eine Seite anwies, liniierte jede Seite mit roter Tinte, so daß sie sieben Felder hatte, für jeden Tag der Woche eines, und bezeichnete jedes Feld mit dem Anfangsbuchstaben des Tages. Diese Felder kreuzte ich mit dreizehn roten Querlinien und setzte an den Anfang jeder Linie die Anfangsbuchstaben von einer der Tugenden, um auf dieser Linie und in dem betreffenden Felde durch ein schwarzes Kreuzchen jeden Fehler vorzumerken, welchen ich mir, nach genauer Prüfung meinerseits, an jenem Tag hinsichtlich der betreffenden Tugend hatte zuschulden kommen lassen. Ich nahm mir vor, auf jede dieser Tugenden der Reihe nach eine Woche lang genau achtzugeben. So ging in der ersten Woche mein hauptsächliches Augenmerk dahin, jeden auch noch so geringen Verstoß gegen die MÄSSIGKEIT zu vermeiden, die anderen Tugenden ihrem gewöhnlichen Schicksal zu überlassen und nur jeden Abend die Fehltritte des Tages zu verzeichnen. Wenn ich daher auf diese Weise in der ersten Woche meine erste, mit MÄSSIGKEIT bezeichnete Linie frei von schwarzen Punkten zu halten vermochte, so nahm ich an, die gewohnheitsmäßige Ausübung dieser Tugend sei so sehr gestärkt und ihr Gegenpart so sehr geschwächt, daß ich wagen konnte, mein Augenmerk auf die Mitbeachtung der nächsten auszudehnen und für die folgende Woche beide Linien frei von Kreuzen zu halten.» Und so weiter.

Eine Seite solcher Tabelle sei hier eingefügt.

Mäßigkeit
Iß nicht bis zum Stumpfsinn,
Trink nicht bis zur Berauschung
  S. M. D. M. D. F. S.
Mäßigkeit              
Schweigsamkeit + +   +   +  
Ordnung ++ + +   + + +
Entschlossenheit     +     +  
Sparsamkeit +       +    
Fleiß     +        
Wahrhaftigkeit              
Gerechtigkeit              
Mäßigung              
Reinlichkeit              
Gemütsruhe              
Keuschheit              
Demut              

 

Ein noch deutlicheres Vorbild, um von der Theorie zur Praxis zu gelangen, gibt uns Franklin mit dem Grundriß eines Stundenplanes «für die Verwendung der vierundzwanzig Stunden des natürlichen Tages», der ebenfalls eine Seite in Franklins moralischem Tagebuch ausmachte:

Der Morgen: 5
6
7
Steh auf, wasche dich, bete zum Allmächtigen! Richte dir das Geschäft des Tages ein und fasse deine Entschlüsse für denselben, setze das jeweilige Studium fort und frühstücke.
Frage: Was werde ich heute Gutes tun? 8
9
10
11
Arbeite.
Der Mittag: 12
1
Lies oder überlies deine Geschäftsbücher, iß zu Mittag.
2
3
4
5
Arbeite.
Der Abend: 6
7
8
9
Bring alle Dinge wieder an ihre Stelle. Nimm das Abendbrot ein. Unterhalte dich mit Musik, Lesen, Gespräch und Zerstreuung. Prüfe den verlebten Tag.
Die Nacht: 10
11
12
1
2
3
4
Schlafe.

Mancher wird sich hierauf erleichternd der Worte Goethes erinnern, die er in jenen Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts (zu Friedrich Wilhelm Riemer) gesprochen: «Ein Glück ist's, daß jedem nur sein eigener Zustand zu behagen braucht.» Gewissermaßen ein bürgerliches Wort, dessen Berechtigung das Bürgertum selbst durch viele Tatsachen und Erscheinungen schon damals bewies.

In jenem Zeitabschnitt, der Kriege umschloß und Hungerjahre in seinem Lauf führte, waren die Menschen besorgter um ihr Leben als je. Wieviel Wesen der einzelne von sich zu machen nicht zu faul war, beweisen die nicht wenig umständlichen Vorschriften an einen zu kurierenden Hypochonder, die wir im Glossarium entdeckten.

«Der Hypochondrist stehe sehr früh auf. Sein erstes sey nun, sein Gemüth zu erheitern. Nun trinke er nicht Thee, sondern ein Quart recht kaltes Wasser und eine halbe Stunde nachher dünnen Chokolat.

Hat er Vormittag viel zu reden, so esse er einige Bissen frische Semmelrinde mit Butter. Trinke nebenher eine Schale Milch. Unterdessen ist es heller Tag geworden.

Jetzt reute er eine halbe Stunde, und kann er das nicht, so geh er eine Stunde oder säge Holz, dann steh' er, dann säge er wieder Holz; speise gegen ein Uhr, meistens Garten-Früchte und sey bei Tische heiter. Er trinke nur Wasser und in solches werde bey sehr großer Hitze eine Messerspitze gereinigter Salpeter Wein-Essig geschüttet. Gleich nach Tische eine Schale Caffe. Dann kein Mittagsschlaf, sondern ein zerstreuendes Geschäft. Er reibe vor dem Camin die Gegend unter den kurzen Rippen mit dem bekannten Lor- und Altöl (ungu. Alth.) bis es juckt und wickle dann ein gewärmtes Handtuch um die Hüfte.

Um den dritten oder vierten Tag unterlasse er dies und setze dagegen die Füße bis über die Waden in laues Wasser und nun gleich zu Bett und gleich wieder heraus, wenn der Schlaf nicht kommen will. Bleibt nach dieser Kur noch aufsteigende Hitze übrig, so trage man über den kurzen Rippen auf der bloßen Haut einen locker gelegten Gürtel von Flanell, dessen Reiben den Umlauf in den ganz kleinen Blut-Gefäßen befördert.»

Wir sehen, man ließ es sich damals viel Mühe kosten, ein heiterer Mensch zu werden, man scheute nicht, den ganzen Tageslauf dafür einzusetzen, wenn es sein mußte.

Man schätzt das Leben vielleicht am meisten in grausamen Zeiten, in denen man immer wieder daran erinnert wird, wie leicht man es verlieren kann. Die Wandteller damaliger Zeit zierte die löbliche Inschrift:

Genieße froh das schnelle Heut,
Auch in des Lebens Not,
Man lebt doch nur so kurze Zeit,
Und ist so lange tot.

Man liebte, medizinische Bücher zu lesen. Das beweist die kleine Geschichte von dem bedauernswerten Mann, der so viel über Medizin gelesen hatte, daß er sich schließlich einbildete, alle Krankheiten selber zu haben. Mehr als das. Er glaubte schließlich schon daran, gestorben zu sein. Er hörte auf, zu essen und zu trinken. Er magerte ab zum Skelett. Ein Freund errettete ihn. Er war auf den glücklichen Gedanken gekommen, sich auch tot zu stellen, er bewies dem Freund, daß es auch in der anderen Welt Sitte war, sich täglich satt zu essen und zu trinken ...

Diese heilsame Geschichte finden wir in einem Buch, dessen hohe Auflagen den Beweis dafür bringen, wie sehr man schon damals das Leben zu schätzen und zu hüten wußte.

Es ist des DR. CHR. WILHELM HUFELANDS «Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern». Durch dreißig Jahre hindurch erschien es in immer wieder neuen Auflagen, bevorwortet von dem alternden Autor, der mit neuen Kapiteln, wie «Reise und Hausapotheke» oder «Über die flanellene Bekleidung» und ähnliche Nützlichkeiten, sein Buch seiner «Vervollkommnung und seinem Zweck» immer näher brachte. Hufeland, geboren in Thüringen, praktizierte zuerst am Weimarer Hof und dann die größte Zeit seines Daseins in Berlin an der Charité. Er war für seine Zeit hoch bedeutend und hervorragend, lächelt doch aus seinem Werk schon die schlau bewußte, gemächliche Überlegenheit des bürgerlichen «Hausarztes» der kommenden Jahre hervor.

Hufeland wollte im Grund nichts anderes, als die guten Bürger mit der Lockung verlängerten Lebens zu einer «angemessenen Lebensweise» zu reizen. Nicht verkürzen, heißt auch verlängern.

Hufeland sagte vieles, was der brave Bürger gern hörte und darum auch gern zu glauben bereit war. Der tüchtige Arzt gibt schon im Anfang zu, daß langes Leben von jeher der berechtigte Hauptwunsch der Menschheit gewesen. Er gibt auf späteren Seiten kund, daß als erreichbare Altershöhe der Menschheit durchaus und ohne Übertreibung die Zahl 200 angenommen werden könne. Wer wollte da nicht weiterlesen?

Und man muß ihn einen soliden Förderer des Bürgertums nennen, wenn man liest, daß er nichts lebensverlängernder hält als die «alles temperierende Ehe». Dagegen nichts Daseinkürzenderes weiß als das Junggesellentum des Hagestolzes, «des abgestorbenen Stammes».

Man lese diese Seite aus dem meistgelesenen Buch jener Zeit:

«GLÜCKLICHE EHEN SIND DIE WICHTIGSTEN GRUNDFESTEN DES STAATS UND DER ÖFFENTLICHEN RUHE UND GLÜCKSELIGKEIT. Ein Unverehelichter bleibt immer mehr Egoist, unabhängig, unstet, von selbstsüchtigen Launen und Leidenschaften beherrscht, weniger für Menschheit, für Vaterland und Staat, als für sich selbst interessiert; das falsche Gefühl der Freiheit hat sich seiner bemächtigt, denn eben dies hielt ihn vom Heiraten ab, und wird durch den ehelosen Stand noch genährt. Was kann wohl mehr zu Neuerungen, Revolutionen disponieren, als die Zunahme der ehelosen Staatsbürger? – Wie ganz anders ist dies mit dem Verheirateten? Die in der Ehe notwendige Abhängigkeit von der andern Hälfte gewöhnt unaufhörlich auch an die Abhängigkeit vom Gesetz, die Sorgen für Frau und Kind binden an Arbeitsamkeit und Ordnung im Leben; durch seine Kinder ist der Mann an den Staat festgeknüpft, das Wohl, das Interesse des Staats wird dadurch sein eignes, oder, wie es Baco ausdrückt, wer verheiratet ist und Kinder hat, der hat dem Staate Geiseln gegeben, er ist obligat, nur er ist wahrer Staatsbürger, wahrer Patriot. – Aber was noch mehr ist, nicht bloß das Glück der gegenwärtigen, sondern auch der zukünftigen Generation wird dadurch gegründet, denn nur die eheliche Verbindung erzieht dem Staate gute, sittliche, an Ordnung und Bürgerpflicht von Jugend an gewöhnte Bürger.»

Und an anderer Stelle:

«Die Erfahrung lehrt uns: ALLE, DIE EIN AUSGEZEICHNET HOHES ALTER ERREICHEN, WAREN VERHEIRATET. – Der Ehestand gewährt die reinste, gleichförmigste, am wenigsten aufreibende Freude, die HÄUSLICHE.»

Mancher Langlebenwollende mag sich damals prüfend im Spiegel besehen haben, denn Geheimrat Hufeland bringt auch ein genau aufgezeichnetes Bild eines «zum langen Leben bestimmten Menschen». Vielleicht ist auch heute noch der oder jener neugierig darauf, wie ein solcher auszusehen hat. Er soll es erfahren:

 

«Eine proportionierte und gehörige Statur, ohne jedoch zu lang zu sein. Eher ist er von einer mittelmäßigen Größe und etwas untersetzt. Seine Gesichtsfarbe ist nicht zu rot; wenigstens zeigt die gar zu große Röte in der Jugend selten langes Leben an. Seine Haare nähern sich mehr dem Blonden, als dem Schwarzen, die Haut ist fest, aber nicht rauh (den Einfluß der glücklichen Geburtsstunde werden wir hernach betrachten). Er hat keinen zu großen Kopf, große Adern an den äußeren Teilen, mehr gewölbte als flügelförmig hervorstehende Schultern, keinen zu langen Hals, keinen hervorstehenden Bauch, und große, aber nicht tief gefurchte Hände, einen mehr breiten als langen Fuß, fast runde Waden. Dabei eine breite gewölbte Brust, starke Stimme, und das Vermögen, den Atem lange ohne Beschwerde an sich zu halten. Überhaupt völlige Harmonie in allen Teilen. Seine Sinne sind gut, aber nicht zu empfindlich, der Puls langsam und gleichförmig.

Sein Magen ist vortrefflich, der Appetit gut, die Verdauung leicht. Die Freuden der Tafel sind ihm wichtig, stimmen sein Gemüt zur Heiterkeit, seine Seele genießt mit. Er ißt nicht bloß, um zu essen, sondern es ist ihm eine festliche Stunde für jeden Tag, eine Art der Wollust, die den wesentlichen Vorzug vor andern hat, daß sie ihn nicht ärmer, sondern reicher macht. Er ißt langsam und hat nicht zu viel Durst. Großer Durst ist immer ein Zeichen schneller Selbstkonsumtion.

Er ist überhaupt heiter, gesprächig, teilnehmend, offen für Freude, Liebe und Hoffnung, aber verschlossen für die Gefühle des Hasses, Zorns und Neids. Seine Leidenschaften werden nie heftig und verzehrend. Kommt es je einmal zu wirklichem Ärger und Zorn, so ist es mehr eine nützliche Erwärmung, ein künstliches und wohltätiges Fieber; ohne Ergießung der Galle. Er liebt dabei Beschäftigung, besonders stille Meditationen, angenehme Spekulationen – ist Optimist, ein Freund der Natur, der häuslichen Glückseligkeit, entfernt von Ehr- und Geldgeiz und aller Sorgen für den andern Tag.»

 

Das ist gewißlich ein wohltemperiertes Bürgerbrevier.


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