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Reisenotizen Mai-Juni 1931

Juan les Pins 4 Mai morgens ¼ 1

Die Bogen, die mir von diesem Papier noch bleiben, will ich einem Tagebuch vorbehalten. In der Annahme, daß das Bevorstehende nicht vielen Aufhebens wert sei, soll es sich dem Vergangnen zuwenden. Der Anlaß, der mich bestimmt, ist vielfacher Art. Das Wichtigste aber: ich bin müde. Müde vor allem den Kampf, den Kampf um das Geld, von dem ich nun noch einmal einige Reserven gesammelt habe, um hier sein zu können. Müde aber auch der Aspekte meines persönlichen Lebens, mit dem ich streng genommen gerade jetzt – wenn ich von meiner wirtschaftlichen Lage einmal absehe – nicht Grund habe, unzufrieden zu sein. Aber gerade der Friede, den ich innerlich in einem Grade habe, der bei mir immer selten gewesen ist, führt mich dazu, die Sonde tiefer in das Dasein zu senken, das ich jetzt führe. Sodann diese Müdigkeit: sie läßt nicht nur manches Vergangene auftauchen; es ist vor allem, daß in solchen Dingen meiner Vergangenheit, die mir jetzt hin und wieder vor Augen stehen, das, was sie zu Momenten gerade meines Lebens machte, sie mir zueignete, deutlich wird, während gerade darauf früher mein Blick nie fiel. Endlich verbindet sich diese Müdigkeit auf seltsame Weise mit dem, was mir die Unzufriedenheit mit meinem Dasein hervorruft. Es ist eine wachsende Abneigung, auch Mangel an Vertrauen hinsichtlich der Wege, die ich die Menschen meiner Stellung und meiner Art in Deutschland einschlagen sehe, um der trostlosen geistespolitischen Lage Herr zu werden. Was mich quält ist die Undeutlichkeit und die Unexaktheit der Parteiungen unter den wenigen mir nahe stehenden Leuten, was meinen innern Frieden, der auch Friedfertigkeit ist, verletzt ist das Mißverhältnis zwischen der Schärfe, mit welcher solche Meinungsverschiedenheiten vor mir – wenn auch längst nicht immer an sich – ausgefochten werden und den oft sehr geringen sachlichen Differenzen. Gerade die durchgehenden Charaktere in der Lage der Schriftsteller sind ja die trostlosen, die aber werden im Interesse der Standesehre fast niemals ganz zum Vorschein gebracht. Oft habe ich mich gefragt, ob diese besondere Friedfertigkeit nicht mit dem Geiste der Betrachtung zusammenhängt, in den der Gebrauch von Rauschgiften einführt. Der universale Vorbehalt der eignen Lebensweise gegenüber, zu dem die Betrachtung der Dinge in Westeuropa jeden Schriftsteller – ohne Ausnahme wie mir scheint nötigt ist auf bittre Art demjenigen verwandt, den das Gift dem Berauschten seinen Mitmenschen gegenüber eingibt. Und um nur den Kreis der Gedanken und Bewegungen, unter deren Herrschaft ich dieses Tagebuch beginne ganz abzuschreiten, ist nur noch die Andeutung der wachsenden Bereitschaft nötig, mir das Leben zu nehmen. Einer Bereitschaft, die von keiner akuten Panik eingegeben ist sondern so tief sie mit meiner Kampfmüdigkeit an der ökonomischen Front zusammenhängt, doch so nicht möglich wäre, ohne das Gefühl, ein Leben gelebt zu haben, dem seine höchsten Wünsche erfüllt wurden, welche ich freilich jetzt erst, gewissermaßen als den ursprünglichen Text einer späterhin mit den Schriftzügen meines Schicksals bedeckten Seite, erkannt habe.

Morgens am gleichen Tage. Da stehe ich bei den Wünschen. Die Leute würden den Satz, daß jedem seine tiefsten Wünsche in Erfüllung gehen, weniger anzweifeln, wenn sie sich sagten, daß diese Wünsche beinahe immer unbewußt, mit andern Worten andere sind als von denen sie wissen und von denen sie dann mit Recht beklagen mögen, deren Erfüllung sei ihnen versagt worden. Das Märchen bringt das mit dem Motiv der drei Wünsche sehr klar zum Ausdruck. Wir haben keinen Anlaß über die Torheit, den kurzen Atem dessen, der von dieser Wundergabe Gebrauch macht, zu staunen. Der sind wir selber. Nur daß uns unsere tiefsten Wünsche nie gegenwärtig wie dem Begnadeten im Märchen, dem sie erfüllt werden, sondern nur als vergangen in der Erinnerung und oft als dem Genarrten, dem sie leider erfüllt worden sind, gegenübertreten. Das eigentliche Kennzeichen dieser Wünsche war aber, daß für das Begehrte kein Preis zu hoch war: auch erkennt man die tiefsten Wünsche rückblickend daran vielleicht am besten, wie gut sie von dieser schrankenlosen Bereitschaft Gebrauch machten, wie teuer ihre Erfüllung erkauft wurde. Von den drei größten Wünschen meines Lebens habe ich den nach weiten, vor allem aber langen Reisen zuerst erkannt. Auch ist er mir am ehesten vor der Erfüllung bewußt gewesen, sei es auch nur durch einen ungeheuerlichen Rückstoß. Am Anfang war das vielleicht nur der gebieterische Impuls aus Deutschland zu fliehen, der während der Kriegsjahre viele Menschen so ergriff wie in der Inflation und im Wiederaufbau der nach dem Auto. Dann kam der Augenblick, daß ich soviel beisammen hatte, um zur Not einige Zeit im Ausland verbringen zu können: ich war mit mehreren Freunden für Capri verabredet. Sehr genau ist mir der Chok noch in Erinnerung, mit dem ich auf einem Achtuhrabendblatt in der Hand einer Zeitungsfrau Ecke Friedrichstraße – Unter den Linden die Aufschrift las: Sperre der Auslandsreisen. Es war da eine Verordnung herausgekommen, die Auslandsreisen nur noch unter Hinterlegung einer Summe, die vielleicht das Zehnfache meiner Reisekasse betrug, gestatteten. In zwei bis drei Tagen sollte die Verordnung in Kraft treten. Mir war es ausgemacht, daß unter diesen Umständen der mit den Freunden vereinbarte Abreisetermin, der an sich zufällig ganz kurz vor dem Ablauf der Frist lag, für mich nicht mehr in Frage kommen könne. Erst als ich in Capri oder Neapel meinen Koffer auspackte, bemerkte ich, in was für einer sinnlosen Bestürzung ich Hals über Kopf, was mir an Dingen gerade in die Hand fiel, verstaut hatte: viel Notwendiges fehlte, hundertfach Überflüssiges war vorhanden. Die eigentliche Entscheidung über diese Fahrt aber brachte nicht mein schneller Entschluß, Berlin zu verlassen – denn das gelang schließlich auch meinen Freunden, die sich erst einige Tage später aufmachten – sondern fünf oder sechs Wochen später, als meine Mittel erschöpft waren, die Bereitschaft, alles ohne Ausnahme auf mich zu nehmen, nur um die Insel nicht verlassen zu müssen. Sehr ernstlich habe ich damals den Gedanken, in einer der großen Höhlen zu wohnen, in Frage gezogen und die Bilder, die mir dabei vorschwebten, waren so lebhaft, daß ich heute garnicht mehr genau weiß, ob sie auf bloßen Phantasien beruhten oder eine der Abenteuergeschichten, von denen die Insel ja voll ist, Ahnliches von jemandem aus der Kriegszeit berichtete. So ging dieser Wunsch in Erfüllung, mit dem Aufenthalt auf der Insel und später durch ihn. Denn ich glaube, lange auf Capri gelebt zu haben, ist eine Anwartschaft auf weite Reisen, so sehr glaubt wer dort lange gelebt hat, daß alle Fäden durch seine Hand laufen und daß ihm zu seiner Zeit alles Nötige zufallen wird.

Juan les Pins 5 Mai morgens

Ehe ich mit den drei Wünschen fortfahre, will ich eine Bemerkung über Hemingway aufzeichnen. Das ganz Glückliche, ganz Bedeutende kann man sich oft nicht besser einsichtig machen als indem man es ganz nah ans ganz Mißlungne, ganz Banale heranhält. So Hemingway an den schlechten Schriftsteller. Der schlechte Schriftsteller ist der Schriftsteller, der immer mehr sagt als er denkt. Der gute Schriftsteller – hier hat man sehr vorsichtig vorzugehen, wenn man zu wirklichen Ergebnissen kommen will – ist der Schriftsteller, der nicht mehr sagt als man denkt. Diese Definition wird man gern im Sinn der Vertreter des »Klaren und Einfachen« lesen und meinen, der gute Schriftsteller sei eben, der genau sagt, was er denkt. Eben diesen höchst naheliegenden Abweg aber gilt es zu meiden. Es ist die Grundlage aller Einsicht in Dinge des Stiles, daß es dies: Sagen was man denkt überhaupt nicht gibt. Das Sagen ist nämlich nicht nur ein Ausdruck sondern vor allem eine Realisierung des Denkens, die es den tiefsten Modifikationen unterwirft genau so wie das Gehen auf ein Ziel zu nicht nur der Ausdruck eines Wunsches es zu erreichen sondern seine Realisierung ist und ihn den tiefsten Modifikationen aussetzt. Wie aber diese Modifikationen ausfallen, ob sie den Wunsch veredeln, präzisieren oder ihn unscharf und allgemein werden lassen, das hängt vom Training des Schreibenden ab. Je mehr er seinen Körper in Zucht hat, je genauer er seinen Körper aufs Gehen beschränkt, die überflüssigen ausfahrenden und schlenkernden Bewegungen meidet, desto mehr wird sein Gang selber zu einem Kriterium des Wunschziels, wird es veredeln oder es fallen lassen, wenn es der Mühe nicht wert ist. Es ist der Zauber von Hemingway diese Erscheinungen, die sonst nur das geübte Auge an einem streng und geistvoll trainierten Körper erkennt, im Stil sichtbar zu machen. Man träte ihm zu nahe, wenn man in diesem das Hauptgewicht auf einzelne bestimmte Leistungen im technischen Sinn – etwa seine Kunst des Fortlassens oder seine Dialogtechnik – legte: seine Prosa gibt das große Schauspiel der Erziehung zu richtigen Gedanken durch richtiges Schreiben: er sagt nicht mehr als er denkt und so kommt die ganze Kraft seines Schreibens dem was er wirklich denkt zugute.

Wie ich am 5 ten Mai nachts todmüde im Autobus vom Casino de la Lotée in Nizza nach Juan-les-Pins zurückfuhr, kam mir eine aufschlußreiche etymologische Betrachtung in den Sinn. Die Franzosen sagen allure, wir: Haltung. Beide Worte sind aus dem »Gehen« genommen. Um aber das gleiche – in wie begrenztem Sinn es das gleiche ist, sagt aber diese Bemerkung, zu bezeichnen, spricht der Franzose vom Gange selbst – allure –, der Deutsche von seiner Unterbrechung – Haltung.

Auf der Herreise übernachtete ich mit Egon in Basel. Wir hatten ein gemeinsames Zimmer und obwohl es nach zwei, wenn nicht nach drei war, als wir zu Bett gingen, auch unser Zug am nächsten Morgen um sieben fuhr, sprachen wir noch von dem und jenem. Es kam, daß ich dabei zum ersten Mal aussprach, was mir gerade in den letzten Wochen hin und wieder aufgefallen war. Egon machte eine Bemerkung, die sich im gleich ablehnenden Sinne wie meine eignen frühern Äußerungen mit dem Bauhausstile beschäftigte. Daß seine Kritik dabei von ästhetischen Bedenken gegen die Formensprache des Bauhausmobiliars ausging, gab mir das Stichwort, anzudeuten wie er mir – ohne daß meine Anschauungsweise sich schon gänzlich bestimmt hätte – einen merkwürdigen Durchblick auf das berühmte hochherrschaftliche Wohnen gegeben hatte. In der Tat erschließen sich die Absichten der Bauhausleute und ähnliche viel weniger aus den Theorien, die sie proklamieren als aus den verborgenen Gesetzlichkeiten, die das Wohngebaren der unmittelbar vorhergehenden Generationen bestimmten. Betritt einer das bürgerliche Zimmer der achtziger Jahre so ist bei aller »Gemütlichkeit«, die es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck »hier hast du nichts zu suchen« der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen, denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte. Was das bedeutet, wird durch ein schönes Wort von Brecht deutlich genug beleuchtet. »Verwische die Spuren« heißt der Refrain im ersten Gedichte aus dem »Lesebuch für Städtebewohner«. Hier im bürgerlichen Zimmer ist das entgegengesetzte Verhalten zu einem Ethos im strengsten Sinne, das heißt zu einer Gewohnheit geworden. Ja dieses Spuren hinterlassen ist nicht nur Gewohnheit sondern das Urphänomen der Gewohnheiten insgesamt, das eben im Wohnen beschlossen ist. Wirklich ist, was zwischen den Möbeln des Bauhauses möglich ist, nur ein Hausen verglichen mit dem Dasein in der bürgerlichen Wohnung, deren Interieur den Bewohner nötigt das Maximum von Gewohnheiten anzunehmen, ja, mit diesen Gewohnheiten mehr das Interieur in welchem er lebt zu zelebrieren als sich selber gerecht zu werden, Das versteht jeder, der die absurde Verfassung noch kennt, in die die Angehörigen jenes Zeitalters gerieten, wenn im Haushalt etwas entzwei ging. Selbst ihre Art sich zu ärgern – und diesen Affekt, der allmählich rudimentär zu werden beginnt, konnten sie förmlich virtuos spielen lassen – war vor allem die Reaktion des aus seinen Gewohnheiten Exmittierten. Da hat nun die moderne Bauart, was auch sonst von ihr zu sagen sein möge, diese Räume zu Wege gebracht,in denen es schwer ist Spuren zu hinterlassen (daher sind Glas und Metall so wichtig geworden) die es fast unmöglich machen, Gewohnheiten anzunehmen (daher sind die Räume leer und oft schon verschiebbar.)

6 Mai abends. Gestern mit Gert und Egon zusammengelegen. Man sprach über Erfahrungen in der Liebe und mir wurde es zum ersten Male im Laufe dieses Gespräches deutlich, daß ich mich jedesmal, wenn eine große Liebe Gewalt über mich bekam, von Grund auf und so sehr verändert habe, daß ich sehr erstaunt war mir sagen zu müssen: der Mann, der so ganz unvermutbare Dinge sagte und ein so unvorhergesehenes Verhalten annahm, der sei ich. Das beruht aber darauf, daß eine wirkliche Liebe mich der geliebten Frau ähnlich macht und ich freute mich, wie nachdrücklich Gert das bestätigte, freilich indem sie es als das eigentlich Kennzeichnende der weiblichen Liebe darstellte. Am gewaltigsten war diese Verwandlung ins Ähnliche – die so unerläßlich ist, daß sie in der kirchlichen Auffassung durch das Sakrament der Ehe eigentlich gewährleistet wird, denn nichts macht Menschen einander ähnlicher als miteinander in der Ehe leben – kurz am Gewaltigsten war diese Erfahrung in meiner Verbindung mit Asja, so daß ich vieles in mir erstmals entdeckte. Im ganzen aber bestimmen die drei großen Liebeserlebnisse meines Lebens dieses nicht nur nach der Seite seines Ablaufs, seiner Periodisierung sondern auch nach der Seite des Erlebenden. Ich habe drei verschiedene Frauen im Leben kennen gelernt und drei verschiedene Männer in mir. Meine Lebensgeschichte schreiben, hieße Aufbau und Verfall dieser drei Männer darstellen und den Kompromiß zwischen ihnen – man könnte auch sagen: das Triumvirat, das mein Leben jetzt darstellt.

Sanary 13 Mai 1931 Ob sich nicht das Gefallen an der Bilderwelt aus einem düstern Trotz gegen das Wissen nährt? Ich sehe in die Landschaft hinaus: da liegt das Meer in seiner Bucht spiegelglatt; Wälder ziehen als unbewegliche stumme Masse an der Kuppe des Berges herauf; droben verfallene Schloßmauern wie sie schon vor Jahrhunderten standen; der Himmel strahlt wolkenlos, in »ewiger Bläue«, wie man es nennt. So will der Träumer es, der sich in diese Landschaft vertieft: daß dieses Meer in milliarden und abermilliarden Wellen in jedem Augenblick sich hebt und senkt, die Wälder von den Wurzeln bis ins letzte Blatt jeden Augenblick von neuem erzittern, in den Steinen der Schloßruine ein ununterbrochnes Stürzen und Rieseln waltet, im Himmel Gase, eh sie sich zu Wolken ballen unsichtbar streitend durcheinander wallen, daß und wie die Wissenschaft diese Bewegung bis ins Innerste der Materie verfolgt; in den Atomen nur Elektronenstürme sehen will, all das muß er vergessen, will er leugnen: um sich den Bildern zu überlassen, an denen er Frieden haben will, Ewigkeit, Ruhe, Dauer. Jede Mücke, die ihm ums Ohr summt, jeder Windstoß, der ihn durchschauert, jede Nähe die ihn trifft, straft ihn Lügen aber jede Ferne baut seinen Traum wieder auf, an jedem verdämmernden Berggrat reckt er sich hoch, an jedem erleuchteten Fenster entglimmt er von neuem. Und am vollkommensten scheint er, wenn ihm gelingt, der Bewegung selber ihren Stachel zu nehmen, das Zittern der Blätter über ihn in den Wipfel, das Huschen der Vögel zu seinen Häupten in den Vogelzug zu verwandeln. So der Natur im Namen abgeblaßter Bilder Einhalt zu gebieten – das ist die schwarze Magie der Sentimentalität. Sie unter neuem Anruf erstarren zu machen aber die Gabe der Dichter.

Abends mit Speyer ein kleines Gespräch am Kaminfeuer. Wie ich die Flamme um die Holzscheite züngeln sah und wir gerade über einen Roman sprachen, gingen mir beide Gegenstände der Betrachtung in eins zusammen. Auf einmal schien mir, als stelle die Schichtung der Hölzer das wahre Vorbild der Komposition in Romanen dar: so locker muß die Handlung, so ganz und gar auf Verzehrbarkeit eingerichtet, so sehr das Gegenteil aller architektonischen, geschweige denn monumentalen Konstruktion sein. Die Deutschen freilich haben in ihren Romanen von der Idee der Architektur sich niemals frei machen können. Selbst Gottfried Keller fehlt die kunstgerechte Hand seine Fabelkloben wie Balzac oder Dostojewski zu schichten. Der eigentliche Widerpart dieser Romantechnik – aus welcher dann auch Bücher hervorgehen, die den Leser wie ein Kaminfeuer wärmen – ist der große Konstrukteur Flaubert, an dessen Werken dem Leser nicht anders wird, wie vor dem herrlichsten Delfter Ofen, in dem kein Feuer brennt.

Juan-les-Pins 17 Mai 1931 Versuch einiges von dem festzuhalten, was in Gesprächen, teils mit Wilhelm teils mit Maria Speyer, soweit sie sich um Eva Hermann drehten, berührt wurde.

21 Mai. Mit Speyer im Wagen nach Saint-Paul. Man müßte einmal zehn Tage an diesem außerordentlichen Platz leben. Leider kann ein Ort heute so vergraben und in sich verschlossen aussehen wie er will, von irgend einer Seite her stellt sich seine Preisgegebenheit doch sehr bald heraus. So hatte ich noch kaum zu Speyer – wir waren eine Weile allein, Wissings und Speyers Frau vor uns – gesagt: Quel bonheur que ça ne soit pas encore découvert par les cinéastes, da erschienen auf dem Marktplatz Willi Fritsch und die Lilian Harvey in größerer Gesellschaft. Im übrigen ist dieser Ort ja wirklich in genauem Sinne nicht für unentdeckt zu halten, wie käme er sonst zu einem berühmten Tea-Room, den zwei junge Mädchen, Freundinnen, Lesbierinnen, unterhalten und in dem Kerzen den Innenraum erhellen und altmodische Kupferkessel, Schöpflöffel und ähnliche Gerätschaften der Sache »cachet« geben. Immerhin ein sehr liebenswertes und geschmackvolles. Auch geht dieser Teesalon mit einem Ansichtskartenverkauf und einem Antiquitätengeschäft zusammen. Daneben gibt es außerhalb des Ortes, vor dem Stadttor noch zwei Gasthäuser; von denen sehen wir die Colombe d'or, eine wunderbar gepflegte Herberge, die ihren Garten in Terrassen gegen den Talboden zu senkt und Tische unter blühenden Orangenbäumen mitten in Blumenplantagen für die Gäste bereitstehen hat. Die berliner Filmgesellschaft polterte ohne etwas zu sehen um den Marktplatz, der allein durch die unüberbietbare Ökonomie eines winzigen Arkadenganges und eines einzelnen Empirebrunnens allen Notwendigkeiten der Repräsentation genügt und die winzigen Dimensionen der Stadt gerade in seiner Bescheidung zu den allergrößten Ehren bringt. Freilich nimmt er unbemerkt seine Revanche, auf dem schmalen Raum nämlich hat er, wie ich mit einem Mal entdeckte, Platz für zwei Sonnenuhren. Eine Inschrift hat keine von beiden. – Einiges erinnert an San Gimignano, aber die Autorität der Festung ist in dieser Stadt stärker. Sie hat nirgends Platz für die Entfaltung irgendwelchen Prunkes, ja auch nur der Gemächlichkeit gelassen. Schon der Marktplatz ist winzig. Im übrigen ist im Geflecht der einander kreuzenden Straßen eigentlich – sieht man von einer Stelle vor der Kirche und den Gegenden an der Umwallung ab, überhaupt kein Fleck, der mehr als ein anderer zum Verweilen einlüde. Der strenge ungebrochene Gegensatz von Haus und Straße beherrscht die Architektur vollkommen, alle Vermittlungen sind vermieden, sogar die scheinbar unentbehrliche der Läden ist eigentlich unsichtbar geworden. So einhellig schließen sich die Fassaden der Häuser aneinander, denen man kaum ansieht, daß sie bewohnt werden, geschweige denn Arbeits- oder Verkaufsstätten. Allenfalls erblickt man auf dem Boden einer Stube Mann und Frau mit dem Sortieren von Orangenblüten oder ihrem Trocknen beschäftigt. Gewiß hätte man jene zehn Tage, die ich mir für Saint-Paul wünschte, nötig um den Ort kennen zu lernen. Es gibt in solcher Stadt fast nichts, was sich nicht versteckt und was zu entdecken nicht wert wäre: von den schmalen Schächten zwischen den Häusern, die wie ein Kamin die grüne Tiefe des Landes draußen einfassen und von den Sonnenuhren, deren gleich zwei rechtwinklig an zwei Giebelwänden des Marktplatzes aneinanderstoßen bis zu den Blicken durch die grandiose Wölbung der Torfahrten und das gefranste Trümmerprofil der Stadtmauer. In einem Hof, der im Vorüberschreiten uns stutzen machte und über dem wir den Himmel nicht sehen – wir standen schräg und die Häuser waren hier hoch – hatte man an die Rückwand ein Plakat mit dem einzigen Wort »Cinema« angeschlagen. Der Maler hatte die Buchstaben vielleicht auf einer Schablone gepinselt, vielleicht aber auch eigens entworfen: auf keine Weise hätte eine andere Schrift besser als diese klobige, rustikale sich in dem stumpfen Braun und Grau dieses schattigen Gevierts sehen lassen können. Wäre dies ein Lyonischer Klosterhof gewesen, die Mönche hätten einen Weihspruch über dem Portal nicht unerbittlicher stilisieren können. Lange standen wir auf der alten Stadtmauer und sahen ins Land, das unter bedecktem Himmel dalag. In der eintönigen Beleuchtung traten alle Linien die die Arbeit in die Landschaft gegraben hatte, stärker heraus. Hecken und Ackerfurchen zogen eigensinnig ihre Striche und Winkel. Aber man hätte diese Gewächse alle beim Namen kennen müssen, um ihre Geometrie zu enträtseln. Ja vor dieser im höchsten Sinn kultivierten Landschaft steht der unkundige Städter wie der Europäer vor einer chinesischen Schriftseite. Und wenn man denkt, daß solche Unkenntnis die einzig gemeinsame Grundlage der meisten Beschreibungen ist. Je weiter diese provenzalischen Gehöfte auseinanderliegen, desto bewundernswerter sind sie zumeist gebaut, desto mehr fällt aber auch ins Auge, wie bestimmt und gefügig sie sich der Landschaft einbetten und wie sehr ihre Formen natürlich verglichen mit den unerbittlich regelrechten der Baumpflanzungen, Beete und Äcker sind. Die Stadt hat die Grandezza, die die Landarbeit den Dörfern verleiht: vor Feierabend ist fast niemand auf ihren Straßen zu sehen.

3 Juni 1931. Vor der Potinière in Le Lavandou. Es weht ein recht kalter Wind. Ich bin am Orte mit Brecht, Hesse-Burri, der Hauptmann, Brentanos und Marie Großmann zusammen. Natürlich ließe sich allerlei über die Gespräche mit Brecht aufzeichnen. Es wurden die verschiedensten Gegenstände gestreift: die internationale Gesellschaft materialistischer Freunde der hegelschen Dialektik; die Idee zu einem Kriminaldrama; der Prozeß gegen Friedrich Schiller; am Ende sogar – gestern – in einem einstündigen Gespräch, dem Marie Großmann beiwohnte, Proust. Ich ziehe aber vor eine andere Szene zu beschreiben, weil mir das Verhalten von mir, das in ihr herausgestellt wurde, recht undurchschaubar ist. Ich hatte einen einsamen Spaziergang nach St Clair gemacht. Es war der erste seit langer Zeit, der erste Spaziergang, nicht nur der erste einsame, seit langem. Unterwegs waren mir Heckenrosen in die Augen gefallen. Ich brach eine ab; sie enttäuschte mich nicht, denn sie duftete wunderbar. Ich entfernte am untern Ende die Dornen und trug sie so in der Hand. Auf dem Rückweg kam ich an einem Busch Pfingstrosen vorbei. Sie erinnerten mich sehr an den Strauß, den mir vor vielen Jahren Jula einmal zum Geburtstag geschenkt hatte: er hatte aus nichts als nur Pfingstrosen bestanden. Ich brach mit Mühe einen kleinen Ast ab und tat ihn, mit der Heckenrose zusammen, zwischen die Seiten von Jouhandeaus »Journal du coiffeur«, das ich mit mir hatte. Unterwegs als ich an der Villa Mar-belo vorbeikam, wo Brecht und die andern wohnten, fiel mir ein hinaufzugehen. Obwohl ich mir sagte, man müsse dort noch bei Tisch sein, tat ich's; und in der etwas labilen Verfassung, in die mich dieser erste einsame Spaziergang, nach so langer Zeit, gebracht hatte, geschah es wohl nicht zum wenigsten, weil ich es müde war, einem hübschen Mädchen in roter Strandjacke und blauen Hosen zu folgen, die vor mir in der Dämmerung auf der großen Straße ging. Das Schlimmste war, daß sie mit einemmal bei einem Manne, der ihr begegnet war, stehen blieb und daß ich an ihr hätte vorbei müssen. Ich schlug also den Seitenweg zur Villa ein und betrat den Vorraum. Man hatte mich kommen sehen und in der Tür zum Speisezimmer kam mir Brecht entgegen. Trotz meiner Bitte nahm er nicht mehr am Tisch Platz sondern ging gleich mit mir in den Nebenraum. Hier blieben wir, teils allein, teils in Gesellschaft der andern, meist freilich nur der Frau Großmann, ungefähr zwei Stunden in Gesprächen, bis es mir Zeit schien zu gehen. Wie ich nun mein Buch wieder nahm, schauten daraus die Blumen hervor und als man nun scherzhaft auf sie hinwies, wurde meine Verlegenheit um so größer als ich mich vor dem Betreten des Hauses gefragt hatte, was das Erscheinen mit Blumen denn solle und ob ich sie nicht lieber fortwerfen solle. Ich hatte es aber, weiß Gott warum, nicht getan; bestimmt war ein Gefühl von Trotz dabei gewesen. Natürlich sah ich, daß keine Möglichkeit bestehen würde, der Hauptmann meine Rose zu schenken, so wollte ich sie denn aber wenigstens aufziehen wie eine Fahne. Nun mußte dieses Vorhaben recht gründlich mißglücken. Ironisch machte ich, unter seinen ironischen Scherzen, die Pfingstrose Brecht zum Geschenk, die Heckenrose immer noch zurückhaltend. Aber natürlich nahm der sie nicht an. Ich ließ sie schließlich neben mir in einem großen Topf voll blauer Blumen verschwinden. Die Heckenrose aber warf ich von oben her unter die andern, wo sie wie eine botanische Kuriosität sich vom Stamm einer der blauen abzuzweigen schien. Und da blieb sie recht deutlich sichtbar. Das Blumenbüschel hatte endlich doch meine Fahne gehißt und mußte für die einspringen, der sie bestimmt war.

Am Abend vorher Gespräch mit Brecht, Brentano, Hesse im Café du Centre. Die Rede kommt auf Trotzki; Brecht meint, es ließe sich mit gutem Grund behaupten, daß Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre. Man erzählt Episoden aus seinen Büchern. Brecht gibt folgende Anekdote dazu: Es handelt sich da um einen bestimmten Bericht aus Lenins ersten Leningrader Tagen in Trotzkis Buch. Trotzki erzählt, wie gänzlich isoliert Lenin unmittelbar nach seiner Ankunft in der Partei gestanden habe und wie es schließlich bei einer besonders wichtigen Abstimmung dahin gekommen sei, daß Lenin erklärt habe, er werde gehen, wenn man ihn überstimme. Davon sprach Brecht mit Brick und fragte ihn mit einiger Unruhe, wie er denn zu dieser monströsen Überlieferung sich stelle; was er zu diesen undisziplinierten Worten Lenins sage. Und nun Bricks Antwort – Brecht zitierte sie mit großer Bewunderung: »Das war so wie wenn der Stamm den Blättern erklären wollte: ich gehe.«

6. Juni. Brecht sieht in Kafka einen prophetischen Schriftsteller. Er erklärt von ihm, er verstehe ihn wie seine eigne Tasche. Wie er das aber meint, ist nicht so leicht zu ermitteln. Fest steht ihm jedenfalls, daß Kafka nur ein einziges Thema hat, daß der Reichtum des Schriftstellers Kafka genau der Variantenreichtum von seinem Thema sei. Dies Thema ist, im Sinne Brechts, aufs allgemeinste als das Staunen zu bezeichnen. Das Staunen von einem Menschen, der ungeheure Verschiebungen in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt ohne den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu können. Denn diese neuen Ordnungen – so glaube ich Brecht richtig verstanden zu haben – sind durch die dialektischen Gesetze bestimmt, die das Dasein der Massen sich selber und dem einzelnen diktiert. Der Einzelne aber, als solcher, muß mit.einem Staunen, in das sich freilich panisches Entsetzen mischt, auf die fast unverständlichen Entstellungen des Daseins antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verrät. – Kafka, scheint mir, ist davon so beherrscht, daß er überhaupt keinen Vorgang in unserm Sinn unentstellt darstellen kann. Mit andern Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selber. Der dauernden visionären Gegenwart der entstellten Dinge erwidert der untröstliche Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst. Dieser Haltung wegen will Brecht ihn als den einzig echten bolschewistischen Schriftsteller gelten lassen. Die Fixierung Kafkas an sein eines und einziges Thema kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen. Im Grunde ist dieser Eindruck aber nur ein Anzeichen davon, daß Kafka mit einer rein erzählenden Prosa gebrochen hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaffen, daß sie in beweisende Zusammenhänge jederzeit eingestellt werden kann. Man könnte an die Form der Hagada erinnern: so nennen die Juden Geschichten und Anekdoten des Talmud, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre – der Halacha, dienen. Die Lehre als solche ist freilich bei Kafka nirgends ausgesprochen. Man kann nur versuchen, sie aus dem erstaunlichen, aus Furcht gebornen oder furchterweckenden Verhalten der Leute abzulesen.

Es könnte über Kafka einigen Aufschluß geben, daß er die ihn am meisten interessierenden Verhaltungsweisen oft Tieren beilegt. Solche Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne überhaupt wahrzunehmen, daß es sich hier garnicht um Menschen handelt. Stößt man dann erstmals auf den Namen des Tiers – die Maus oder den Maulwurf – so wacht man, wie mit einem Chock mit einmal auf und sieht: daß man vom Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. So weit, wie eine künftige Gesellschaft von ihm entfernt sein wird. Übrigens ist die Welt der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen einhüllt, beziehungsvoll. Es sind immer solche die im Erdinnern, wie Ratten und Maulwürfe, oder wenigstens, wie der Käfer in der »Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden, verkrochen in seine Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochenheit scheint dem Schriftsteller für die isolierten, gesetzunkundigen Angehörigen seiner Generation und seiner Umwelt allein angemessen.

Brecht stellt den Kafka – die Figur des K. – dem Schweyk gegenüber: der, welchen alles und der, den nichts wundert. Schweyk macht die Probe auf die Ungeheuerlichkeit des Daseins, in welches er gestellt ist, indem ihm garnichts unmöglich scheint. Er hat die Zustände als derart gesetzlos kennen gelernt, daß er ihnen längst nirgends mehr mit der Erwartung von Gesetzen entgegentritt. Kafka dagegen stößt schon allenthalben auf das Gesetz; ja man kann sagen, daß er sich die Stirn an ihm blutig stößt (s. den Maulwurf vgl. auch Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, Berlin 1931 p 213) aber es ist nirgends mehr das Gesetz der Dingwelt, in der er lebt, und überhaupt keiner Dingwelt. Es ist das Gesetz einer neuen Ordnung, zu der alle Dinge, in denen es sich ausprägt, windschief stehen, das alle Dinge, alle Menschen entstellt, an denen es in Erscheinung tritt.

7 Juni. Im Gespräch mit Brentano machte Brecht vor einigen Tagen eine Bemerkung, die mir des Festhaltens wert scheint. Brentano suchte gerade wieder eine seiner Rodomontaden über die Revolutionierung der geistigen Arbeiter, die Situation der Intelligenz u.s.w. an den Mann zu bringen, als Brecht ziemlich heftig einfiel. Wo denn die Lage der Intelligenz eigentlich schlecht sei und was die Revolution ihnen denn eigentlich in Aussicht zu stellen habe. »Die Intelligenz, sagte er, die überarbeitet sich keinesfalls. Und wenn es schon einige Ärzte oder Anwälte gibt, die schuften, was ist dabei. Das ist eine Arbeit, die ihnen liegt, sie ist mit der des Proletariers unter keinen Umständen zu vergleichen. Und schließlich, daß die Leute sich fragen, was sie mit sechzig Jahren machen, wenn sie sich nichts zurückgelegt haben – ja, rief er ganz aufgebracht, das ist wirklich zu viel verlangt. In Gottes Namen, dann krepieren sie eben. Viel zu spät. Täten sies lieber jetzt schon.« Wir streiften ein oder zwei Tage später den gleichen Gedanken als ich von der Anspruchslosigkeit der Surrealisten sprach, die in Frankreich eine Gruppierung erleichtert, die die weitgehenden Forderungen deutscher Schriftsteller ausschließen. Allerdings ist es eben nur für ein Kollektiv richtig, seine Ansprüche niedrig zu halten; für den Einzelnen, meistens, falsch.

8 Juni. Ein wirklich merkwürdiger Nachmittag mit Brecht. Ein Diskurs über die »Sätze« wie er jetzt beinahe täglich von Brecht zu hören ist, nahm durch einen Einwand, den ich ihm machte, eine sonderbare Wendung. Ich trat seiner Suche nach den »Vorstellungen« entgegen und verlangte an dessen Stelle, ich weiß selbst nicht mehr wie, die Untersuchung von Verhaltungsweisen. Mein Vorschlag ging auf meinen Lieblingsgegenstand, das Wohnen. Darauf ging Brecht sehr lebhaft ein und kam zu einer außergewöhnlichen Darstellung seiner Art zu wohnen, dem ich dann eine andere – ohne mich gerade privat auf sie festzulegen – gegenüberstellte. Übrigens wurden die Gedankengänge im ganzen aufgezeichnet. Ich wiederhole sie auswendig. Beide Verhaltungsweisen wurden als dialektisch erkannt und in ihrer Polarität dargestellt. Brecht ging vom »mitahmenden« Wohnen aus. Das ist ein Wohnen, das seine Umwelt »gestaltet«, sie passend, gefügig und gefügt anordnet; eine Welt, in der der Wohnende auf seine Weise zu Haus ist. Dem stellte er die andere Art seines Wohnens entgegen, die Haltung, sich überall nur als Gast zu fühlen; dann lehnt er ab, Verantwortung für das zu tragen, was ihm dient; er fühlt sich von dem Sessel, auf dem er Platz nimmt eingeladen und, im gegebnen Augenblicke, auch wieder ausgeladen. Ich komme nun dazu, das Wohnen in der Dialektik eines ganz anderen Aspekts zu zeigen. Es gelingt mir auch, Brecht den Eindruck zu nehmen, meine Darstellung sei nur eine Umschreibung seiner eignen Bemerkungen. Ich unterscheide das Wohnen das dem Wohnenden das Maximum und dasjenige, das ihm das Minimum von Gewohnheiten mitgibt. Beide Extreme sind pathologisch. Wahrscheinlich unterscheiden sie von den von Brecht bezeichneten sich schon dadurch, daß sie auseinanderzutreten streben, während die andern eine Neigung haben, zusammenzukommen. Das Wohnen, das dem Wohnenden das Maximum von Gewohnheiten mitgibt, ist das, wie die Vermieterinnen möblierter Zimmer sichs vorstellen. Der Mensch wird eine Funktion der Verrichtungen, die die Requisiten von ihm verlangen. Hier waltet ein ganz anderes Verhältnis des Wohnenden zur Dingwelt als im mitahmenden Wohnen. Hier werden die Dinge (ob sie Eigentum im juristischen Sinne sein mögen oder nicht) ernst genommen, für das mitahmende Wohnen leisten sie ungefähr was eine Bühneneinrichtung leistet. Man könnte auch sagen: das eine findet in einer Einrichtung statt, das andere in einem Interieur. Schwerer ist es, den Faktor der Gewohnheit im mitahmenden Wohnen zu bestimmen, während er für das Gastwohnen vollkommen in einem Wort von Nietzsche definiert ist: »Ich liebe die kurzen Gewohnheiten.« Die vierte Art des Wohnens endlich, das Wohnen, das dem Wohnenden das Minimum von Gewohnheiten mitgibt, ist das Hausen. Auch diese Vorstellung findet sich im Gemüt der Zimmervermieterin am vollkommensten ausgebildet. In ihrer Mitte steht der schlechte Zimmerherr und die Abnutzung. Denn das Hausen ist das zerstörende Wohnen, ein Wohnen, das gewiß keine Gewohnheiten aufkommen läßt, weil es die Dinge, ihre Stützpunkte, fortschreitend wegräumt.

10 Juni. Vor einigen Tagen ein Gespräch mit Speyers Frau, die von Eva Hermann aus den Tagen ihrer tiefsten Niedergeschlagenheit dieses erstaunliche Wort berichtet: »Wenn ich schon unglücklich bin, habe ich darum doch nicht nötig mit einem Gesicht voll Runzeln herumzulaufen.« Mir wurde mit diesem Satz manches klar; vor allem, daß die peripherische Berührung, die ich zu der Welt dieser Geschöpfe – Gert, Eva Hermann u.s.w. – in der letzten Zeit gewonnen habe, nur ein später und schwacher Nachklang von einem Grunderlebnis meines Daseins: dem des Scheins ist. Ich sprach das gestern in einer Unterhaltung mit Speyer aus, der seinerseits auch viel über diese Menschen nachzudenken begonnen hat und die erstaunliche Bemerkung machte, sie hätten eigentlich keine Ehre im Leib oder vielmehr: ihr Ehrenkodex sei, alles auszusprechen. Das ist sehr zutreffend und im Grunde auch nur ein Beweis, wie tief die Verpflichtung ist, die sie gegenüber dem Schein fühlen. Denn dieses Aussprechen ist zunächst gewiß dazu geschaffen, das Ausgesprochene zu vernichten oder vielmehr, vernichtet es zum Gegenstand zu machen; erst scheinhaft wird es ihnen assimilierbar. Auch sprachen wir davon, wie sehr die Haltung dieses Kreises das Komplement von jener der falsch Gefestigten, der falsch Wissenden, der Menschen, die sich ihren Vers auf alles machen können sei. Der Mikrokosmos einer falschen Kindheit, in welchem diese Menschen sich von dem Dasein abkapseln entspricht den falschen Riesenmaßen, in denen jene andern (die am sinnfälligsten vielleicht von Lawrence verkörpert werden) das Dasein erfahren. Speyers Freund Max Mohr muß so ein Typ sein. Alles, was nach Mykene kam, ist ihm Verfall und heutzutage scheint ihm die Hochtouristik noch am meisten Gewahr für Gesundung zu geben.

12 Juni. Gestern abend mit Speyers oben in Mar belo. Es war die erste eigentliche Berührung von Brecht und Speyer und für mich sehr angenehm, daß sie gut verlief. Gefürchtet hatte ich freilich nach Brechts Verhalten an den vorangehenden Tagen ohnehin nichts. Aber es war ein besonderer Glücksfall, daß Brecht auf seine Knabenjahre zu sprechen kam und damit auf Dinge, denen Speyer besonderes Verständnis entgegenbringt. Vor allem erzählte er von der strategischen Schule, durch die er gegangen war: die Schlachten zwischen den Schulklassen auf der Bleich am Lech und die Zinnsoldatenschlachten im Garten. Was er dabei nebenher von seinem Dasein in der Schule erzählte, erinnert ganz auffallend an die Haltung, die Kraus der Schule gegenüber eingenommen hat. »Wir haben« sagte er »alles gelernt, was wir später gebraucht haben. Der Lehrer war für uns der Mensch schlechtweg: wachsam, böse, unberechenbar, ungerecht. Und die Durchstechereien, die Schwindeleien, die Ausflüchte ihm gegenüber – das wollte alles gelernt sein. Wir mußten die englischen Aufgaben in der Mathematikstunde und die deutschen in der englischen Stunde machen – das wollte alles gelernt sein.« Vor allem aber erzählte er wie gesagt von den Schlachten mit Zinnsoldaten. »Es gab da Treffen, in denen vier- bis fünftausend solcher Soldaten engagiert waren. Gekämpft wurde nach festen Regeln: Fußvolk durfte mit jeder Bewegung um die eigene Länge, Reiterei um das Doppelte ihrer eignen Länge vorrücken. Brauchbar waren natürlich nur Soldaten im Angriff, andere Zinnsoldaten hätten dem Kampf jede Illusion genommen.« Brecht erzählte von einem Marsch, der historische Berühmtheit bekommen hat: da war es einem seiner Freunde gelungen, einen Truppenkörper von 300 Mann ganz ohne Deckung so über eine Wiese zu bringen, daß zuletzt noch 180 das Ziel erreichten. Indessen wurden die Truppen aus Kanonen, mit kleinen Pulverladungen – Krackern – beschossen, wobei es darauf ankam, der Soldaten von der Breitseite habhaft zu werden, weil sie andernfalls ja nicht umfielen. Wenn man bedenkt, daß die bloße Handarbeit jenes Marsches eigentlich Stunden hätte beanspruchen müssen, eine ganz große Leistung. Bei diesen Kämpfen wurden mit Pappstreifen Dörfer markiert, Flüsse auf Pontons überschritten, Baumwurzeln stellten Gebirge dar. Übrigens versichert Brecht, er habe zu jener Zeit eine ganze Anzahl der größten Schlachten der Weltgeschichte auswendig gekannt, den bellum gallicum durchgearbeitet, alle Schlachten Friedrichs des Großen studiert, und Waterloo, glaubt er, bekäme er heut noch zusammen.

Heute morgen erschien er bei mir schon um neun und der Zufall gab es, daß er mit der Erzählung seiner Jugendgeschichten gewissermaßen fortfuhr. Freilich ging es um spätere Jahre. Er kam »sehr aufgekratzt« wie er selber sagte, weil nämlich die politischen Nachrichten aus Berlin ihn in seiner Überzeugung, in Deutschland werde man auf eine revolutionäre Situation noch jahrelang zu warten haben, erschüttert hatten. Es könne ein sehr plötzlicher Umschlag eintreten. Und diese Prognose stützte er auf einige sehr interessante Thesen über Massen, die ich hier einfach aufführe. Die Intelligenz der Kapitalisten wächst im Verhältnis zu ihrer Absonderung, die der Massen im Verhältnis zu ihrem Zusammenschluß. Der Wirklichkeitssinn der Proletarier ist unbestechlich. Man könne den Proletariern Zusicherungen machen soviel man wolle, wenn sie zu dem Ergebnis kommen, der Betreffende könne sie nicht halten auch wenn er's wolle, so gehen sie darüber zur Tagesordnung über, sehr im Gegensatz zu den Intellektuellen. Im übrigen sei der Kapitalismus jetzt an einem Punkt angekommen, wo vielleicht auch seine gutgemeinten Versprechungen bei den Massen keinen Kredit mehr finden. – Die Masse wolle privat behandelt werden, das sei im Umgang mit ihr der dialektische Hauptsatz. Für all diese Erfahrungen berief Brecht sich aber auf die Zeit, da er, zu Beginn der Revolution in München eine Lazarettstation für Geschlechtskranke unter seiner effektiven Leitung gehabt habe, obwohl er der Form nach nur Unterarzt gewesen sei. Von allen Stationen sei diese die einzige gewesen, deren Kranke in der Tat aus den Baracken nicht herausgekommen seien – eine Vorschrift, die man sonst nirgends habe durchführen können. Sehr spaßig erzählte Brecht von den verschiedenen Methoden, mittels deren er es soweit gebracht habe. Zunächst suchte er die Masse aus sich selbst zu organisieren und die klügsten und kräftigsten als Obmänner auf seine Seite zu bringen. Des weiteren stellte er mit dieser Masse sich in eine Einheitsfront der Illegalität: er verschaffte den Leuten Decken durch Betrug, Kohlen durch Einbruch etc. Vor allem kam ihm aber zu statten, daß er die Einspritzungen geschickter als andere Ärzte zu verabfolgen wußte. »Ich konnte sie geschickt machen – ich konnte sie aber auch ungeschickt machen.« Und da spielte er mir eine herrliche Soloszene, wie er während der Vorbereitungen zur Einspritzung bei einem, der etwas auf dem Kerbholz hatte, sich langsam in einen Erregungszustand hineinspielte, so daß der Betreffende schon während des Auswaschens der Spritze sich eine Vorstellung von der Unannehmlichkeit der Prozedur durch den aufs tiefste erregten Arzt machen konnte. Bisweilen ist er auch zu Kollektiv-Maßnahmen geschritten; hat einem ganzen Schlafsaal eine Nacht die Dekken einziehen lassen u.s.w. – Kollektivmaßnahmen bringt er, mit einer sehr merkwürdigen Begründung, auch während unserer Unterhaltung über die deutsche Situation in Vorschlag. Wenn er in einem berliner Exekutivkomitee säße: er würde einen Fünftageplan ausarbeiten, auf Grund dessen in der genannten Frist wenigstens 200 000 Berliner zu beseitigen seien. Sei es auch nur, weil man damit »Leute hineinzieht«. »Wenn das durchgeführt ist, so weiß ich, da sind mindestens 50 000 Proletarier, als Ausführende, beteiligt.«

17 Juni 1931 Aus mehreren Unterhaltungen mit Brecht, die das epische Theater betrafen und teils in Gegenwart von Speyer, teils von Carola Neher stattfanden, halte ich fest: Unter den Neueren scheint Brecht neben Strindberg für den größten Techniker Georg Kaiser zu halten und besonders den »Geretteten Alkibiades« für ein Haupt- und Schulstück des epischen Theaters. Kaiser charakterisiert er als den letzten idealistischen Dramatiker, bei dem die theatralische Technik aber bereits einen Standard erreicht hat, der sie für die Zwecke des Idealismus unbrauchbar macht. Er ist der Dramatiker vor dem Umschlag. Andere Beispiele des epischen Theaters aus Calderon und Shakespeare. Ich wies besonders auf »Die große Zenobia« und »Eifersucht das größte Scheusal« hin und Brecht bat mich, gelegentlich Inhaltsangaben dieser Stücke zur Publikation herzustellen, dann aber Shakespeare. Wieder kam er auf seine Lieblingsstelle, die große Ansprache der Mutter an den Sohn; die Rede, die Coriolan bewegen soll, von Rom abzuziehen und diesen Zweck erreicht, trotzdem sie elender und brüchiger garnicht hätte ausfallen können. »Es ist ein Wunder, sagt Brecht von Shakespeare, wo er diese Rede hat auftreiben können; er muß weiß Gott lange danach gesucht haben.« Und doch ist es eben diese Rede, die die Mutter zum Ziel führt und wie das möglich ist, spricht Coriolan mit dem Satz aus, mit dem er aus der Situation das Fazit zieht. »Ich saß zu lang« sagt er und sonst nichts. Andere Beispiele aus Shakespeare. Ich spreche von Glosters Sprung von der Klippe, die keine ist, weil mir an dieser Stelle zuerst die Ahnung von andern Möglichkeiten der Bühne, als Freytag sie in seiner »Technik des Dramas« kennt, aufdämmerte. Vielleicht wäre es garnicht das Schlechteste, einmal die Gesetze des epischen Theaters an der Auseinandersetzung mit diesem Buch zu entwickeln. Auch ein sehr wichtiges entnahm ich dem Hinweis aus einem Gespräch von Brecht mit der Neher auf der Fahrt von Le Lavandou nach Marseille. Brecht entwickelte einen Wunsch, kleine Aufzeichnungen von Leuten zu bekommen, die über das »Verhalten« der Menschen auf Grund von Beobachtungen berichteten. Es scheint, daß die Neher seit einiger Zeit dergleichen Versuche gemacht hat. Brecht ermunterte sie sehr, fortzufahren. Sie solle einfach schreiben, was sie habe feststellen können. »Und vor allen Dingen: keine Pointen. Sonst sind die Sachen gleich wertlos.« Ich glaube, hieraus ließe sich nicht nur viel über das epische Theater sondern auch manches über Brecht entwickeln: er scheint nichts so zu meiden und in Acht zu tun als alle Unternehmungen und Verhaltungsweisen, die ihren Lohn dahin haben. – Sehr kurios ist, was Brecht zu Ehren des epischen Theaters über »Romeo und Julia« zu sagen hat. Wir gingen von einer Bemerkung aus, die Speyer mir vor Jahren über das Stück gemacht hatte: wie höchst bezeichnend und unglaublich kühn zugleich es sei, daß Shakespeare den Romeo als heißesten Liebhaber der Rosaline einführe, um ihn für Julia entflammt zu zeigen. Brecht variierte das nun gleich erstaunlich: der Romeo erscheine eben nicht nur als heißester sondern auch als glücklichster Liebhaber, nämlich total erschöpft, ganz ohne im Besitz seiner männlichen Kräfte zu sein. Und wollte man Brecht glauben so schien das wirklich das »epische« Thema dieses Stückes zu sein, nämlich daß die beiden nicht zueinander finden und zwar eben vor allem ganz physiologisch; wie ja der Akt »bekanntlich« nicht zustande komme, wo die Partner nur sexuelle Absichten hätten, so scheitere die Sache für Romeo und Julia daran, daß sie zu sehr dahinter her, zu erpicht darauf seien.

21 Juni. Am letzten Tag unserer Fahrt von Marseille nach Paris machten wir im Freien Station. Brentanos blieben an der Straße; ich ging etwas höher, eine Böschung hinauf und legte mich unter einen Baum. Es ging gerade ein Wind; der Baum war eine Weide oder eine Pappel, jedenfalls ein Gewächs mit sehr biegsamen, leicht bewegten Ästen. Während ich in das Laubwerk sah und seine Bewegung verfolgte, kam mir mit einem Mal der Gedanke, wieviel Bilder, Metaphern der Sprache allein in einem einzigen Baume nisten. Diese Äste, und mit ihnen der Wipfel, wiegen sich erwägend und biegen sich ablehnend, die Äste zeigen, je nachdem der Wind weht, sich zuneigend oder hochfahrend, die Blättermasse sträubt sich gegen die Zumutungen des Windes, erschauert vor ihnen oder kommt ihnen entgegen, der Stamm hat seinen guten Grund, auf dem er fußt und ein Blatt wirft seinen Schatten aufs andere.

Nachtrag zu Brechts Untersuchungen über das Wohnen und die Vorstellungen im allgemeinen: Wohnen im Hotel. – Vorstellung, das Leben sei ein Roman.


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