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Moskauer Tagebuch

1926/1927

9 Dezember. Angekommen bin ich am 6 Dezember. Im Zuge hatte ich mir für den Fall, daß niemand am Bahnhof sein sollte, einen Hotelnamen nebst Adresse eingeprägt. (An der Grenze hatte man mich mit der Angabe, zweiter Klasse sei nicht zu haben, erster nachzahlen lassen.) Es war mir angenehm, daß mich niemand aus dem Schlafwagen steigen sah. Aber auch an der Sperre war niemand. Ich war nicht allzu aufgeregt. Da tritt mir, während ich aus dem weißrussisch-baltischen Bahnhof trete, {Bernhard} Reich entgegen. Der Zug war ohne eine Sekunde Verspätung eingetroffen. Uns und die beiden Koffer verstauten wir in einen Schlitten. Tauwetter war an diesem Tage eingetreten, es war warm. Wir waren durch die breite schnee- und schmutzstrahlende Twerskaja erst einige Minuten gefahren, da winkte Asja {Lacis} vom Weg aus. Reich stieg ab und ging die paar Schritt zum Hotel zu Fuße, wir fuhren. Asja sah nicht schön, wild unter einer russischen Pelzmütze aus, das Gesicht durch das lange Liegen etwas verbreitert. Im Hotel hielten wir uns nicht auf und tranken Tee in einer der sogenannten Konditoreien in der Nähe des Sanatoriums. Ich erzählte von Brecht. Dann ging Asja, die während der Ruhepause entwichen war, um unbemerkt zu bleiben, zum Sanatorium einen Nebenaufgang hinauf, Reich und ich über die Haupttreppe. Hier zum zweiten Male Bekanntschaft mit der Sitte des Galoschenablegens. Das erste Mal im Hotel, wo übrigens nur gerade die Koffer in Empfang genommen wurden; ein Zimmer versprach man uns für den Abend. Asjas Zimmergenossin, eine breite Textilarbeiterin, sah ich erst am folgenden Tage, sie war noch abwesend. Hier blieben wir zum ersten Male unter einem Dach einige Minuten allein. Asja sah mich sehr freundlich an. Anspielung auf das entscheidende Gespräch in Riga. Dann begleitete mich Reich ins Hotel, wir aßen ein wenig auf meinem Zimmer, und gingen dann ins Theater Meyerhold. Es war erste Generalprobe des »Revisors«. Mir ein Billet zu verschaffen gelang trotz Asjas Versuch nicht. Ich ging also noch eine halbe Stunde die Twerskaja in der Richtung auf den Kreml hinauf und wieder zurück, vorsichtig an den Ladenschildern buchstabierend und auf dem Glatteise schreitend. Dann kam ich sehr müde (und wahrscheinlich traurig) auf mein Zimmer.

Am 7. morgens holte mich Reich ab. Gang: Petrowka (zur polizeilichen Anmeldung) Institut der Kamenewa (wegen eines 1,50 Rubel Platzes in dem gelehrten Institut; ferner mit dem dortigen deutschen Referenten, einem großen Esel, gesprochen) danach durch die ulitza Gerzena zum Kreml, vorbei an dem ganz mißglückten Leninmausoleum bis zum Blick auf die Isaakskathedrale. Zurück über die Twerskaja und in den Twerskoi-Boulevard zum Dom Gerzena, dem Sitz der proletarischen Schriftstellerorganisation Wap. Gutes Essen, von dem mich die Anstrengung, die das Gehen in der Kälte mich gekostet hatte, wenig genießen ließ. Kogan wurde mir vorgestellt und hielt mir einen Vortrag über seine rumänische Grammatik und sein russisch-rumänisches Wörterbuch. Reichs Berichte, denen ich nur während der langen Gänge aus Müdigkeit oft nur mit halbem Ohr folgen kann, sind unendlich lebendig, voll von Belegen und Anekdoten, scharf und sympathisch. Geschichten von einem fiskalischen Beamten, der Ostern Urlaub nimmt und seinem Dorfe als Pope den Gottesdienst hält. Ferner: Die Gerichtsurteile gegen die Schneiderin, die den alkoholischen Mann erschlug und den Hooligan, der auf der Straße einen Studenten und eine Studentin anfiel. Ferner: Geschichte von dem weißgardistischen Stück bei Stanislawski; wie es zur Zensur kommt und nur einer davon Notiz nimmt und mit dem Vermerk, es müßten Änderungen eintreten, es zurückgibt. Darauf Monate später, nach Vornahme dieser Änderungen schließlich Vorstellung vor der Zensur. Verbot. Stanislawski bei Stalin: er sei ruiniert, in dem Stücke stecke sein ganzes Kapital. Stalin kommt »es sei nicht gefährlich«. Premiere unter Opposition von Kommunisten, die durch Miliz entfernt werden. Geschichte von der Schlüsselnovelle, die den Fall Frunse behandelt, der angeblich gegen seinen Willen und auf Stalins Befehl sei operiert worden... Dann die politischen Informationen: Entfernung der Opposition aus den leitenden Stellen. Damit identisch: Entfernung zahlreicher Juden zumal aus den mittleren Chargen. Antisemitismus in der Ukraine. – Nach Wap gehe ich, völlig erschöpft, zunächst allein zu Asja. Dort wird es bald sehr voll. Es kommt eine Lettin, die neben ihr auf dem Bett sitzt, Schestakoff mit seiner Frau, zwischen den beiden letzten und andererseits Asja und Reich entsteht, russisch, der heftigste Disput über Meyerholds Revisoraufführung. Im Mittelpunkt steht die Verwendung von Samt und Seide, vierzehn Kostüme für seine Frau; übrigens dauert die Aufführung 5½ Stunden. Nach dem Essen kommt Asja zu mir; auch Reich ist bei mir. Asja erzählt vor dem Fortgehen die Geschichte von ihrer Krankheit. Reich bringt sie ins Sanatorium zurück und kommt darauf wieder. Ich liege im Bett – er will arbeiten. Aber er unterbricht sich sehr bald und wir sprechen über die Situation des Intellektuellen – hier und in Deutschland; sowie über die Technik der augenblicklich in diesen beiden Ländern fälligen Schriftstellerei. Dazu über Reichs Bedenken, in die Partei einzutreten. Sein ständiges Thema ist die reaktionäre Wendung der Partei in kulturellen Dingen. Die linken Bewegungen, die zur Zeit des Kriegskommunismus benutzt wurden, werden gänzlich fallen gelassen. Erst ganz kürzlich sind (gegen Trotzki) die proletarischen Schriftsteller als solche staatlich anerkannt worden, doch indem man gleichzeitig ihnen zu verstehen gab, daß sie auf staatliche Unterstützung in keinem Fall rechnen können. Dann der Fall Llelewitsch – das Vorgehen gegen die linke Kulturfront. Llelewitsch hat eine Arbeit über die Methode marxistischer Literaturkritik verfaßt. – Man legt in Rußland das größte Gewicht auf die streng nuancierte politische Stellungnahme. In Deutschland wird politischer Hintergrund, vage und allgemein, ausreichend sein, der aber unerläßlich auch dort gefordert werden sollte. – Methode für Rußland zu schreiben: breit Material zu exponieren und möglichst nichts weiter. Der Bildungsgrad des Publikums ist so niedrig, daß Formulierungen unverstanden bleiben müssen. Dagegen verlangt man in Deutschland nur die: Resultate. Wie man zu ihnen gekommen ist, will niemand wissen. Damit hängt zusammen, daß deutsche Zeitungen dem Referenten nur einen winzigen Raum zur Verfügung stellen; hier sind Artikel von 500 bis 600 Zeilen keine Ausnahme. Dieses Gespräch zog sich lange hin. Mein Zimmer ist gut geheizt und geräumig, der Aufenthalt darin angenehm.

8 Dezember. Am Vormittag war Asja bei mir. Ich gab ihr Geschenke, zeigte ihr flüchtig mein Buch mit der Widmung. Nachts hatte sie infolge von Herzerregung nicht gut geschlafen. Auch den Umschlag zum Buche, den Stone gemacht hat, zeigte (und schenkte) ich ihr. Er gefiel ihr sehr gut. Danach kam Reich. Später ging ich mit ihm zum Wechseln auf die Staatsbank. Wir sprachen kurz dort den Vater von Neumann. 10 Dezember. Dann durch eine neuerbaute Passage in die Petrowka. In der Passage ist eine Ausstellung der Porzellanmanufaktur. Reich hält sich aber nirgends auf. In der Straße, wo das Hotel Liverpool liegt, sehe ich zum zweiten Male die Konditoreien. (Hier trage ich die Geschichte von Tollers Moskauer Aufenthalt nach, die ich am ersten Tage zu hören bekam. Er wurde mit unglaublichem Aufwand empfangen. Schilder kündigen in der ganzen Stadt sein Kommen an. Man gibt ihm einen Stab von Personal, Übersetzerinnen, Sekretärinnen, hübschen Frauen bei. Vorträge von ihm werden angekündigt. Doch zu dieser Zeit ist in Moskau eine Tagung der Komintern. Unter den deutschen Vertretern ist Werner, der Todfeind von Toller. Er veranlaßt oder verfaßt in der Prawda einen Artikel: Toller habe die Revolution verraten, sei Schuld am Scheitern einer deutschen Räterepublik. Die Prawda vermerkt kurz redaktionell dahinter: Verzeihung, wir wußten das nicht. Toller ist in Moskau darauf unmöglich. Er begibt sich, um einen großangekündigten Vortrag zu halten zu einem Versammlungsort – das Gebäude ist verschlossen. Das Institut der Kamenewa benachrichtigt ihn: Verzeihung, der Saal war heute nicht zu haben. Man hat vergessen, Ihnen zu telefonieren.) Mittag wieder im Wap. Eine Flasche Mineralwasser kostet 1 Rubel. Danach gehen Reich und ich zu Asja. Zu ihrer Schonung arrangiert Reich, sehr gegen ihren Willen, und meinen, zwischen ihr und mir im Spielzimmer des Sanatoriums eine Dominopartie. Ich komme mir vor, neben ihr sitzend, wie eine Figur aus einem Roman von Jacobsen. Reich spielt mit einem berühmten alten Kommunisten Schach, einem Mann, der im Krieg oder im Bürgerkrieg ein Auge verloren hat und gänzlich zerstört und aufgebraucht ist, wie viele der besten Kommunisten aus dieser Zeit, wenn sie nicht schon tot sind. Asja und ich sind noch nicht lange in ihr Zimmer zurückgekehrt, als Reich kommt, um mich zu Granowski abzuholen. Ein Stück die Twerskaja hinunter begleitet uns Asja. In einer Konditorei kaufe ich ihr Halwa und sie kehrt um. Granowski ist ein lettischer Jude aus Riga. Seine Schöpfung ist ein chargiertes antireligiöses und dem äußeren Anschein nach gewissermaßen antisemitisches Possentheater, das aus einer Chargierung der Jargonoperette hervorgegangen ist. Er wirkt ganz westlich, steht einigermaßen skeptisch zum Bolschewismus und das Gespräch dreht sich hauptsächlich ums Theater und um Besoldungsfragen. Die Rede kommt auf Wohnungen. Sie werden hier nach m bezahlt. Der Preis des Quadratmeters richtet sich nach der Höhe der Besoldung des Mieters. Außerdem beträgt der Preis für alles was über einen Anteil von 13 m für den Einzelnen hinausgeht, sowohl für Miete als Heizung das Dreifache. Man hatte uns nicht mehr erwartet und statt eines großen Essens gab es ein improvisiertes kaltes Abendessen. Gespräch bei mir mit Reich über die Enzyklopädie.

9 Dezember. Vormittags kam wieder Asja. Ich gab ihr einige Sachen, dann gingen wir bald spazieren. Asja sprach über mich. Beim Liverpool machten wir Kehrt. Ich ging dann nach Hause, wo Reich schon war. Eine Stunde arbeiteten wir jeder – ich an der Redaktion des Goethe-Artikels. Darauf zum Kamenewa-Institut, um Hotel-Ermäßigung für mich zu erwirken. Sodann zum Essen. Diesmal nicht im Wap. Das Essen war hervorragend, besonders eine Suppe von roten Rüben. Sodann zum Liverpool mit seinem freundlichen Besitzer, einem Letten. Es war etwa 12 Grad. Nach dem Essen war ich ziemlich erschöpft und konnte nicht mehr zu Fuß, wie ich die Absicht gehabt hatte, zu Llelewitsch kommen. Wir mußten ein kleines Stück fahren. Dann geht es bald durch ein großes Garten- oder Parkgrundstück, in dem überall Häuserkomplexe liegen. Ganz hinten ein schönes schwarzweißes Holzhaus mit Llelewitschs Wohnung im ersten Stock. Wir begegnen beim Eintritt ins Haus Besmensky, der eben herauskommt. Eine steile Holzstiege und hinter einer Tür zunächst die Küche mit offnem Feuer. Sodann ein primitiver Vorplatz, der von Mänteln voll hängt, dann durch eine Stube, scheinbar mit Alkoven, in Llelewitschs Arbeitszimmer. Seine Erscheinung ist nur schwer darzustellen. Ziemlich hoch gewachsen, in blauer russischer Bluse, bewegt er sich wenig (schon das kleine Zimmer voll Menschen bannt ihn auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.) Das Merkwürdige ist sein langes scheinbar unartikuliertes Gesicht mit breiten Flächen. Das Kinn zieht sich so lang, wie ich es wohl bei keinem Menschen außer dem kranken Grommer gesehen habe, hinunter und ist nur sehr wenig eingeschnitten. Er wirkt sehr ruhig aber die ganze zehrende Schweigsamkeit des fanatischen Menschen scheint an ihm spürbar. Er erkundigt sich bei Reich mehrfach nach mir. Gegenüber auf dem Bett sitzen zwei Menschen, der eine in schwarzer Bluse ist jung und sehr schön. Hier sind nur Angehörige der literarischen Opposition versammelt um die letzte Stunde vor seinem Fortgehen bei ihm zu sein. Er wird verschickt. Zuerst war Nowosibirsk die Order. »Sie brauchen« sagte man ihm »nicht eine Stadt mit ihrem immerhin begrenzten Wirkungskreis sondern ein ganzes Gouvernement.« Aber es gelang ihm, das abzuwenden und nun sendet man ihn »zur Verfügung der Partei« nach Saratow, vierundzwanzig Stunden von Moskau, ohne daß er noch weiß, ob er dort Redakteur, Verkäufer in einer staatlichen Produktionsgenossenschaft oder was sonst wird. Im Nebenraum hält sich die meiste Zeit über unter wieder anderen Besuchern seine Frau auf, ein Wesen mit höchst energischem aber ebenso harmonischem Ausdruck, klein, von südrussischem Typus. Sie begleitet ihn für die ersten drei Tage. Llelewitsch hat den Optimismus des Fanatikers: er bedauert, die Rede nicht hören zu können, die Trotzki am folgenden Tage vor der Komintern zu gunsten Sinowjeffs halten wird, meint, die Partei stünde vor einem Umschwung. Beim Abschied auf der Diele lasse ich ihm durch Reich ein paar freundliche Worte sagen. Dann gehen wir zu Asja. Vielleicht gab es erst jetzt die Dominopartie. Am Abend wollten Reich und Asja zu mir kommen. Aber es kam nur Asja. Ich gab ihr Geschenke: Bluse, Hose. Wir sprechen. Ich bemerke, daß sie im Grunde nichts vergißt, was uns angeht. (Nachmittags sagte sie, sie findet daß es gut mit mir steht. Es sei nicht wahr, daß ich in einer Krise bin.) Bevor sie fortgeht, lese ich ihr aus der »Einbahnstraße« die Stelle von den Runzeln. Ich helfe ihr dann in die Galoschen. Reich kam erst als ich schlief, um Mitternacht, mir Nachricht zu geben, damit ich am nächsten Morgen Asja beruhigen könnte. Er hatte die Vorbereitungen für seinen Umzug getroffen. Denn er wohnt mit einem Verrückten zusammen und die ohnehin schwierigen Wohnangelegenheiten sind dadurch unerträglich kompliziert.

10 Dezember. Am morgen gehen wir zu Asja. Da in der Frühe Besuche nicht erlaubt sind, sprechen wir sie im Vestibül eine Minute. Sie ist nach dem Kohlensäurebad, das sie zum ersten Male nahm und das ihr sehr gut tat. Darauf wieder zum Institut der Kamenewa. Der Schein, der mir Ermäßigung bei den Hotels erwirkt, sollte fertig sein, ist es aber nicht. Dafür gibt es im gewohnten Vorzimmer mit dem unbeschäftigten Herrn und dem Fräulein eine recht ausgedehnte Unterhaltung über Theaterfragen. Am folgenden Tage soll ich von der Kamenewa empfangen werden und für den Abend bemüht man sich um Theaterbillets. Leider sind für das Operettentheater keine zu bekommen. Reich setzt mich im Wap ab; ich bleibe dort mit meiner russischen Grammatik zweieinhalb Stunden; dann erscheint er wieder, mit Kogan, zum Essen. Nachmittags bin ich bei Asja nur kurz. Sie hat Streit wegen der Wohnungsangelegenheiten mit Reich und schickt mich fort. Ich lese auf meinem Zimmer Proust, fresse dazu Marzipan. Abends gehe ich ins Sanatorium, begegne am Eingang Reich, der fort war, um sich Zigaretten zu holen. Im Gang warten wir einige Minuten, dann kommt Asja. Reich setzt uns in die Elektrische und wir fahren ins musikalische Studio. Der Administrator empfängt uns. Er legt uns ein, französisches, Anerkennungsschreiben von Casella vor, führt uns durch alle Räume (im Vestibül ist viel Publikum schon lange vor Anfang versammelt, Leute, die von ihren Arbeitsstätten direkt ins Theater kommen) zeigt uns auch den Konzertsaal. Im Vestibül liegt ein außerordentlich auffallender, wenig schöner Teppich. Wahrscheinlich ein kostbarer Aubusson. Echte alte Bilder hängen an den Wänden (eines ist ungerahmt). Hier, wie übrigens auch im offiziellen Empfangsraum des Institutes für die Kulturbeziehungen zum Ausland sieht man sehr wertvolle Möbel. Unsere Plätze sind in der zweiten Reihe. Man gibt die »Zarenbraut« von Rimski-Korsakoff – die erste Oper, die neuerdings von Stanislawski einstudiert wurde. Gespräch über Toller, wie Asja ihn ausführte, wie er ihr etwas schenken wollte und sie den billigsten Gürtel sich aussuchte, wie er törichte Bemerkungen machte. In einer Pause gehen wir ins Vestibül. Es gibt aber drei. Sie sind viel zu lang und ermüden Asja. Gespräch über den ockergelben italienischen Shawl, den sie trägt. Ich erkläre ihr, sie geniert sich vor mir. In der letzten Pause tritt der Administrator zu uns heran. Asja redet mit ihm. Er lädt mich zur nächsten Neueinstudierung (Eugen Onegin) ein. Am Schluß ist die Beschaffung der Garderobe sehr schwierig. Zwei Theaterdiener bilden mitten auf der Treppe einen Kordon, um den Zustrom der Leute zu den winzigen Garderoberäumen zu regeln. Nach hause sowie ins Theater in der kleinen, ungeheizten elektrischen Bahn mit vereisten Fenstern.

11 Dezember. Einiges zur Signatur von Moskau. Vor allem bestimmt mich in den ersten Tagen die schwierige Gewöhnung an den Gang auf völlig vereisten Straßen. Ich muß so sehr auf meine Schritte achten, daß ich wenig umherblicken kann. Das wurde besser als Asja mir gestern vormittag (ich schreibe dies am 12 ten) Galoschen einkaufte. Das war nicht so schwierig als Reich vermutet hatte. Für die Bauweise der Stadt sind die vielen ein- und zweistöckigen Häuser charakteristisch. Sie geben ihr das Aussehen einer Sommervillenstadt, man verspürt bei ihrem Anblick doppelt die Kälte. Oft findet sich ein bunter Anstrich von schwachem Farbton: vor allem rot, aber auch blau, gelb (und, wie Reich sagt auch) grün. Der Bürgersteig ist auffallend schmal, man ist mit dem Boden ebenso geizig als verschwenderisch mit dem Luftraum. Dazu liegt an der Häuserkante das Eis so dicht, daß ein Teil von dem Trottoir unbenutzbar bleibt. Übrigens profiliert es sich selten deutlich gegen den Fahrdamm: Schnee und Eis nivellieren die verschiedenen Schichten der Straße. Man begegnet sehr häufig, vor staatlichen Läden Kordons; um Butter und andere wichtige Waren stellt man sich an. Es gibt eine Unzahl Läden und noch weit mehr Händler, die nichts als einen Waschkorb mit Äpfeln, mit Mandarinen oder mit Cacaouets vor sich stehen haben. Um die Ware vor der Kälte zu schützen liegt sie unter einem wollnen Tuche, auf welchem die zwei, drei Musterexemplare zu sehen sind. Fülle von Broten und anderem Gebäck: Brötchen in allen Größen, Brezeln, und, in den Konditoreien, sehr prunkvollen Torten. Aus Zuckerguß sind phantastische Aufbauten oder Blumen gebildet. In einer Konditorei war ich gestern Nachmittag mit Asja. Es gibt in Gläsern Schlagsahne dort. Sie nahm ein Glas mit einem Baiser, ich Kaffee. Wir saßen mitten im Raum an einem Tischchen uns gegenüber. Asja erinnerte an meine Absicht, gegen die Psychologie zu schreiben und ich hatte von neuem festzustellen, wie sehr bei mir die Möglichkeit, solche Themen in Angriff zu nehmen von dem Kontakt mit ihr abhängt. Im übrigen konnten wir diese Stunde im Cafe nicht so ausdehnen, wie wir es gehofft hatten. Ich kam aus dem Sanatorium nicht um vier Uhr fort sondern erst um fünf. Reich wollte, daß wir ihn erwarteten, er war nicht sicher, ob er Sitzung habe. Endlich gingen wir. Auf der Petrowka sahen wir Auslagen an. Ein herrliches Holzwarengeschäft fiel mir auf. Asja kaufte mir drinnen auf meine Bitte eine ganz kleine Pfeife. Ich will dort später für Stefan und Daga Spielsachen einkaufen. Es gibt jene vielfach geschachtelten russischen Eier, Kästchen, welche sich in einanderlegen lassen, geschnitzte Tiere aus schönem weichen Holz. In einem anderen Schaufenster waren russische Spitzen zu sehen und gestickte Tücher, von denen Asja mir sagte, daß die Bauernfrauen auf ihnen die Eisblumen am Fenster nachbilden. Das war an dem Tag schon unser zweiter Spaziergang. Vormittags war Asja zu mir gekommen, hatte erst an Daga geschrieben und dann gingen wir bei sehr schönem Wetter einige Schritte auf der Twerskaja. Im Umkehren machten wir vor einem Geschäft halt, wo Weihnachtskerzen lagen. Asja sprach davon. Später mit Reich wieder im Institut der Kamenewa. Endlich bekomme ich meine Ermäßigung fürs Hotel. Abends wollte man von dort aus mich in Cement schicken. Reich hielt später eine Vorstellung bei Granowski für besser, denn Asja wollte ins Theater gehen und »Cement« wäre für sie zu aufregend gewesen. Jedoch als endlich alles soweit war, ging es Asja nicht gut genug, so daß ich allein ging, während Reich und sie auf mein Zimmer gingen. Es gab drei Einakter, von denen die beiden ersten indiskutabel waren, der dritte, eine Rabbinerversammlung, eine Art chorischer Komödie zu jüdischen Melodien schien weit besser, doch verstand ich den Vorgang nicht und war vom Tag und von den endlosen Pausen so müde, daß ich stellenweise einschlief. – Reich schlief diese Nacht in meinem Zimmer. – Mein Haar ist hier sehr elektrisch.

12 Dezember. Am Morgen ging Reich mit Asja spazieren. Sie kamen dann zu mir – ich war mit Anziehen noch nicht ganz fertig. Asja saß auf dem Bett. Ich hatte große Freude davon, wie sie meine Koffer auspackte und ordnete; dabei behielt sie ein paar Krawatten für sich, die ihr gefielen. Dann erzählte sie wie sie Schundliteratur, als sie klein war, verschlungen hatte. Sie verbarg die kleinen Hefte vor ihrer Mutter unter den Schulbüchern, einmal hatte sie aber ein großes zusammenhängendes Buch »Laura« bekommen, das fiel ihrer Mutter in die Hände. Ein anderes Mal rannte sie mitten in der Nacht von Hause fort, um sich bei einer Freundin die Fortsetzung von einer Kolportagegeschichte zu holen. Deren Vater öffnete ganz verstört – er fragte, was sie denn wolle und da sie sah, was sie angerichtet habe, erwiderte sie, das wisse sie selber nicht. – Mittags mit Reich im kleinen Kellerrestaurant. Der Nachmittag im verödeten Sanatorium war quälend. Bei Asja wieder ständiger Wechsel zwischen du und Sie. Es ging ihr nicht gut. Nachher spazierte man die Twerskaja entlang. Dabei kam es dann, später, als man in einem Café saß, zwischen Reich und Asja zu einer großen Auseinandersetzung, in der Reichs Hoffnung deutlich wurde, sich ausschließlich auf russische Ziele zu konzentrieren, die deutschen Verbindungen daher fallen zu lassen. Abends mit Reich auf meinem Zimmer allein: ich studierte den Führer und er schrieb an der Vorrezension des »Revisors«. – Es gibt keine Lastwagen in Moskau, keine Firmenwagen etc. Die kleinsten Einkäufe wie die größten Sendungen muß man auf den winzigen Schlitten durch »Istwostschik« befördern lassen.

13 Dezember. Am Vormittag verbesserte ich meine Orientierung in der Stadt durch einen großen Spaziergang über die inneren Boulevards zur Hauptpost und zurück über den Ljubjanka Platz zum Dom Gerzena. Ich löste das Geheimnis des Mannes mit der Schrifttafel: er verkauft Buchstaben, die man in den Galoschen befestigt, um sie vor Verwechselungen zu schützen. Hier fielen mir beim Spaziergang wieder die vielen Geschäfte im Schmuck des Weihnachtsbaums auf, wie ich sie eine Stunde vorher bei einem kurzen Gange mit Asja auch überall in der Jamskaja Twerskaja gefunden hatte. Hinter den Scheiben der Auslage sieht er manchmal noch glänzender aus als am Baum. Auf diesem Spaziergange in der Jamskaja Twerskaja begegneten wir einem Trupp Komsomolzen, die mit Musik marschierten. Diese, ähnlich wie die der Sowjettruppen, scheint aus einer Kombination des Pfeifens mit dem Gesang zu bestehen. Asja sprach von Reich. Sie trug mir auf, ihm die letzte Nummer der Prawda mitzubringen. Am Nachmittag las Reich bei Asja uns seine Vorbesprechung von Meyerholds Aufführung des Revisors vor. Sie ist sehr gut. Während er (vorher) in Asjas Zimmer auf dem Stuhle einschlief, las ich ihr einiges aus der »Einbahnstraße«. Auf meinem großen Rundgang am Vormittag bemerkte ich sonst noch: Marktweiber, Bauernfrauen, die ihren Korb mit Waren neben sich stehen haben (manchmal auch einen Schlitten, wie die, die hier im Winter als Kinderwagen dienen). In diesen Körben liegen Äpfel, Bonbons, Nüsse, Zuckerfiguren, halb unterm Tuche versteckt. Man denkt, eine zärtliche Großmama hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihr Enkelkind überraschen könnte. Das hat sie zusammengepackt und bleibt nun unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, auf der Straße stehen. Ich begegnete wieder den Chinesen, die künstliche Papierblumen verkaufen, wie ich sie Stefan aus Marseille mitbrachte. Hier scheinen aber noch häufiger papierne Tiere von der Form exotischer Tiefseefische zu sein. Dann gibt es Männer, die Körbe voll Holzspielzeug haben, Wagen und Spaten, gelb und rot sind die Wagen, gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. Andere gehen mit Bündeln von bunten Windfahnen über der Schulter herum. All das ist schlichter und solider als in Deutschland gearbeitet, sein bäuerlicher Ursprung ist deutlich sichtbar. An einer Ecke fand ich eine Frau, die Baumschmuck verkaufte. Die Glaskugeln, gelbe und rote, funkelten in der Sonne, es war wie ein verzauberter Apfelkorb, wo Rot und Gelb je in verschiedene Früchte gefahren sind. Auch gibt es hier eine unmittelbarere Beziehung von Holz und Farbe als sonst wo. Man merkt das an den primitivsten Spielsachen so gut als an den kunstvollsten Lackarbeiten. – An der Mauer von Kitai Gorod stehen Mongolen. Wahrscheinlich ist in ihrer Heimat der Winter nicht weniger rauh und sind ihre zerlumpten Pelze nicht schlechter als die der Eingeborenen. Aber doch sind das hier die einzigen, die man, des Klimas wegen, unwillkürlich bemitleidet. Sie stehen nicht mehr als fünf Schritt einer vom andern entfernt und handeln mit Ledermappen; ein jeder mit genau der gleichen Ware wie die anderen. Es muß dahinter wohl eine Organisation stecken, denn so einander die aussichtsloseste Konkurrenz zu machen, kann nicht ihr Ernst sein. Hier wie in Riga gibt es eine hübsche primitive Malerei auf Ladenschildern. Schuhe aus einem Korb fallend, mit einer Sandale im Maul rennt ein Spitz davon. Vor einem türkischen Speisehaus sind zwei Schilder, Pendants, die Herren im halbmondgeschmückten Fez vor einem gedeckten Tische darstellen. Asja hat recht, wenn sie sagt, daß es charakteristisch ist, wie das Volk überall, auch bei den Reklamen, irgend einen wirklichen Vorgang will dargestellt sehen. – Am Abend mit Reich bei Illesch. Später kam noch der Direktor des Revolutionstheaters dazu, das am 30 ten Dezember die Uraufführung von Illeschs Stück bringen soll. Dieser Direktor ist ein ehemaliger roter General, der an Wrangeis Vernichtung entscheidenden Anteil hat und in Trotzkis Armeebefehl zweimal genannt wurde. Später hat er eine politische Dummheit begangen, die seine Karriere zum Stillstand brachte und da er früher einmal Literat war, gab man ihm diesen leitenden Theaterposten, auf dem er aber nicht viel leisten soll. Er scheint ziemlich dumm. Das Gespräch war nicht sonderlich belebt. Auch war ich, auf Reichs Anweisung, behutsam im Reden. Man sprach von Plechanoffs Kunsttheorie. Das Zimmer enthält nur wenige Möbel, am meisten fällt ein gebrechliches Kinderbett und eine Badewanne auf. Der Junge war als wir kamen, noch auf, wird später schreiend ins Bett gebracht, schläft aber solange wir da sind, nicht ein.

14 Dezember (geschrieben am 15 ten). Heute werde ich Asja nicht sehen. Im Sanatorium spitzt die Lage sich zu; gestern abend erlaubte man ihr den Ausgang erst nach langem Parlamentieren und heute früh kam sie nicht, mich, wie verabredet war, abzuholen. Wir wollten einen Stoff für ihr Kleid besorgen. Ich bin erst eine Woche hier und muß schon mit immer erhöhten Schwierigkeiten, sie zu sehen, geschweige denn allein zu sehen, rechnen. – Gestern vormittag kam sie eilig, aufgeregt mehr noch verstörend als verstört, wie so oft, als hätte sie Angst eine Minute in meinem Zimmer zu bleiben, zu mir. Ich begleitete sie zum Haus einer Kommission, zu der sie eine Vorladung hatte. Sagte ihr, was ich am Abend vorher erfahren hatte: daß Reich eine neue Stelle als Theaterkritiker bei einer höchst wichtigen Zeitschrift in Aussicht habe. Wir gingen über die Sadowaja. Im ganzen sprach ich sehr wenig, sie erzählte, sehr aufgeregt, von ihrer Arbeit mit den Kindern auf dem Kinderplatz. Zum zweiten Male hörte ich die Geschichte, wie einem Kind auf ihrem Kinderplatz von einem anderen der Schädel war eingeschlagen worden. Merkwürdigerweise verstand ich diese ganz einfache Geschichte (die für Asja böse Folgen hätte haben können; aber die Ärzte nahmen an, das Kind würde gerettet werden) erst jetzt. Es geht mir so öfter: ich höre kaum, was sie sagt, weil ich so intensiv auf sie sehe. Sie entwickelte ihren Gedanken: wie die Kinder in Gruppen geteilt werden müßten, weil es auf keinen Fall gelingen kann, die wildesten – die sie die begabtesten nennt – mit den andern zusammen zu beschäftigen. Sie fühlen sich von dem gelangweilt, was normale Kinder ganz ausfüllt. Und es ist sehr einleuchtend, daß Asja, wie sie sagt, mit den wildesten Kindern die größten Erfolge hat. Auch sprach Asja von ihrer Schriftstellerei, drei Artikeln in der lettischen kommunistischen Zeitung, die in Moskau erscheint: diese Zeitschrift kommt auf illegalen Wegen nach Riga und dort an dieser Stelle gelesen zu werden ist sehr nützlich für sie. Das Haus der Kommission stand an dem Platz, wo der Straßnoi-Boulevard auf die Petrowka stößt. Die ging ich über eine halbe Stunde wartend auf und ab. Als sie endlich herauskam gingen wir zu der Staatsbank, wo ich zu wechseln hatte. An diesem Morgen fühlte ich sehr viel Kraft und es gelang mir darum, von meinem moskauer Aufenthalt und seinen verschwindend geringen Chancen bündig und ruhig zu sprechen. Das machte Eindruck auf sie. Sie erzählte, der Arzt, der sie behandelt und gerettet habe, hätte mit allem Nachdruck ihr verboten, in der Stadt zu bleiben und ihr befohlen, in ein Waldsanatorium zu gehen. Sie aber sei geblieben, der traurigen Waldeinsamkeit wegen, die sie fürchte und meiner Ankunft halber. Wir blieben vor einem Pelzgeschäft stehen, wo Asja schon bei unserm ersten Gange über die Petrowka halt gemacht hatte. Es hing da an der Wand ein herrliches mit bunten Perlen besetztes Pelzkostüm. Um nach dem Preise zu fragen, traten wir ein und wir erfuhren, das sei tungusische Arbeit (nicht also ein Kostüm der »Eskimossen«, wie Asja vermutet hatte). Zweihundertfünfzig Rubel sollte es kosten, Asja wollte es haben. Ich sagte: »Wenn ich es kaufe, muß ich gleich abreisen.« Aber sie ließ sich das Versprechen von mir geben, später einmal ihr ein großes Geschenk zu machen, das für das ganze Leben ihr bliebe. Zur Gosbank geht es von der Petrowka durch eine Passage, in der ein großes Kommissionsgeschäft für Antiquitäten ist. Im Schaufenster stand ein selten herrlicher Empireschrank in eingelegter Arbeit. Weiter nach dem Ende zu wurde bei hölzernen Ausstellungsgerüsten Porzellan verpackt oder ausgewickelt. Während wir zur Omnibushaltestelle zurückgingen, einige sehr gute Minuten. Darauf meine Audienz bei der Kamenewa. Nachmittags irre ich durch die Stadt; zu Asja kann ich nicht kommen, Knorrin ist bei ihr – ein sehr wichtiger lettischer Kommunist, der Mitglied von der obersten Zensurbehörde ist. (Und so auch heute; während ich dies schreibe, ist Reich allein bei ihr.) Mein Nachmittag endet im französischen Café auf Staleschnikow vor einer Tasse Kaffee. – Zur Stadt: die byzantinische Kirche scheint keine eigene Form des Kirchenfensters ausgebildet zu haben. Ein zauberischer Eindruck, der wenig anheimelt; die profanen, unscheinbaren Fenster, die aus den Türmen und Versammlungsräumen der Kirchen in byzantinischem Stil wie aus Wohnräumen auf die Straße gehen. Hier wohnt der orthodoxe Priester wie der Bonze in seiner Pagode. Der untere Teil an der Basiliuskathedrale könnte der Grundstock eines herrlichen Bojarenhauses sein. Die Kreuze über den Kuppeln aber sehen oft wie riesenhaft in den Himmel gestellte Ohrgehänge aus. – Luxus, der sich in der verarmten leidenden Stadt wie Zahnstein in einem erkrankten Munde festgesetzt hat: das Schokoladengeschäft von N. Kraft, das vornehme Modenmagazin auf der Petrowka, wo große Porzellanvasen kalt, scheußlich zwischen den Pelzen herumstehen. – Der Bettel ist nicht aggressiv wie im Süden, wo die Aufdringlichkeit des Zerlumpten noch immer einen Rest von Vitalität verrät. Hier ist er eine Korporation von Sterbenden. Die Straßenecken, jener Viertel zumal, in denen Ausländer geschäftlich zu tun haben, sind mit Lumpenbündeln belegt wie Betten in dem großen Lazarett »Moskau«, das unter freiem Himmel daliegt. Anders organisiert ist der Bettel in den Trambahnen. Bestimmte Schleifenlinien haben auf der Strecke längeren Aufenthalt. Dann schieben sich Bettler hindurch oder in eine Waggonecke stellt sich ein Kind und fängt an zu singen. Dann sammelt es sich Kopeken ein. Sehr selten sieht man jemanden geben. Der Bettel hat seine stärkste Grundlage verloren, das schlechte gesellschaftliche Gewissen, das soviel weiter als das Mitleid die Taschen öffnet. – Passagen. Sie haben, wie es sich nirgend sonst findet, verschiedene Stockwerke, Emporen, in denen es gewöhnlich ebensoleer aussieht, wie in denen der Dome. – Das große Filzschuhwerk, in dem die Bauern und wohlhabende Damen herumgehen, läßt den enganliegenden Stiefel als intime Bekleidung mit allen Peinlichkeiten des Korsetts erscheinen. Die Walinkis sind Prunkgewänder der Füße. Noch zu den Kirchen: sie stehen wohl meist ungepflegt, so leer und kalt wie ich die Basiliuskathedrale im Inneren fand. Aber die Glut, die von den Altären nur vereinzelt noch in den Schnee hinausleuchtet ist wohl bewahrt geblieben in den hölzernen Budenstädten. In ihren schneebedeckten engen Gängen ist es still, man hört nur den leisen Jargon der Kleiderjuden, die da ihren Stand neben dem Kram der Papierhändlerin haben, die versteckt hinter silbernen Kasten thront, Lametta und wattierte Weihnachtsmänner vor ihr Gesicht gezogen hat, wie eine Orientalin ihren Schleier. Am schönsten sah ich solche Buden auf der Arbatskaja Plotschtad. – Vor einigen Tagen auf meinem Zimmer Gespräch über den Journalismus mit Reich. Kisch hat ihm einige goldene Regeln verraten, zu denen ich noch neue formuliere. 1) Ein Artikel muß soviel Namen enthalten als irgend möglich. 2) Der erste und der letzte Satz müssen gut sein; auf die Mitte kommt es nicht an. 3) Die Phantasievorstellung die ein Name wachruft als Hintergrund der Schilderung benutzen, welche ihn darstellt, wie er wirklich ist. Ich möchte hier mit Reich zusammen das Programm einer materialistischen Enzyklopädie schreiben, zu der er ausgezeichnete Ideen hat. – Nach sieben Uhr kam Asja. (Reich ging aber mit ins Theater.) Man gab »Die Tage der Turbin« bei Stanislawski. Dekorationen im naturalistischen Stile hervorragend gut, das Spiel ohne besondere Mängel noch Verdienste, das Drama von Bulgakoff eine durchaus revoltierende Provokation. Besonders der letzte Akt, in welchem sich die Weißgardisten zu den Bolschewiken »bekehren« ist ebenso abgeschmackt in der dramatischen Fabel als verlogen in der Idee. Der Widerstand der Kommunisten gegen die Aufführung ist begründet und einleuchtend. Ob dieser letzte Akt auf Veranlassung der Zensur hinzugefügt wurde, wie Reich vermutet oder ursprünglich da war, ist nicht belangvoll für die Einschätzung des Stücks. (Das Publikum sehr merkbar von dem unterschieden, welches ich in den beiden anderen Theatern sah. Es waren wohl so gut wie keine Kommunisten dort, nirgends war eine schwarze oder blaue Bluse zu sehen.) Die Plätze lagen nicht zusammen und ich saß neben Asja nur während des ersten Bildes. Dann setzte Reich sich zu mir; er meinte, das Übersetzen sei ihr zu anstrengend.

15 Dezember. Reich ging nach dem Aufstehen einen Augenblick fort und ich hoffte, Asja allein begrüßen zu können. Aber sie kam überhaupt nicht. Nachmittags erfuhr Reich, es sei ihr am Morgen schlecht gegangen. Er ließ mich aber auch am Nachmittag nicht zu ihr. Vormittags blieben wir eine Zeit lang zusammen; er übersetzte mir die Rede, die Kamenew vor der Komintern gehalten hat. – Man kennt eine Gegend erst, wenn man sie in möglichst vielen Dimensionen erfahren hat. Auf einen Platz muß man von allen vier Himmelsrichtungen her getreten sein, um ihn inne zu haben, ja auch nach allen diesen Richtungen ihn verlassen haben. Sonst springt er einem drei, vier Mal ganz unvermutet in den Weg, ehe man gefaßt ist, auf ihn zu stoßen. Ein Stadium weiter und man sucht ihn auf, benutzt ihn als Orientierung. So auch die Häuser. Was in ihnen steckt, erfährt man erst, wenn man an anderen entlang sich bis zu einem ganz bestimmten durchzufinden sucht. Aus den Torbogen, an den Rahmen der Haustür springt in verschieden großen, schwarzen, blauen, gelben und roten Buchstaben, als Pfeil das Bild von Stiefeln oder frisch gebügelter Wäsche, als ausgetretene Stufe oder als solider Treppenabsatz ein stumm in sich verbissenes, streitendes Leben an. Man muß auch in der Tram die Straßen durchfahren haben, um aufzufangen, wie sich dieser Kampf durch die Etagen fortsetzt um dann endlich auf Dächern in sein entscheidendes Stadium zu treten. Bis dahin halten nur die stärksten ältesten Parolen der Firmenschilder durch und erst vom Flugzeug aus hat man die industrielle Elite der Stadt (hier einige Namen) vor Augen. – Am Vormittag in der Basiliuskathedrale. In warmen heimeligen Farben strahlt die Außenseite über den Schnee. Der ebenmäßige Grundriß hat einen Aufbau entstehen lassen, der von keiner Richtung aus in seiner Symmetrie übersehbar ist. Immer behält er sich etwas zurück und überrumpeln könnte die Betrachtung diesen Bau nur von der Höhe des Flugzeuges aus, gegen welches ihre Erbauer sich zu salvieren vergaßen. Man hat das Innere nicht nur ausgeräumt, sondern wie ein erlegtes Wild es ausgeweidet, und der Volksbildung als »Museum« schmackhaft gemacht. Mit der Entfernung der künstlerisch z. T. wahrscheinlich zum großen Teil – nach den verbliebenen Barockaltären zu schließen – wertlosen Inneneinrichtung, ist das bunte vegetabilische Geschlinge, das durch alle Gänge und Wölbungen als Wandmalerei fortwuchert, hoffnungslos bloßgestellt; traurigerweise hat es eine gewiß viel ältere Bemalung des Steins, die sparsam in den Innenräumen die Erinnerung an die farbigen Spiralen der Kuppeln wachhielt in eine Spielerei des Rokoko verzerrt. Die gewölbten Gänge sind eng, weiten sich plötzlich auf Altarnischen oder runde Kapellen, in die von oben aus den hohen Fenstern so wenig Licht dringt, daß einzelne Devotionalien, die man stehen ließ, kaum zu erkennen sind. Es gibt aber ein helles Zimmerchen, durch das ein roter Flurteppich läuft. In ihm hat man Ikonen der Schulen von Moskau und von Novgorod aufgestellt, dazu einige wahrscheinlich unschätzbare Evangeliare, Wandteppiche die Adam und den Christus unverhüllt, doch ohne Geschlechtsorgane, weißlich auf grünem Grunde erscheinen lassen. Hier wacht ein dickes Weib vom Aussehen einer Bäuerin: ich hätte gerne die Erklärungen gehört, die sie einigen Proletariern die kamen zu diesen Bildern gab. – Vorher ein kurzer Gang durch die Passagen, die die »oberen Handelsreihen« heißen. Ich versuchte ohne Erfolg aus dem Schaufenster eines Spielzeugladens sehr interessante Figuren, tönerne, bunt gefärbte Reiter einzukaufen. Zum Essen Fahrt in der Tram längs der Moskwa, vorbei an der Erlöserkathedrale, über den Arbatskajaplatz. Nachmittags nochmals in der Dunkelheit dahin zurück, in den Reihen der Holzbuden spaziert, dann durch die Frunsestraße am Kriegsministerium vorbei, das sehr elegant wirkt, endlich verirrt. Nach Hause mit der Tram. (Zu Asja wollte Reich alleine gehen.) Abends über ganz frisches Glatteis zu Panski. In der Tür seines Hauses stößt er auf uns, im Begriffe, mit seiner Frau ins Theater zu gehen. Auf Grund eines Mißverständnisses, das erst am folgenden Tage sich aufklärt, bittet er uns in den nächsten Tagen auf sein Büro zu kommen. Darauf in das große Haus beim Straßnoiplatz, um einen Bekannten von Reich aufzusuchen. Im Fahrstuhl treffen wir dessen Frau, die uns sagt, der Mann sei in einer Versammlung. Da aber in dem gleichen Hause, einer Art riesigem Boardinghouse, die Mutter von Sophia wohnt, so entschließen wir uns, dort guten Abend zu sagen. Wie alle Zimmer, die ich bisher sah (die bei Granowski, bei Illesch) ist das ein Raum mit wenig Möbeln. Deren trostlose, kleinbürgerliche Figur wirkt noch um vieles niederschlagender, weil das Zimmer dürftig möbliert ist. Zum kleinbürgerlichen Einrichtungsstil aber gehört das Komplette: Bilder müssen die Wände bedecken, Kissen das Sofa, Decken die Kissen, Nippes die Konsolen bunte Scheiben die Fenster. Von alledem ist wahllos nur das eine oder andere erhalten. In diesen Räumen, welche aussehen wie ein Lazarett nach der letzten Musterung, halten die Menschen das Leben aus, weil sie durch ihre Lebensweise ihnen entfremdet sind. Ihr Aufenthalt ist das Büro, der Klub, die Straße. Der erste Schritt in diesem Zimmer läßt die erstaunliche Beschränktheit in Sophias resoluter Natur als Mitgift dieser Familie erkennen, von der sie sich doch, wenn nicht losgesagt, so losgelöst hat. Ich erfahre von Reich auf dem Rückwege deren Geschichte. Sophias Bruder ist eben der General Krylenko, der zuerst zu den Bolschewiken sich schlug und der Revolution ganz unschätzbare Dienste geleistet hat. Da seine politische Begabung gering war, so hat man ihm später den repräsentativen Posten eines obersten Staatsanwalts gegeben. (Er war auch der Ankläger im Prozeß Kindermann.) Vermutlich ist auch die Mutter organisiert. Sie muß um siebenzig Jahre sein und zeigt noch Spuren großer Energie. Unter der haben nun Sophias Kinder zu leiden, die zwischen Großmutter und Tante hin- und her geschoben werden und die Mutter nun schon jahrelang nicht gesehen haben. Sie stammen beide aus deren erster Ehe mit einem Adligen, der im Bürgerkriege auf Seite der Bolschewiken stand und gestorben ist. Die jüngere Tochter war da als wir kamen. Sie ist hervorragend schön, von höchster Bestimmtheit und Anmut in ihren Bewegungen. Sie scheint sehr verschlossen. Gerade war ein Brief von ihrer Mutter gekommen, und weil sie ihn geöffnet hatte, gab es Streit mit der Großmutter. Aber er war an sie adressiert. Sophia schreibt, daß man in Deutschland ihr den Aufenthalt nicht länger gestatten will. Von ihrer illegalen Arbeit ahnt die Familie; sie ist eine Kalamität und die Mutter zeigt sich sehr beunruhigt. Vom Zimmer herrlicher Blick über den Twerskoi-Boulevard auf eine große Lichterreihe.

16 Dezember. Ich schrieb am Tagebuch und glaubte nicht mehr, daß Asja noch kommen würde. Da klopfte sie. Als sie hereinkam, wollte ich sie küssen. Wie meist, mißlang es. Ich holte die Karte an Bloch hervor, die ich begonnen hatte und gab sie ihr, um heranzuschreiben. Neuer vergeblicher Versuch ihr einen Kuß zu geben. Ich las, was sie geschrieben hatte. Auf ihre Frage, sagte ich ihr: »Besser, als wie Du an mich schreibst.« Und für diese »Unverschämtheit« küßte sie mich doch, umarmte mich sogar dabei. Wir nahmen einen Schlitten in die Stadt und gingen in viele Geschäfte der Petrowka, um Stoff zu ihrem Kleide, ihrer Uniform zu kaufen. So nenne ich es, weil das neue genau denselben Schnitt haben soll wie das alte, das aus Paris stammt. Zuerst in einem Staatsmagazin, gab es in der oberen Hälfte der Längswände aus Pappfiguren gestellte Bilder zu sehen, die für Vereinigung von Arbeiter- und Bauernschaft warben. Die Darstellungen in dem süßlichen Geschmack, der hier verbreitet ist: Sichel und Hammer, ein Zahnrad und anderes Handwerkszeug sind, unsagbar widersinnig, aus sammetüberzogener Pappe nachgebildet. In diesem Laden gab es nur Ware für Bauern und Proletarier. Neuerdings unter dem »Regime Ökonomie« stellt man in staatlichen Fabriken keine anderen mehr her. Die Tische sind umlagert. Andere Läden, die leer sind, verkaufen Stoffe nur gegen Bezugsscheine oder – frei – zu unerschwinglichen Preisen. Ich kaufe durch Asja bei einem Straßenhändler eine kleine Puppe, Stanka-Wanka, für Daga ein, hauptsächlich um bei dieser Gelegenheit für mich selbst auch eine zu bekommen. Dann bei einem anderen eine Taube aus Glas für den Weihnachtsbaum. Gesprochen haben wir, soviel ich weiß, nicht viel. – Später mit Reich ins Büro von Panski. Er aber hatte uns in der Meinung bestellt, daß es sich um Geschäftliches handle. Weil ich einmal da war, schob er mich in den Vorführungsraum ab, wo zwei amerikanischen Journalisten Filme gezeigt wurden. Leider ging, als ich nach zahllosen Präliminarien endlich hinaufgelangte, die Aufführung des »Potemkin« gerade zu Ende; ich sah nur den letzten Akt. Es folgte »Nach dem Gesetz« – ein Film, der nach einer Erzählung von London gemacht ist. Die Premiere, die vor wenigen Tagen in Moskau stattgefunden hatte, war ein Mißerfolg gewesen. Technisch ist dieser Film gut – sein Regisseur Kulischoff hat einen sehr guten Namen. Doch führt die Fabel durch gehäufte Gräßlichkeiten ihr Motiv ins Absurde. Angeblich sollte dieser Film eine anarchistische Tendenz gegen das Recht überhaupt haben. Gegen Ende der Vorführung kam Panski selbst in den Vorführungsraum hinauf und nahm mich schließlich noch in sein Büro mit. Das Gespräch hätte sich dort noch lange ausgedehnt, wenn ich nicht Angst gehabt hätte, Asja zu versäumen. Zum Mittagessen war es ohnehin zu spät geworden. Als ich ins Sanatorium kam, war Asja schon fort. Ich ging nach Hause und sehr bald kam Reich, kurz nach ihm auch Asja. Sie hatten für Daga Walinki u. a. eingekauft. Wir sprachen in meinem Zimmer und kamen dabei auch auf das »Klavier« als Möbel, das in der Kleinbürgerwohnung das eigentliche dynamische Zentrum der in ihr herrschenden Traurigkeit und Zentrum aller Katastrophen in der Wohnung ist. Von dem Gedanken war Asja elektrisiert; sie wollte mit mir darüber einen Artikel schreiben, Reich den Gegenstand in einem Sketch verarbeiten. Einige Minuten blieben Asja und ich allein. Ich erinnere mich nur noch, daß ich die Worte: »auf ewig, am liebsten« sagte und daß sie darauf so lachte, daß ich sah: sie hat es verstanden. Abends aß ich mit Reich in einem vegetarischen Restaurant, wo die Wände mit propagandistischen Aufschriften bedeckt waren. »Kein Gott – die Religion eine Erfindung – keine Schöpfung« etc. Vieles, was sich auf das Kapital bezog, konnte Reich mir nicht übersetzen. Nachher, zu hause, gelang es mir endlich, Roth telefonisch durch Vermittlung von Reich zu sprechen. Er erklärte am folgenden Nachmittag abzureisen und nach einigem Überlegen blieb nichts übrig, als eine Einladung zum Abendessen um ½ 12 in seinem Hotel anzunehmen. Anders hätte ich kaum mehr darauf rechnen können ihn zu sprechen. Sehr ermüdet setzte ich mich gegen viertel zwölf in den Schlitten. Reich hatte mir den Abend über aus eigenen Arbeiten vorgelesen. Sein Versuch über den Humanismus, der freilich noch in einem ersten Stadium sich befindet, beruht auf der fruchtbaren Fragestellung: wie konnte die französische Intelligenz, eine Vorkämpferin der großen Revolution so bald nach 1792 verabschiedet und zu einem Instrumente der Bourgeoisie werden? Mir kam in dem Gespräch darüber der Gedanke, die Geschichte der »Gebildeten« müsse materialistisch als Funktion und im strengen Zusammenhange mit einer »Geschichte der Unbildung« dargestellt werden. Deren Beginn liegt in der Neuzeit, da die mittelalterlichen Formen der Herrschaft aufhören, Formen einer, wie auch immer beschaffenen (kirchlichen) Bildung der Beherrschten zu werden. Cuius regio eius religio zertrümmert die geistige Autorität der weltlichen Herrschaftsformen. Eine solche Geschichte der Unbildung würde lehren, wie in den ungebildeten Schichten ein jahrhundertelanger Prozeß die revolutionäre Energie aus deren religiöser Verpuppung herausbildet und die Intelligenz würde nicht nur immer als das von der Bourgeoisie sich scheidende Heer der Überläufer sondern als vorgeschobner Posten der »Unbildung« sich zu erkennen geben. Die Schlittenfahrt erfrischte mich sehr, Roth saß bereits im geräumigen Speisesaal. Mit lärmender Musikkapelle, zwei Riesenpalmen, die nur bis zu halber Höhe des Raumes hinaufragen, mit bunten Bars und Büfetts und farblos, vornehm angerichteten Tischen empfängt er den Besucher als weit nach dem Osten vorgeschobenes europäisches Luxushotel. Ich trank zum ersten Mal in Rußland Wodka, wir aßen Kaviar, kaltes Fleisch und Kompott. Wenn ich den ganzen Abend überschaue, macht Roth mir einen weniger guten Eindruck als in Paris. Oder – und das ist wahrscheinlicher – ich wurde in Paris derselben, damals noch verdeckten, Dinge inne, deren zu Tage liegende Erscheinung mich diesmal frappierte. Wir setzten ein bei Tisch begonnenes Gespräch intensiver auf seinem Zimmer fort. Er begann damit, mir einen großen Artikel über russisches Bildungswesen vorzulesen. Ich sah mich im Zimmer um, der Tisch war bedeckt mit den Resten eines scheinbar ausgiebigen Tees, den hier zu mindest drei Personen mußten eingenommen haben. Roth lebt scheinbar auf großem Fuße, das Hotelzimmer – ebenso europäisch wie das Restaurant eingerichtet – muß viel kosten, ebenso seine große Informationsreise, die sich bis nach Sibirien nach dem Kaukasus und der Krim ausdehnte. In dem Gespräche, das auf seine Vorlesung folgte, nötigte ich ihn schnell, Farbe zu bekennen. Was dabei sich ergab, das ist mit einem Wort: er ist als (beinah) überzeugter Bolschewik nach Rußland gekommen und verläßt es als Royalist. Wie üblich, muß das Land die Kosten für die Umfärbung der Gesinnung bei denen tragen, die als rötlich-rosa schillernde Politiker (im Zeichen einer »linken« Opposition und eines dummen Optimismus) hier einreisen. Sein Gesicht ist von vielen Falten durchzogen und hat ein unangenehmes witterndes Aussehen. Das fiel mir zwei Tage später als ich im Institut der Kamenewa ihm wiederbegegnete (er hatte seine Abreise verschieben müssen) wieder auf. Seine Einladung zu den Schlitten nahm ich an und fuhr gegen zwei Uhr in mein Hotel zurück. Stückweise, vor den großen Hotels und vor einem Café in der Twerskaja, gibt es Nachtleben in der Straße. Die Kälte macht, daß sich an diesen Stellen Menschen rudelweise zusammenballen.

17 Dezember. Besuch bei Daga. Sie sieht besser aus als ich sie früher je sah. Die Disziplin des Kinderheims wirkt stark auf sie. Ihr Blick ist ruhig und beherrscht, das Gesicht viel voller und weniger nervös. Die frappante Ähnlichkeit mit Asja ist geringer geworden. Ich wurde in der Anstalt selbst herumgeführt. Sehr interessant waren die Klassenzimmer mit ihren stellenweise dicht von Zeichnungen und Pappfiguren bedeckten Wänden. Eine Art Tempelmauer, an der die Kinder als Geschenke an das Kollektivum eigene Arbeiten stiften. Rot herrscht an diesen Flecken vor. Sie sind durchsetzt mit Sowjetsternen und Leninköpfen. In den Klassen sitzen die Kinder nicht vor Schulpulten sondern an Tischen auf langen Bänken. Sie sagen »Strasstweitje« wenn man hereinkommt. Da sie nicht von der Anstalt eingekleidet werden, so sehen viele sehr ärmlich aus. In der Nähe des Sanatoriums spielen andere Kinder von den Bauernhöfen, welche daneben liegen. Hin- und Rückfahrt von Mytischtin im Schlitten gegen den Wind. Nachmittags im Sanatorium bei Asja, sehr verstimmt. Dominopartie zu sechs im Spielzimmer. Zum Abendbrot, mit Reich, in einer Konditoreja eine Tasse Kaffee und einen Kuchen. Früh zu Bett.

18 Dezember. Am Morgen kam Asja. Reich war schon fort. Wir gingen den Stoff einkaufen, vorher zur Gosbank wechseln. Schon im Zimmer sagte ich Asja von der Verstimmung des letzten Tages. Es wurde an diesem Morgen gut, so sehr das möglich war. Der Stoff war sehr teuer. Auf dem Rückweg gerieten wir in eine Filmaufnahme. Asja erzählte mir, wie man das schildern müsse, wie die Menschen hierbei sofort den Kopf verlieren, stundenlang mitlaufen, dann verstört ins Amt kommen und nicht sagen können, wo sie gewesen sind. Es kommt einem wahrscheinlich vor, wenn man hier beobachtet, wie oft, um endlich zustande zu kommen, hier eine Sitzung angesetzt werden muß. Daß nichts so eintrifft, wie es angesetzt war und man es erwartet, dieser banale Ausdruck für die Verwicklung des Lebens, kommt hier in jedem Einzelfall so unverbrüchlich und so intensiv zu seinem Recht, daß der russische Fatalismus sehr schnell begreiflich wird. Wenn langsam sich im Kollektivum zivilisatorische Berechnung durchsetzt, so wird dies vorderhand die Einzelexistenz nur verwickelter machen. In einem Hause, wo es nur Kerzen gibt, ist man besser versehen als wo elektrisches Licht angelegt ist, aber die Kraftzentrale allstündlich gestört ist. Auch gibt es hier Leute, die sich um Worte nicht kümmern und die Dinge ruhig so nehmen wie sie sind, Kinder z. B., die auf der Straße sich Schlittschuhe anschnallen. Hasard, den eine Fahrt in der Elektrischen hier bietet. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, wo man sich befindet. Erfährt man es, so ist der Weg zum Ausgang durch eine Masse dichtgekeilter Menschen versperrt. Denn da man hinten einzusteigen hat aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch die Masse hindurchzuarbeiten und wann man damit zu stande kommt, das hängt vom Glück und von der rücksichtslosen Ausnützung der Körperkräfte ab. Demgegenüber gibt es manchen Komfort, den man in Westeuropa nicht kennt. Die staatlichen Lebensmittel-Geschäfte stehen bis abends elf Uhr offen und die Häuser bis Mitternacht oder noch länger. Es gibt zu viel Mieter und Untermieter: man kann nicht jedem Hausschlüssel geben. – Man hat bemerkt, daß die Leute auf der Straße hier »in Serpentinen« gehen. Das ist ganz einfach die Folge der Übervölkerung der engen Bürgersteige, so eng, wie man nur hier und da in Neapel sie findet. Die Trottoirs geben Moskau etwas Landstädtisches oder vielmehr den Charakter einer improvisierten Großstadt, der ihre Stellung über Nacht zufiel. – Wir kauften einen guten braunen Stoff. Darauf ging ich ins »Institut«, ließ mir einen Ausweis für Meyerhold geben und traf auch Roth. Im Dom Gerzena spielte ich nach dem Essen mit Reich Schach. Da kam Kogan mit dem Reporter heran. Ich erfand, ein Buch machen zu wollen, welches die Kunst unter der Diktatur behandeln solle: die italienische unterm Regime des Facismus und die russische unter der proletarischen Diktatur. Ferner sprach ich über die Bücher von Scheerbart und Emil Ludwig. Reich war mit diesem Interview aufs höchste unzufrieden und erklärte, ich habe, durch überflüssige theoretische Auseinandersetzungen mir gefährliche Blößen gegeben. Bisher ist dieses Interview noch nicht erschienen (ich schreibe am 21 ten), man muß die Wirkung abwarten. – Asja ging es nicht gut. Eine Kranke, die infolge von Genickstarre wahnsinnig geworden ist und die sie schon aus dem Krankenhaus kannte, war in das Zimmer neben dem ihren gelegt worden. In der Nacht stiftete dann Asja unter den andern Frauen einen Aufruhr an und das hatte den Erfolg, daß die Kranke fortgeschafft wurde. Reich brachte mich in das Theater Meyerhold, wo ich mit Fanny Jelowja zusammentraf. Aber das Institut steht mit Meyerhold schlecht: es hatte ihn daher nicht angerufen und wir bekamen keine Karten. Nach einem kurzen Aufenthalte in meinem Hotel fuhren wir in die Gegend der Krassnie worota, um einen Film zu sehen, von dem mir Panski erklärt hatte, er werde den Erfolg des »Potemkin« schlagen. Zunächst waren keine Plätze mehr frei. Wir lösten unsere Karten zur nächsten Vorstellung und gingen in das nahgelegene Zimmer der Jelowja, um Tee zu trinken. Auch dieses war kahl, wie alle, die ich bisher gesehen habe. An der grauen Wand die große Photographie, die Lenin zeigt, wie er die »Prawda« liest. Auf einer schmalen Etagere standen ein paar Bücher, an der Schmalwand, neben der Türe zwei Reisekörbe und an den beiden Längswänden ein Bett, gegenüber ein Tisch und zwei Stühle. Der Aufenthalt in diesem Zimmer bei einer Tasse Tee und einem Stück Brot war an diesem Abend das Beste. Denn der Film erwies sich als unerträgliches Machwerk und wurde noch dazu so rasend schnell abgerollt, daß man ihn weder sehen noch verstehen konnte. Wir gingen bevor er zu Ende war. Die Rückfahrt in der Straßenbahn war wie eine Episode aus der Inflationszeit. In meinem Zimmer traf ich noch Reich an, der wieder bei mir übernachtete.

19 Dezember. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie der Vormittag verlief. Ich glaube, daß ich Asja sah und dann, nachdem ich sie in das Sanatorium zurückgebracht hatte, in die Tretjakovgalerie wollte. Aber ich fand sie nicht und irrte bei schneidender Kälte am linken Ufer der Moskwa zwischen Baustellen, Exerzierplätzen und Kirchen umher. Ich sah, wie Rotarmisten exerzierten und Kinder mitten zwischen ihnen Fußball spielten. Mädchen kamen aus einer Schule. Gegenüber der Haltestelle, an der ich dann endlich eine Elektrische nahm, um zurückzufahren, stand eine leuchtende rote Kirche mit langer roter Mauer gegen die Straße, Turm und den Kuppeln. Noch matter machte mich dies Umherirren, weil ich ein unhandliches Päckchen mit drei Häuschen aus Buntpapier trug, welche ich für den riesigen Preis von je 30 Kopeken aus einem Kramladen in einer Hauptstraße des linken Ufers mir mit größter Mühe verschafft hatte. Nachmittag bei Asja. Ich ging fort, um ihr Kuchen zu holen. Als ich im Gehen in der Türe stand, fiel mir Reichs merkwürdiges Gebaren auf, er antwortete nicht auf mein »Adieu«. Ich schob das auf eine Verstimmung. Denn während er einige Minuten das Zimmer verlassen hatte, hatte ich Asja gesagt, er hole wohl Kuchen und als er zurückkam, war sie enttäuscht. Als ich einige Minuten später mit Kuchen wiederkam, lag Reich auf dem Bett. Er hatte einen Herzanfall gehabt. Asja war sehr aufgeregt. Mir fiel auf, daß sie bei diesem Unwohlsein von Reich sich ähnlich verhielt, wie ich es früher tat, wenn Dora krank war. Sie schimpfte, suchte auf unkluge provokatorische Art zu helfen und tat wie einer, der dem andern zum Bewußtsein bringen will, welches Unrecht er hat, krank geworden zu sein. Reich erholte sich langsam. Aber zum Theater Meyerhold mußte ich infolge dieses Zwischenfalls allein gehen. Später brachte Asja Reich in mein Zimmer. Er übernachtete in meinem Bett und ich schlief auf dem Sofa, das mir Asja zurechtgemacht hatte. – Der »Revisor« dauerte trotzdem er gegen die Erstaufführung um eine Stunde verkürzt worden war, noch immer von ¾ 8 bis nach 12. Das Stück hatte drei Abteilungen von insgesamt (wenn ich nicht irre) 16 Bildern. Durch zahlreiche Äußerungen von Reich war ich in etwas auf das Gesamtbild dieser Aufführung vorbereitet. Dennoch nahm mich der ungeheure Aufwand, der getrieben wurde, wunder. Und zwar schienen mir nicht die reichen Kostüme das Bemerkenswerteste zu sein, sondern die dekorativen Aufbauten. Mit ganz wenigen Ausnahmen spielten die Szenen sich auf dem winzigen Raum einer schiefen Ebene ab, die jedesmal von einem andern Mahagoniaufbau im Empirestil und mit anderem Ameublement bestellt war. Es kamen auf diese Weise viele entzückende Genrebilder zu stande und das entsprach der undramatischen, soziologisch analysierenden Grundrichtung dieser Aufführung. Man mißt ihr hier große Bedeutung bei, als der Adaptation eines klassischen Stücks für das revolutionäre Theater, aber zugleich sieht man den Versuch als mißglückt an. So hat auch die Partei Parole gegen die Inszenierung ausgegeben und die gemäßigte Besprechung des Theaterkritikers der »Prawda« ist von der Redaktion zurückgewiesen worden. Im Theater war der Beifall spärlich und vielleicht geht auch das mehr auf die offizielle Losung zurück als auf den ursprünglichen Eindruck des Publikums. Denn eine Augenweide war die Aufführung sicher. Aber dergleichen hängt wohl zusammen, mit der allgemeinen Vorsicht bei öffentlicher Meinungsäußerung, die hier herrscht. Fragt man eine Person, mit der man erst wenig bekannt ist, nach ihrem Eindruck von einem sehr gleichgültigen Theaterstück oder Film so erfährt man nur: »Hier wird gesagt, das sei so und so« oder »man hat sich meistens in dem und dem Sinne ausgesprochen«. Das Regieprinzip der Aufführung, die Konzentrierung der szenischen Vorgänge auf einen sehr kleinen Raum führt zu einer höchst luxuriösen Häufung aller Werte, nicht zuletzt des Schauspielermaterials. Bei einer Festszene, die als Regieleistung ein Meisterstück war, fand dies seinen Höhepunkt. Auf dem kleinen Felde waren, zwischen papierenen, nur angedeuteten Pilastern gegen fünfzehn Menschen in gedrängter Gruppe versammelt. (Reich sprach von der Aufhebung der linearen Anordnung.) Im ganzen kommt die Wirkung eines Tortenaufbaus heraus (ein sehr moskoviter Vergleich – es gibt nur hier Torten, die ihn verständlich machen) besser noch die Gruppierung der tanzenden Püppchen auf einer Spieluhr, deren Musik der Gogolsche Text macht. Es gibt zudem viel richtige Musik im Stück und eine kleine Quadrille, die gegen Schluß vorkam, würde in jedem bürgerlichen Theater ein Attraktionsstück sein; in einem proletarischen erwartet man sie nicht. Dessen Formen treten am deutlichsten in einer Szene heraus, bei der eine langgestreckte Ballustrade die Bühne teilt; vor ihr steht der Revisor, hinter ihr die Masse, die all seinen Bewegungen folgt und ein sehr ausdrucksvolles Spiel mit seinem Mantel entwickelt – bald mit sechs oder acht Händen ihn hält, bald ihn dem an der Brüstung lehnenden Revisor überwirft. – Die Nacht auf dem harten Bette verlief ganz gut.

20 Dezember. Ich schreibe am 23 ten und weiß vom Vormittag nichts mehr. Anstatt ihn aufzuzeichnen, einiges über Asja und unser Verhältnis zu einander, trotzdem Reich neben mir sitzt. Ich bin vor eine fast uneinnehmbare Festung geraten. Allerdings sage ich mir, daß schon mein Erscheinen vor dieser Festung, Moskau, einen ersten Erfolg bedeutet. Aber jeder weitere, entscheidende scheint fast unüberwindlich schwierig. Reichs Position ist stark, durch die offenkundigen Erfolge, die er nach einem überaus schweren halben Jahre, in dem er, sprachunkundig, hier gefroren und vielleicht auch gehungert hat, einen nach dem andern verzeichnen kann. Heut morgen sagte er mir, nach einem halben Jahr hoffe er hier eine Stellung zu haben. Er findet sich weniger leidenschaftlich, aber leichter als Asja in die Moskauer Arbeitsverhältnisse. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft aus Riga wollte Asja sogar gleich nach Europa zurück, so aussichtslos schien der Versuch, hier eine Stelle zu bekommen, ihr zu sein. Als es ihr dann gelang, wurde sie, nach einigen Wochen Arbeit auf ihrem Kinderplatz, von der Krankheit zurückgeworfen. Hätte sie nicht ein oder zwei Tage vorher die Eintragung in eine Gewerkschaft erhalten, so hätte sie ohne Pflege dargelegen und wäre vielleicht gestorben. Es ist sicher, daß sie einen Drang nach Westeuropa auch jetzt noch hat. Das ist nicht nur der Drang nach Reisen, fremden Städten, und den Annehmlichkeiten einer mondänen Bohème, sondern auch der Einfluß der befreienden Durchbildung, den ihre eigenen Gedanken in Westeuropa, hauptsächlich im Umgange mit Reich und mir erfahren haben. Wie es überhaupt möglich war, daß Asja hier in Rußland so zu scharfen Einstellungen gelangt ist, wie sie sie nach Westeuropa schon mitbrachte, ist in der Tat, wie Reich neulich sagte, fast rätselhaft. Für mich ist Moskau jetzt eine Festung; das harte Klima, das mich sehr angreift, so gesund es mir ist, die Unkenntnis der Sprache, Reichs Anwesenheit, Asjas sehr eingeschränkte Lebensweise sind ebensoviele Bastionen und nur die gänzliche Unmöglichkeit, weiter vorzudringen, Asjas Kranksein, zum mindesten ihre Schwäche, die alles Persönliche, was sie betrifft, etwas in den Hintergrund schiebt, bewirkt, daß mich dies alles nicht vollständig niederdrückt. Wieweit ich den Nebenzweck meiner Reise, der tödliehen Melancholie der Weihnachtstage zu entgehen, erreiche, steht noch dahin. Daß ich mich ziemlich kräftig halte, kommt auch daher, daß ich trotz allem eine Bindung Asjas an mich erkenne. Das Du zwischen uns scheint sich zu behaupten, und ihr Blick, wenn sie lange mich ansieht – ich erinnere mich nicht, daß eine Frau so lange Blicke und so lange Küsse gewährte – hat nichts von seiner Gewalt über mich verloren. Heute sagte ich ihr, daß ich jetzt ein Kind von ihr haben möchte. Seltene aber spontane Bewegungen, die bei der Beherrschung, die sie in erotischen Dingen sich jetzt auferlegt, nicht bedeutungslos sind, sagen daß sie mich gern hat. So fing sie mich, als ich gestern, um einem Streit zu entgehen, ihr Zimmer verlassen wollte, gewaltsam ab und fuhr mit den Händen durchs Haar. Sie nennt auch oft meinen Namen. Einmal sagte sie mir in diesen Tagen, es sei nur meine Schuld, daß wir jetzt nicht auf einer »wüsten Insel« lebten und schon zwei Kinder hätten. Daran ist etwas Wahres. Drei oder viermal habe ich mich einer gemeinsamen Zukunft, direkter oder indirekter, entzogen: als ich in Capri nicht mit ihr »floh« – aber wie? – mich weigerte, von Rom aus sie nach Assisi und Orvieto zu begleiten, im Sommer 1925 nicht mit nach Lettland kommen und im Winter nicht mich verpflichten wollte, in Berlin auf sie zu warten. Es waren nicht nur ökonomische Erwägungen dabei im Spiel, sogar nicht allein meine fanatische Reisesucht, die in den letzten zwei Jahren sich gemindert hat, sondern auch Furcht vor feindlichen Elementen in ihr, denen ich mich nur heute erst eher gewachsen fühle. Auch sagte ich in diesen Tagen ihr, hätten wir damals uns mit einander verbunden, ich weiß nicht, ob wir jetzt nicht schon lange entzweit wären. Alles, was sich jetzt außer und in mir abspielt, wirkt zusammen, mir den Gedanken, von ihr getrennt zu leben, weniger unerträglich erscheinen zu lassen als er bisher mir war. Vor allem freilich spricht dabei die Furcht mit, später, wenn Asja einmal gesund ist und in gefestigten Verhältnissen mit Reich hier lebt, nur unter großen Leiden an die Grenze unseres Verhältnisses stoßen zu können. Ob ich aber dem werde entgehen können, weiß ich noch nicht. Denn ganz mich von ihr zu lösen, habe ich jetzt keinen genauen Anlaß, vorausgesetzt auch, daß ich fähig dazu wäre. Am liebsten wäre ich mit ihr durch ein Kind verbunden. Ob ich aber, selbst heute, dem Leben mit ihr mit seiner erstaunlichen Härte und, bei all ihrer Süßigkeit, ihrer Lieblosigkeit gewachsen wäre, weiß ich nicht. – Hier ist das Leben im Winter um eine Dimension reicher: der Raum verändert sich buchstäblich, je nachdem er heiß oder kalt ist. Man lebt auf der Straße wie in einem frostigen Spiegelsaal, jedes Einhalten und Besinnen wird unglaublich schwer: es braucht schon einen halbtägigen Vorsatz, um einen Brief in den Kasten zu stecken und trotz der strengen Kälte bedeutet es eine Willensleistung, in ein Geschäft einzutreten, um etwas zu kaufen. Bis auf ein riesenhaftes Lebensmittelgeschäft an der Twerskaja, wo tafelfertige Gerichte so leuchtend dastehen, wie ich sie nur aus Abbildungen in den Kochbüchern meiner Mutter kenne, und wie sie nicht üppiger zur Zeit des Zarismus da figuriert haben können, sind auch die Läden nicht zum Aufenthalt geeignet. Zudem sind sie provinziell. Schilder, die weithin lesbar den Namen der Firma tragen, wie sie in den Hauptstraßen der westlichen Städte üblich sind, kommen sehr selten vor; meist wird allein die Warengattung angegeben und manchmal sind die Schilder, mit Uhren, Koffern, Stiefeln, Pelzen, etc. bemalt. Auch hier haben die Lederhandlungen das traditionelle, ausgebreitete Fell, auf ein Blechschild gepinselt. Hemden sind gewöhnlich auf eine Tafel gemalt, über der »Kitaiskaja Pratschetschnaja« steht – chinesische Wäscherei. Man sieht viele Bettler. Sie flehen in langen Reden die vorübergehenden an. Einer beginnt jedesmal, wenn ein Passant, von dem er sich etwas verspricht, vor ihm vorbeigeht, ein leises Heulen. Ich sah auch einen Bettler genau in der Haltung des Unglücklichen, dem der heilige Martin mit dem Schwert seinen Mantel durchschneidet, kniend mit einem vorgestreckten Arme. Kurz vor Weihnachten saßen an immer der gleichen Stelle in der Twerskaja zwei Kinder an der Mauer des Revolutionsmuseums im Schnee, mit einem Fetzen bedeckt, und wimmerten. Im übrigen scheint es ein Ausdruck von dem wandellosen Elend dieser Bettelnden, vielleicht aber auch ist es die Folge einer klugen Organisation, daß von allen Moskauer Institutionen sie allein verläßlich sind, und unveränderlich ihren Platz behaupten. Denn sonst steht alles hier im Zeichen der Remonte. In den kahlen Zimmern werden allwöchentlich die Möbel umgestellt das ist der einzige Luxus, den man sich mit ihnen gestatten kann, und zugleich doch ein radikales Mittel die »Gemütlichkeit« samt der Melancholie, mit der sie bezahlt wird, aus dem Haus zu vertreiben. Die Ämter, Museen und Institute ändern fortwährend ihren Ort und auch die Straßenhändler, die anderswo ihre bestimmten Plätze haben, tauchen alltäglich anderswo auf. Alles: Schuhcreme, Bilderbücher, Schreibzeug, Kuchen und Brote, selbst Handtücher werden auf offener Straße verkauft, als herrsche nicht Moskauer Winter mit 25° Grad Frost sondern ein neapolitanischer Sommer. – Nachmittags sagte ich bei Asja, ich wolle in der »Literarischen Welt« über Theater schreiben. Es gab einen kurzen Streit, aber dann bat ich sie, Domino mit mir zu spielen. Und schließlich sagte sie zu: »Wenn Du bittest. Ich bin schwach. Ich kann nichts abschlagen, worum man mich bittet.« Nachher aber als Reich kam, brachte Asja von neuem die Sprache auf jenes Thema und es kam zu einem äußerst heftigen Zank. Nur vor dem Weggehen als ich aus einer Fensternische aufstand und Reich auf die Straße nachfolgen wollte, nahm Asja dann doch meine Hand und sagte: »Es ist nicht so schlimm.« Abends noch kurze Auseinandersetzung darüber auf meinem Zimmer. Er ging dann nach Hause.

21 Dezember. Ich ging den ganzen Arbat entlang und kam auf den Markt am Smolensk-Boulevard. Es war an diesem Tage sehr kalt. Ich aß im Gehen Schokolade, die ich unterwegs mir gekauft hatte. Der Markt war mit Weihnachtsbuden, Spielzeug- und Papierständen in seiner ersten Reihe bestanden, die an der Straße entlanglief. Dahinter Verkauf von Eisenwaren, Wirtschaftsartikeln, Schuhen u.s.w. Er ähnelte etwas dem Markte an der Arbatskaja Plotschtad, nur waren glaube ich keine Lebensmittel hier. Noch ehe man aber an die Buden gelangt ist, säumen den Weg so dicht, daß man beinahe nicht vom Fahrdamm auf das Trottoir gelangen kann, Körbe mit Eßwaren, Baumschmuck und Spielsachen. An einer Bude kaufte ich eine Kitschpostkarte ein, anderswo eine Balalaika und ein papiernes Häuschen. Auch hier begegnete ich den Straßen mit Weihnachtsrosen, Gruppen heroischer Blumen, die aus Schnee und Eis kräftig herausleuchten. Es fiel mir schwer, mit meinen Sachen bis zum Spielzeugmuseum durchzufinden. Vom Smolenskboulevard war es in die Ulitza Krapotkina verlegt und als ich es endlich gefunden hatte, war ich so erschöpft, daß ich fast an der Schwelle umgekehrt wäre: ich hielt die Tür, die nicht gleich nachgab, für verschlossen. Nachmittag bei Asja. Abends zu einem schlechten Stück (Alexander I und Iwan Kusmitsch) im Theater Korsch. Der Autor erwischte Reich in einer Pause – er bezeichnete den Helden in seinem Stück als Geistesverwandten des Hamlet –, und wir entkamen, seine Achtsamkeit betrügend, nur mit Mühe den letzten Akten. Nach dem Theater kauften wir, wie ich mich zu erinnern glaube, noch Essen. Reich schlief bei mir.

22 Dezember. In den Besprechungen mit Reich gerate ich auf manches Wichtige. Wir sprechen oft am Abend lange über Rußland, Theater und Materialismus. Reich ist sehr enttäuscht von Plechanoff. Ich suchte ihm zu entwickeln, welcher Gegensatz zwischen materialistischer und universalistischer Darstellungsweise besteht. Die universalistische sei immer idealistisch, weil undialektisch. Die Dialektik nämlich dringe notwendig in der Richtung vor, daß sie jede Thesis oder Antithesis, auf die sie stoße, wieder als Synthese triadischer Struktur darstelle, sie komme auf diesem Wege immer tiefer ins Innere des Gegenstandes hinein und stelle ein Universum nur in ihm selber dar. Jeder andere Begriff eines Universums sei gegenstandslos, idealistisch. Ich suchte ferner das unmaterialistische Denken von Plechanoff an der Rolle zu erweisen, welche bei ihm die Theorie spielt und berief mich auf einen Gegensatz von Theorie und Methode. Die Theorie schwebt, im Bestreben Allgemeines darzustellen, über der Wissenschaft, während für die Methode charakteristisch ist, daß jede prinzipielle allgemeine Untersuchung sofort wieder einen ihr eigenen Gegenstand findet. (Beispiel die Untersuchung der Beziehung der Begriffe Zeit und Raum in der Relativitätstheorie.) Ein andermal Gespräch über den Erfolg als das entscheidende Kriterium der »mittleren« Schriftsteller und über die eigentümliche Struktur der »Größe« bei den großen Schriftstellern – die »groß« seien weil ihre Wirkung historisch sei, nicht aber umgekehrt historische Wirkung durch ihre schriftstellerische Gewalt besäßen. Wie man diese »großen« Schriftsteller nur durch die Linsen der Jahrhunderte sähe, die vergrößernd und färbend auf sie ausgerichtet seien. Ferner: wie dies zu einer absolut konservativen Haltung gegenüber den Autoritäten führe und wie doch eben diese konservative Haltung einzig und allein sich materialistisch begründen lasse. Wir unterhielten uns ein anderes Mal über Proust (ich las ihm aus der Übersetzung etwas vor), dann über russische Kulturpolitik: das »Bildungsprogramm« für die Arbeiter, aus dem heraus man ihnen die ganze Weltliteratur nahe zu bringen suche, die Preisgabe der linken Schriftsteller, die in der Zeit des heroischen Kommunismus die Führung gehabt hätten, die Förderung reaktionärer Bauernkunst (die Ausstellung des Acher). Dies alles schien mir wieder einmal sehr aktuell als ich am Vormittag dieses Tages mit Reich auf dem Büro der »Enzyklopädie« war. Dieses Unternehmen soll auf dreißig bis vierzig Bände angelegt sein und ein eigener Band für Lenin reserviert werden. Es saß da (als wir zum zweiten Mal, unser erster Gang dahin war vergeblich) hinter seinem Schreibtisch ein sehr wohlwollender junger Mann, dem Reich mich vorstellte und meine Kenntnisse empfahl. Als ich sodann das Schema zu meinem »Goethe« ihm auseinandersetzte, zeigte sich seine intellektuelle Unsicherheit sofort. Manches an diesem Entwurf verschüchterte ihn und er kam schließlich darauf hinaus, ein soziologisch untermaltes Lebensbild zu fordern. Im Grunde aber kann man materialistisch nicht ein Dichterleben schildern sondern nur seine historische Nachwirkung. Denn dies Dasein und selbst das bloße zeitliche oeuvre eines Künstlers bietet, wenn man von seinem Nachleben abstrahiert, der materialistischen Analyse gar keinen Gegenstand. Wahrscheinlich ist auch hier dieselbe unmethodische Universalität und Direktheit, die die völlig idealistischen, metaphysischen Fragestellungen in Bucharins »Einführung in den historischen Materialismus« kennzeichnet. Nachmittags bei Asja. Es liegt in ihrem Zimmer neuerdings eine jüdische Kommunistin, die ihr sehr gut gefällt und mit der sie viel spricht. Mir ist deren Anwesenheit weniger angenehm, weil ich jetzt, selbst wenn Reich nicht zugegen ist, Asja kaum mehr allein spreche. Abends zu Hause.

23 Dezember. Ich war am Vormittag im Kustarny-Museum. Es gab wieder sehr schönes Spielzeug zu sehen; die Ausstellung ist auch hier vom Leiter des Spielzeugmuseums angeordnet. Am schönsten sind vielleicht die Pappmachefiguren. Sie stehen oft auf einem kleinen Sockel, entweder einem winzigen Leierkasten, an dem man dreht oder auf einer schiefen Ebene, die sich zusammendrücken läßt und einen Laut von sich gibt. Es gibt auch sehr große Figuren aus dieser Masse, die leicht ins groteske spielende Typen darstellen und schon einer Verfallsperiode angehören. Im Museum war ein ärmlich gekleidetes, sympathisches Mädchen, die mit zwei kleinen Jungen, deren Gouvernante sie war, französisch über das Spielzeug sich unterhielt. Alle drei waren Russen. Das Museum hat zwei Säle. Der größere, in dem auch das Spielzeug steht, enthält sonst Muster von lackierten Holzarbeiten und Textilien, der kleinere alte Holzschnitzereien und Kästen in Form von Enten oder anderen Tieren, Handwerkszeug etc. und schmiedeeiserne Arbeiten. Mein Versuch irgendwelche Gegenstände vom Charakter der alten Spielwaren in dem Magazin aufzutreiben, das unten in einem großen Saale untergebracht und an das Museum angeschlossen ist, mißlang. Ich sah dort aber ein so großes Lager von Baumschmuck wie nirgends sonst bisher. – Danach war ich im Institut der Kamenewa, um mir Karten für »Ljeß« abzuholen und traf mit Basseches zusammen. Wir gingen ein Stück mit einander und es war halb vier als ich endlich zum Dom Gerzena kam. Reich kam noch später als ich schon fertig mit Essen war. Ich bestellte wieder Kaffee, wie schon einmal und schwor mir, ihn nicht wieder anzurühren. Nachmittags gab es eine Dominopartie zu vieren, wo ich mit Asja zum ersten Male Partei bildete. Wir gewannen sehr glänzend gegen Reich und ihre Zimmerkollegin. Mit der traf ich mich dann nachher im Theater Meyerhold, während Reich Sitzung des »Wapp« hatte. Sie sprach, um sich mit mir zu verständigen jiddisch. Bei längerer Übung wäre es schon gegangen, aber fürs erste hatte ich nicht viel davon. Der Abend ermüdete mich sehr, denn wir kamen, wohl durch eine Verfehlung oder auch durch ihre Unpünktlichkeit zu spät, mußten den ersten Akt stehend vom Rang aus ansehen. Dazu kam das Russisch. Asja schlief nicht, bevor ihre Zimmergenossin nach Hause kam. Dann aber, so erzählte sie am nächsten Tag, hatten sie deren regelmäßige Atemzüge zum Schlafen gebracht. Die berühmte Harmonikaszene im Ljeß ist wirklich sehr schön, aber durch Asjas Erzählung war sie in meine Vorstellung schon so herrlich sentimental und romantisch getreten, daß ich mich in die Bühnenwirklichkeit der Stelle nicht gleich hineinfand. Auch sonst ist diese Aufführung voll von den herrlichsten Einfällen: das Spiel des angelnden Exzentrik-Komödianten, der die Illusion des zappelnden Fischs mit dem Spiele der zuckenden Hand wachruft, die Liebesszene, die sich am Rundlauf entwickelt, das ganze Spiel auf dem Steg, der von einem Gerüst auf die Bühne hinabführt. Ich begriff zum ersten Mal deutlicher die Funktion der konstruktivistisch eingerichteten Szene, die mir bei Tairoff in Berlin, geschweige denn etwa aus Fotographien bei weitem nicht so deutlich wurde.

24 Dezember. Einiges über mein Zimmer. Alle Möbel in ihm tragen eine Blechmarke: »Moskauer Gasthöfe«, dann die Inventarnummer. Die Gasthöfe stehen sämtlich unter Verwaltung des Staates (oder der Stadt?). Die Doppelfenster in meinem Zimmer sind jetzt, winters, verkittet. Man kann nur eine kleine Klappe oben öffnen. Der kleine Waschtisch ist aus Blech, das unten lackiert, oben sehr blank ist und er trägt einen Spiegel. Das Becken ist auf dem Grunde mit Abflußlöchern versehen, die man nicht schließen kann. Aus einem Hahn fließt ein dünner Wasserstrahl. Geheizt wird der Raum von außen, aber durch eine besondere Lage des Zimmers ist auch der Fußboden warm und bei mäßig kaltem Wetter herrscht sowie das Fensterchen zu ist, drückende Hitze. Morgens vor 9 Uhr, wenn geheizt ist, klopft immer ein Angestellter und fragt, ob auch die Klappe geschlossen ist. Das ist das einzige, worauf man sich hier verlassen kann. Das Hotel hat keine Küche, so daß man nicht einmal eine Tasse Tee haben kann. Und als wir einmal, am Vorabend des Tages, da wir zu Daga fuhren, darum baten, geweckt zu werden, entspann sich zwischen dem Schweizer (das ist der russische Name für den Hoteldiener) und Reich eine shakespearesche Unterhaltung über das Motiv »wecken«. Der Mann, auf die Frage, ob wir geweckt werden könnten: »Wenn wir daran denken, dann werden wir wecken. Wenn wir aber nicht daran denken, dann werden wir nicht wecken. Eigentlich, meistens denken wir ja daran, dann wecken wir eben. Aber gewiß, wir vergessen es auch manchmal, wenn wir nicht daran denken. Dann wecken wir nicht. Verpflichtet sind wir ja nicht, aber wenn es uns noch zur rechten Zeit einfällt, dann tun wir es doch. Wann wollen Sie denn geweckt sein? – Um sieben. Dann wollen wir das aufschreiben. Sie sehen ich tue den Zettel dahin, er wird ihn doch finden? Natürlich, wenn er ihn nicht findet, wird er nicht wecken. Aber meistens wecken wir ja.« Am Ende wurden wir natürlich dann nicht geweckt und man erklärte: »Sie waren ja wach, was sollten wir da noch wecken.« Es scheint von solchen Schweizern eine ganze Menge in dem Hotel zu geben. Sie sind in einem Stübchen im Erdgeschoß. Unlängst fragte Reich, ob Post für mich da sei. Der Mann sagte »nein«, obwohl die Briefe ihm vor der Nase lagen. Als man ein andermal mich telefonisch im Hotel zu erreichen suchte, hieß es: »Er ist inzwischen ausgezogen.« Auf dem Flur ist das Telefon und ich höre im Bett oft noch nach 1 Uhr nachts laute Gespräche. Dies Bett hat in der Mitte eine große Kute und bei der leisesten Bewegung knarrt es. Da Reich oft in der Nacht so laut schnarcht, daß ich aufwache, wäre das Schlafen schwierig, wenn ich nicht immer todmüde ins Bett käme. Am Nachmittage schlafe ich hier ein. Die Rechnung muß man alltäglich zahlen, weil auf jede, die den Betrag von 5 Rubeln übersteigt, eine Steuer von 10% liegt. Welch ungeheure Zeit- und Kraftverschwendung das bedeutet, versteht sich von selbst. – Reich und Asja hatten sich auf der Straße getroffen und kamen zusammen. Asja fühlte sich schlecht und hatte der Birse für den Abend abgesagt. Man wollte bei mir sein. Sie hatte ihren Stoff bei sich, und wir gingen fort. Ich brachte sie, bevor ich ins Spielzeugmuseum ging, zu ihrer Schneiderin. Unterwegs traten wir bei einem Uhrmacher ein. Asja gab ihm meine Uhr. Es war ein Jude, der Deutsch konnte. Als ich mich dann von Asja verabschiedet hatte, nahm ich mir zum Museum einen Schlitten. Ich fürchtete, zu spät zu kommen, weil ich noch immer an russisches Zeitmaß mich nicht gewöhnt habe. Führung durchs Spielzeugmuseum. Der Leiter towaritsch Bartram schenkte mir seine Schrift »Vom Spielzeug zum Kindertheater«, die mein Weihnachtsgeschenk für Asja wurde. Danach in die Akademie; aber Kogan war abwesend. Ich hatte mich, um zurückzufahren, an einer Omnibushaltestelle postiert. Da sah ich an einer geöffneten Tür die Aufschrift »Museum« und wußte bald, daß ich die »zweite Sammlung der neuen Kunst des Westens« vor mir hatte. Dies Museum lag nicht in meinem Besichtigungsplan. Weil ich nun aber davor stand, ging ich hinein. Vor einem außerordentlich schönen Bilde von Cézanne kam mir der Einfall, wie die Rede von »Einfühlung« sprachlich schon falsch ist. Mir schien, soweit man ein Gemälde erfaßt, dringt man durchaus nicht in seinen Raum ein, vielmehr stößt dieser Raum, zunächst an ganz bestimmten, unterschiednen Stellen, vor. Er öffnet sich uns in Winkeln und Ecken, in denen wir sehr wichtige Erfahrungen der Vergangenheit glauben lokalisieren zu können; es ist etwas unerklärlich Bekanntes an diesen Stellen. Dies Bild hing an der Mittelwand des ersten der beiden Cézanne-Säle, genau dem Fenster gegenüber im vollen Licht. Es stellte eine Chaussee dar, wo sie durch Wald läuft. An einer Seite hat sie eine Häusergruppe. Nicht ganz so außerordentlich wie die große Cézanne-Sammlung ist die Renoir-Kollektion dieses Museums. Immerhin sind sehr schöne, besonders frühe Bilder auch in ihr. In den ersten Sälen aber berührten am stärksten mich zwei Bilder von den Pariser Boulevards, die als Pendants einander gegenüber hängen. Das eine ist von Pissarro, das andere von Monet. Beide geben die breite Straße von erhöhtem Standort aus, der bei dem ersten in der Mitte, bei dem zweiten seitlich liegt. So seitlich, daß die Silhouetten zweier Herren, die sich vom Gitter eines Balkons auf die Straße hinabbeugen, seitlich, als seien sie dicht neben dem Fenster, in welchem gemalt wird, ins Bild hineinragen. Und während bei Pissarro der graue Asphalt mit den unzähligen Equipagen über den größten Teil der Bildfläche sich breitet, ist sie bei Monet zur Hälfte von einer leuchtenden Hauswand eingenommen, die halb durch herbstlich gelbe Bäume schimmert. Am Fuße dieses Hauses sind vom Laub fast ganz verborgen Stühle und Tische eines Cafes wie ländliche Möbel im sonnigen Wald zu erraten. Pissarro aber gibt den Ruhm von Paris; die Linie der schornsteinbesäten Dächer wieder. Ich fühlte eine Sehnsucht nach dieser Stadt. – In einem hinteren Kabinett neben Zeichnungen von Louis Legrand und Degas ein Bild von Odilon Redon. – Nach der Autobusfahrt begann ein langes Umherirren und eine Stunde nach der festgesetzten Zeit kam ich endlich in dem kleinen Kellerrestaürant an, in dem ich mit Reich verabredet war. Wir mußten uns, weil es schon gegen vier Uhr war, gleich trennen und gaben uns im großen Lebensmittelladen auf der Twerskaja Rendezvous. Es war nur wenige Stunden vorm Weihnachtsabend und der Laden war überfüllt. Während wir Kaviar, Lachs, Obst kauften, begegnete uns Basseches, mit Paketen, vergnügter Laune. Reichs Stimmung dagegen war schlecht. Er war sehr unwillig über mein verspätetes Kommen und ein chinesischer Papierfisch, den ich vormittags auf der Straße erstanden hatte, und zu allen übrigen Sachen mit herumschleppen mußte, stimmte, als Zeugnis einer Sammelmanie ihn nicht heiterer. Endlich hatten wir noch Kuchen und Süßigkeiten, so wie ein schleifengeschmücktes Bäumchen beisammen und mit alledem fuhr ich im Schlitten nach hause. Es war längst dunkel geworden. Die Fülle von Menschen, durch die ich mit Baum und Paketen mich hatte drängen müssen, hatte mich müde gemacht. Im Zimmer legte ich mich aufs Bett, las Proust und aß von den gezuckerten Nüssen, die wir gekauft hatten, weil Asja sie gern hat. Nach sieben kam Reich, etwas später auch Asja. Sie lag den ganzen Abend über auf dem Bett und neben ihr saß Reich auf einem Stuhl. Als dann nach langem Warten endlich auch ein Samovar gekommen war – erst hatte man vergeblich darum gebeten, weil angeblich ein Gast sie sämtlich auf dem Zimmer eingeschlossen hatte und fort war – als zum ersten Male sein Summen mir ein russisches Zimmer erfüllte und ich Asja die gegenüber lag, dicht ins Gesicht sehen konnte, da hatte ich nahe bei dem Tannenbäumchen im Topf zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, am Weihnachtsabend geborgen zu sein. Wir sprachen über die Stelle, die Asja annehmen sollte, später kamen wir auf mein Trauerspielbuch, und ich las die Vorrede vor, die gegen die Universität Frankfurt gerichtet ist. Für mich kann wichtig werden, daß Asja meinte, ich solle trotz allem ganz einfach schreiben: Abgelehnt von der Universität Frankfurt a/M. An diesem Abend waren wir uns sehr nah. Asja lachte sehr über manches was ich ihr sagte. Anderes, wie der Gedanke eines Artikels: Die deutsche Philosophie als Werkzeug der deutschen Innenpolitik, erregte sie zu heftiger Zustimmung. Sie wollte sich nicht zum Gehen entschließen, fühlte sich gut und müde. Schließlich war es aber noch nicht elf Uhr als sie ging. Ich legte mich gleich zu Bett, weil mein Abend erfüllt, wenn auch noch so kurz gewesen war. Ich sah, daß es für uns keine Einsamkeit gibt, wenn gleichzeitig der Mensch, welchen wir lieben, wenn auch an einem andern Ort, wo wir ihn nicht erreichen können, einsam ist. So scheint im Grunde das Gefühl von Einsamsein ein reflexives Phänomen zu sein, das uns nur trifft wenn es von uns bekannten Menschen, am meisten von dem Menschen den wir lieben, wenn sie sich ohne uns gesellig vergnügen, auf uns zurückstrahlt. Und sogar der an sich, im Leben überhaupt, Vereinsamte, fühlt sich nur einsam im Gedanken an die, wenn auch unbekannte, Frau oder an einen Menschen, die nicht einsam sind und in deren Gemeinschaft auch er es nicht wäre.

25 Dezember. Ich habe mich resigniert, mit dem wenigen Russisch, das ich herstammeln kann, auszukommen und vorläufig nicht weiter zu lernen, weil ich hier meine Zeit zu nötig zu anderem brauche: zum Übersetzen und für Artikel. Falls ich wieder einmal nach Rußland komme, wird es freilich nicht möglich sein, ohne daß ich einige Sprachkenntnis mitbringe, die ich dann vorher mir erwerben müßte. Aber weil ich nun keinen Offensivplan für die Zukunft aufstelle, ist mir das nicht unbedingt gewiß geworden: es könnte in anderen Verhältnissen, die noch ungünstiger als die jetzigen sind, vielleicht allzu schwer für mich werden. Das mindeste wäre, eine zweite Reise nach Rußland, sehr fest in literarischen und finanziellen Zusammenhängen zu verankern. Die Unkenntnis des Russischen ist mir bisher nie störender und quälender gewesen, als am ersten Weihnachtsfeiertag. Wir waren bei Asjas Zimmergenossin zu Tisch – ich hatte das Geld für eine Gans gegeben und das war vor einigen Tagen Anlaß zu Streit zwischen Asja und mir gewesen. Nun kam die Gans in einzelnen Portionen auf Tellern auf den Tisch. Sie war schlecht gekocht, zähe. Gegessen wurde auf einem Schreibtisch, um welchen sechs bis acht Personen saßen. Es wurde nur russisch gesprochen. Gut war die kalte Vorspeise, ein Fisch auf jüdische Art, auch die Suppe. Ich ging nach Tisch ins Nebenzimmer und schlief ein. Danach lag ich noch, sehr traurig, eine zeitlang wach auf dem Sofa und mir erschienen, wie dann so oft, Bilder aus jener Zeit, wo ich von München als Student nach Seeshaupt herauskam. Hin und wieder versuchten dann später wohl Reich oder Asja mir vom Gespräch ein Stückchen zu übersetzen, aber dadurch wurde es doppelt anstrengend. Eine Zeit lang sprach man darüber, daß an der Kriegsakademie ein General, der früher Weißgardist gewesen sei und jeden im Bürgerkrieg gefangenen Rotarmisten habe aufhängen lassen, Professor geworden sei. Man stritt darüber wie das zu beurteilen sei. Am orthodoxesten und sehr fanatisch war im Gespräche eine junge Bulgarin. Endlich gingen wir, Reich mit der Bulgarin voran, Asja mit mir ihnen folgend. Ich war völlig erschöpft. An diesem Tage ging keine Straßenbahn. Und da wir, Reich und ich, mit dem Autobus nicht mitkommen konnten, blieb uns nichts übrig, als die lange Strecke bis zum zweiten Michad zu Fuß zu gehen. Reich wollte, um sein Material über »Die Gegenrevolution auf der Bühne« zu vervollständigen, dort die Orestie sehen. Man gab uns Plätze in der Mitte der zweiten Reihe. Parfümgeruch empfing mich schon beim Eintritt in den Saal. Ich sah keinen einzigen Kommunisten in blauer Bluse, wohl aber einige Typen, die in jedem Album von George Grosz Platz finden könnten. Die Aufführung hatte durchweg den Stil eines völlig verstaubten Hoftheaters. Dem Regisseur fehlte nicht nur jedwedes fachliche Können, sondern der Vorrat primitivster Informationen, ohne die man an eine äschyleische Tragödie nicht herangehen kann. Ein verschossenes Salon-Griechentum scheint seine ärmliche Phantasie ganz auszufüllen. Fast ohne Unterbrechung dauerte Musik an, darunter viel Wagner: Tristan, der Feuerzauber.

26 Dezember. Asjas Sanatoriumsaufenthalt scheint zu Ende zu gehen. In den letzten Tagen haben Liegestunden im Freien ihr gut getan. Sie freut sich, wenn sie im Sack liegt und in der Luft die Raben schreien hört. Auch glaubt sie, daß die Vögel sich genau organisiert haben und von dem Führer über das, was sie zu tun haben, verständigt werden; bestimmte Schreie, denen eine lange Pause vorher geht, sind, meint sie, Befehle, die von allen befolgt werden. Ich habe Asja in den letzten Tagen kaum allein gesprochen, aber in den wenigen Worten, die wir wechseln, glaube ich ihre Nähe zu mir so deutlich zu fühlen, daß ich sehr beruhigt bin und mich gut fühle. Ich weiß kaum etwas, das heilsam, aber mit solcher Gewalt auf mich einwirkt, wie die geringsten Fragen, die sie über meine Angelegenheiten an mich stellt. Gewiß tut sie das nicht oft. An diesem Tage aber erkundigte sie sich z. B. mitten bei Tisch, während sonst russisch gesprochen wurde, bei mir, was für Post ich am Vortag erhalten habe. Vor Tische hatte man zu drei Parteien Domino gespielt. Nach dem Essen aber war es weit besser als am Vortage. Man sang kommunistische Umdichtungen (kaum als Parodien gemeinte, wie ich vermute) von jiddischen Liedern. Bis auf Asja waren wohl alle im Zimmer Juden. Es war auch ein Gewerkschaftssekretär aus Wladiwostok dabei, der zum siebten Gewerkschaftskongreß hier nach Moskau gekommen war. So war eine ganze Kollektion Juden von Berlin bis Wladiwostok am Tische versammelt. Asja brachten wir frühzeitig nach Hause. Ich lud dann Reich vor dem Nachhausegehen zu einer Tasse Kaffe ein. Und er begann: Je mehr er sich umsähe, sähe er, Kinder seien eine große Plage. Bei der Genossin war auch ein kleiner, übrigens außerordentlich artiger Junge zu Besuch gewesen, der aber endlich, als alle beim Domino saßen, und man schon an zwei Stunden auf das Essen gewartet hatte, zu weinen begonnen hatte. In Wirklichkeit hatte aber Reich natürlich Daga im Sinne. Er sprach von Asjas chronischen Angstzuständen, die meistenteils sich mit Daga beschäftigten und er rollte noch einmal die ganze Geschichte ihres Aufenthaltes in Moskau auf. Ich hatte im Umgang mit ihr schon oft seine große Geduld bewundert. Und es kam auch jetzt nichts von Verstimmung, kein Groll nur eben die Spannung heraus, die sich in dem Gespräche mit mir löste. Daß Asjas »Egoismus« gerade jetzt, da alles für sie darauf ankomme, die Dinge ruhig gehen und sich treiben zu lassen, versage beklagte er. Die Unruhe über den nächsten Aufenthalt, der Gedanke an Übersiedlung, die möglicherweise bevorstand, quälte sie sehr. Ihre Ansprüche gehen im Grunde jetzt auf ein paar Wochen ruhiger und bequemer bürgerlicher Existenz, wie sie auch Reich in Moskau ihr natürlich nicht schaffen kann. Mir war im übrigen ihre Unruhe noch nicht aufgefallen. Ich sollte sie erst am folgenden Tage bemerken.

27 Dezember. Asjas Zimmer im Sanatorium. Wir sind fast täglich von vier bis sieben dort. Gewöhnlich beginnt gegen fünf für eine Stunde oder eine halbe in einem benachbarten Räume eine Patientin, mit Zitherspielen sich zu beschäftigen. Sie kommt nie über traurige Akkorde hinaus. Musik paßt zu diesen kahlen Wänden sehr schlecht. Aber Asja scheint das monotone Gezupfe nicht sehr zu stören. Sie liegt gewöhnlich, wenn wir kommen, auf dem Bett. Ihr gegenüber steht auf einem Tischchen Milch, Brot und ein Teller mit Zucker und Eiern, die Reich gewöhnlich mitbekommt. An diesem Tage gab sie ihm eines für mich mit und schrieb darauf »Benjamin«. Über dem Kleid hat Asja einen grauen wollnen Sanatoriumskittel. Im übrigen gibt es in dem ihr reservierten komfortableren Teile des Zimmers drei ungleiche Stühle, darunter den tiefen Sessel, auf dem ich meist sitze sowie den Nachttisch mit Zeitschriften, Büchern, Arzeneien, einer kleinen bunten Schale, die ihr wahrscheinlich gehört, dem Cold Cream, den ich ihr aus Berlin mitbrachte, einem Handspiegel, den ich ihr einmal geschenkt habe und lange lag da auch der Deckelentwurf der »Einbahnstraße«, den Stone für mich gemacht hatte. Asja arbeitet oft an einer Bluse, die sie sich machen will, zieht Fäden aus einem Stoff aus. – Lichtquellen der Moskauer Straße. Das sind: der Schnee, der die Beleuchtung so stark reflektiert, daß die Straßen fast alle hell sind, die starken Karbidlampen in den Verkaufsbuden und die Blendlaternen der Autos, welche auf hunderte von Metern voraus ihren Schein durch die Straßen werfen. In andern Großstädten sind diese Autolichter verboten: hier läßt sich nichts Aufreizenderes denken als diese freche Betonung der wenigen Fahrzeuge, die im Dienste einiger Nepleute (freilich auch für die Machthaber) die allgemeine Schwierigkeit der Fortbewegung überwinden. – Für diesen Tag ist wenig wichtiges zu vermerken. Vormittag bei der Arbeit zu Hause. Nach dem Essen spielte ich Schach mit Reich, in zwei Partien wurde ich geschlagen. Asja war an diesem Tag in der schlechtesten Stimmung, es kam deutlicher als ich es je beobachten konnte, die böse Schärfe heraus, die ihr Spiel von Hedda Gabler so überzeugend machen muß. Sie duldete nicht einmal die kleinste Frage nach ihrem Ergehen. Schließlich blieb garnichts übrig als sie allein zu lassen. Aber unsere – meine und Reichs – Hoffnung, sie würde uns zum Dominospiel nachfolgen erfüllte sich nicht. Vergeblich wandten wir uns jedesmal um, wenn jemand ins Spielzimmer trat. Nach der Partie gingen wir wieder in ihr Zimmer aber bald zog ich mich mit einem Buche nochmals ins Spielzimmer zurück, um erst ganz kurz vor sieben wieder zu erscheinen. Asja entließ mich sehr unfreundlich, aber dann sandte sie mir durch Reich ein Ei nach, auf das sie »Benjamin« geschrieben hatte. Wir waren noch nicht lange auf meinem Zimmer, als sie eintrat. Es war ein Umschwung in ihrer Stimmung erfolgt, sie sah alles wieder in besserem Licht und sicher tat ihr das Verhalten vom Nachmittag leid. Aber wenn ich alles in allem die letzte Zeit überblicke, so finde ich, daß ihre Besserung, zumindest die ihres nervösen Zustands, seit meiner Ankunft kaum vorangeschritten ist. – Am Abend hatten Reich und ich ein langes Gespräch über meine Schriftstellerei und über den Weg, den sie in Zukunft einzuschlagen habe. Er meinte, ich entließe meine Sachen in einem zu späten Stadium. In dem gleichen Zusammenhange formulierte er sehr zutreffend, in der großen Schriftstellerei sei das Verhältnis der Satzanzahl überhaupt zur Menge schlagender, prägnanter, formulierter Sätze wie 1:30 – bei mir wie 1:2. Dies alles ist richtig. (Und in dem letzten liegt sogar vielleicht der Überrest von jenem starken Einfluß, den früher einmal Philipp Keller auf mich gehabt hat.) Ich mußte ihm aber dennoch Gedanken entgegenhalten, welche seit meiner lange zurückliegenden Schrift über »Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen« mir niemals zweifelhaft geworden sind: ich verwies ihn auf die Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein. Hier mußte anklingen, was über »Sprachzerstörung« als eine Tendenz der gegenwärtigen russischen Literatur von uns schon oft war berührt worden. Denn die rücksichtslose Ausbildung des Mitteilenden in der Sprache führt eben unbedingt auf Sprachzerstörung hinaus. Und auf anderem Wege endet dort, nämlich im mystischen Schweigen die Erhebung ihres Ausdruckscharakters ins Absolute. Die aktuellere Tendenz von beiden scheint augenblicklich die auf Mitteilung mir zu sein. Aber in irgend einer Form ist immer ein Kompromiß nötig. Die kritische Situation meiner eigenen Autorschaft aber gab ich zu. Ich sagte ihm, da nur konkrete Aufgaben und Schwierigkeiten mich wirklich weiterzubringen vermöchten, nicht aber bloße Überzeugungen noch auch abstrakte Entschließungen, so sähe ich hier keinen Ausweg vor mir. Hier aber verwies er mich auf meine Aufzeichnungen über Städte. Das war mir sehr ermutigend. Ich begann, zuversichtlicher an eine Darstellung Moskaus zu denken. Um abzuschließen las ich ihm mein Portrait von Karl Kraus vor, weil auch auf ihn die Rede gekommen war.

28 Dezember. Ich glaube, soviele Uhrmacher wie in Moskau gibt es in keiner Stadt. Das ist umso seltsamer, als die Leute hier nicht viel Aufhebens von der Zeit machen. Es wird aber wohl historische Gründe haben. Wenn man beachtet, wie sie sich auf der Straße bewegen, so wird man selten jemanden eilen finden, es müßte denn gerade sehr kalt sein. Aus Schlendrian geht man in Serpentinen. (Sehr bezeichnend ist, daß, wie Reich mir erzählte, irgendwo in einem Clublokal an der Wand, mahnend, ein Schild hängt, auf welchem steht: Lenin hat gesagt, daß Zeit Geld ist. Um diese Banalität auszusprechen, muß also hier die höchste Autorität herangezogen werden.) Ich holte an diesem Tage meine Uhr ab, die repariert worden war. – Am Morgen schneite es und auch tagsüber fiel oft Schnee. Später trat etwas Tauwetter ein. Ich verstehe, daß Asja Schnee in Berlin vermißte und unter dem nackten Asphalt litt. Hier geht der Winter, wie ein Bauer in weißer Schafwolle, unter einem dichten Schneepelz dahin. – Morgens erwachten wir spät und gingen dann in Reichs Zimmer. Es ist ein Stück Kleinbürgerwohnung, wie man es sich nicht schrecklicher träumen kann. Bei Anblick der hundert Decken, Konsolen, gepolsterten Möbel, Gardinen kann man vor Beklemmung kaum atmen; die Luft muß dick von Staub sein. In einer Fensterecke stand ein hoher Weihnachtsbaum. Selbst der war häßlich mit seinen mageren Ästen und einem unförmlichen Schneemann als Bekrönung. Mir nahm der ermüdende Weg von der Trambahnstation und der Schrecken dieses Raumes den Überblick über die Lage und ich stimmte Reichs Vorschlag, im Januar dies Zimmer mit ihm zu beziehen, etwas voreilig zu. Solche Kleinbürgerzimmer sind Schlachtfelder, über die der verheerende Ansturm des Warenkapitals siegreich dahingefegt ist, es kann nichts Menschliches mehr da gedeihen. Aber meine Arbeit würde ich, bei meiner Neigung zu Höhlenräumen, vielleicht nicht schlecht in diesem Räume erledigen. Nur will überlegt sein, ob ich die ausgezeichnete strategische Position meines jetzigen Zimmers aufgeben oder selbst um den Preis sie beibehalten soll, darüber den täglichen Kontakt mit Reich, der mir für meine Informationen sehr wichtig ist, zu vermindern. Sodann liefen wir lange durch Vorstadtstraßen: Ich sollte durch eine Fabrik geführt werden, in der vor allem Baumschmuck hergestellt wird. Die »Prärie der Architektur«, wie Reich Moskau genannt hat, hat in diesen Straßen noch wilderen Charakter als im Zentrum. Zu beiden Seiten der breiten Allee wechseln Bauten im Stile der bäurischen hölzernen Dorfhäuser mit Jugendstilvillen oder der nüchternen Fassade eines sechsstöckigen Hauses. Der Schnee lag hoch und entstand plötzlich eine Stille, so konnte man glauben, tief drinnen in Rußland in einem überwinternden Dorfe zu sein. Hinter einer Reihe von Bäumen stand eine Kirche mit blauen und goldenen Kuppeln, und, wie immer, vergitterten Fenstern an ihrer Straßenmauer. Übrigens tragen die Kirchen hier oft noch Heiligenbilder an ihrer Fassade, wie man es in Italien nur an den ältesten sieht. (z. B. Sto. Freginiano in Lucca). Zufällig war die Arbeiterin gerade abwesend und die Fabrik bekamen wir nicht zu Gesicht. Bald trennten wir uns. Ich ging Kusnetzki-Most hinunter und sah die Buchläden an. In dieser Straße liegt Moskaus größte Buchhandlung (dem Anscheine nach zu schließen). Ich sah auch ausländische Literatur in den Fenstern, jedoch zu unverschämten Preisen. Die russischen Bücher kommen so gut wie ausnahmslos nur ungebunden auf den Markt. Das Papier ist hier dreimal so teuer als in Deutschland, hauptsächlich Importware, und man spart an der Ausstattung der Bücher soviel es mir. Ich kaufte unterwegs – nachdem ich auf der Bank gewechselt hatte eine der warmen Pasteten, die überall auf den Straßen zu haben sind. Nach wenigen Schritten stürzte ein kleiner Junge sich auf )mich, dem ich ein Stück davon gab, als ich endlich verstanden hatte, daß er nicht Geld sondern Brot wolle. – Mittags gewann ich die Schachpartie gegen Reich. Nachmittags bei Asja, wo es ganz farblos, wie in den letzten Tagen war, da Asja durch Angstzustände abgestumpft ist, beging ich den großen Fehler, Reich gegen sehr törichte Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Am folgenden Tag sagte er mir sodann, daß er allein zu Asja gehen werde. Am Abend dagegen schien er sich sehr freundlich verhalten zu wollen. Zu der Generalprobe von Illeschs Stück zu gehen, wie wir geplant hatten, war es zu spät und da Asja nicht mehr kam, gingen wir, um einer »Gerichtsverhandlung« im Krestanski-Club beizuwohnen. Bis wir dorthin kamen, war es halb neun und wir erfuhren, daß man schon seit einer Stunde begonnen habe. Der Saal war überfüllt und niemand wurde mehr hereingelassen. Aber eine kluge Frau machte sich meine Anwesenheit zu nutze. Sie merkte, daß ich fremd sei, stellte Reich und mich als Ausländer vor, deren Führung sie habe und brachte so sie selber und mich unter. Wir traten in einen rot ausgeschlagenen Saal, in dem gegen dreihundert Menschen Platz hatten. Er war dicht gefüllt, viele standen. In einer Nische eine Leninbüste. Die Verhandlung fand auf der Estrade der Bühne statt, die rechts und links von gemalten Proletarierfiguren, einem Bauern und einem Industriearbeiter, eingerahmt wurde. Am oberen Bühnenrahmen die Sowjetembleme. Die Beweisaufnahme war schon beendet, als wir kamen, ein Sachverständiger hatte das Wort. Er saß mit seinem Kollegen an einem Tischchen, ihm gegenüber der Tisch des Verteidigers, beide die Schmalseite zur Bühne gewandt. Der Tisch des Richterkollegiums stand frontal zum Publikum, vor ihm saß in schwarzer Kleidung auf einem Stuhle, einen dicken Stock in Händen, die Angeklagte, eine Bäuerin. Alle Mitwirkenden waren gut gekleidet. Die Anklage lautete auf Kurpfuscherei mit tödlichem Erfolge. Die Bäuerin hatte bei einer Entbindung (oder Abtreibung) Beistand geleistet und durch einen Fehler den unglücklichen Ausgang herbeigeführt. Die Argumentation bewegte sich in äußerst primitiven Bahnen um diesen Vorfall herum. Der Sachverständige gab sein Gutachten ab: die Schuld am Tode der Frau sei allein auf den Eingriff zurückzuführen. Der Verteidiger plädierte: kein böser Wille, auf dem Lande fehle es an sanitärer Hilfe und Aufklärung. Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe. Die Bäuerin in ihrem Schlußwort: immer sterben Menschen. Danach wendet der Vorsitzende sich ans Publikum: sind Fragen vorhanden? Auf der Estrade erscheint ein Komsomolz und plädiert für äußerst strenge Bestrafung. Danach zieht das Gericht sich zur Beratung zurück – eine Pause entsteht. Die Urteilsverkündung wird von allen stehend angehört. Zwei Jahre Gefängnis unter Zubilligung mildernder Umstände. Von Einzelhaft wird daher abgesehen. Der Vorsitzende weist seinerseits auf die Notwendigkeit hygienischer Versorgungsund Bildungszentralen auf dem Lande hin. Man ging auseinander. Ich hatte bisher niemals ein derartig einfaches Publikum in Moskau beisammen gesehen. Es waren wahrscheinlich viele Bauern darunter, denn dieser Klub dient ganz besonders den Bauern. Man führte mich durch die Räume hindurch. Im Lesesaal fiel mir, genau wie in dem Kindersanatorium, auf, daß die Wände ganz mit Anschauungsmaterial bedeckt sind. Hier waren es besonders Statistiken, die zum Teile, mit Bildchen farbig illustriert, von Bauern selber waren gestellt worden (Dorfchronik, landwirtschaftliche Entwicklung, Produktionsverhältnisse und kulturelle Institutionen waren aufgezeichnet) aber auch Werkzeugbestandteile, Maschinenstücke, Retorten mit Chemikalien etc. sind überall an den Wänden hier ausgestellt. Neugierig trat ich vor eine Konsole, von der zwei Negermasken heruntergrinsten. Aber beim Näherkommen erwiesen sie sich als Gasmasken. Endlich brachte man mich auch in die Schlafräume des Klubs. Er ist für Bauern und Bäuerinnen, einzelne und ganze Gesellschaften, bestimmt, die eine »Kommandirowka« in die Stadt bekommen. In großen Zimmern stehen meist sechs Betten; die Kleider legt ein jeder die Nacht über auf sein eigenes. Die Waschräume wieder müssen woanders gelegen sein. Die Zimmer selber haben keine Waschgelegenheit. An den Wänden sind Bilder von Lenin, Kalinin, Rykow u. a. Hier geht der Kultus insbesondere mit dem Leninbilde unabsehbar weit. Man findet auf Kusnetzki-Most ein Geschäft, in dem er Spezialartikel ist und in allen Größen, Haltungen und Materialien zu haben ist. Im Unterhaltungszimmer des Klubs, wo gerade Radiokonzert zu hören war, ist ein sehr ausdrucksvolles Reliefbild, das ihn in Lebensgröße, bis zur Brust, als Redner zeigt. Aber ein bescheideneres Bildchen von ihm hängt auch in Küchen, Wäschekammern u.s.w. der meisten öffentlichen Institute. Das Haus hat für über vierhundert Gäste Platz. Unter der zunehmend lästigen Begleitung der Führerin, die uns hineingeholfen hatte, gingen wir fort und entschlossen uns, als wir endlich allein waren, noch eine Piwnaja aufzusuchen, in der es gerade Abendunterhaltung gab. Vor der Tür bemühten sich, als wir eintraten, einige Leute um den Abtransport eines Betrunkenen. In dem nicht allzugroßen, dennoch aber nicht ganz vollbesetzten Räume saßen einzelne Personen sowie kleine Gruppen beim Bier. Wir nahmen ziemlich nahe an der brettenen Estrade Platz, die hinten von einer süßlich verschwommen)en Aue, mit einem Stückchen wie in Luft zergehender Ruine abgeschlossen wurde. Aber für die ganze Länge der Bühne reichte dieser Prospekt nicht aus. Nach zwei Gesangsnummern kam die Hauptattraktion des Abends, eine »Inszenirowka« – d. h. ein im Grunde anderswoher, aus Epik oder Lyrik stammender Stoff fürs Theater bearbeitet. Hier schien der dramatische Rahmen für eine Anzahl Liebes- und Bauerngesänge gegeben zu werden. Zuerst trat nur eine Frau auf und lauschte einem Vogel. Dann kam aus der Kulisse ein Mann und so ging es weiter bis die ganze Bühne voll war und alles mit einem Chorgesang unter Tanz endete. Dies alles unterschied sich nicht sehr von geselliger Familienvergnügung, aber mit dem Untergang dieser Veranstaltungen in der Wirklichkeit sind sie wahrscheinlich dem Kleinbürger auf der Bühne nur anziehender geworden. Zum Bier gibt es eine eigentümliche Zukost: winzige Stückchen getrocknetes Weißbrot, Schwarzbrot, mit einer Salzkruste überbacken und getrocknete Erbsen in Salzwasser.

29 Dezember. Rußland beginnt dem Mann aus dem Volke Gestalt anzunehmen. Ein großer Propagandafilm »Der sechste Teil der Welt« steht bevor. Auf der Straße, im Schnee, liegen Landkarten von SSSR, aufgestapelt von Straßenhändlern, die sie dem Publikum anbieten. Meyerhold verwendet die Landkarte in »Dajosch-Europa« – der Westen ist darauf ein kompliziertes System kleiner russischer Halbinseln. Die Landkarte ist ebenso nahe daran, ein Zentrum neuen russischen Bilderkults zu werden wie Lenins Portraits. Indessen geht der alte in den Kirchen fort. Ich trat an diesem Tage auf meinem Rundgang in die Kirche der Kasaner Muttergottes ein, von der mir As ja gesagt hatte, daß sie sie liebt. Sie liegt an einer Ecke des roten Platzes. Man tritt zuerst in ein geräumiges Vorzimmer mit einigen spärlichen Heiligenbildern. Hauptsächlich scheint es einer Frau zu dienen, die die Kirche überwacht. Es ist düster; sein Halbdunkel eignet zu Konspirationen. In solchen Räumen kann man sich über die bedenklichsten Geschäfte, wenn es sich trifft auch über Pogrome beraten. Daran stößt der eigentliche Andachtsraum. Im Hintergrunde hat er ein paar Treppchen, die zu der schmalen, niedrigen Estrade führen, auf der man an den Heiligenbildern sich entlangschiebt. In kurzem Abstand folgt Altar auf Altar, ein glimmendes rotes Lichtchen bezeichnet jeden. Die Seitenflächen werden von sehr großen Heiligenbildern eingenommen. Alle Teile der Wand, die so nicht von Bildern bedeckt sind, sind mit leuchtendem Gold überzogen. Von der süßlich bemalten Decke hängt ein kristallner Kronleuchter herab. Von einem der Stühle am Eingang des Raumes betrachtete ich mir die Zeremonien. Es sind die der alten Bilderverehrung. Die großen Heiligenbilder werden durch Bekreuzigen begrüßt, ein Kniefall, bei welchem die Stirne den Boden berühren muß, folgt und unter neuer Bekreuzigung wendet der Betende oder Büßende sich zu dem nächsten. Vor kleinen Heiligenbildern, die einzeln oder in Reihen auf kleinen Pulten, unter Glas liegen, bleibt der Kniefall fort; man beugt sich über sie und küßt das Glas. Ich trat hinzu und bemerkte, daß neben kostbaren alten Stücken auf ein und demselben Pult die Dutzendware wertloser Öldrucke lag. Moskau hat viel mehr Kirchen als man zu Anfang annimmt. Der Westeuropäer sucht sie in ihren Türmen, hoch oben. Man muß sich erst gewöhnt haben, die langen Mauern und Haufen niedriger Kuppeln zu breiten Komplex(en) von Klosterkirchen oder Kapellen zusammenzufassen. Dann wird auch klar, warum an vielen Stellen Moskau so abgedichtet wie eine Festung aussieht: niedrige Türme kennzeichnen im Westen den profanen Wohnbau. Ich kam vom Postamt, hatte dann telegrafiert und endlich auf einem langen Rundgang durch das Polytechnische Museum vergebens nach der Ausstellung von Zeichnungen Geisteskranker gesucht. Ich entschädigte mich durch einen Gang längs der Buden, die an der Mauer von Kitai Gorod stehen. Hier ist das Zentrum des Antiquariatsmarkts. Nach Interessantem aus außerrussischer Literatur hier nachzuspüren wäre fruchtlos. Aber auch russische Ausgaben aus älterer Zeit kommen hier (nach den Einbänden zu schließen) nicht vor. Dennoch müssen im Laufe dieser letzten Jahre ungeheure Bibliotheken aufgelöst worden (sein). Aber vielleicht nur in Leningrad? Und nicht in Moskau, wo sie seltener gewesen sein mögen? In einer der Buden auf dem Kitai-Projo kaufte ich Stefan eine Harmonika. – Weiteres zum Straßenhandel. Alle Weihnachtsartikel (Lametta, Kerzen, Kerzenhalter, Baumschmuck, auch Weihnachtsbäume) werden noch nach dem 24 ten Dezember angeboten. Ich denke bis zur zweiten, kirchlichen Weihnachtsfeier. – Verhältnis der Preise in den Buden zu denen in den staatlichen Geschäften. Berliner Tageblatt vom 20 November am 8 Dezember gekauft. Auf Kusnetzki-Most ein Knabe, der Tongefäße, winzige Teller und Schüsselchen, an einander schlägt, um ihre Solidität zu beweisen. Auf Ochotni Rjad eine merkwürdige Erscheinung: Frauen, in offner Hand auf einer Lage Stroh ein einziges Stück rohes Fleisch, ein Huhn oder dergleichen(,) stehen und bieten es den Passanten an. Das sind Verkäuferinnen ohne Konzession. Sie haben kein Geld, die Konzession für einen Stand zu bezahlen und keine Zeit, um die für einen Tag oder eine Woche sich anzustellen. Wenn ein Milizionär kommt, dann laufen sie einfach mit ihrer Ware davon. – Vom Nachmittag weiß ich nichts mehr. Abends mit Reich zu einem schlechten Film (mit Ilinski) in der Nähe meines Hotels.

30 Dezember. Der Weihnachtsbaum steht noch immer in meinem Zimmer. Allmählich komme ich auch zur Systematik der Geräusche, die mich hier umgeben. Die Ouvertüre setzt am frühen Morgen ein und bringt sämtliche Leitmotive: zuerst das Stampfen auf der Treppe, die meinem Zimmer gegenüber, ins Souterrain führt. Wahrscheinlich kommt von dort das Personal zur Arbeit herauf. Dann beginnt das Telefon im Flur und setzt bis gegen ein oder zwei Uhr nachts nur selten ab. Es ist in Moskau vorzüglich, besser als in Berlin oder Paris. In drei bis vier Sekunden ist jede Verbindung gelöst. Besonders viel höre ich eine laute Kinderstimme ins Telefon sprechen. Die vielen Nummern gewöhnen das Ohr, das sie hört, an die russischen Zahlen. Dann kommt gegen neun Uhr ein Mann, klopft an eine Zimmertür nach der andern und fragt, ob die Klappe geschlossen ist. Um diese Zeit wird geheizt. Reich vermutet, daß kleine Mengen von Kohlengas durch die Klappe, auch wenn sie geschlossen ist, bei mir einströmen. Nachts ist es oft so erstickend im Zimmer, daß das wohl möglich ist. Übrigens kommt auch vom Fußboden her Wärme, er hat, wie vulkanische Erde, ganz heiße Stellen. Ist man nun noch nicht aus dem Bett, so durchschüttert den Schlaf ein rhythmisches Klopfen, als würden riesenhafte Beefsteaks bearbeitet; das ist das Holzspalten im Hofe. Und bei alledem atmet mein Zimmer Ruhe. Ich habe selten einen Raum bewohnt, in dem das Arbeiten leichter fällt. – Notizen zur Lage Rußlands. In Gesprächen mit Reich habe ich ausgeführt, wie zwiespältig zur Zeit die Lage Rußlands ist. Nach außen sucht die Regierung den Frieden, um Handelsverträge mit imperialistischen Staaten zu führen; vor allem aber sucht sie, den militanten Kommunismus zu suspendieren, sie strebt einen Klassenfrieden auf Zeit einzusetzen, das bürgerliche Leben zu entpolitisieren, soweit das nur möglich ist. Andererseits wird in Pionierverbänden, im Komsomolz die Jugend »revolutionär« erzogen. Das bedeutet, das Revolutionäre kommt ihr nicht als Erfahrung, sondern als Parole zu. Man macht den Versuch, die Dynamik des revolutionären Vorgangs im Staatsleben abzustellen – man ist, ob man will oder nicht, in die Restauration eingetreten, will aber dem ungeachtet revolutionäre Energie in der Jugend wie elektrische Kraft in einer Batterie aufspeichern. Das geht nicht. Es muß daraus in jungen Menschen, oft der ersten Generation, die eine mehr als notdürftige Bildung erhält, der Kommunistenhochmut entwickelt )werden, für den es schon ein eignes Wort in Rußland gibt. Die außerordentlichen Schwierigkeiten der Restauration treten sehr greifbar auch im Bildungsproblem heraus. Man hat, um der katastrophalen Unbildung zu begegnen, die Parole ausgegeben, Kenntnis der russischen und westeuropäischen Klassiker müsse verbreitet werden. (Nebenbei gesagt ist es vor allem darum, daß der Meyerholdschen Einstudierung des »Revisor« und ihrem Mißerfolg so große Bedeutung beigemessen worden ist.) Und wie sehr diese Parole not tut läßt sich ermessen, wenn man hört, daß vor kurzem, in einer Debatte Lebidinski zu Reich über Shakespeare geäußert hat: der habe vor der Erfindung der Buchdruckerkunst gelebt. Andererseits: diese bürgerlichen Kulturwerte selbst sind mit dem Verfalle der bürgerlichen Gesellschaft in ein äußerst kritisches Stadium getreten. Sie können, so wie sie heute vorliegen, in den Händen der Bourgeoisie sich während der letzten hundert Jahre gestaltet haben, nicht expropri ert werden, ohne zugleich ihren letzten, wenn auch noch so fragwürdigen, ja schlechten Belang einzubüßen. Diese Werte haben gewissermaßen, wie kostbares Glas einen weiten Transport durchzumachen, den sie unverpackt nie überstehen werden. Verpacken heißt aber unsichtbar machen und ist mithin der Gegensatz zur Popularisierung dieser Werte, die offiziell von der Partei gefordert wird. Jetzt zeigt sich in Sowjet-Rußland, daß diese Werte genau in eben der entstellten, trostlosen Gestaltung popularisiert werden, die sie zuletzt dem Imperialismus zu danken hat. Ein Mann wie Walzel ist zum Mitglied der Akademie ernannt worden und in »Wetschernie Moskwa« schreibt Kogan, deren Vorsitzender, einen Artikel über westliche Literatur, der völlig kenntnislos Beliebiges zusammenkoppelt (Proust und Bronnen!) und an Hand einiger Namen »Informationen« über das Ausland zu geben sucht. Wahrscheinlich sind aber die einzigen Kulturverhältnisse des Westens, für welche Rußland ein so lebendiges Verständnis mitbringen )kann, daß die Auseinandersetzung mit ihnen verlohnt, die Amerikas. Die kulturelle Völkerverständigung als solche, d.h. ohne die Grundlage konkreter wirtschaftlicher Beziehungen ist ein Interesse der pazifistischen Spielart des Imperialismus und für Rußland Restaurationserscheinung. Übrigens wird durch Rußlands Abschnürung vom Ausland die Schwierigkeit der Information sehr erhöht. Genauer gesagt: die Fühlung mit dem Ausland geht im Wesentlichen durch die Partei und betrifft hauptsächlich politische Fragen. Die Großbourgeoisie ist vernichtet; das neu entstehende Kleinbürgertum ist materiell und geistig nicht in der Lage, Beziehungen zum Auslande zu vermitteln. Zur Zeit kostet das Visum für eine Reise ins Ausland, die nicht im staatlichen oder Partei-Aufträge unternommen wird, 200 Rubel. Unzweifelhaft weiß man in Rußland über das Ausland weit weniger als man im Ausland (etwa mit Ausnahme der romanischen Länder) von Rußland weiß. Man ist hier aber vor allem damit beschäftigt, in dem ungeheueren Territorium selbst den Kontakt der einzelnen Nationalitäten mit einander, vor allem aber den Kontakt der Arbeiter und Bauern unter sich herzustellen. Man kann sagen, mit dem wenigen, was man von fremder Kultur in Rußland weiß, ist es wie mit dem Tscherwoneff: in Rußland selbst ist er sehr teures Geld und im Ausland notiert man ihn nicht. Es ist höchst bezeichnend, daß ein sehr mäßiger russischer Filmschauspieler, Ilinski, ein skrupelloser, wenig graziöser Nachahmer Chaplins hier den Ruf eines großen Komikers ganz einfach darum hat, weil Chaplins Filme so teuer sind, daß man )sie hier nicht zu sehen kriegt. Die russische Regierung nämlich legt im allgemeinen für fremde Filme nur wenig an. Sie rechnet mit dem Interesse der konkurrierenden Industrien, den russischen Markt für sich zu erobern und kauft im Ramsch ein, läßt sich Filme gewissermaßen als Reklamemuster, Werbeproben halb geschenkt geben. Der russische Film selbst aber ist, wenn man von den Spitzenleistungen absieht, im Durchschnitt nicht allzu gut. Er kämpft um die Stoffe. Die Filmzensur nämlich ist streng; ganz im Gegensatz zur Theaterzensur, beschneidet sie, wahrscheinlich mit Rücksicht aufs Ausland, ihm den Stoffkreis. Ernsthafte Kritik an Sowjetmännern ist hier, anders als im Theater, unmöglich. Unmöglich aber ist auch Darstellung des bourgeoisen Lebens. Für die amerikanische Groteskkomödie ist hier ebensowenig Raum. Sie beruht auf einem hemmungslosen Spiele mit der Technik. Alles Technische aber hat hier Weihe, nichts wird ernster genommen als Technik. Vor allem aber weiß der russische Film nichts von Erotik. Die Bagatellisierung des Liebes- und Sexuallebens gehört bekanntlich zum kommunistischen Kredo. Tragische Liebesverwicklungen im Film oder Theater dargestellt würde als gegenrevolutionäre Propaganda angesehen. Bleibt die Möglichkeit einer satirischen Gesellschaftskomödie, deren Zielscheibe im wesentlichen das neue Bürgertum wäre. Ob auf dieser Basis der Film, eine der vorgeschobensten Maschinerien imperialistischer Massenbeherrschung expropriiert werden kann, das ist sehr die Frage. – Vormittags gearbeitet, darauf mit Reich in den Gosfilm. Panskij war aber abwesend. Wir fuhren alle zum Polytechnischen Museum. Der Eingang zu der Ausstellung von Bildern Geisteskranker war in einer Seitenstraße. Die Ausstellung selbst bot mäßiges Interesse; das Material war künstlerisch fast ohne Ausnahme uninteressant, aber gut angeordnet und wissenschaftlich sicherlich verwendbar. Eine kleine Führung fand während unserer Anwesenheit statt: man erfuhr aber nur, was schon auf kleinen Zetteln neben den ausgestellten Sachen vermerkt war. Reich fuhr von dort aus ins Dom Gerzena, ich kam nach, um vorher im Institut mir für den Abend Karten zu Tairoff geben zu lassen. Der Nachmittag bei Asja wieder eintönig. Reich verschaffte sich im Sanatorium (von dem Ukrainer) leihweise einen Pelz für den nächsten Tag. Ins Theater kamen wir noch rechtzeitig. Man gab »Lieben unter Ulmen« von O'Neill. Die Aufführung war sehr schlecht, besonders enttäuschend, völlig uninteressant die Koonen. Interessant (wie Reich aber richtig nachwies, untunlich) war die Zerstücklung in einzelne Szenen (Kinofizierung) durch Fallen des Vorhangs und Beleuchtungswechsel. Das Tempo war viel schneller als sonst hier üblich und wurde durch die Dynamik der Dekoration noch gesteigert. Sie gab drei Räume zugleich im Querschnitt: zu ebner Erde eine große Stube mit Blick ins Freie und Ausgang. An gewissen Stellen sah man ihre Wände in einem Winkel von 180° sich aufheben und dann schien von allen Seiten das Freie herein. Zwei andere Räume waren im ersten Stock und in einem mit Latten gegens Publikum abgeschlossenen Verschlage führte die Treppe hinauf. Das Auf- und Absteigen der Figuren quer durch dies Gatter zu verfolgen war spannend. Der Asbestvorhang zeigt in sechs Rubriken den Spielplan der nächsten Tage. (Montag ist hier spielfrei). Ich schlief auf Reichs Bitte nachts auf dem Sofa und versprach ihn am nächsten Morgen zu wecken.

31 Dezember. An diesem Tage fuhr Reich zu Daga. Gegen zehn Uhr kam Asja (ich war noch nicht fertig) und wir gingen zu ihrer Schneiderin. Dieser ganze Ausflug war stumpf und farblos. Mit Vorwürfen begann er: daß ich Reich mit mir herumschleppe und ermüde. Später gestand sie mir, die ganzen Tage habe sie gegen mich eine Wut, der Seidenbluse wegen, die ich ihr mitgebracht habe. Sie sei beim ersten Male, da sie sie übergezogen, gerissen. Dummerweise sagte ich noch, daß ich bei Wertheim sie gekauft habe. (Eine halbe Lüge – was immer dumm ist.) Im übrigen aber konnte ich umso weniger etwas sagen, als schon die zermürbende und ständige Erwartung einer Nachricht aus Berlin auf mich zu wirken begann. Am Ende setzten wir für wenige Minuten uns in ein Café. Aber es war so gut, als hätten wir es nicht getan. Asja dachte nur an das eine: pünktlich ins Sanatorium zurückzukehren. Woran es liegt, daß in den letzten Tagen alles Lebendige aus unserm Zusammensein und unsern Blicken aufeinander gewichen ist, weiß ich nicht. Die Unruhe, in der ich bin, macht es mir aber unmöglich das zu vertuschen. Und Asja verlangt eine so ungeteilte, beschwörende Aufmerksamkeit, wie ich sie, ohne jedwede Ermutigung und Freundlichkeit von ihr nicht aufbringen kann. Ihr selber geht es Dagas wegen schlecht, von der Reich Nachricht brachte, die zumindest sie nicht zufriedenstellte. Ich denke daran, meine Nachmittagsbesuche seltner zu machen. Denn auch das Zimmerchen, in dem jetzt nur selten noch drei, meist vier, und wenn Asjas Zimmergenossin Besuch hat, noch mehr Menschen sind, bedrückt mich: ich höre viel russisch, verstehe nichts, schlafe ein oder lese. Am Nachmittag brachte ich Asja Kuchen mit. Sie schalt nur darauf, ihre Laune war die schlechteste. Reich war schon eine halbe Stunde vor mir zu ihr gegangen (ich hatte einen Brief an Hessel fertig schreiben wollen) und was er von Daga berichtete, erregte sie sehr. Die ganze Zeit über blieb es sehr trist. Ich entfernte mich früh, um ins Theater Meyerhold zu gehen und Karten für sie und mich für »Dajosch Ewropa« zu holen, das am Abend gegeben wurde. Vorher noch einen Augenblick ins Hotel, um die Nachricht zu geben, man beginne um ¼ 8. Ich sah bei der Gelegenheit nach Post: es war nichts da. Mittags hatte mich Reich mit Meyerhold verbunden, der mir Karten bewilligt hatte. Mit großer Mühe schlug ich mich nun, um sie abzuholen, zum zweiten Direktor durch. Überraschender Weise kam Asja zur Zeit. Sie hatte ihr gelbes Tuch wieder mit. Ihr Gesicht hat in diesen Tagen eine unheimliche Glätte. Als wir vor Anfang der Vorstellung vor einem Anschlagzettel standen, sagte ich: »Eigentlich ist Reich ein fabelhafter Kerl.« »?« »Wenn ich heute Abend allein irgendwo sitzen müßte, ich würde vor Trübsal mich aufhängen.« Aber auch diese Worte belebten unser Gespräch nicht. Die Revue war sehr interessant und einmal fühlten wir – ich weiß nicht mehr an welcher Stelle das war – uns wieder einander näher. Doch – es war die Szene »Café Riche« mit der Musik und den Apachentänzen. »Fünfzehn Jahre«, so sagte ich Asja, »geht nun diese Apachenromantik durch ganz Europa, und wohin sie kommt, fallen die Leute ihr zu.« In den Pausen sprachen wir Meyerhold. Er ließ uns in der zweiten von einer Dame ins »Museum« führen, wo die Modelle seiner Dekorationen aufbewahrt werden. Dort sah ich die vorzügliche Einrichtung für den »Cocu magnifique«, die berühmte Dekoration von »Bubus« mit ihrer Bambuseinfassung (die Rohre begleiten Auftreten und Abgang der Schauspieler sowie alle wichtigen Stellen des Stücks mit lauterem oder leiserem Anschlagen), dem Schiffsvorderteil von »Rischi Kitai« mit Wasser im Vordergrunde der Bühne und anderes. Ich trug mich in ein Buch ein. Im letzten Akt störte Asja das Schießen. Auf der Treppe, als wir, während der ersten Pause Meyerhold suchten (erst ganz am Ende der Pause fanden wir ihn) ging ich auf einen Augenblick voran. Da fühlte ich an meinem Halse Asjas Hand. Mein Rockkragen hatte sich umgelegt und sie klappte ihn wieder zurecht. Mir wurde bei dieser Berührung inne, wie lange schon mich keine Hand freundlich berührt hat. Um halb zwölf waren wir wieder auf der Straße. Asja schalt, daß ich nichts besorgt hatte, sonst, sagte sie, wäre sie noch, um Sylvester zu feiern, zu mir gekommen. Vergebens forderte ich sie auf, noch in ein Café einzutreten. Auch, daß Reich vielleicht Essen besorgt habe, ließ sie nicht gelten. Traurig und schweigsam begleitete ich sie nach Haus. Der Schnee hatte an diesem Abend Sternglanz. (Ich habe auch, ein andermal, auf ihrem Mantel, Schneekristalle gesehen, wie sie wahrscheinlich in Deutschland nie vorkommen.) Fast aus Trotz und mehr um sie zu erforschen als aus einem wahren Gefühle heraus, bat ich, vorm Hause angekommen, sie noch um einen Kuß, im alten Jahr. Aber sie gab ihn nicht. Ich kehrte um, nun, um die Jahreswende doch einsam, aber nicht traurig. Denn ich wußte auch Asja allein. Schwach läutete eine Glocke gerade als ich vor meinem Hotel stand. Ich blieb eine Weile und hörte sie an. Reich öffnete enttäuscht. Er hatte viel eingekauft: Portwein, Halwa, Lachs, Wurst. Nun verstimmte es mich von neuem, daß Asja nicht zu mir gekommen war. Aber bald brachte ein lebendiges Gespräch uns über die Stunde hinweg. Und während ich auf dem Bette lag, verzehrte ich viel und trank ein paar gute Schluck Portwein, so daß ich zuletzt die Unterhaltung nur mehr mühsam, mechanisch durchführte.

1 Januar. Auf den Straßen verkauft man Neujahrssträuße. Im Vorübergehen sah ich auf dem Strastnoiplatz einen, der lange Gerten in der Hand hielt, die mit grünen, weißen, blauen, roten Papierblüten bis an die Spitze beklebt waren, je an einem Zweig eine Farbe. Ich möchte über »Blumen« in Moskau schreiben und dabei nicht nur von den heroischen Weihnachtsrosen, sondern auch den riesenhaften Stockrosen der Lampenschirme sprechen, die stolz erhoben von den Händlern durch die Stadt getragen werden. Dann von den süßen Zuckerbeeten auf Torten. Es gibt aber auch Torten als Füllhörner, aus denen Knallbonbons sich drängen oder Pralines in buntem Papier. Kuchenbrote in Form einer Lyra. Der »Zuckerbäcker« aus den alten Jugendschriften scheint nur in Moskau noch zu überleben. Nur hier gibt es Gebilde aus nichts als gesponnenem Zucker, süße Zapfen an denen die Zunge für die bittere Kälte Revanche nimmt. Auch von dem, was der Frost hier eingibt, wäre zu reden, den bäurischen Tüchern, auf denen die Muster, die mit blauer Wolle ausgenäht sind, Eisblumen von den Scheiben nachbilden. Das Inventar der Straßen ist unerschöpflich. Ich bemerkte die blauen Brillen der Optiker, durch die der Abendhimmel plötzlich sich südlich färbt. Dann die breiten Schlitten mit den drei Fächern, für Cacaoeuts, Haselnüssen und Semitschki (Sonnenblumenkörner, die nun, nach der Verordnung des Sowjets, an öffentlichen Plätzen nicht mehr gekaut werden dürfe). Dann sah ich einen Händler mit kleinen Schlitten für Puppen. Endlich die Zinnbehälter – man darf auf der Straße nichts fortwerfen. Ferner noch zu den Schildern: einzelne lateinische Aufschriften: Café, Tailleur. Das Schild jeder Bierstube: Piwnaja – gemalt auf einen Hintergrund, in dem ein stumpfes Grün am oberen Rande allmählich und verwaschen in schmutziges Gelb übergeht. Sehr viele Ladenschilder treten im rechten Winkel auf die Straße heraus. – Am Neujahrsmorgen blieb ich lange zu Bett. Reich stand nicht spät auf. Wir sprachen wohl über zwei Stunden. Worüber eigentlich ist mir entfallen. Gegen Mittag gingen wir aus. Da wir das Kellerrestaurant geschlossen fanden, in dem wir an Feiertagen gewöhnlich essen, so gingen wir ins Hotel Liverpool. Es war an diesem Tage außerordentlich kalt, ich hatte Schwierigkeit, vorwärts zu kommen. Bei Tische hatte ich eine gute Ecke, rechts neben mir das Fenster auf einen Hof voller Schnee. Es ist mir jetzt gelungen, das Trinken bei Tisch nicht zu entbehren. Wir bestellten das kleine Menü. Es wurde nur leider zu rasch serviert, ich hätte gern in dem holzgetäfelten Raum mit den wenigen Tischen noch länger gesessen. Es war keine Frau im Lokal. Mir war das sehr wohltuend. Ich bemerke, wie das große Ruhebedürfnis, das jetzt mit der Lösung meiner quälenden Abhängigkeit von Asja mich überkommt, überall Quellen findet, an denen es sich befriedigt. Natürlich, bekanntermaßen, vor allem Essen und Trinken. Selbst die Vorstellung meiner langen Rückreise hat etwas Wohltätiges für mich bekommen (so lange nicht, wie in den letzten Tagen, die Unruhe um die Dinge zu Hause hineinspielte), die Vorstellung, in einem Kriminalroman zu lesen (ich tue das ja kaum mehr, aber ich spiele mit dem Gedanken) und das tägliche Dominospiel im Sanatorium, in dem sich manchmal meine Spannung gegen Asja austrägt. An diesem Tage aber spielten wir, soviel ich weiß, nicht. Ich bat Reich, für mich Mandarinen zu kaufen, die ich dann Asja schenken wollte. Das tat ich nicht so sehr, weil sie am Vorabend mich drum gebeten hatte, sie ihr am nächsten Tage zu bringen – da hatte ich ihr das sogar abgeschlagen – als um auf unserem Eilmarsch durch die Kälte Gelegenheit zum Ausruhen zu bekommen. Aber Asja nahm die Tüte (auf die ich, ohne es ihr zu sagen, »Fröhliches Neujahr« geschrieben hatte) sehr mürrisch hin (und die Aufschrift bemerkte sie nicht). Abends zu Hause, geschrieben und gesprochen. Reich begann im Barockbuch zu lesen.

2 Januar. Ich frühstückte sehr ausgiebig. Denn da wir auf Mittagessen nicht rechnen konnten, hatte Reich einige Einkäufe gemacht. Auf ein Uhr war die Pressevorstellung von Illeschs Stück »Attentat« im Theater der Revolution angesetzt. Aus einer schiefen Rücksicht auf das Sensationsbedürfnis des Publikums hatte man ihm den Obertitel: »Kaufen Sie einen Revolver« gegeben und so die Schlußpointe, in der ein weißgardistischer Attentäter im Augenblick da sein Anschlag von den Kommunisten entdeckt wird, wenigstens den Revolver an sie loszuschlagen sucht, von vornherein vernutzt. Das Stück hat eine wirksame Szene im Sinne des Grand-Guignol und im übrigen große politisch-theoretische Ambitionen. Denn es soll in ihm die ausweglose Lage des Kleinbürgertums geschildert werden. Die prinzipienlose, unsichere und mit hundert kleinen Effekten ins Publikum schielende Aufführung, brachte das nicht heraus. Sie gab sogar die großen Trümpfe preis, die ihr das packende Milieu eines Konzentrationslagers, eines Cafes, einer Kaserne im verfallenden, schmutzigen, trostlosen Österreich des Jahres 1919 sicherte. Die Einrichtung des Bühnenraumes war so haltlos, wie ich sie kaum je gesehen habe: Auftritte und Abgänge mußten ganz unwirksam bleiben. Man konnte sehr deutlich beobachten, was aus Meyerholds Bühne wird, wenn ein ahnungsloser Regisseur es versucht, sie zu übernehmen. Das Haus war ganz vergeben. Es gab sogar bei dieser Gelegenheit etwas wie Toiletten zu sehen. Illesch wurde herausgerufen. Es war sehr kalt. Ich hatte Reichs Mantel an, da er im Theater aus Prestigegründen anständig auftreten wollte. In der Pause machten wir die Bekanntschaft von Gorodetzki und seiner Tochter. Am Nachmittag, bei Asja, geriet ich in eine endlose politische Diskussion hinein, an der auch Reich sich etwas beteiligte. Der Ukrainer und Asjas Zimmergenossin machten die eine, sie selber und Reich die andere Partei. Es ging wieder um die Opposition in der Partei. Aber in dem Streit war keine Verständigung, geschweige denn Einigung zu erreichen; für den Verlust an ideologischem Prestige, den nach Asjas und Reichs Ansicht der Austritt der Opposition aus der Partei bedeuten mußte, hatten die anderen kein Verständnis. Worum aber dieser ganze Streit ging, erfuhr ich erst, als ich unten mit Reich eine Zigarette rauchte. Das russische Gespräch unter fünf Menschen (denn auch eine Freundin von Asjas Zimmergenossin war da) das mich bei seite sitzen ließ, hatte mich wieder einmal deprimiert und ermüdet. Ich war entschlossen, wenn es dauern sollte, fortzugehen. Aber als wir wieder heraufkamen, entschloß man sich, Domino zu spielen. Reich und ich bildeten Partei gegen Asja und den Ukrainer. Es war Sonntag nach Neujahr, die »gute« Schwester hatte die Aufsicht und daher blieben wir denn über das Abendessen hinaus dort und spielten mehrere erbitterte Partien. Ich fühlte mich dabei sehr wohl, der Ukrainer hatte gesagt, ich gefalle ihm gut. Als wir endlich gingen, tranken wir noch etwas Warmes in einer Konditorei. Zu Hause folgte ein langes Gespräch über meine Position als freier Schriftsteller, außerhalb von Partei und Beruf. Was Reich zu mir sagte, war richtig, ich hätte jedem anderen, der mir gegenüber das vorgebracht hätte, was ich sagte, dasselbe erwidert. Und ich erklärte ihm das auch offen.

3 Januar. Wir gingen von Hause früh fort in die Fabrik, in der Reichs Zimmerwirtin arbeitet. Es gab da sehr viel zu sehen, wir hielten uns gegen zwei Stunden auf. Mit der Lenin-Ecke beginne ich. Ein weißgetünchter Raum ist an der Hinterwand rot ausgeschlagen, von der Decke hängt rote Borte mit vergoldeten Fransen herab. Links gegen diesen roten Hintergrund ist die Gipsbüste Lenins gestellt – sie ist so weiß wie die getünchten Wände. Aus dem Nebensaal, in dem die Lamettafabrikation untergebracht ist, ragt eine Transmission ins Zimmer hinein. Das Rad läuft um und durch ein Loch in der Wand gleiten die ledernen Riemen. An den Wänden hängen Werbeplakate und die Portraits berühmter Revolutionäre oder Bilder, die stenographisch die Geschichte des russischen Proletariats zusammenfassen. Die Zeit von 1905-1907 ist im Stile einer riesenhaften Ansichtspostkarte behandelt. Sie zeigt, einander überschneidend, Barrikadenkämpfe, Gefängniszellen, den Aufstand der Eisenbahner, den »schwarzen Sonntag« vor dem Winterpalais. Viele Anschläge richten sich gegen die Trunksucht. Auch die Wandzeitung behandelt das Thema. Programmäßig erschiene sie jeden Monat, in Wirklichkeit aber seltener. Sie hat im ganzen den Stil kindlicher bunter Witzblätter: Bilder, Prosa oder Reime dazwischen in abwechslungsreicher Verteilung. Vor allem aber gilt die Zeitung einer Chronik des Kollektivs, das in dieser Fabrik versammelt ist. Daher verzeichnet sie einzelne anstößige Vorgänge satirisch, aber auch mit statistischen Illustrationen die Bildungsarbeit, die im letzten Zeitabschnitt geleistet worden ist. Andere Plakate an der Wand gelten der hygienischen Aufklärung: Gazetücher gegen die Fliegen werden empfohlen, die Vorteile des Milchkonsums werden dargestellt. Es arbeiten hier (in drei Schichten) insgesamt 150 Personen. Haupterzeugnisse sind: Gummibänder, gespultes Garn, Bindfaden, Silberlitzen und Christbaumschmuck. Es ist die einzige Fabrik dieser Art in Moskau. Aber ihr Aufbau ist wohl weniger Resultat einer »vertikalen« Organisation als Zeugnis des Tiefstands in der industriellen Differenzierung. Man kann hier, wenige Meter voneinander in ein- und demselben Räume, den gleichen Arbeitsvorgang maschinell und im Handbetriebe verfolgen. Rechts rollt eine Maschine lange Fäden Garn auf kleine Spulen ab, links kurbelt die Hand einer Arbeiterin ein großes Holzrad: beides der gleiche Prozeß. Der größte Teil der Angestellten sind Bäuerinnen, und unter ihnen nicht viele Parteimitglieder. Sie sind nicht uniform gekleidet, haben nicht einmal Arbeitsschürzen, sondern sitzen an ihrem Platz, als hätten sie mit häuslichen Verrichtungen zu tun. Hausmütterlich, geruhig beugen sie den ins wollene Tuch gewickelten Kopf über die Arbeit. Aber sie sind umgeben von Plakaten, die alle Schrecken des Maschinenbetriebs beschwören. Da ist ein Arbeiter dargestellt wie sein Arm zwischen die Speichen eines Triebrads gerät, ein anderer, der mit dem Knie zwischen zwei Kolben geraten ist, ein dritter, der in der Trunkenheit Kurzschluß durch falsche Bedienung seiner Schaltung verursacht. Die Herstellung des feineren Christbaumschmucks ist ganz auf Handarbeit angewiesen. In einem hellen Atelierraum sitzen drei Frauen. Die eine schneidet die versilberten Fäden zu kurzen Stückchen zurecht, ergreift ein Bündel davon und wickelt es mit einem Draht, der langsam sich von einer Rolle abspult, zusammen. Wie einen Spalt durchläuft dieser Draht ihre Zähne. Dann zupft sie glänzende Bündel zur Sternform zurecht und so kommt es an eine Kolleg in, die einen papiernen Schmetterling, Vogel oder Weihnachtsmann darauf klebt. In einer anderen Ecke dieses Saals sitzt eine Frau, die Kreuze aus Lametta, eines in der Minute, auf ähnliche Weise herstellt. Als ich mich, um ihr zu zu sehen, über das Rad beuge, das sie dreht, kann sie vor Lachen nicht an sich halten. Anderswo stellt man silberne Litzen her. Diese Fabrikations-Arbeit für das exotische Rußland, es sind Litzen für persische Turbans. (Unten Lamettafabrikation: der Mann, der mit dem Schleifstein den Faden bearbeitet. Die Drahtstücke werden auf den zweihundertsten oder dreihundertsten Teil ihrer Stärke gebracht und danach versilbert oder mit andern metallischen Farben überzogen. Gleich darauf kommen sie ins Dachgeschoß des Hauses, wo sie bei starker Hitze getrocknet werden.) – Später kam ich an der Arbeitsbörse vorbei. Um Mittag postieren sich Garküchen vor ihrem Eingang, hier werden heiße Kuchen und gebratene Wurst in Scheiben verkauft. Von der Fabrik aus fuhren wir zu Gnedin. Er wirkt längst nicht mehr so jugendlich wie vor zwei Jahren auf dem Abend in der russischen Botschaft, als ich seine Bekanntschaft machte. Aber klug und sympathisch noch immer. Ich antwortete sehr vorsichtig auf seine Fragen. Nicht nur weil hier die Leute im allgemeinen empfindlich sind und Gnedin besonders an den kommunistischen Ideen hängt, sondern weil eine vorsichtige Außerungsweise geeignet ist, einen hier als ernstzunehmenden Gesprächspartner zu beglaubigen. Gnedin ist Referent im Außenministerium für Zentraleuropa. Seine nicht unbedeutende Karriere (er hat schon eine größere Chance ausgeschlagen) soll damit zusammenhängen, daß er ein Sohn von P. ist. Vor allem billigte er sehr, daß ich betonte, wie unmöglich der Vergleich von russischen Lebensverhältnissen mit denen Westeuropas im Einzelnen sei. Auf der Petrowka kam ich um eine Aufenthaltsverlängerung von sechs Wochen ein. Nachmittags wollte Reich allein zu Asja. Ich blieb also zu Hause, aß etwas und schrieb. Gegen sieben kam Reich. Wir gingen zusammen ins Theater Meyerhold und trafen dort Asja. Der Abend stand für sie und Reich im Zeichen der Diskussionsrede, die Reich auf ihren Wunsch halten sollte. Es kam aber nicht dazu. Immerhin mußte er über zwei Stunden im Kreis der übrigen, die sich zur Diskussion gemeldet hatten, auf dem Podium aushalten. An einer langen grünen Tafel saßen Lunatscharski, Pelsche, der Leiter der künstlerischen Abteilung im Glaw-Polit-Proswet, Diskussionsleiter, Majakowski, Andre Bjely, Levidoff und viele andere. In der ersten Parkettreihe Meyerhold selber. Asja ging in der Pause und ich begleitete sie noch ein Stück, da ich allein den Reden ja doch nicht folgen konnte. Als ich zurückkam, sprach mit demagogischer Heftigkeit ein Redner der Opposition. Aber trotzdem im Saale Meyerholds Gegner die Mehrheit hatten, konnte er das Publikum doch nicht gewinnen. Und als endlich Meyerhold selber auftrat, begrüßte ihn ein stürmischer Beifall. Zu seinem Unglück aber verließ er sich dann ganz auf sein rednerisches Temperament. Dabei kam eine Ranküne zum Vorschein, die alle abstieß. Als er dann endlich einen der Kritiker verdächtigte, nur darum ihn angegriffen zu haben, weil er als ehemaliger Angestellter Meyerholds mit seinem Chef Differenzen gehabt habe, war jeder Kontakt mit der Masse verloren. Die Flucht auf sein Dossier und eine Anzahl sachlicher Rechtfertigungen angefochtener Momente aus der Vorstellung halfen ihm nicht mehr. Schon während seiner Rede gingen viele und auch Reich sah die Unmöglichkeit, jetzt noch einzugreifen, ein und kam noch ehe Meyerhold geendet hatte, zu mir. Als er endlich schloß, gab es ganz dürftigen Beifall. Wir warteten den weiteren Verlauf, der nicht viel und nichts Neues mehr bringen konnte, nicht ab sondern gingen.

4 Januar. Mein Besuch bei Kogan fällig. Aber am Morgen telefonierte Niemen mich an und teilte mir mit, um halb zwei solle ich mich im Institute einfinden, es sei Kremlbesichtigung. Vormittags blieb ich zu Hause. Im Institut versammelten sich fünf oder sechs Personen, außer mir scheinbar sämtlich Engländer. Es ging dann unter Führung eines wenig sympathischen Herrn zu Fuß in den Kreml. Man ging rasch, es machte mir die größte Mühe zu folgen; schließlich mußte am Kremleingang die Gesellschaft auf mich warten. Das erste was innerhalb der Mauer frappiert, ist das übermäßig gepflegte Äußere der Regierungsgebäude. Ich kann es einzig mit dem Eindruck vergleichen, den man von allen Bauten in der kleinen Musterstadt Monaco erhält, eine privilegierte Siedlung in der nächsten Nähe der Regierenden. Sogar der helle weiße oder cremegelbe Anstrich der Fronten ist ähnlich. Während dort aber im scharfen Spiele von Licht und Schatten alles Partei nimmt, herrscht hier die ausgeglichene Helle des Schneefelds, aus der die Farben gelaßner heraustreten. Als es dann später allmählich dunkler wurde, schien dies Feld sich weiter und weiter zu dehnen. Nahe den strahlenden Fenstern der Amtsgebäude hoben sich Türme und Kuppeln gegen den Nachthimmel: überwundene Denkmäler, die Posten stehen vor den Toren der Sieger. Lichtbündel aus den übermäßig hellen Autolampen jagen auch hier durch Dunkel. In ihrem Schein scheuen die Pferde der Kavalleristen, die hier im Kreml ein großes Übungsfeld haben. Fußgänger schlagen sich mühsam zwischen Autos und ungeberdigen Gäulen durch. Lange Folgen von Schlitten, auf denen man Schnee abtransportiert, einzelne Reiter. Stumme Rabenschwärme haben im Schnee sich niedergelassen. Vorm Kremltore stehen in blenden dem Licht die Posten in den frechen ockergelben Pelzen. Über ihnen funkelt das rote Licht, das den Verkehr in der Durchfahrt regelt. Alle Farben Moskaus schießen hier, im Zentrum der russischen Macht, prismatisch zusammen. Der Klub der Rotarmisten sieht auf dies Feld hinaus. Wir gingen hinein bevor wir den Kreml verließen. Die Räume sind hell und sauber, sie scheinen etwas einfacher und strenger als die anderer Klubs gehalten. Im Lesesaal stehen viele Schachtische. Durch Lenin, welcher selber spielte, ist in Rußland das Schach sanktioniert. An der Wand hängt ein hölzneres Relief: die Karte Europas in vereinfacht schematisiertem Umriß. Dreht man an einer Kurbel, die daneben angebracht ist, so erleuchten sich, einer nach dem anderen in Rußland und im übrigen Europa in chronologischer Folge die Punkte, an denen Lenin gelebt hat. Aber der Apparat funktionierte schlecht, es leuchteten immer viele Orte zugleich auf. Der Klub hat eine Leihbibliothek. Mir machte ein Anschlag Freude, der in Text und hübschen bunten Zeichnungen verdeutlichte, auf wieviel Arten nicht ein Buch sich verderben läßt. Im übrigen war die Führung schlecht organisiert. Es war gegen halb drei, als man endlich im Kreml ankam und als dann nach der Besichtigung der Oruschejnaja Palata endlich die Kirchen betreten wurden, war es so dunkel, daß man innen nichts mehr erkennen konnte. Allerdings bleiben sie durch die winzigen hoch angebrachten Fenster in jedem Fall auf die Beleuchtung im Inneren angewiesen. Zwei Kathedralen wurden betreten: die Archangels- und die Uspenski-Kathedrale. Diese letzte ist Krönungskirche der Zaren gewesen. In ihren zahlreichen aber sehr kleinen Räumen, mußte die Macht in der höchsten Enthaltung sich repräsentieren. Die Spannung, die dadurch in diese Zeremonien gekommen sein muß, ist heute schwerlich mehr vorstellbar. Hier in den Kirchen trat der lästige Manager der Besichtigung zurück und sympathische alte Kustoden leuchteten langsam, mit Kerzen, die Wände ab. Zu erkennen war trotzdem wenig. Auch kann das Vielerlei der äußerlich wahrscheinlich gleichförmigen Bilder dem Ungeschulten nichts sagen. Immerhin war es noch hell genug, die herrlichen Kirchen von außen zu sehen. Besonders erinnere ich eine Galerie am großen Kreml-Palais, die dicht mit kleinen farbig glänzenden Kuppeln bestanden war; ich glaube, daß sie die Gemächer der Prinzessinnen enthielt. Der Kreml ist einmal ein Wald gewesen – die Kirche des Erlösers im Walde heißt die älteste seiner Kapellen. Er ist dann später ein Wald von Kirchen geworden und wie die letzten Zaren auch gerodet haben, um Platz für neue belanglose Bauten zu schaffen – es ist noch immer genug geblieben, um ein Labyrinth von Kirchen zu schaffen. Auch hier haben viele Heiligenbilder außen an der Fassade Posten bezogen und blicken von den obersten Gesimsen unter dem blechernen Wetterdach wie geflüchtete Vögel hinunter. Aus ihren geneigten Retorten-Köpfen spricht Trübsal. Leider wurde die meiste Zeit an diesem Nachmittag den großen Sammlungen des Oruschejnaja-Palata zugewandt. Ihre Pracht ist verwirrend, aber sie zerstreuen nur, wo man alle Kraft auf die großartige Topographie und die Architektur des Kreml selbst richten möchte. Leicht übersieht man eine Grundbedingung seiner Schönheit: keiner der weiten Plätze trägt ein Denkmal. Dagegen gibt es in Europa beinahe keinen Platz, dem nicht im Lauf des 19 ten Jahrhunderts die geheime Struktur durch ein Denkmal profaniert und verletzt worden wäre. Besonders fiel mir in den Sammlungen eine Kalesche auf, die ein Fürst Rasumofski einer Tochter Peters des Großen zum Geschenk gegeben hat. Ihre ausladende, wogende Ornamentik könnte auf festem Lande einen schwindeln machen, ehe man sich vorstellt, wie sie über Landstraßen schaukeln mag; erfährt man aber, daß sie aus Frankreich zur See kam, so ist das Mißbehagen vollkommen. All dieser Reichtum ist auf eine Art erworben, die keine Zukunft hat – nicht nur ihr Stil sondern ihre Erwerbsform selber ist tot. Sie müssen auf den letzten Besitzern gelastet haben, und es ist vorstellbar, daß das Gefühl, darüber zu verfügen, sie beinahe um den Verstand bringen konnte. Jetzt aber hängt am Eingang dieser Sammlungen ein Lenin-Bild, wie an einem Orte, wo früher den Göttern geopfert wurde, von bekehrten Heiden ein Kreuz erstellt wurde. – Der Rest des Tages war ziemlich verfehlt. Zum Essen kam es nicht mehr, es war gegen vier als ich den Kreml verließ. Dennoch war Asja als ich zu ihr kam, von der Schneiderin noch nicht zurück. Ich fand nur Reich und die ganz unvermeidliche Genossin vor. Reich aber konnte nicht länger warten und gleich danach erschien Asja. Leider kam später die Rede auf das Barockbuch, sie brachte das übliche vor. Dann las ich etwas aus der »Einbahnstraße«. Am Abend waren wir bei Gorodinski (?) eingeladen. Aber auch hier, wie damals bei Granowski kamen wir um das Abendessen. Denn ehe wir gingen, kam Asja, um Reich noch zu sprechen und als wir mit einer Stunde Verspätung an Ort und Stelle erschienen, trafen wir nur seine Tochter. Mit Reich war an diesem Abend nichts anzufangen. Wir irrten lange nach einem Restaurant umher, in dem ich noch ein wenig hätte essen können, gerieten dabei in ein äußerst primitives Separe mit rohen Holzverschlägen und kamen endlich in einer unsympathischen Piwnaja bei der Lubjanka zu schlechtem Essen. Dann eine halbe Stunde bei Illesch – er selber war fort und seine Frau machte uns vorzüglichen Tee – und dann nach Hause. Ich hätte gerne noch in Reichs Begleitung den »sechsten Teil der Erde« im Kino gesehen, aber er war zu müde.

5 Januar. Moskau ist die stillste von allen Großstädten und im Schnee ist sie es doppelt. Das Hauptinstrument im Orchester der Straße, die Autohupe, ist hier schwach besetzt; es gibt wenig Autos. Ebenso gibt es, im Vergleich zu anderen Zentren, sehr wenig Zeitungen, im Grunde nur ein Boulevardblatt, die einzige Abendzeitung, die täglich gegen drei Uhr erscheint. Endlich aber sind hier auch die Ausrufe der Verkäufer sehr leise. Der Straßenhandel ist zum großen Teile illegal und lenkt die Aufmerksamkeit nicht gerne auf sich. Auch wendet er an die Passanten sich weniger mit Ausrufen als mit Reden, gesetzten, wenn nicht geflüsterten, in denen etwas vom bittenden Tone der Bettler liegt. Nur eine Kaste zieht hier laut durch die Straßen: das sind die Lumpenhändler mit dem Sack auf dem Rücken; ihr melancholischer Ruf durchzieht ein oder mehrmals wöchentlich jede Moskauer Straße. Mit diesen Straßen ist eins sonderbar: das russische Dorf spielt in ihnen Versteck. Tritt man durch irgend eine der großen Torfahrten – oft sind sie durch schmiedeeiserne Gitter verschließbar, aber ich habe nie eines versperrt gefunden – dann steht man am Beginn einer geräumigen Siedlung, die oft so breit und ausladend angelegt ist, als ob der Raum in dieser Stadt nichts kostet. So öffnet sich ein Gutshof oder ein Dorf. Der Grund ist uneben, Kinder fahren in Schlitten, schaufeln den Schnee, Schuppen für Holz, Gerät oder Kohlen füllen die Winkel, Bäume stehen herum, primitive Holzstiegen oder Anbauten geben der Seitenfront oder Rückfront von Häusern, die nach der Straße sich sehr städtisch präsentieren, das Äußere eines russischen Bauernhauses. So wächst die Straße um die Dimension der Landschaft. – Moskau sieht freilich überall nicht recht wie die Stadt selbst aus sondern eher wie ihr Weichbild. Der aufgeweichte Grund, die Bretterbuden, lange Transporte von Rohmaterialien, Vieh, das zum Schlächter getrieben wird, dürftige Schenken trifft man in den zentralsten Teilen der Stadt an. Das wurde mir sehr deutlich als ich an diesem Tage die Sucharewskaja entlang ging. Ich wollte den berühmten Sucharewspark sehen. Der ist mit seinen mehr als hundert Buden wie der Nachfahre einer großen Messe. Vom Viertel der Alteisenhändler geriet ich hinein. Es liegt als nächstes an der Kirche (Nikolasjewsk-Kathedrale) deren blaue Kuppeln sich über den Markt heben. Die Leute haben hier ihre Ware einfach im Schnee liegen. Man findet alte Schlösser, Meterstäbe, Handwerkszeug, Küchengerät, elektrotechnisches Material u.a.m. An Ort und Stelle führt man auch Reparaturen aus; ich sah über einer Stichflamme löten. Sitze gibt es hier nirgends, alles steht aufrecht, schwatzt oder handelt. Der Markt zieht sich bis zur Sucharewskaja hinunter. Beim Schreiten über die vielen Plätze, Alleen aus Buden, wurde mir klar, wie diese Anordnung von Markt und Messe, die hier herrschte, auch große Teile der Moskauer Straße bestimmte. Es gibt Uhrmachergegend und Konfektionsviertel, Zentren für den elektrotechnischen Bedarf und den Maschinenhandel und dann wieder Straßenzüge, in denen nicht ein Laden sich findet. Hier auf dem Markt läßt die architektonische Funktion der Waren sich erkennen: Tücher und Stoffe bilden Pilaster und Säulen, Schuhe, Walinki, die an Schnüren gereiht überm Verkaufstische hängen werden zu Dächern der Bude, große Garmoschkas bilden tönende Mauern, Memnonsgemäuer gewissermaßen. Hier fand ich, in der Gegend der Spielzeugbuden, endlich auch meinen Samowar als Weihnachtsbaumschmuck. Zum ersten Male sah ich in Moskau Stände mit Heiligenbildern. Die meisten sind nach alter Weise mit Silberblech überzogen, in das die Falten des Madonnenmantels gestanzt sind. Nur Kopf und Hände allein sind farbige Flächen. Es gibt auch kleine Glaskästen, in denen das Haupt des heiligen Joseph(?) mit leuchtenden Papierblumen garniert zu sehen ist. Dann diese Blumen, große Sträuße, in Freiheit. Sie leuchten mehr als bunte Decken oder rohes Fleisch über den Schnee. Weil aber dieser ganze Verkaufszweig zum Papier- und Bilderhandel gehört, kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so daß sie überall von Leninbildern flankiert werden, wie ein Verhafteter von Gendarmen. Weihnachtsrosen auch hier. Sie allein haben keinen bestimmten Platz und tauchen bald zwischen Lebensmitteln, bald zwischen Webwaren oder Geschirrbuden auf. Aber sie überstrahlen alles, rohes Fleisch, bunte Decken und glänzende Schüsseln. Gegen die Sucharewskaja verengt der Markt sich zu einem schmalen Gang zwischen Mauern. Da stehen Kinder; sie verkaufen hauswirtschaftlichen Bedarf, kleine Bestecke, Tücher u. dgl., zwei sah ich an der Mauer stehen und singen. Hier traf ich auch zum ersten Male seit Neapel auf einen Zauberverkäufer. Er hatte eine kleine Flasche vor sich in der ein großer Affe aus Stoff saß. Man begriff nicht, wie er hineingefunden hatte. In Wirklichkeit hatte man nur ein kleines Stofftier, wie dieser Mann es zum Verkaufe anbot, in die Flasche zu setzen. Das Wasser ließ es aufschwellen. Ein Neapolitaner verkaufte Blumensträuße von der gleichen Art. Ich spazierte noch ein wenig über die Sadowaja und fuhr dann gegen halb eins zu Basseches. Er erzählt viel, manches Instruktives, dabei aber dauernde Wiederholungen und Mitteilungen ohne Interesse, aus denen nur sein Wunsch nach Anerkennung spricht. Aber er ist gefällig und mir durch Informationen, Verleihung von deutschen Zeitschriften und Nachweis einer Sekretärin nützlich. – Nachmittags ging ich nicht sogleich zu Asja: Reich wollte sie allein sprechen und bat mich um halb sechs zu kommen. Ich kann zu Asja in der letzten Zeit fast nichts mehr reden. Erstens war ihre Gesundheit von neuem sehr angegriffen. Sie hat Temperaturen. Aber das würde sie zu einem ruhigen Gespräche vielleicht nur geneigter machen, wäre nicht, neben der weit diskreteren von Reich die lähmende Gegenwart ihrer Zimmergenossin, die laut und leidenschaftlich spricht, jedem Gespräche die Richtung gibt und zudem soviel Deutsch versteht, daß sie, was etwa mir von Energie noch übrig bleibt, still legt. In einer der seltenen Minuten als wir allein waren, fragte mich Asja, ob ich nochmals nach Rußland kommen würde. Ich sagte, nicht ohne etwas Russisch. Und auch dann hinge es von manchem anderem noch ab, vom Geld, von meinem Ergehen, von ihren Briefen. Die hingen wieder, sagte sie ausweichend – aber ich weiß ja, daß sie fast immer ausweicht, von ihrer Gesundheit ab. Ich ging und brachte auf ihre Bitte noch Mandarinen und Halwa, die ich unten im Sanatorium der Schwester ablieferte. Für den Abend wollte Reich mein Zimmer, um dort mit seiner Übersetzerin zu arbeiten. Allein zu »Dentsch y Notsch« bei Tairoff zu gehen, vermochte ich mich nicht entschließen. Ich sah mir den »sechsten Teil der Erde« an (in dem Kinotheater am Arbat.) Aber mir entging vieles.

6 Januar. Zu Doras Geburtstag hatte ich am Nachmittag des Vortags ein Telegramm abgesandt. Dann war ich noch die ganze Mjassitzkaja bis an das rote Tor hinauf gegangen und hatte danach eine der breiten Seitenstraßen eingeschlagen, die von dort ausgehen. Auf diesem Gang entdeckte ich, schon in der Finsternis, die Moskauer Hoflandschaft. Ich war nun einen Monat in Moskau. Dieser Tag verlief so farblos, daß fast nichts einzutragen. Morgens beim Kaffeetrinken in der sympathischen kleinen Konditorei, an die ich mich wahrscheinlich noch oft erinnern werde, setzte mir Reich den Inhalt des Kinoprogramms auseinander, das ich am Vorabend erstanden hatte. Dann ging ich zum Diktieren zu Basseches. Er hatte eine hübsche sympathische Daktylographin zu meiner Verfügung, die hervorragend arbeitet. Aber sie kostet drei Rubel die Stunde. Ob ich das werde durchführen können, weiß ich noch nicht. Nach dem Diktat begleitete er mich ins Dom Gerzena. Wir aßen zu dreien. Sofort nach dem Essen ging Reich zu Asja. Ich mußte noch etwas bei Basseches zurückbleiben, und mir gelang auch, für den nächsten Abend mir ein Rendezvous zum »Storm« mit ihm zu geben. Endlich begleitete er mich noch bis zum Sanatorium. Oben war es trostlos. Alles stürzte sich auf die deutschen Zeitschriften, die ich unvorsichtigerweise mit herauf genommen hatte. Zuguterletzt erklärte Asja, zur Schneiderin gehen zu wollen und Reich, daß er sie dorthin begleiten werde. Ich sagte Asja durch die Tür »Auf Wiedersehen« und trollte mich nach Hause. Meine Hoffnung, sie am Abend noch bei mir eintreten zu sehen, ging nicht in Erfüllung.

7 Januar. In Rußland hat der Staatskapitalismus viele Züge der Inflation konserviert. Vor allem Rechtsunsicherheit im Innern. Der Nep ist auf der einen Seite konzessioniert, auf der andern doch nur im Staatsinteresse zugelassen. Einem Umschwung in der Finanzpolitik, ja auch nur einer vorübergehenden offiziellen Demonstration, kann jeder Nep-Mann fristlos zum Opfer fallen. Dennoch sammeln sich in manchen Händen – vom russischen Standpunkt gesehen: ungeheure – Vermögen. Ich hörte von Leuten, die mehr als 300 000 Rubeln Steuern zahlen. Solche Bürger stellen das Gegenstück zum heroischen Kriegskommunismus, den heroischen Nepp. Sie kommen in den meisten Fällen ganz unabhängig von den eigenen Dispositionen in diese Bahn. Denn eben das Charakteristische der Neppzeit ist Beschränkung der staatlichen Voranlagen für Innenhandel auf die strikten Bedarfsgegenstände. Das schafft für die Operationen des Nepp-Manns eine sehr günstige Konjunktur. Zum Gesicht der Inflation gehören auch die Bezugsscheine, mit denen allein viele Warengattungen in den Staatsgeschäften beziehbar sind, daher das Anstellen. Die Währung ist fest, aber in der Gestalt dieser Scheine, der Preistafeln in vielen Auslagen, nimmt das Papier im Wirtschaftsleben immer noch großen Raum ein. Selbst die Achtlosigkeit in der Kleidung ist Westeuropa nur im Zeichen der Inflation bekannt geworden. Freilich beginnt die Konvention des lässigen Anzugs erschüttert zu werden. Aus einer Uniform der herrschenden Klasse droht er zum Zeichen des im Existenzkampf Schwächeren zu werden. In den Theatern wagen sich schüchtern wie Noahs Taube nach dem wochenlangen Regen die ersten Toiletten heraus. Aber noch immer gibt es viel Uniformes, Proletarisches im Auftreten: die westeuropäische Form der Kopfbedeckung, der weiche oder steife Hut, sind scheinbar gänzlich verschwunden. Es herrscht die russische Pelzkappe oder die Sportmütze, die auch sehr viel von Mädchen in kleidsamen, aber provozierenden Varianten (mit weit vorstoßenden Schirmen) getragen wird. Im allgemeinen nimmt man sie in öffentlichen Lokalen nicht ab, auch sonst ist der Gruß lockerer geworden. In der übrigen Kleidung herrscht bereits orientalische Vielfältigkeit. Pelzjoppen, Samtjacketts und Lederjacken, städtische Eleganz und dörfliche Tracht gehen bei Männern und Frauen durch einander. Hier und da, wie in andern Großstädten auch – trifft man (bei Frauen) noch bäurische Nationaltracht an. – Vormittags blieb ich an diesem Tage lange zu Hause. Sodann zu Kogan, dem Vorsitzenden der Akademie. Ich war von seiner Belanglosigkeit nicht betroffen; man hatte mich allerseits darauf vorbereitet. Im Büro der Kamenewa nahm ich Theaterkarten. Während der nicht enden wollenden Wartezeit durchblätterte ich ein Werk über das russische Revolutionsplakat, mit vielen vorzüglichen, teilweise farbigen Abbildungen. Mir fiel dabei auf, daß – so wirksam viele dieser Plakate sind – unter ihnen nichts ist, was nicht sehr zwanglos aus den Stilelementen eines, zum Teil noch nicht einmal sehr vorgeschobenen, bürgerlichen Kunstgewerbes sich erklären ließe. Im Dom Gerzina traf ich Reich nicht an. Bei Asja war ich anfangs allein, sie war sehr matt, tat vielleicht auch nur so, so daß wir nicht ins Gespräch kamen. Dann erschien Reich. Ich ging, um mit Basseches den Theaterbesuch am Abend zu vereinbaren und da ich ihn telefonisch nicht zu erreichen vermochte, mußte ich hingehen. Den ganzen Nachmittag Kopfschmerzen. Später gingen wir dann mit seiner Freundin, einer Operettensängerin, zu »Storm«. Die Freundin schien sehr schüchtern, außerdem nicht auf dem Posten und fuhr gleich nach dem Theater nach Hause. »Storm« stellt Vorgänge aus dem Kriegskommunismus dar, die um eine Typhusepedemie auf dem Lande gruppiert sind. Basseches übersetzte hingebend und es wurde besser als sonst gespielt, so daß ich viel von dem Abend hatte. Dem Stück fehlt, wie den russischen (nach Reich) immer, eine Handlung. Es schien mir nur das informatorische Interesse einer guten Chronik zu haben und dieses Interesse ist kein dramatisches. Gegen 12 Uhr aß ich mit Basseches im »Krujock« auf der Twerskaja. Da aber erster Weihnachtsfeiertag (nach alter Rechnung) war, ging es im Klub nicht allzu lebhaft zu. Das Essen war vorzüglich; der Wodka mit einer Kräuteressenz versetzt, die ihn gelb färbte und leichter trinkbar machte. Plan einer Berichterstattung über französische Kunst und Kultur für russische Blätter besprochen.

8 Januar. Vormittags Geld gewechselt und danach diktiert. Ein Referat über die Diskussion bei Meyerhold ist vielleicht einigermaßen geglückt, dagegen kam ich mit einem Moskauer Bericht fürs »Tagebuch« nicht weiter. In der Frühe gab es eine Auseinandersetzung mit Reich, weil ich mit Basseches (etwas gedankenloser Weise) in das Dom Gerzena gekommen war. Neue Belehrung, wie groß die Vorsicht ist, die man hier anwenden muß. Sie ist eines der sinnfälligsten Symptome für die durchdringende Politisierung des Lebens. Ich war sehr froh, in der Gesandtschaft, beim Diktieren, Basseches nicht zu sehen, der noch im Bett war. Um nicht ins Dom Gerzena zu müssen, kaufte ich mir Caviar und Schinken ein und aß zu Hause. Als ich gegen halb fünf zu Asja kam war Reich noch nicht da. Er blieb noch über eine Stunde aus und sagte mir später, daß er, auf dem Wege zu Asja, von neuem einen Herzanfall gehabt habe. Asja ging es schlechter und sie war so mit sich selber beschäftigt, daß Reichs Verspätung ihr nicht sehr auffiel. Sie hat wieder Temperaturen. Fast ununterbrochen war die nachgerade unausstehliche Genossin im Zimmer und erhielt später selbst noch Besuch. Ihr Verhalten ist übrigens ständig freundlich – wäre nicht ihre Anwesenheit um Asja. Ich las Asja den Entwurf für das »Tagebuch« vor und sie machte dazu einige sehr zutreffende Bemerkungen. Es klang sogar zuletzt aus dem Gespräche eine gewisse Freundlichkeit heraus. Dann spielten wir, im Zimmer, Domino. Reich kam. Darauf zu vieren. Abends hatte Reich Sitzung. Gegen sieben trank ich in unserer gewohnten Conditorei mit ihm Kaffee, dann ging ich nach Hause. Mir wird immer mehr klar, daß ich für die nächste Zeit ein festes Gerüst meiner Arbeit brauche. Als solches kommt natürlich Übersetzen nicht in Frage. Vorbedingung für dessen Konstruktion ist wiederum Stellungnahme. Was mich vom Eintritt in die K.P.D. zurückhält sind ausschließlich äußerliche Bedenken. Es wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, den zu verpassen vielleicht gefährlich ist. Denn gerade weil möglicherweise die Zugehörigkeit zur Partei für mich nur eine Episode ist, ist es nicht geraten sie zu verschieben. Sind und bleiben die äußerlichen Bedenken, unter deren Druck ich mich frage, ob nicht eine linke Außenseiterstellung durch intensive Arbeit sachlich und ökonomisch so zu lasieren wäre, daß sie mir weiter die Möglichkeit umfassender Produktion in meinem bisherigen Arbeitskreis sichert. Aber ob diese Produktion ohne Bruch in ein neues Stadium überzuführen ist, das ist eben die Frage. Und selbst dann müßte das »Gerüst« noch durch äußere Umstände, etwa einer Redakteursstelle, gestützt sein. Jedenfalls scheint die kommende Epoche für mich von den vorhergehenden sich darin zu unterscheiden, daß die Bestimmung durch Erotisches nachläßt. Daran, mir das bewußt zu machen, hat die Beobachtung von Reichs und Asjas Verhältnis einen gewissen Anteil. Ich bemerke, daß Reich allen Schwankungen Asjas gegenüber fest und von Verhaltungsweisen, die mich krank machen würden, wenig beeinflußt ist oder scheint. Und selbst das letzte ist schon sehr viel. Dies liegt an dem »Gerüst«, das er für seine Arbeit hier gefunden hat. Zu den realen Beziehungen, in die sie ihn versetzt, kommt freilich hinzu, daß er hier Angehöriger der herrschenden Klasse ist. Diese Neuformung einer ganzen Herrschaftsgewalt macht ja das Leben hier so außerordentlich inhaltsreich. Es ist so in sich abgeschlossen und ereignisreich, arm und im gleichen Atem voller Perspektiven, wie das Goldgräberleben in Klondyke. Es wird von früh bis spät nach Macht gegraben. Die ganze Kombinatorik der westeuropäischen Existenz einer Intelligenz ist überaus ärmlich im Vergleich mit den zahllosen Konstellationen, die hier im Laufe eines Monats an den Einzelnen herantreten. Freilich kann ein gewisser Rauschzustand die Folge sein, so daß ein Leben ohne Sitzungen und Kommissionen, Debatten, Resolutionen und Abstimmungen (und das alles sind Kriege oder zumindest Manöver des Machtwillens) sich gar nicht mehr denken läßt. Aber es ist x mit der dies das Schrifttum, das so ganz unbedingt auf Stellungnahme dringt, das die Frage stellt, ob man im feindlichen und exponierten, unwirtlichen und zugigen Zuschauerräume aushalten oder so oder so seine Rolle auf der dröhnenden Bühne hinnehmen will.

9. Januar. Weitere Erwägung: in die Partei gehen? Entscheidende Vorzüge: feste Position, ein, wenn auch nur virtuelles Mandat. Organisierter, garantierter Kontakt mit Menschen. Dagegen steht: Kommunist in einem Staate zu sein, wo das Proletariat herrscht, bedeutet die völlige Preisgabe der privaten Unabhängigkeit. Man tritt die Aufgabe, das eigene Leben zu organisieren sozusagen an die Partei ab. Wo aber das Proletariat unterdrückt wird, heißt es, zur unterdrückten Klasse sich schlagen mit allen Konsequenzen, die das früher oder später haben kann. Das Verführerische der Schrittmacher-Position – wenn man in ihr keine Kollegen hätte, deren Wirken bei jeder Gelegenheit einem selber das Zweifelhafte dieser Stellung demonstriert. In der Partei: der gewaltige Vorzug, die eigenen Gedanken gleichsam in ein vorgegebnes Kraftfeld proj zieren können. Über das Außenstehen aber und seine Zulässigkeit entscheidet schließlich die Frage, ob man sich außerhalb mit nachweisbarem eigenem und sachlichem Nutzen postieren könne, ohne zum Bürgertum überzugehen, bezw. die Arbeit zu schädigen. Ob eine konkrete Rechenschaft für meine fernere Arbeit, besonders die wissenschaftliche, mit ihren formalen und metaphysischen Grundlagen sich geben läßt. Was »Revolutionäres« in ihrer Form sei und ob es in ihr sei. Ob mein illegales Incognito unter den bürgerlichen Autoren einen Sinn hat. Und ob es entscheidend förderlich für meine Arbeit, gewissen Extremen des »Materialismus« aus dem Wege zu gehen, oder ob ich die Auseinandersetzung mit ihnen in der Partei suchen muß. Der Kampf geht hier um all die Vorbehalte, die in der spezialisierten Arbeit stecken, die ich bisher leistete. Und er muß mit dem Eintritt in die Partei – zumindest einem experimentellen – enden, wenn auf dieser schmalen Basis diese Arbeit nicht dem Rhythmus meiner Überzeugungen folgen und meine Existenz organisieren kann. Solange ich reise, ist der Eintritt in die Partei freilich kaum zu erwägen. – Es war Sonntag. Vormittags übersetzt. Mittags im kleinen Restaurant in der Bolschaja Dimitrowka. Nachmittags bei Asja, die sich sehr schlecht fühlte. Abends allein im Zimmer, übersetzt.

10 Januar. Es gab am Morgen eine höchst unangenehme Auseinandersetzung mit Reich. Er kam nämlich auf meine Anregung zurück, das Referat über die Diskussion bei Meyerhold ihm vorzulesen. Ich hatte jetzt schon nicht mehr das Bedürfnis dazu, tat es mit instinktivem Widerstreben aber doch. Nach den vorangegangenen Unterhaltungen über die Referate an die »Literarische Welt« konnte ja auch nichts Gutes dabei heraus kommen. Ich las also rasch. Aber ich war, auf meinem Stuhl, der mich ins Licht sehen ließ, derart unglücklich postiert, daß ich den Erfolg aus dem allein schon vorausgewußt hätte. Reich hörte in krampfhaft gelassener Haltung zu und es bedurfte als ich geendet hatte, nur weniger Worte. Der Ton in dem er sie sprach, entfachte augenblicklich den Streit, der um so auswegloser war, als das, was ihm eigentlich zu Grunde lag, nicht mehr berührt werden konnte. Mitten in dem Wortwechsel klopfte es – Asja kam. Sie ging bald wieder. Während ihrer Anwesenheit sprach ich wenig; ich übersetzte. In der schlechtesten Verfassung ging ich, um bei Basseches Briefe und einen Artikel zu diktieren, die Sekretärin ist mir ganz sympathisch, wenn auch ziemlich damenhaft. Als ich hörte, sie wolle wieder nach Berlin zurück, gab ich ihr meine Karte. Mir lag nicht daran, Mittags mit Reich zusammenzutreffen. Ich kaufte also einiges ein und aß auf dem Zimmer. Auf dem Wege zu Asja trank ich Kaffee und später als ich von ihr nach Hause ging, tat ich's noch einmal. Asja fühlte sich schlecht, wurde früh müde, so daß ich sie allein ließ, damit sie schlafen könne. Aber es gab ein paar Minuten, in denen wir allein im Zimmer waren (oder in denen sie so tat, als ob wir es wären). Da sagte sie, wenn ich nochmals nach Moskau käme und sie würde gesund sein, dann brauchte ich ja nicht so einsam herum zu gehen. Aber wenn sie hier nicht gesund würde, dann würde sie nach Berlin kommen, ich müßte ihr eine Ecke in meinem Zimmer geben mit einem Wandschirm, und sie würde sich bei deutschen Ärzten behandeln lassen. Am Abend war ich allein zu Hause. Reich kam spät und erzählte noch einiges. Soviel aber stand infolge des Zwischenfalls am Morgen mir fest, daß ich auf Reich nichts mehr von meiner Anwesenheit bauen wollte und wenn sie sich ohne ihn nicht nutzbringend organisieren ließe, Abfahrt das einzig Vernünftige sei.

11 Januar. Asja soll von neuem Einspritzungen bekommen. Sie wollte sich an diesem Tag in die Klinik begeben und am Vortag war abgemacht worden, sie werde mich abholen, damit ich sie im Schlitten hinbrächte. Aber sie kam erst gegen zwölf Uhr. Die Einspritzung hatte man ihr schon im Sanatorium gemacht. Sie war davon in etwas erregtem Zustand und als wir auf dem Korridor allein waren (ich hatte zu telefonieren und sie auch) umschlang sie meinen Arm in einer Anwandlung des alten Übermuts. Reich hatte im Zimmer Post gefaßt und machte nicht Miene zu gehen. Selbst also als nun Asja wieder einmal vormittags zu mir ins Zimmer kam, war es vollständig zwecklos. Es half nichts, daß ich mein Fortgehen um einige Minuten verzögerte. Sie erklärte nicht, mitgehen zu wollen. Ich ließ also Reich und sie allein, ging auf die Petrowka (konnte jedoch meinen Paß noch nicht erhalten) und dann ins Museum für Malkultur. Dieser kleine Vorfall bestimmte mich, endgültig die Abreise, zu der ohnehin die Zeit heranrückt, zu beschließen. Im Museum gab es recht wenig zu sehen. Später hörte ich, Larionoff, Gontscharowa seien berühmte Namen. Mit ihren Sachen ist nichts los. Sie scheinen ebenso wie die meisten andern Sachen, die in den drei Sälen hängen, vollständig beeinflußt von gleichzeitigen pariser und berliner Bildern und kopieren sie ohne Geschick. – Mittags hielt ich mich stundenlang im Kulturbüro auf, um für das Malaia Theater Karten für Basseches, seine Freundin und mich zu holen. Da es aber nicht gelang, gleichzeitig das Theater telefonisch zu avisieren, so wurde dann am Abend der Ausweis nicht anerkannt. Basseches war ohne die Freundin gekommen. Ich wäre gern mit ihm in ein Kino gegangen, aber er wollte essen und so begleitete ich ihn in das Savoy. Es ist viel bescheidener als die Bolschaia Moskowskaja. Übrigens war es mit ihm recht langweilig. Er ist nicht imstande, von anderen Angelegenheiten als seinen privatesten zu reden; tut er es doch, so mit dem sichtlichen Bewußtsein, wie informiert er sei und wie vorzüglich er andere zu informieren wisse. Er blätterte und las immerzu in der »Roten Fahne«. Ein Stück begleitete ich ihn nachher im Auto und fuhr direkt nach Hause, wo ich noch übersetzte. – Am Vormittag dieses Tages kaufte ich den ersten Lackkasten (auf der Petrowka) ein. Es kamen nun ein paar Tage, wo ich, wie das öfter mir geht, beim Gehen durch die Straßen nur auf eines achtete: nämlich in diesem Falle auf die Lackkästen. Eine kurze, leidenschaftliche Verliebtheit. Ich möchte drei kaufen – bin mir über die Verteilung der beiden, die ich inzwischen habe, noch nicht ganz einig. An diesem Tage kaufte ich das Kästchen mit den beiden Mädchen, welche am Samowar sitzen. Es ist sehr schön – nur tritt nirgends das reine Schwarz, das oft an diesen Arbeiten das schönste ist, (hervor).

12 Januar. An diesem Tage kaufte ich im Kustarny-Museum einen größeren Kasten, auf dessen Deckel vor dem schwarzen Grund, eine Zigarettenverkäuferin gemalt war. Neben ihr steht ein dünnes Bäumchen und daneben ein Junge. Es ist eine Winterszene, denn am Boden liegt Schnee. Zwar kann man an Schneeluft auch bei den beiden Mädchen denken, denn die Stube, in der sie sitzen, hat ein Fenster, in dem frostblaue Luft zu stehen scheint. Aber das ist nicht sicher. Dieser neue Kasten war viel teurer. Ich suchte ihn unter einer großen Auswahl heraus; es war viel unschönes dabei: sklavische Kopien alter Meister. Besonders teuer scheinen Kästen zu sein, die Gold in der Bemalung haben (und auch das geht wohl auf ältere Vorbilder zurück), mir aber gefallen die nicht. Das Sujet auf dem größeren Kästchen ist wohl ganz neu; wenigstens steht »Mosselprom« auf der Schürze der Händlerin. Ich weiß, daß ich schon einmal sehr lange in der Rue du faubourg Saint-Honoré im Schaufenster eines vornehmen Geschäft es solche Kästen sah und lang davor stand. Damals wies ich aber die Versuchung, mir eines zu kaufen, mit dem Gedanken zurück, ich müsse es von Asja bekommen – oder vielleicht auch nur aus Moskau. Die Leidenschaft geht auf den starken Eindruck zurück, den in Blochs Wohnung, die er mit Else in Interlaken hatte, ein solcher Kasten immer ausgeübt hatte; ich kann von da aus ermessen, wie unvergeßlich solche Bilder auf dem schwarzlackierten Grunde sich Kindern einprägen müssen. Aber das Sujet auf Blochs Kasten habe ich vergessen. – Am gleichen Tage fand ich tolle Postkarten, wie ich sie lange gesucht hatte, alte Ladenhüter aus der zaristischen Zeit, hauptsächlich Bilder in farbiger Kartonpressung, dann Ansichten aus Sibirien (mit deren einer ich Ernst zu mystifizieren suche) u.s.w. Es war in einem Geschäft auf der Twerskaja, da der Besitzer deutsch konnte, fiel die Anstrengung fort, mit der ich sonst hier einkaufe und ich nahm mir Zeit. Übrigens war ich an diesem Tage früh auf und von Hause fortgegangen. Denn gegen 10 Uhr war Asja erschienen. Sie hatte Reich noch zu Bett gefunden. Eine halbe Stunde war sie geblieben und hatte uns Schauspieler karikiert und den Sänger nachgemacht, der das Cabaret-Lied von »San-Francisco« gedichtet hatte und von dem sie es, wahrscheinlich öfter, gehört hatte. Ich kannte das Lied schon aus Capri, dort sang sie es manchmal. Anfänglich hatte ich gehofft, sie am Vormittag begleiten und dann mit ihr noch in einem Café sitzen zu können. Aber es wurde zu spät. Ich ging mit ihr fort, setzte sie in die Bahn und ging dann allein. Dieser Morgenbesuch wirkte wohltätig auf den ganzen Tag. Zuerst freilich war ich in der Tretjakoff-Galerie etwas unzufrieden. Denn die beiden Säle, auf die ich mich am meisten gefreut hatte, waren geschlossen. Dagegen brachten die anderen Säle eine herrliche Überraschung: ich konnte durch dieses Museum gehen, wie sonst noch nie durch eine unbekannte Sammlung; ganz entspannt und einer Lust an kindischer Betrachtung dessen hingegeben, was die Bilder erzählten. Denn das Museum besteht zur Hälfte aus Bildern russischer Genremalerei; der Gründer hat gegen 1830 (?) mit Ankäufen begonnen, und fast nur Zeitgenössisches berücksichtigt. Später ist der Kreis seiner Sammlung bis gegen 1900 erweitert worden. Und da – von den Ikonen abgesehen – die frühesten Sachen aus der zweiten Hälfte des XVIII Jahrhunderts zu sein scheinen, so gibt dieses Museum im ganzen die Geschichte der russischen Malerei im XIX Jahrhundert. Das war eine Epoche, in der Genrebild und Landschaftsmalerei herrschten. Was ich sah, läßt mich annehmen, daß die Russen unter den europäischen Völkern die Genremalerei am intensivsten ausgebildet haben. Und diese Wände voll erzählender Bilder, Darstellungen von Szenen aus dem Leben der verschiedensten Stände, machen die Galerie zu einem großen Bilderbuch. Es waren denn auch hier noch viel mehr Besucher, als in allen andern Sammlungen, die ich sah. Man braucht nur zu sehen, wie sie sich durch die Räume bewegen, in Gruppen, manchmal um einen Führer, oder allein stehen, um die große Unbefangenheit zu erkennen in der nichts von der trostlosen Gedrücktheit der seltenen Proletarier zu merken ist, die man in westlichen Museen finden kann, um zu gewahren: einmal daß hier das Proletariat wirklich Besitz von den bürgerlichen Kulturgütern zu nehmen begonnen hat, zweitens, daß gerade diese Sammlung ihm höchst vertraut und ansprechend entgegenkommt. Er findet in ihr Sujets aus seiner Geschichte: »Arme Gouvernante trifft in dem Haus des reichen Kaufmanns ein« »Ein Konspirator von Gendarmen überrascht«, und daß dergleichen Szenen ganz im Geist der bürgerlichen Malerei gegeben sind, das schadet nicht nur nicht – es macht sie für ihn selber viel besser zugänglich. Kunsterziehung wird ja (wie Proust bisweilen sehr gut zu verstehen gibt) nicht gerade durch Betrachtung der »Meisterwerke« gefördert. Vielmehr das Kind oder der Proletarier, der sich eben bildet, erkennt, mit Recht, ganz anderes als Meisterwerke, denn der Sammler an. Solche Bilder haben für ihn eine sehr vorübergehende aber solide Bedeutung und der strengste Maßstab ist nur der aktuellen Kunst gegenüber im Recht, die sich auf ihn, seine Klasse und seine Arbeit bezieht. – In einem der ersten Säle stand ich lange vor zwei Bildern von Schtschedrin, dem Hafen von Sorrent und einem anderen Gemälde aus der Gegend; beide zeigten die unaussprechliche Silhouette von Capri, die mir immer mit Asja bunden sein wird. Ich wollte ihr eine Zeile schreiben, aber ich hatte den Bleistift vergessen. Und diese Versenkung in das Sujet gleich zu Anfang meines Gangs durch die Sammlung bestimmte auch den Geist meiner ferneren Betrachtung. Ich sah gute Portraits von Gogol, Dostojewski, Ostrowski, Tolstoi. In einem unteren Geschoß, zu dem Treppen hinunterführten, gab es viel von Wereschtschagin zu sehen. Aber ich hatte dafür kein Interesse. – Sehr froh gestimmt trat ich aus dem Museum. Im Grunde war ich in dieser Stimmung schon eingetreten und daran hatte am meisten die ziegelrot angestrichene Kirche schuld, die an der Haltestelle der Trambahn stand. Es war ein kalter Tag, nur vielleicht nicht so kalt wie damals als ich zum ersten Male hier nach dem Museum umhergeirrt war und, zwei Schritt nur von ihm entfernt, es doch nicht auffinden konnte. Endlich gab dann dieser Tag zuletzt noch eine gute Minute bei Asja. Reich war kurz vor sieben gegangen, sie hatte ihn hinunterbegleitet, war lange geblieben und als sie endlich wieder eintrat, war ich zwar noch allein aber es blieben uns nur wenige Minuten. Was dann vorfiel, weiß ich nicht mehr: plötzlich konnte ich Asja sehr freundlich ansehen und empfand, wie sie sich zu mir hingezogen fühlte. Einen Augenblick erzählte ich ihr von dem, was ich tagsüber getan hatte. Aber ich mußte fort. Ich gab ihr die Hand und sie hielt sie mit ihren beiden Händen. Sie hätte jetzt gern weiter mit mir gesprochen und wenn wir uns fest bei mir verabreden könnten wollte ich, sagte ich ihr, die Vorstellung bei Tairoff nicht sehen, zu der ich zu gehen vorgehabt hatte. Zuletzt aber war sie doch zweifelhaft, ob der Arzt sie auch fortgehen ließe. Wir besprachen, daß Asja mich an einem der folgenden Abende besuchen solle. – Bei Tairoff gab es »Tag und Nacht« nach einer Operette von Lecocq. Ich traf den Amerikaner, mit dem ich mich verabredet hatte. Aber von seiner Übersetzerin hatte ich wenig, sie wandte sich nur an ihn. Und da die Handlung einigermaßen kompliziert war, so mußte ich mich an die hübschen Ballettszenen halten.

13 Januar. Der Tag war bis auf den Abend verfehlt. Außerdem beginnt es jetzt, sehr kalt zu werden: Durchschnittstemperatur um 26° Reaumur. Ich fror entsetzlich. Selbst meine Handschuhe helfen mir nichts, denn sie haben Löcher. Zu Anfang des Vormittags ging es noch: ich fand das Reisebüro in der Petrowka, als ich dieHoffnung darauf schon aufgegeben hatte und ich erfuhr auch die Fahrpreise. Sodann wollte ich mit Autobus 9 zum Spielzeugmuseum fahren. Da aber beim Arbat der Wagen einen Defekt bekam, und ich (irrigerweise) glaubte, er werde dort lange stehen bleiben, so stieg ich aus. Gerade hatte ich im Vorüberfahren mit Sehnsucht den Arbatskaja-Markt betrachtet, auf dem ich zuerst die schönen Weihnachtsbuden Moskaus kennengelernt hatte. Diesmal war mir das Glück auf andere Weise hier günstig. Als ich am Vorabend nämlich müde und abgespannt in der Hoffnung, vor Reich in meinem Zimmer zu sein, nach Hause gekommen war, war doch Reich schon da. Ich war verstimmt, auch jetzt nicht allein zu sein (seit der Auseinandersetzung über meinen Meyerhold-Artikel reizte Reichs Anwesenheit mich oft) und machte mich sofort über die Lampe her, um sie auf einen Stuhl neben meinem Bett zu stellen, wie mir das öfter schon gelungen war. Die provisorische Verbindung mit der elektrischen Leitung löste sich wieder einmal; ungeduldig beugte ich mich über den Tisch, um in so unbequemer Lage zu versuchen, den Kontakt wiederherzustellen und nach längerem Basteln brachte ich Kurzschluß zustande. – An eine Reparatur war in diesem Hotel nicht zu denken. Bei dem Licht von der Decke her zu arbeiten, war unmöglich und damit die Frage der ersten Tage wieder aktuell. Als ich im Bett lag, fiel mir ein »Kerzen«. Aber auch das war sehr schwierig. Reich um Besorgungen zu bitten, wurde immer untunlicher; er hatte selbst eine Unzahl von Dingen zu erledigen und seine Laune war schlecht. Blieb, mit einer Vokabel bewaffnet, sich allein auf den Weg zu machen. Aber selbst diese Vokabel hätte ich erst von Asja mir holen müssen. Daher war es wirklich ein Glücksfall, daß ich hier, in der Auslage einer Bude, unverhofft Kerzen fand, auf die ich einfach zeigen konnte. Damit aber war die glückliche Seite des Tags schon erledigt. Ich fror sehr. Ich wollte die Graphik-Ausstellung im Dom Petschat ansehen: geschlossen. Ebenso das Museum für Ikonographie. Jetzt begriff ich: es war Sylvester nach dem alten Kalender. Schon als ich aus dem Schlitten stieg, den ich mir nach dem ikonographischen Museum genommen hatte, da es weit, in einer Gegend, die ich nicht kannte, lag und ich vor Kälte kaum mehr weiterkonnte, sah ich, daß es geschlossen war. In solchen Fällen, da man nur wegen sprachlicher Ohnmacht etwas Sinnloses tun muß, wird einem der ungeheure Kraft- und Zeitverlust, den dieser Zustand mit sich bringt, doppelt bewußt. Ich fand, in einer anderen Richtung die Trambahn näher als ich geglaubt hatte und fuhr nach Hause. – Im Dom Gerzena war ich früher als Reich. Als er dann kam, begrüßte er mich mit den Worten: »Sie haben Pech!« Er war nämlich in dem Büro der Enzyklopädie gewesen und hatte mein Expose über Goethe dort abgegeben. Zufällig war gerade Radek dazugekommen, hatte das Manuscript am Tische liegen sehen und es aufgegriffen. Mißtrauisch hatte er sich erkundigt, von wem es sei. »Da kommt ja auf jeder Seite zehnmal Klassenkampf vor.« Reich wies ihm nach, das sei nicht richtig und sagte, man könne übrigens Goethes Wirken, welches in eine Zeit von großen Klassenkämpfen falle, nicht entwickeln, ohne dies Wort zu gebrauchen. Radek: »Es kommt nur darauf an, daß es an der richtigen Stelle geschieht.« Die Aussichten für die Annahme dieses Exposés sind hiernach äußerst gering. Denn die armseligen Leiter dieses Unternehmens sind viel zu unsicher, um auch dem schlechtesten Witz irgendeiner Autorität gegenüber die Möglichkeit eigner Meinung sich zu behaupten. Reich war der Zwischenfall unangenehmer als mir. Mir wurde er es vielmehr erst am Nachmittag, als ich mit Asja darüber sprach. Sie begann nämlich gleich, etwas müsse an dem, was Radek sage, schon richtig sein, gewiß, ich werde etwas schon falsch gemacht haben, wisse nicht, wie man hier etwas angreifen müsse und dergleichen mehr. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu, aus ihren Worten spreche nur die Feigheit und ein Bedürfnis unbedingt, um jeden Preis, den Mantel nach dem Winde zu hängen. Ich ging als Reich gekommen war, bald aus dem Zimmer. Denn da ich wußte, er werde darüber berichten, wollte ich machen, daß ers nicht in meinem Beisein täte. Für diesen Abend erhoffte ich Asjas Besuch. So sagte ich denn in der Türe, trotz Gegenwart von Reich, noch ein Wort davon. Ich kaufte allerhand ein: Caviar, Kuchen, Süßigkeiten, auch für Daga, zu der Reich am folgenden Tage hinausfahren sollte. Dann setzte ich mich in mein Zimmer und aß Abendbrot und schrieb. Kurz nach acht hatte ich schon die Hoffnung auf das Kommen von Asja aufgegeben. Ich hatte sie aber lange nicht mehr so erwartet (auch, den Umständen nach, sie ja gar nicht erwarten können.) Und gerade hatte ich begonnen, diese Erwartung in einem schematischen Bild für sie aufzuzeichnen, da klopfte es. Sie war es, und ihre erste Mitteilung, man habe sie nicht herlassen wollen. Zuerst verstand ich das von meinem Hotel. Hier ist nämlich ein neuer Sowjetduschi eingezogen, der es streng nehmen soll. Aber es galt von Iwan Petrowitsch. So war auch dieser Abend, vielmehr diese knappe Stunde, von allen Seiten beschnitten und ich lag im Gefecht mit der Zeit. Im ersten Gang war ich allerdings siegreich. Schnell zeichnete ich das Schema, das mir im Kopf lag und als ich es ihr erklärte, drückte sie ihre Stirn fest gegen meine. Dann las ich das Expose vor; und auch das ging sehr gut, es gefiel ihr, sie fand es sogar außerordentlich klar und sachlich. Ich sprach mit ihr von dem, was eigentlich für mich das Interessante an dem Thema »Goethe« ausmacht: wie so ein Mann, der so durchaus in Kompromissen existiert habe wie Goethe, dennoch so Außerordentliches habe leisten können. Hier erwidere ich, daß bei einem proletarischen Dichter das entsprechende ganz undenkbar sei. Aber der Klassenkampf der Bourgeoisie sei grundverschieden von dem proletarischen gewesen. »Untreue« »Kompromiß« in diesen beiden Bewegungen könne man nicht schematisch einander gleichsetzen. Ich erwähnte auch Lukács' These, der historische Materialismus sei im Grunde nur auf die Geschichte der Arbeiterbewegung selber anwendbar. Asja wurde aber schnell müde. Da griff ich auf das »Moskauer Tagebuch« zurück und las ihr auf gut Glück vor, worauf mein Blick gerade fiel. Das ging aber weniger gut aus. Ich war gerade auf die Ausführungen über kommunistische Erziehung geraten. »Das ist ja alles Unsinn« sagte Asja. Sie war unzufrieden und sagte, daß ich Rußland garnicht kennte. Natürlich bestritt ich das nicht. Nun fing sie selbst zu sprechen an; was sie sagte, war wichtig, aber das Sprechen erregte sie sehr. Sie redete davon, wie sie anfangs selbst Rußland garnicht begriffen habe, in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft nach Europa habe zurückkehren wollen und gemeint habe, in Rußland sei alles aus, die Opposition habe ganz und gar recht. Allmählich sei ihr aufgegangen, was hier vor sich gehe: die Umstellung der revolutionären Arbeit in die technische. Jetzt werde jedem Kommunisten begreiflich gemacht, die revolutionäre Arbeit dieser Stunde sei nicht der Kampf, der Bürgerkrieg, sondern Elektrifizierung, Kanalbau, Fabrikeinrichtung. Und diesmal erwähnte nun ich selber Scheerbart, wegen dessen ich von ihr und von Reich hier bereits soviel auszustehen hatte: kein anderer Autor habe so den revolutionären Charakter der technischen Arbeit herauszustellen gewußt. (Es tut mir nur leid, daß ich diese gute Formel nicht in dem Interview zum Ausdruck brachte). Mit alledem hielt ich sie einige Minuten über ihre Zeit hinaus fest. Dann ging sie und, wie es manchmal geschieht, wenn sie sich mir nah fühlt, forderte sie mich nicht auf, sie zu begleiten. Ich blieb im Zimmer. Die ganze Zeit hatten die beiden Kerzen auf dem Tisch gestanden, die seit dem Kurzschluß abends immer bei mir brennen. Später, als ich schon zu Bett lag, kam Reich.

14 Januar. Dieser Tag und der folgende wurden unangenehm. Die Uhr steht auf »Abfahrt«. Es wird immer kälter (bleibt zum mindesten ständig über zwanzig Grad) und die Erledigung der noch verbleibenden Obliegenheiten wird schwieriger. Auch wurden die Vorzeichen von Reichs Krankheit, die inzwischen ausgebrochen ist (was ihm fehlt, weiß ich noch nicht) deutlicher, so daß er immer weniger für mich tun kann. An diesem Tage war er, gut verpackt, zu Daga hinausgefahren. Ich benutzte den Vormittag, um die drei Bahnhöfe, die am Kalantschewskaja-Platz liegen, mir anzusehen: den Kursker Bahnhof, den Oktoberbahnhof, von dem die Züge nach Leningrad abgehen und den Jaroslawski-Bahnhof, von diesem aus gehen die Züge nach Sibirien ab. Der Speisesaal des Bahnhofs ist dicht mit Palmen bestellt und von ihm aus geht der Blick auf einen blaugetünchten Warteraum. So kommt man sich wie in dem Antilopenhaus im Zoo vor. Ich trank dort Tee und dachte an die Abreise. Vor mir hatte ich einen schönen roten Beutel mit herrlichem Krimtabak, den ich in einer der Buden vor dem Bahnhof gekauft hatte. Später trieb ich neue Spielsachen auf. Am Ochotny Rjad stand ein Händler mit hölzernen Spielwaren. Mir fällt auf, daß gewisse Waren schubweise hier im Straßenhandel erscheinen. So sah ich hier zum ersten Male Holzäxte für Kinder mit Brandmalerei, von denen ich dann anderswo an einem der folgenden Tage einen ganzen Korb voll bemerkte. Ich kaufte das possierliche Holzmodell einer Nähmaschine, deren »Nadel« durch Drehen einer Kurbel in Bewegung gesetzt wird, und eine Schaukelpuppe aus Papiermache auf Musikkasten, ein schwaches Exemplar einer Spielzeuggattung, die ich in den Museen gefunden hatte. Danach konnte ich es vor Kälte nicht mehr aushalten und wankte in eine Kaffeestube. Das schien ein Lokal von besonderem Gepräge zu sein: in dem kleinen Raum standen einige Rohrmöbel; durch eine verschließbare Lücke der Wand schob man die Speisen aus der Küche herein und auf einem großen Ladentisch prangten Sakuskas: Aufschnitt, Gurken, Fische. Auch eine Auslage gab es, wie in den französischen und italienischen Restaurants. Ich wußte keine der Speisen zu bezeichnen, die mich gelockt hätten und wärmte mich bei einer Tasse Kaffee. Dann ging ich hinaus und sah mich in den oberen Handelsreihen nach der Auslage des Geschäfts um, in dem die Tonpuppen mir an einem der ersten Tage aufgefallen waren. Sie standen noch drin. Beim Passieren des Durchgangs, der von dem Revolutionsplatz auf den Roten Platz führt sah ich mich nach den Straßenhändlern genauer um, suchte mir Einiges zu merken, was mir bisher entgangen war: Verkauf von Damenwäsche (Miedern), von Krawatten, Shawls, von Kleiderbügeln. – Ich erreichte endlich, gänzlich erschöpft, gegen zwei Uhr, das Dom Gerzena, wo es aber Essen erst gegen halb drei gibt. Um das Paket mit Spielsachen loszuwerden fuhr ich nach dem Essen nach Hause. Gegen halb fünf war ich im Sanatorium. Als ich eben die innere Treppe heraufkam, begegnete mir Asja, fertig zum Ausgehen. Sie wollte zur Schneiderin. Ich sagte ihr unterwegs, was ich inzwischen von Reich (der gleich nach mir mein Zimmer betreten hatte) über Dagas Ergehen gehört hatte. Das lautete günstig. So gingen wir neben einander als plötzlich Asja die Frage stellte, ob ich ihr nicht Geld geben könne. Aber ich hatte erst am Vortage mit Reich besprochen, mir 150 M zur Rückreise von ihm zu borgen, sagte ihr also, ich hätte keines, ohne noch zu wissen, wozu sie es nötig hatte. Sie erwiderte, wenn man Geld von mir nötig habe, so könne man es nie haben, ging auf Vorwürfe über, sprach von dem Zimmer in Riga, das ich ihr hätte nehmen sollen u.s.w. Ich war an diesem Tage sehr erschöpft, zudem durch das Gespräch, das sie sehr ungeschickt begonnen hatte äußerst aufgebracht. Es ergab sich, daß sie Geld wollte, um eine Wohnung zu nehmen, von der sie gehört hatte, daß sie zu haben sei. Ich wollte schon einen andern Weg einschlagen, aber sie hielt mich, klammerte sich an mich, wie sie es kaum je getan hat, sprach aber dabei stets im gleichen Sinne weiter. Ich sagte schließlich, außer mir vor Zorn, sie habe mich belogen. Denn brieflich habe sie mir zugesagt, gleich mir das Geld für meine berliner Auslagen zu ersetzen, und bisher hätten weder sie noch Reich mit einem Sterbenswort davon gesprochen. Das machte sie sehr betroffen. Ich wurde heftiger, verfolgte meinen Angriff weiter und schließlich ging sie mitten darin fort, schneller die Straße entlang. Ich folgte ihr nicht, bog vielmehr senkrecht ab und ging nach Hause. – Für den Abend war ich mit Gnedin verabredet. Er sollte mich abholen und zu sich nach Hause nehmen. Zwar kam er, aber wir blieben auf meinem Zimmer. Er bat mich um Verzeihung, daß er mich nicht zu sich nahm: seine Frau stehe vor einem Examen, so daß sie keine Zeit habe. Unser Gespräch dauerte bis gegen elf, ungefähr drei Stunden. Ich begann mit der Erklärung meiner Betrübnis und Verstimmung, noch weniger von Rußland kennen gelernt zu haben, als ich erwartet hatte. Und wir einigten uns bald, daß nur, sehr viele Menschen zu sprechen, von den Verhältnissen ein Bild geben könne. Er war übrigens bemüht, mir vor meiner Abreise noch dies oder jenes zugänglich zu machen. So traf er für den übernächsten Mittag – einen Sonntag – mit mir für das Theater des Proletkult eine Verabredung. Aber als ich dann kam, fand ich ihn nicht da und ging wieder nach Hause. Auch versprach er mir, zu einer Klubvorstellung mich einzuladen, die aber noch nicht anberaumt war. Das geplante Programm bestand in einigen sozusagen experimentellen Vorführungen neuer Zeremonien für Namengebung, Eheschließung u.s.w. Hier will ich einfügen, daß ich vor einiger Zeit von Reich die Namen der Babys in der kommunistischen Hierarchie erfuhr. Sie heißen von der Zeit ab, wo sie schon auf das Leninbildnis zeigen können »Oktjabrs«. Noch eine seltsame Vokabel lernte ich am gleichen Abend kennen. Das ist der Ausdruck »gewesene Leute« für die von der Revolution depossedierten Bürgerkreise, die sich den neuen Verhältnissen nicht haben anpassen können. Weiter sprach Gnedin von dem unaufhörlichen Organisationswandel, der noch auf Jahre hinaus bestehen bleiben werde. Jede Woche treten organisatorische Veränderungen ein und man bemüht sich, die besten Methoden herauszufinden. Auch über das Eingehen des Privatlebens wurde gesprochen. Es bleibt eben keine Zeit. Gnedin erzählte, daß er in der Woche keinen Menschen bis auf die sieht, mit denen er in der Arbeit zu tun hat und seine Frau und sein Kind. Und Umgang, der für den Sonntag dann verbleibt, ist labil, denn wenn man nur drei Wochen außer Kontakt mit Bekannten gekommen ist, kann man schon ganz überzeugt sein, sehr lange nichts mehr von ihnen zu hören, weil inzwischen bei ihnen neue Bekanntschaften sich an die Stelle der alten gesetzt haben. Später begleitete ich Gnedin zur Bahn und wir sprachen auf der Straße noch von Zollangelegenheiten.

15 Januar. Vergeblicher Weg ins Spielzeugmuseum. Es war geschlossen, trotzdem, nach dem Führer, es Sonnabend geöffnet ist. Am Morgen kam endlich die »Literarische Welt« – durch Hessel-, auf die ich schon so ungeduldig gewartet hatte, daß ich jeden Tag telegrafisch in Berlin um ihre Zusendung bitten wollte. Asja verstand den »Wandkalender« nicht, Reich schien er nicht sonderlich zu gefallen. Vormittags irrte ich wieder herum, suchte zum zweiten Male vergeblich in die graphische Ausstellung einzudringen und schlug mich endlich, wiederum halb erfroren, in die Schtschukin-Galerie durch. Der Gründer war ebenso wie sein Bruder, Textilindustrieller und vielfacher Millionär. Beide waren Mäzene. Von einem stammt der Bau des Historischen Museums (sowie ein Teil von dessen Sammlungen) von dem anderen diese großartige Galerie neuer französischer Kunst. Wenn man durchfroren die Treppe hinaufsteigt, erblickt man oben, im Stiegenhaus die berühmten Wandbilder von Matisse, nackte Gestalten in rhythmischer Anordnung auf einem Hintergrund von gesättigtem rot, so warm und strahlend, wie man ihn bei russischen Ikonen findet. Matisse, Gauguin und Picasso waren die großen Passionen dieses Sammlers. Von Gauguin sind in einem Saal 29 Gemälde an die Wände gepfercht. (Ich machte übrigens von neuem die Erfahrung – soweit das flüchtige Durchstreifen dieser großen Sammlung diese Bezeichnung gestattet – daß Gauguins Bilder mich feindlich anmuten, und daß alles Gehässige aus ihnen mir entgegenschlägt, was der Nichtjude gegen Juden fühlen kann.) – Picassos Werden kann man wahrscheinlich nirgends entfernt so von den frühen Bildern des Zwanzigjährigen bis 1914 verfolgen, wie hier. Er muß oft monatelang, z. B. während der »gelben Periode« nur für Schtschukin gemalt haben. Seine Bilder füllen drei aneinanderstoßende Kabinette. Im ersten die Frühzeit, und unter diesen frühen Bildern zumal zwei, die mir auffielen: ein pierrotartig gekleideter Mann, der mit der rechten Hand etwas wie einen Becher umspannt und ein Bild »Absinthtrinkerin«. Dann die kubistische Periode um 1911 als Montparnasse im Werden war und endlich die gelbe Periode, u. a. mit der Amitié und Studien dazu. Unweit davon hat Derain ein ganzes Zimmer. Neben sehr schönen Bildern seiner gewohnten Art sah ich ein ganz und gar befremdliches »le samedi«. Das große düstere Bild zeigt um einen Tisch Frauen in flämischer Tracht bei häuslicher Beschäftigung versammelt. Figuren und Ausdruck erinnern aufs stärkste an Memling. Bis auf das kleine Zimmer mit den Rousseaubildern sind die Säle sehr hell. Fenster mit großen ungeteilten Scheiben gehen auf die Straße und auf den Hof des Hauses hinaus. Hier gewann ich zum ersten Male eine flüchtige Vorstellung von Malern wie Van Dongen oder Le Fauconnier. Auf einem Bildchen von Marie Laurencin – ein Frauenkopf mit der zugehörigen, ins Bild hineinragenden Frauenhand, aus der sich eine Blume entwickelt, erinnerte mich in der physiologischen Bildung an Münchhausen und machte mir seine verflossene Liebe zu Marie Laurencin evident. – Mittags erfuhr ich von Niemen, mein Interview sei erschienen. So ging ich mit der »Wetschernie Moskwa« und der »Literarischen Welt« versehen zu Asja. Aber der Nachmittag fiel dennoch nicht gut aus. Reich kam erst sehr viel später. Asja übersetzte für mich das Interview. Ich hatte inzwischen eingesehen – nicht zwar daß es »gefährlich« erscheinen könne, wie Reich es vermutet hatte, wohl aber – daß es in seinem Abschluß weniger durch die Erwähnung von Scheerbart als durch die unsichere und unpräzise Art dieser Erwähnung schwach sei. Leider kam diese Schwäche denn auch zum Vorschein, während der Anfang, die Konfrontation mit der italienischen Kunst, gut herauskam. Ich denke, es bleibt im ganzen doch nützlich, daß es erschienen ist. Vom Anfang war Asja gefesselt, aber das Ende war ihr mit Recht ärgerlich. Das beste ist, daß es sehr groß aufgemacht wurde. Ich hatte, des Streites am Vortage wegen, unterwegs Kuchen für Asja gekauft. Sie nahm sie. Später erklärte sie, gestern, nachdem wir uns getrennt hätten, habe sie nichts mehr von mir wissen wollen, gemeint wir würden uns nicht mehr (oder lange nicht mehr) sehen. Aber am Abend war sie, zu ihrer eigenen Verwunderung, anders gestimmt, und hat gefunden, daß sie überhaupt nicht lange auf mich böse sein kann. Wenn etwas vorgefallen sei, dann ende es immer so, daß sie zuletzt nicht frage, ob nicht sie mich beleidigt habe. Leider, wie, weiß ich nicht mehr kam es dann später, dieser Worte ungeachtet, doch zum Streit.

15. Januar (Fortsetzung). Kurz: nachdem ich Asja die Zeitung und die Zeitschrift gezeigt hatte, fiel das Gespräch wohl wieder auf das Mißlungene an meinem Hiersein zurück und als dann gar nochmals auf meine berliner Besorgungen die Rede kam und Asja eines daran ausstellte, verlor ich die Selbstbeherrschung und rannte wie verzweifelt zum Zimmer hinaus. Noch im Gang aber besann ich mich – besser gesagt, fühlte ich, nicht die Kraft zum Weggehn zu haben und kam wieder zurück mit den Worten: »Ich möchte hier noch ein wenig ganz ruhig sitzen.« Dann fanden wir uns sogar langsam ins Gespräch zurück und als Reich kam, waren wir zwar beide erschöpft aber ruhig. Hiernach nahm ich mir vor, es unter keinen Umständen mehr zu solchem Streit kommen zu lassen. Reich sagte, er fühle sich nicht wohl. In der Tat hatte der Krampf im Kinnbacken angehalten oder war schlimmer geworden. Er konnte nicht mehr kauen. Das Zahnfleisch war geschwollen und bald bildete sich ein Geschwür. Trotzdem, so sagte er, müsse er diesen Abend in den deutschen Klub gehen. Er war nämlich zum Mittler zwischen der deutschen Gruppe des Mapp und den moskauer Kulturdelegierten der Wolga-Deutschen gemacht worden. Als wir dann allein im Vestibül waren, sagte er mir, er habe auch Fieber. Ich fühle es an seiner Stirn und erklärte, keinesfalls könne er in den Klub gehen. Er schickte also mich hin, um für ihn abzusagen. Das Haus lag nicht weit ab, aber ich hatte es mit so schneidendem Winde zu tun, daß es mir kaum gelang, vorwärts zu kommen. Und endlich fand ich das Haus nicht. Erschöpft kam ich zurück und blieb zu Hause.

16 Januar. Meine Abreise hatte ich auf Freitag, den 21 ten festgesetzt. Die Nähe des Termines machte meine Tage sehr anstrengend. Es waren viele Dinge kurz nach einander zu erledigen. Für den Sonntag hatte ich mir zweierlei vorgenommen. Nämlich nicht nur gegen 1 Uhr im Proletkulttheater Gnedin zu treffen, sondern vorher in das Museum für Malerei und Ikonographie (Astrauchoff) zu gehen. Das erste Vorhaben gelang schließlich, das zweite nicht. Wieder war es sehr kalt, die Scheiben der Trambahn durch eine dicke Eisschicht ganz undurchsichtig. Ich fuhr zunächst weit über die Haltestelle hinaus, an der ich aussteigen mußte. Dann wieder zurück. Im Museum traf es sich glücklich, daß ein Kustode, der anwesend war, Deutsch sprach und mit mir die Sammlung durchging. Dem unteren Stockwerk, in dem russische Bilder vom Ende des vorigen und vom Anfang dieses Jahrhunderts hängen, widmete ich nur zum Schluß ein paar Minuten. Ich tat gut, gleich anfangs in die Ikonensammlung hinaufzugehen. Sie ist im ersten Stock des niedrigen Hauses in schönen hellen Räumen untergebracht. Der Besitzer der Sammlung lebt noch. Die Revolution hat nichts an seinem Museum geändert, ihn zwar enteignet, als Direktor der Sammlung aber belassen. Dieser Astrauchoff ist Maler und hat vor vierzig Jahren die ersten Ankäufe gemacht. Er war vielfacher Millionär, reiste überall herum und wollte endlich auch zum Sammeln früher russischer Holzplastik übergehen, als der Krieg ausbrach. Das älteste Stück seiner Sammlung, ein byzantinisches Heiligenportrait, mit Wachsfarben auf eine Holztafel gemalt, geht ins sechste Jahrhundert zurück. Der größte Teil der Bilder stammt aus dem fünfzehnten und sechzehnten. Ich lernte unter Anweisung meines Führers die Hauptunterschiede der Stroganoffschen und der Novgoroder Schule kennen und bekam manche ikonographische Erklärung. Zum ersten Male bemerkte ich die Allegorie des besiegten Todes am Fuße des Kreuzes, die auf den hiesigen Ikonen so häufig ist. Auf schwarzem Grunde (wie gespiegelt in einer schlammigen Pfütze) ein Totenkopf. Andere ikonographisch sehr merkwürdige Darstellungen sah ich einige Tage darauf in der Ikonensammlung des historischen Museums. So ein Stilleben der Marterwerkzeuge, auf dem Altar, um den sie gruppiert sind, spaziert der heilige Geist als Taube auf einem in herrlichem Rosa gemalten Tuche. Dann zwei schreckliche Fratzen mit der Gloriole zu Christi Seiten: offenbar die Schacher, die so als eingegangen in das Paradies bezeichnet werden. Eine andere Darstellung – Mahlzeit dreier Engel, die öfter auftritt und im Vordergrunde immer die Schlachtung eines Lamms verkleinert und gleichsam emblematisch enthüllt, war mir unklar. Ganz unzugänglich sind mir natürlich im Stofflichen die gemalten Legenden. Als ich dann aus dem ziemlich kühlen Geschoß wieder herunterkam, war im Kamin inzwischen ein Feuer gemacht worden und das wenige Personal saß ringsherum und vertrieb sich den Sonntagvormittag. Gern wäre ich geblieben, mußte aber hinaus in die Kälte. Die letzte Wegstrecke vom Telegraphenamt – dort war ich ausgestiegen – bis zum Theater des Proletkult war fürchterlich. Dann stand ich eine Stunde lang im Vorraum postiert. Mein Warten war aber ganz umsonst. Einige Tage später hörte ich dann, in genau demselben Räume sei auch Gnedin gewesen und habe auf mich gewartet. Es ist fast unerklärlich, wie das zugegangen sein kann. Daß ich, erschöpft wie ich war und bei meinem schlechten Gedächtnis für Physiognomien ihn, in Mantel und Mütze, nicht wiedererkannte, ist denkbar, aber daß es ihm ebenso gegangen sei, klingt unglaublich. Nun fuhr ich zurück, wollte ursprünglich in unserem Sonntagskeller essen, fuhr aber über die rechte Station hinaus und fühlte mich endlich so matt, daß ich lieber als ein Stück zu Fuß zu gehen ganz auf das Mittagessen verzichten wollte. Dann aber nahm ich am Triumfalnaja-Platz meinen Mut zusammen und öffnete die Tür einer Stalowaja, die ich nicht kannte. Es sah sehr wirtlich aus und das Essen, das ich mir geben ließ, war nicht schlecht; der Borschtsch freilich nicht zu vergleichen mit dem, den wir sonst sonntäglich gewohnt waren. So hatte ich Zeit gewonnen, mich lange auszuruhen, bevor ich bei Asja erschien. Als sie mir dann beim Eintritt ins Zimmer gleich sagte, Reich sei krank, kam das mir nicht überraschend. Er hatte schon am Vorabend sich nicht mehr zu mir begeben sondern in das Zimmer von Asjas Genossin im Sanatorium. Nun lag er fest und bald ging Asja mit Manja zu ihm. Ich trennte mich von ihnen vor der Tür des Sanatoriums. Da fragte Asja, was ich am Abend vorhabe. »Nichts, sagte ich, ich bleibe zu Hause.« Sie erwiderte nichts. Ich ging zu Basseches. Er war nicht da; es lag ein Zettel da, in dem er mich bat zu warten. Mir war es so eben recht; ich saß im Sessel mit dem Rücken dem nahen Ofen zugewandt, ließ mir Tee geben und sah deutsche Zeitschriften durch. Es dauerte eine Stunde bis er kam. Dann aber bat er mich, über den Abend zu bleiben. Ich kombinierte, sehr unruhig. Einerseits wollte ich gern wissen, wie dieser Abend, zu dem ein weiterer Gast erwartet wurde, sich entwickeln werde. Auch war Basseches dabei, mir ein paar nützliche Informationen über den russischen Film zu geben. Endlich erwartete ich auch ein Abendbrot. (Diese Erwartung wurde später betrogen.) Asja telefonisch zu bestellen, daß ich bei Basseches bliebe, war unmöglich; es meldete sich niemand im Sanatorium. Endlich wurde ein Bote dorthin abggefertigt: Ich hatte Angst, er möchte zu spät kommen, ohne daß ich freilich gewußt hätte, ob schließlich Asja würde zu mir kommen wollen. Am nächsten Tage sagte sie mir, das habe sie vorgehabt. Aber auf alle Fälle bekam sie den Brief zur Zeit. Er lautete: »Liebe Asja ich bin abends bei Basseches. Morgen komme ich um 4 Uhr. Walter«. »Abends« und »bei« hatte ich erst in einem Worte geschrieben, dann einen schrägen trennenden Strich dazwischen gezogen. Und so kam es, daß Asja im ersten Augenblick »Ich bin abends frei« las. – Es erschien später ein Dr. Kroneker, der in einer großen russischoesterreichischen Gesellschaft als österreichischer Angestellter hier arbeitet. Von Basseches hörte ich, er sei Sozialdemokrat. Er machte aber einen klugen Eindruck, ist sehr weit gereist, und sprach sachlich. Die Unterhaltung kam auf den Gaskrieg. Ich sprach darüber und es machte auf beide Eindruck.

17 Januar. An meinem Besuche bei Basseches an dem Vortage war das Wichtigste, daß mir gelang, ihn zu veranlassen, mir bei den Abreiseformalitäten behilflich zu sein. Also hatte er mich gebeten, am Montag (den 16 ten) früh ihn abzuholen. Ich kam und er lag noch im Bett. Es war sehr schwer, ihn herauszuholen. Und es war viertel eins als wir schließlich auf dem Triumfalnaja-Platz standen; schon um elf war ich bei ihm erschienen. Vorher hatte ich in der gewohnten kleinen Konditorei Kaffee getrunken und einen Kuchen gegessen. Das war gut, denn durch die Menge der Besorgungen kam ich an diesem Tage um das Mittagessen. Zuerst gingen wir auf eine Bank in der Petrowka, weil Basseches Geld abheben mußte. Ich selber wechselte und behielt nur noch 50 Mark zurück. Danach zog Basseches mich mit sich in ein kleines Kabinett, um einem Bankdirektor, den er kannte, mich vorzustellen. Es war ein Dr. Schick, Direktor der Außenabteilung. Dieser Mann hatte sehr lange in Deutschland gelebt, dort studiert, stammt zweifellos aus sehr reichem Hause und hat neben der Ausbildung im Fach immer künstlerische Interessen gepflegt. Er hatte mein Interview in der »Wetschernie Moskva« gelesen. Zufällig kannte er von seiner deutschen Studienzeit her Scheerbart persönlich. Der Kontakt war also sofort hergestellt und die kurze Besprechung endete mit einer Einladung zum Essen für den 20 ten. Danach in der Petrowka, ich erhielt meinen Paß. Sodann, im Schlitten, zum Narkomproß, wo ich zum Grenzübertritt meine Papiere mir versiegeln ließ. Endlich glückte an diesem Tage mein wichtiger Anschlag: ich konnte Basseches veranlassen, sich nochmals in einen Schlitten zu setzen und mit mir in das staatliche Warenhaus »Gum« in den oberen Handelsreihen zu fahren, wo die begehrten Puppen und Reiter waren. Wir kauften mit einander alles was noch davon vorhanden war und die zehn besten Stücke suchte ich mir heraus. Jedes kostete nur 10 Kopeken. Meine scharfe Beobachtung hatte mich nicht betrogen: im Laden sagte man uns, diese Waren, die in Wjatka gemacht werden, kommen nicht mehr nach Moskau herein: sie haben hier keinen Markt mehr. Was wir aufkauften waren also die letzten Stücke. Dazu kaufte Basseches noch Bauernstoff. Er ging mit seinen Paketen zum Essen ins Savoy, während ich nur eben Zeit hatte, zu Hause alles abzustellen. Dann war es vier Uhr und ich mußte zu Asja. Man blieb nicht lange auf ihrem Zimmer, sondern ging zu Reich. Manja war schon dort. Aber es waren doch wieder ein paar Minuten, die wir auf diese Weise allein für uns hatten. Ich bat Asja, am Abend zu mir zu kommen – bis halb elf sei ich frei – und sie versprach, nach Möglichkeit es zu tun. Reich ging es viel besser. An das, was bei ihm gesprochen wurde, erinnere ich mich nicht mehr. Gegen sieben gingen wir fort. Nach dem Abendessen wartete ich auf Asja vergeblich und gegen viertel elf fuhr ich zu Basseches. Aber auch dort war niemand. Es hieß, er sei den ganzen Tag nicht zurückgekommen. Die Zeitschriften dort kannte ich oder sie widerten mich an. Ich war gerade im Begriff, nach halbstündigem Warten die Treppe herunterzugehen, als mir seine Freundin begegnete und – warum weiß ich nicht genau: vielleicht weil sie im Klub nicht allein mit ihm sein wollte – mich dringend aufforderte, noch zu warten. Ich tat es. Basseches kam dann auch; er hatte der Rede beiwohnen müssen, die Rykow auf dem Kongresse der Aviachim gehalten hatte. Ich ließ ihn meinen Fragebogen zum Gesuch um das Ausreisevisum ausfüllen und damit gingen wir. Schon in der Elektrischen wurde ich einem Dramatiker, Komödienschreiber, vorgestellt, der auch in den Klub ging. Kaum hatten wir im überfüllten Raum einen Tisch gefunden und uns zu dreien daran plaziert, als, zum Zeichen, es beginne das Konzert, das Licht ausging. Man mußte aufstehen. Ich nahm mit Basseches im Vorzimmer Platz. Nach einigen Minuten erschien – im Smoking, eben von einem Diner kommend, das eine große englische Gesellschaft in der Bolschaia Moskowskaja gegeben hatte – der deutsche Generalkonsul. Er war gekommen, um sich mit zwei Damen, welche er dort getroffen hatte, Rendezvous zu geben, hielt sich aber, da sie nicht kamen, an uns. Eine Dame – angeblich eine ehemalige Prinzessin – sang mit sehr schöner Stimme Volkslieder. Ich stand bald im dunklen Speisesaal, vor dem Durchgang zum erhellten Musiksaal, bald saß ich im Vorzimmer. Einiges sprach ich mit dem Generalkonsul, der sich durchaus zuvorkommend benahm. Aber sein Gesicht war roh, von Intelligenz nur sehr oberflächlich angeschliffen und er paßte durchaus zu dem Bild, das ich seit meiner Seereise und den Zwillingsgestalten Frank und Zorn mir vom deutschen Auslandsvertreter mache. Beim Essen waren wir nun vier, denn auch der Botschaftssekretär nahm mit uns am Tische Platz und hier konnte ich ihn sehr bequem beobachten. Das Essen war gut, es gab wieder den gewürzten Wodka, Vorspeisen, zwei Gänge und Eis. Das Publikum war das Schlechteste. Wenig Künstler – von welcher Art immer – desto mehr Nep-Bourgeoisie. Es ist auffallend, wie diese neue Bourgeoisie durchaus verfehmt sogar bei den Vertretern der ausländischen ist – nach den Worten des Generalkonsuls über sie zu schließen, die mir in diesem Fall ehrlich gemeint zu sein scheinen. Die ganze povere Natur dieser Klasse zeigte sich bei dem nachfolgenden Tanz, der einem unappetitlichen kleinstädtischen Schwof glich. Getanzt wurde sehr schlecht. Leider dehnte sich durch die Tanzlust der Freundin von Basseches das Vergnügen bis vier aus. Mich hatte der Wodka tod)müde gemacht, der Kaffee nicht ermuntert und dazu hatte ich Leibschmerzen. Ich war froh, als ich endlich im Schlitten saß und ins Hotel fuhr; gegen halb fünf kam ich zu Bett.

18 Januar. Am Vormittag besuchte ich in Manjas Zimmer Reich. Ich hatte ihm einiges zu bringen. Daneben aber kam ich in der Absicht, durch Freundlichkeit die Reibungen der letzten Tage vor seiner Erkrankung beizulegen. Indem ich aufmerksam dem Exposé, das er für ein Buch über Politik und Theater, das er in einem russischen Verlag erscheinen lassen will, folgte, gewann ich ihn. Wir besprachen daneben den Plan eines Buches über Theaterbauten, wie er mit Poelzig es hätte schreiben können und wie es jetzt, nach den mehrfachen theaterwissenschaftlichen Untersuchungen über Szenenbild und Kostüm bestimmt auf großes Interesse stoßen würde. Bevor ich ging, holte ich ihm von der Straße noch Zigaretten herauf und nahm einen Auftrag für das Dom Gerzena entgegen. Dann ging ich ins Historische Museum. Hier blieb ich länger als eine Stunde in der außerordentlich reichen Ikonensammlung, wo ich in großer Menge auch spätere Werke des XVII und XVIII Jahrhunderts fand. Wie lange aber das Christuskind braucht, um die Bewegungsfreiheit auf dem Arm der Mutter zu gewinnen, die es in jenen Epochen ausübt. Und ebenso dauert es Jahrhundertelang, bis sich die Hand des Kindes und die Hand der Gottesmutter finden: die Maler von Byzanz stellen sie nur einander gegenüber. Flüchtig durchschritt ich nachher die archäologische Abteilung und verweilte nur noch vor einigen Tafeln vom Athos. Beim Verlassen des Museums kam ich dem Geheimnis der erstaunlichen Wirkung der Blagoweschtschenski-Kathedrale ein wenig näher, die mein erster großer einzeln zu bezeichnender Eindruck in Moskau gewesen war. Es ist an dem, daß der rote Platz wenn man vom Revolutionsplatz her ihn betritt, ein wenig ansteigt und die Kuppeln der Kathedrale allmählich so wie hinter einem Berg auftauchen. Es war an diesem Tage sonnig und schön und ich erblickte sie wieder mit großer Freude. Im Dom Gerzena bekam ich kein Geld für Reich. Als ich um viertel fünf vor Asjas Zimmertüre stand, war drinnen alles dunkel. Zweimal klopfte ich leise und da mir drinnen niemand Antwort gab, ging ich ins Spielzimmer, um zu warten. Ich las die Nouvelles Littéraires. Als aber auch eine Viertelstunde später keine Antwort kam, öffnete ich und fand niemanden vor. Verstimmt – daß As ja schon so früh, ohne auf mich zu warten, fortgegangen war, ging ich zu Reich, um dennoch den Versuch zu machen, für den Abend mich mit ihr zu verabreden. Mit ihr ins Malaia Theater zu gehen, wie ich es vorgehabt hatte, hatte Reich mir unmöglich gemacht, indem er sich, am Morgen, dagegen geäußert hatte. (Als ich dann später wirklich die Billetts für diesen Abend erhielt, konnte ich keinen Gebrauch davon machen.) Oben legte ich meine Sachen gar nicht ab und blieb sehr schweigsam. Manja erklärte wieder irgend etwas, höchst eifrig und mit schrecklich lauter Stimme. Sie zeigte Reich einen statistischen Atlas. Plötzlich wandte sich Asja an mich und sagte mir unvermittelt, am letzten Abend sei sie nicht gekommen, sie hätte große Kopfschmerzen gehabt. Ich lag im Paletot auf dem Sofa und rauchte die kleine Pfeife, die ich in Moskau ganz ausschließlich benutzte. Schließlich gelang mir, bei Asja irgendwie anzubringen, sie solle nach dem Abendbrot zu mir kommen, wir würden fortgehen oder ich würde ihr die lesbische Szene vorlesen. Und darauf nahm ich mir vor nur noch wenige Minuten zu bleiben, damit es nicht den Anschein hätte, ich sei nur gekommen, um das zu sagen. Also stand ich bald auf, sagte, ich wolle gehen. »Wohin?« »Nach Hause.« »Ich dachte, Du kommst noch mit in das Sanatorium.« »Bleibt Ihr nicht bis sieben hier?« fragte ich etwas scheinheilig. Ich hatte ja am Vormittag gehört, daß bald Reichs Sekretärin kommen solle. Schließlich blieb ich wohl, ging aber nicht mit Asja ins Sanatorium. Ich hielt ihr Kommen abends für wahrscheinlicher, wenn ich ihr jetzt die Zeit gab, sich auszuruhen. Indessen kaufte ich Caviar, Mandarinen, Konfekt, Kuchen für sie ein. Auch hatte ich zwei Tonpuppen auf dem Fensterbrett, wo ich die Spielsachen verstaue, stehen, von denen sie eine sich aussuchen sollte. Und wirklich kam sie – erst mit der Erklärung: »Ich kann nur fünf Minuten bleiben und muß gleich wieder zurück sein.« Aber diesmal war es nur Scherz. Gewiß hatte ich gefühlt, daß sie in den letzten Tagen – unmittelbar nach den heftigen Streitigkeiten – sich stärker zu mir hingezogen gefühlt hatte. Aber ich wußte nicht, in welchem Grad. Ich war guter Laune als sie kam, denn ich hatte eben viel Post mit einigen angenehmen Nachrichten von Wiegand, Müller-Lehning, Else Heinle erhalten. Die Briefe lagen noch auf dem Bette, wo ich sie gelesen hatte. Dann schrieb mir Dora, es gehe Geld ab und so beschloß ich, meinen Aufenthalt noch etwas zu verlängern. Das sagte ich ihr, und darauf fiel sie mir um den Hals. Ich war durch eine wochenlange sehr schwierige Konstellation der Dinge von der Erwartung solcher Geste so meilenweit entfernt, daß es Zeit brauchte, bis sie mich glücklich machte. Ich war wie ein Gefäß mit engem Halse, in das man Flüssigkeit aus einem Eimer schüttet. So hatte ich mich willentlich allmählich verengt, daß ich für volle starke Eindrücke von außen kaum mehr zugänglich war. Aber das wich dann im Laufe des Abends von mir. Erst bat ich Asja noch unter den herkömmlichen Beteuerungen um einen Kuß. Dann aber war es auf einmal, als kehre man eine elektrische Schaltung um, und nun forderte sie, während ich sprach oder vorlesen wollte, immer von neuem, daß ich sie küsse. Wir holten Zärtlichkeiten, die beinah vergessen waren, herauf. Unterdessen gab ich ihr, was ich zu essen gebracht hatte und die Puppen; sie wählte eine und jetzt steht sie gegenüber von ihrem Bett im Sanatorium. Auch kam ich noch einmal auf den Aufenthalt in Moskau zu sprechen. Und da sie am Vortage, als wir zu Reich auf dem Wege waren, wirklich mir die entscheidenden Worte gesagt hatte, so brauchte ich sie nur zu wiederholen: »In meinem Leben ist Moskau nun einmal so angelegt, daß ich es nur durch Dich erfahren kann – das ist wahr, ganz abgesehen von Liebesgeschichten, Sentimentalität etc.« Dann aber, und auch das hatte sie mir zuerst ausgesprochen, sind ja sechs Wochen nur eben die Zeit, in einer Stadt sich ein wenig heimisch zu machen, zumal wenn man die Sprache nicht kennt und Widerstand durch diese auf Schritt und Tritt erfährt. Asja ließ mich die Briefe wegräumen und legte sich aufs Bett. Wir küßten uns viel. Aber die tiefste Erregung ging mir von der Berührung ihrer Hände aus, von denen sie mir ja auch früher schon sagte, wie alle, die an sie gebunden seien, die stärksten Kräfte von ihnen ausstrahlen fühlten. Ich legte die rechte Innenhand ganz dicht an ihre linke und so blieben wir lange. Asja erinnerte an den schönen ganz winzigen Brief, den ich ihr einmal nachts in der via Depretis in Neapel gegeben hatte, als wir vor einem kleinen Café auf der fast menschenleeren Straße am Tische saßen. Ich will in Berlin nachsehen, daß ich ihn finde. Dann las ich die lesbische Szene aus Proust vor. Asja begriff den wilden Nihilismus darin: wie Proust gewissermaßen in das wohlgeordnete Kabinett im Inneren des Spießers dringt, das die Aufschrift »Sadismus« trägt und erbarmungslos alles zu Stücken haut, so daß von der blitzblanken, arrangierten Konzeption der Lasterhaftigkeit nichts bleibt, vielmehr an allen Bruchstellen das Böse überdeutlich »Menschlichkeit«, ja »Güte«, seine wahre Substanz zeigt. Und während ich das Asja auseinandersetzte, wurde mir klar, wie sehr das mit der Tendenz meines Barockbuches übereingeht. Ganz wie mir am Abend vorher, als ich einsam im Zimmer las und auf die außerordentliche Darlegung über die Caritas des Grotto geriet, mir klar wurde, daß Proust an ihr eine Auffassung entwickelt, die sich mit allem dem deckt, was unter dem Begriff der Allegorie ich selbst zu erfassen suchte.

19 Januar. Zu diesem Tag ist fast nichts zu bemerken. Da die Abreise hinausgerückt war, erholte ich mich etwas von den Besorgungen und den Besichtigungen der letzten Tage. Reich hatte zum ersten Mal wieder bei mir geschlafen. Morgens kam Asja. Sie mußte aber bald weiter, zu einer Besprechung die auf ihre Anstellung sich bezog. In der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit gab es ein Gespräch über den Gaskrieg. Erst widersprach sie mir dabei heftig; aber Reich griff ein. Am Ende sagte sie, ich solle das schreiben, was ich gesagt habe und ich nahm mir vor, einen Artikel über die Frage für die »Weltbühne« zu verfassen. Kurze Zeit nach Asja ging auch ich. Ich traf Gnedin an. Unser Gespräch war flüchtig; wir stellten das Mißgeschick vom Sonntag mit einander fest, er lud mich für den nächsten Sonntag abend zu Wachtangoff ein und gab mir dann noch einige Weisungen für die Gepäckverzollung. Auf dem Hin- und Rückweg zu Gnedin passierte ich das Tscheka-Gebäude. Davor geht immerzu ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonette auf und ab. Sodann zur Post; ich telegrafierte um Geld. Mittag aß ich in unserm sonntäglichen Keller, fuhr dann nach Hause und ruhte mich aus. Im Vestibül des Sanatoriums begegnete mir von der einen Seite Asja und gleich darauf, von der anderen, Reich. Asja mußte baden. Ich spielte solange mit Reich auf ihrem Zimmer Domino. Dann kam Asja und erzählte von den Aussichten, die ihr der Vormittag eröffnet hatte, der Möglichkeit, die Stelle einer Hilfsregisseurin in einem Theater auf der Twerskaja zu bekommen, in welchem zweimal in der Woche für proletarische Kinder gespielt wird. Abends war Reich bei Illesch. Ich ging nicht mit. Gegen elf erschien er auf meinem Zimmer; nun war aber nicht mehr Zeit, wie wir es geplant hatten, in ein Kino zu gehen. Kurzes, ziemlich ergebnisloses Gespräch über die Leiche im vorshakespeareschen Theater.

20 Januar. Vormittags schrieb ich längere Zeit auf meinem Zimmer. Da Reich um ein Uhr auf der Enzyklopädie zu tun hatte, so wollte auch ich bei dieser Gelegenheit hingehen, weniger um mein Goethe-Exposé durchzudrücken (darauf machte ich mir durchaus keine Hoffnung) als um einem Vorschlag Reichs nachzukommen und in seinen Augen nicht indolent zu erscheinen. Auch hätte er andernfalls bei der Ablehnung des Goethe-Exposés mangelndem Eifer bei mir die Schuld geben können. Ich konnte mir schwer das Lachen verbeißen, als ich dann endlich dem betreffenden Professor gegenübersaß. Kaum hatte er meinen Namen erfahren, so sprang er auf, holte mein Expose heran sowie zu seiner Unterstützung einen Sekretär. Der begann, mir Artikel über Barock anzubieten. Ich machte die Übertragung des Schlagwortes »Goethe« zu der Bedingung jeder anderen Mitarbeit. Dann zählte ich meine erschienenen Schriften auf, stellte, wie Reich mich angewiesen hatte, mein Vermögen ins Licht und als ich gerade dabei war, trat Reich ein. Er nahm aber entfernt von mir Platz und sprach mit einem anderen Beamten. Mir sagte man Bescheid in wenigen Tagen zu. Im Vorzimmer hatte ich dann noch lange auf Reich zu warten. Wir gingen endlich; er erzählte mir, daß man erwäge, Walzel den Artikel »Goethe« anzutragen. Wir gingen zu Pansky. Es ist unglaubhaft – aber dennoch möglich – daß er, wie Reich mir später sagte, siebenundzwanzig Jahre alt ist. Die Generation, die in der Revolutionszeit aktiv war, wird alt. Es ist als hätte die Stabilisierung der staatlichen Verhältnisse in ihr eigenes Leben eine Ruhe, ja Gleichgültigkeit einziehen lassen, wie man gewöhnlich sie erst im Alter gewinnt. Übrigens ist Pansky durchaus nicht liebenswürdig und die Moskauer sollen es überhaupt nicht sein. Für den kommenden Montag stellte er mir die Vorführung einiger Filme in Aussicht, die ich vor Abfassung eines Artikels gegen Schmitz, um den die »Literarische Welt« mich gebeten hatte, sehen wollte. Wir gingen essen. Nach dem Essen ging ich nach Hause, weil Reich zunächst allein mit Asja sprechen wollte. Später kam ich noch auf eine Stunde herauf und ging dann zu Basseches. Der Abend bei dem Bankdirektor Maximilian Schick brachte die eine große Enttäuschung, daß es kein Abendbrot gab. Ich hatte mittags fast nichts gegessen und war ausgehungert. So fraß ich denn ganz unverschämt von dem Gebäck, als endlich der Tee serviert wurde. Schick ist aus sehr reicher Familie, hat in München, Berlin und Paris studiert und bei der russischen Garde gedient. Jetzt bewohnt er mit Frau und einem Kind ein Zimmer, aus welchem freilich durch Portieren und Verschläge drei gemacht sind. Er ist wahrscheinlich ein recht gutes Muster von dem, was man hier einen »gewesenen Menschen« nennt. Er ist das nicht nur in soziologischer Beziehung (in der ist er es nicht einmal durchaus, denn er hat eine sicherlich nicht unansehnliche Stellung). »Gewesen« ist seine produktive Periode. Er schrieb Gedichte etwa in der Zukunft und Artikel in heute längst verschollenen Zeitschriften. Aber er hält an seinen alten Passionen fest und hat in seinem Arbeitszimmerchen eine nicht allzu große aber erlesene Bibliothek französischer und deutscher Werke aus dem XIX Jahrhundert stehen. Von manchen, sehr wertvollen dieser Bücher erzählte er Einkaufspreise, die beweisen, daß sie vom Händler für Makulatur gehalten wurden. Beim Tee versuchte ich, Informationen über die neue russische Literatur von ihm zu erhalten. Diese Mühe war ganz vergeblich. Er geht in seinem Verständnis kaum über Brjussoff hinaus. Dabei saß immer eine kleine ganz niedliche Frau, der man es ansieht, daß sie nicht arbeitet. Sie interessiert sich aber auch für Bücher nicht und es traf sich gut, daß Basseches sich etwas mit ihr beschäftigte. Für einige Gefälligkeiten, die er in Deutschland sich von mir erhofft, überhäufte er mich mit wertlosen, uninteressanten Kinderbüchern, die ich nicht alle ablehnen konnte. Nur eines nahm ich gern mit, das zwar auch kaum Wert besitzt, aber hübsch ist. Beim Fortgehen lockte mich Basseches mit dem Versprechen, mir ein Hurencafé zeigen zu wollen, glücklich noch bis in die Twerskaja. Ich sah zwar im Café nichts Bemerkenswertes, kam aber jedenfalls dazu noch etwas kalten Fisch und einen Krebs zu essen. In einem Galaschlitten fuhr er mich bis an die Kreuzung der Sadowaja und der Twerskaja zurück.

21 Januar. Das ist der Todestag Lenins. Alle Vergnügungslokale bleiben geschlossen. Der Feiertag für Läden und Büros ist aber, aus Rücksicht auf das »Regime Ökonomie« erst am folgenden Tag einem Sonnabend, der ohnehin nur halber Arbeitstag ist. Früh fuhr ich zu Schick auf die Bank und dort erfuhr ich, daß für Sonnabend der Besuch bei Muksin festgesetzt wurde, bei dem ich eine Kinderbüchersammlung ansehen sollte. Gewechselt und ins Spielzeugmuseum gefahren. Diesmal kam ich endlich einen Schritt weiter. Für Dienstag versprach man mir Auskunft über die Photographien, die ich anfertigen lassen wollte. Dann aber bekam ich Bilder zu sehen, zu denen Negative vorhanden sind. Da sie sehr viel weniger kosten, so bestellte ich ungefähr zwanzig davon. Auch diesmal studierte ich besonders die Tonwaren aus Wjatka. – Mich hatte am Vorabend, als ich gerade am Fortgehen war, Asja aufgefordert, um zwei Uhr Mittags mit ihr in das Kindertheater zu kommen, das in der Twerskaja, im Hause des Kino »Ars« spielt. Aber als ich hinkam, war das Theater verlassen; ich sah, daß man an diesem Tage schwerlich spielen werde. Endlich verwies mich auch mit der Bemerkung, daß das Theater geschlossen sei, der Aufseher aus einem Vestibül, in dem ich mich wärmen wollte. Nachdem ich draußen eine Weile gestanden hatte, kam Manja mit einem Zettel von Asja. Darauf stand, sie habe sich geirrt und die Aufführung sei Sonnabend, nicht Freitag. Hierauf kaufte ich mit Manjas Unterstützung Kerzen ein. Meine Augen waren schon ganz entzündet vom Kerzenlicht. Weil ich für die Arbeit Zeit sparen wollte, ging ich nicht in das Dom Gerzena (das übrigens an diesem Tage vermutlich geschlossen hatte) sondern in die Stolowaja in meiner Nähe. Das Essen war teuer aber nicht schlecht. Auf dem Zimmer aber schrieb ich nicht am Proust, wie ich mir das vorgesetzt hatte, sondern an einer Entgegnung auf den schlechten und frechen Nekrolog, den Franz Blei über Rilke verfaßt hatte. Später las ich ihn bei Asja vor und was Asja darüber sagte, veranlaßte mich, noch am gleichen Abend und am folgenden Tage ihn umzuarbeiten. Übrigens ging es ihr nicht gut. – Später aß ich mit Reich im gleichen Restaurant, in dem ich mittags gewesen war. Er ging zum ersten Male dort hinein. Dann kauften wir etwas ein. Am Abend war er bis gegen halb zwölf bei mir und wir gerieten in ein Gespräch, in dem wir einander ausführlich alles berichteten, was wir von unserer Knabenlektüre behalten hatten. Er saß im Sessel, ich lag auf dem Bett. Ich kam in diesem Gespräch der merkwürdigen Tatsache auf die Spur, daß ich als Junge schon mich in der Lektüre abseits von dem hielt, was allgemeiner Lesestoff war. Der »Neue deutsche Jugendfreund« von Hoffmann ist fast die einzige damals typische Jugendlektüre, die ich auch las. Daneben natürlich die ausgezeichneten Hoffmann-Bände, Lederstrumpf, Schwabs Sagen des klassischen Altertums. Aber weder habe ich von Karl May mehr als einen Band gelesen noch kenne ich den »Kampf um Rom«, noch die Seeromane von Wörishöffer. Auch von Gerstäcker las ich nur einen Band und der muß eine etwas schwüle Liebesgeschichte enthalten haben (oder las ich ihn nur, weil ich das von einem Buch des Verfassers gehört hatte?) nämlich, die Regulatoren von Arkansas. Auch entdeckte ich, daß meine ganze Kenntnis der klassischen dramatischen Literatur auf das Lesekränzchen zurückgeht.

22 Januar. Ich war noch nicht gewaschen, saß aber schreibend am Tisch als Reich kam. An diesem Morgen war ich zur Geselligkeit noch weniger als an anderen aufgelegt. Ich ließ mich auch in der Arbeit nur wenig stören. Als ich aber gegen halb zwei fortgehen wollte und Reich mich fragte »wohin« erfuhr ich, daß auch er in das Kindertheater ging, zu dem Asja mich eingeladen hatte. Mein ganzer Vorzug also war, schon einen Tag früher eine halbe Stunde vergeblich vor dem Portal gestanden zu haben. Nichtsdestoweniger ging ich voraus, um in dem gewohnten Café etwas Warmes zu trinken. Aber auch Cafés waren an diesem Tage geschlossen und dieses noch dazu in der »Remonte« begriffen. So ging ich also langsam die Twerskaja bis zum Theater entlang. Später kam Reich, dann auch Asja mit Manja. Da wir eine Gesellschaft zu vieren geworden waren, war mein Interesse an der Sache nur noch sehr gering. Bis zum Ende konnte ich sowieso nicht bleiben, weil ich um halb vier bei Schick sein mußte. Ich forcierte auch nicht, in der Bahn Platz neben Asja zu nehmen, sondern saß zwischen Reich und Manja. Asja hielt Reich an, mir zu übersetzen, was gesagt wurde. Das Stück schien von der Gründung einer Conservenfabrik zu handeln und einen stark chauvinistischen Einschlag gegen England zu haben. In der Pause ging ich. Nun bot mir Asja sogar, um mich zum Bleiben zu veranlassen, den Platz neben sich an, aber ich wollte nicht zu spätund vor allem nicht erschöpft bei Schick ankommen. Er selber war noch garnicht ganz fertig. Im Omnibus sprach er von seiner Pariser Zeit, wie Gide ihn einmal besucht hatte u.s.w. Der Besuch bei Mußkin war lohnend. Ich sah zwar nur ein wirklich bedeutendes Kinderbuch, einen Schweizer Kinderkalender auf 1837, ein schmales Bändchen mit drei sehr schönen kolorierten Tafeln, aber von russischen Kinderbüchern sah ich so viel, daß ich mir einen Begriff vom Stande der Illustration in ihnen machen konnte. Sie hängt im allerstärksten Maß von der deutschen ab. Zu vielen Büchern wurden die Illustrationen in lithographischen Anstalten Deutschlands hergestellt. Viele deutsche Bücher wurden kopiert. Die russischen Ausgaben des Struwwelpeter, die ich dort sah, sind sehr roh und unschön. Muskin legte Zettel in die einzelnen Bücher und vermerkte darauf die Angaben, die ich ihm machte. Er ist Leiter der Abteilung des Gosverlages, die sich mit Kinderbüchern beschäftigt. Einige Stücke seiner Produktion zeigte er mir, es waren Bücher dabei, zu denen er selber den Text gemacht hatte. Ich setzte ihm meinen großen Plan über das Dokumentarwerk »Die Phantasie« auseinander. Er schien nicht viel davon zu begreifen und überhaupt machte er einen mittelmäßigen Eindruck. Zu sehen, wie seine Bibliothek gehalten war, war ein Jammer. Er hatte keinen Platz, die Bücher aufzustellen, wie es nötig ist, und alles stand und lag auf Regalen im Korridor durcheinander. Der Teetisch war ziemlich reich bestellt und ohne daß man mich ermuntert hätte, aß ich sehr viel, da ich an diesem Tage weder Mittag- noch Abendessen hatte. Wir blieben gegen zweieinhalb Stunden. Zum Schluß gab er mir noch zwei Bücher des Verlages mit, die ich im Stillen Daga versprach. Abends zu Hause am Rilke und am Tagebuche gearbeitet. Aber-wie auch jetzt eben – mit so schlechtem Schreibmaterial, daß mir nichts einfällt.

23 Januar. (Ich habe lange nicht am Tagebuch geschrieben und muß zusammenfassend berichten.) An diesem Tage bereitete Asja alles zum Verlassen des Sanatoriums vor. Sie kam zur Rachlin; und damit endlich in ein angenehmes Milieu. Ich konnte in den folgenden Tagen ermessen, welche Möglichkeiten sich mir in Moskau geboten hätten, wenn ein solches Haus sich früher für mich geöffnet hätte. Jetzt war es zu spät, um irgendwelche dieser Möglichkeiten auszunutzen. Die Rachlin wohnt im Hause des Zentralarchivs, in einer großen sehr sauberen Stube. Sie lebt mit einem Studenten, der aber sehr arm sein und aus Stolz nicht bei ihr wohnen soll. Am zweiten Tage unserer Bekanntschaft, das war am Mittwoch, machte sie mir schon einen kaukasischen Dolch zum Geschenk, eine sehr schöne Silberarbeit, wenn auch nicht kostbar und für Kinder bestimmt. Asja behauptete, dieses Geschenk hätte ich ihr zuzurechnen. Für meine Begegnungen mit Asja waren die Tage ihres Aufenthalts bei der Rachlin übrigens kaum günstiger als die im Sanatorium. Denn es war da immer ein roter General, der erst zwei Monate verheiratet war, aber Asja auf alle erdenkliche Art den Hof machte und sie bat, mit ihm nach Wladiwostok zu fahren. Dorthin war er nämlich kommandiert. Seine Frau, so sagte er, wolle er hier in Moskau lassen. In diesen Tagen, genau gesagt am Montag, erhielt Asja einen Brief von Astachoff aus Tokio von Elvira aus Riga nachgesandt. Sie sagte mir am Donnerstag, als wir gemeinsam Reich verließen, ganz genau seinen Inhalt, sprach auch am Abend dieses Tages noch mit mir davon. Astachoff scheint sehr an sie zu denken und da sie einen Schal mit Kirschblüten von ihm wollte, so hat er sagte ich ihr – wahrscheinlich ein halbes Jahr lang in Tokio nichts in den Auslagen beachtet als Shawls mit Kirschblüten. Am Vormittag dieses Tages diktierte ich die Notiz gegen Blei und einige Briefe. Nachmittags war ich sehr gut gestimmt, sprach mit Asja, erinnere mich aber nur noch, daß Asja, als ich eben ihr Zimmer verlassen hatte, um mit ihrem Koffer zu mir nach Hause zu gehen, noch einmal aus der Tür trat und mir die Hand gab. Ich weiß nicht, was sie von mir erwartete, vielleicht garnichts. Ich begriff erst am nächsten Tage, daß Reich eine ganze Intrigue angezettelt hatte, um mich den Koffer tragen zu lassen, weil er sich unwohl fühlte. Am übernächsten Tage, nach der Übersiedlung von Asja, legte er sich in Manjas Zimmer zu Bett. Aber der grippeartige Zustand besserte sich schnell. Ich blieb in den Geschäften meiner Abreise also weiter ganz auf Basseches angewiesen. Eine Viertelstunde nach meinem Fortgang aus dem Sanatorium trafen wir uns an der Omnibushaltestelle. Ich war am Abend mit Gnedin im Theater Wachtangoff verabredet, mußte aber vorher mit Reich noch zu dessen Übersetzerin herangehen, um wenn möglich sie für den nächsten Vormittag zu gewinnen, wo ich im Goskino Filme zu sehen bekommen sollte. Das gelang auch. Darauf setzte mich Reich in einen Schlitten und ich fuhr zu Wachtangoff. Eine Viertelstunde nach Beginn der Vorstellung kamen Gnedin und seine Frau. Ich war gerade dabei, mich endgültig zum Aufbrechen zu entschließen und hatte mich in Erinnerung an den letzten Sonntag im Proletkulttheater schon gefragt, ob Gnedin verrückt sei. Nun gab es auch keine Karten mehr. Schließlich gelang es ihm doch, noch welche aufzutreiben; wir saßen aber nicht zusammen und es traten während der verschiedenen Akte alle möglichen Permutationen unter uns ein, denn zwei Sitze lagen beieinander, einer für sich. Gnedins Frau war breit, freundlich und still und hat trotz sehr ausgeglichener Züge einigen Charme. Beide begleiteten mich nach dem Theater noch zum Smolensk-Plotschad, wo ich die Bahn nahm.

24 Januar. Dieser Tag war überaus anstrengend und wenn ich auch zuletzt fast überall zu meinen Zwecken kam, verdrießlich. Es begann mit einem endlosen Antichambrieren im Goskino. Nach zwei Stunden begann die Vorführung. Ich sah »Matj«, »Potemkin« und einen Teil vom »Prozeß um drei Millionen«. Diese Sache kostete mich einen Tscherwonez, weil ich aus Rücksicht auf Reich der Frau, die er mir vermittelt hatte, etwas geben wollte, sie aber keine Summe nannte und ich sie schließlich fünf Stunden hatte beanspruchen müssen. Es war sehr anstrengend, so lange in dem kleinen Räume, in dem wir meist die einzigen Zuschauer waren ohne Musikbegleitung soviel Film vor sich abrollen zu sehen. Im Dom Gerzena traf ich Reich. Er ging nach dem Essen zu Asja, ich erwartete die beiden bei mir, um dann mit ihnen gemeinsam zur Rachlin zu fahren. Aber zunächst kam nur Reich. Da ging ich weg, um meinen Geldbrief von der Post, die in der Nähe lag, abzuholen. Das dauerte gegen eine Stunde. Die Szene wäre eine Beschreibung wert. Die Beamtin stellte sich mit diesem Briefe an, als ob ich ihr leibliches Kind ihr wegnehmen wolle und wäre nicht nach einiger Zeit eine Frau an den Schalter getreten, die ein wenig französisch sprechen konnte, so wäre ich unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Erschöpft kam ich im Hotel an. Nach einigen Minuten brachen wir mit Koffer, Mänteln und Decke beladen zur Rachlin auf. Asja war unterdessen direkt hingefahren. Dort fand sich also eine große Gesellschaft zusammen, außer dem roten General war eine Freundin der Rachlin da, die mir eine Bestellung an eine pariser Freundin, eine Malerin mitgeben wollte. Es blieb weiterhin anstrengend. Denn die Rachlin – ein nicht unsympathisches Wesen – redete sehr viel auf mich ein; indessen fühlte ich unbestimmt, wie sehr der General sich für Asja interessiere und war dauernd bestrebt auf das, was zwischen den beiden vorging, zu achten. Dazu kam dann noch Reichs Anwesenheit. Ich mußte die Hoffnung, ein Wort mit Asja allein reden zu können, aufgeben; die wenigen, die ich im Fortgehen wechselte, waren bedeutungslos. Darauf ging ich noch einen Augenblick zu Basseches heran, um Abreisetechnisches zu besprechen, und dann nach Hause. Reich schlief in Manjas Zimmer.

25 Januar. Die Wohnungsnot bringt hier einen sonderbaren Effekt hervor: geht man abends durch die Straßen so sieht man, anders als in anderen Städten, in großen und kleinen Häusern fast jedes Fenster erleuchtet. Wäre der Lichtschein, der aus diesen Fenstern dringt, nicht so ungleichmäßig, so könnte man an eine Illumination sich erinnert fühlen. Noch eines habe ich in den letzten Tagen bemerkt: es ist nicht nur der Schnee, der einem Sehnsucht nach Moskau würde machen können, sondern auch der Himmel. In keiner andern Großstadt hat man soviel Himmel über sich. Das machen die oft sehr niedrigen Häuser. Der weite Horizont der russischen Ebene ist in dieser Stadt immer zu fühlen. Neu und erfreulich war auf der Straße ein Knabe, der ein Brett mit ausgestopften Vögeln vor sich her trug. Also auch solche Vögel verkauft man hier auf der Straße. Noch viel merkwürdiger war mir, dieser Tage einem »roten« Leichenzug auf der Straße zu begegnen. Sarg, Wagen, Aufzäumung der Pferde waren rot. Ein anderesmal sah ich einen Wagon der Elektrischen, der mit politischen Propagandabildern bemalt war, leider fuhr er schnell vorbei, so daß ich Einzelheiten nicht erkennen konnte. Es bleibt immer erstaunlich, wieviel Exotisches aus der Stadt herausspringt. Mongolische Gesichter sehe ich jeden Tag soviel ich will in meinem Hotel. Aber neulich standen davor auf der Straße Figuren in roten und gelben Mänteln, buddhistische Priester, wie mir Basseches sagte, die augenblicklich in Moskau einen Kongreß abhalten. Die Schaffnerinnen in der Elektrischen dagegen erinnern mich an primitive Völker im Norden. Sie stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen, wie Samojedenfrauen auf ihrem Schlitten. – An diesem Tag konnte verschiedenes positiv erledigt werden. Der Vormittag ging über Reisevorbereitungen hin. Ich hatte törichterweise meine Paßbilder versiegeln lassen, und ließ mich nun von einem Schnellphotographen am Straßnoi-Boulevard aufnehmen. Dann andere Gänge. Am Vorabend hatte ich, von der Rachlin aus, mich mit Illesch in Verbindung gesetzt und verabredet, ihn gegen zwei Uhr aus dem Narkomproß abzuholen. Nach einiger Mühe fand ich ihn auf. Wir verloren viel Zeit, indem wir zu Fuß vom Ministerium zum Goskino gingen, wo Illesch mit Panski zu sprechen hatte. Ich war kurz vorher unglückseligerweise auf den Gedanken gekommen, durch das Goskino mir Bilder vom »Sechsten Teil der Welt« zu verschaffen und trug diesen Wunsch Panski vor. Da bekam ich nun die abstrusesten Dinge zu hören: der Film solle im Ausland garnicht genannt werden; es seien Ausschnitte fremdländischer Filme hineinmontiert worden, man wisse nicht einmal aus welchen eigentlich, müsse Unannehmlichkeiten befürchten – kurz er machte ein furchtbares Aufhebens. Weiter kam noch dazu, daß er mit aller Gewalt Illesch veranlassen wollte, in der Angelegenheit der Verfilmung von »Attentat« sich sogleich mit ihm auf den Weg zu machen. Anständigerweise blieb aber Illesch bei seiner Ablehnung, so daß in einem nahegelegenen Café (Lux) mein Gespräch mit ihm schließlich zu stände kam. Es brachte den erwarteten Ertrag; ich erhielt von ihm ein sehr interessantes Schema der gegenwärtigen literarischen Gruppierung in Rußland auf Grund der politischen Orientierung der verschiedenen Autoren. Danach ging ich sofort zu Reich. Abends war ich wieder bei der Rachlin, Asja hatte mich gebeten zu kommen. Ich war äußerst erschöpft und nahm einen Schlitten. Oben fand ich den unvermeidlichen Iljuscha vor, der einen Berg von Süßigkeiten eingekauft hatte. Ich selber brachte zwar nicht Wodka mit, wie Asja mich gebeten, denn den bekam ich nicht mehr, aber Portwein. An diesem Tage wie vor allem am folgenden hatten wir lange Telefongespräche, die sehr unseren berlinischen ähnelten. Asja liebt sehr, ins Telefon wichtige Dinge zu sagen. Sie sprach davon, im Grunewald bei mir wohnen zu wollen und war sehr unzufrieden, daß ich sagte, das werde nicht gehen. Von der Rachlin also bekam ich an diesem Abend den kaukasischen Säbel geschenkt. Ich blieb, bis auch Iljuscha ging; ganz zufrieden war ich wohl nicht; später am meisten, als Asja den Platz neben mir auf einem Sessel mit zwei Sitzen einnahm, wo die, welche dort Platz genommen haben, einander den Rücken zukehren. Aber sie kniete auf ihrem Sitz und hatte meinen seidenen pariser Kragenschoner umgenommen. Leider hatte ich schon zu Hause Abendbrot gegessen, so daß ich von den vielen Süßigkeiten, die auf dem Tisch standen, nicht viel nehmen konnte.

26 Januar. An all diesen Tagen herrschte herrliches warmes Wetter. Moskau rückt mir wieder viel näher. Ich bekomme, wie in den ersten Tagen meines Aufenthaltes, Lust russisch zu lernen. Da es so warm ist und auch die Sonne nicht blendet, so sehe ich mich besser auf den Straßen um und betrachte jeden Tag als doppelt und dreifach geschenkt, weil er so schön ist, weil Asja mir jetzt öfter nahe ist und weil ich selbst ihn über die geplante Dauer meines Aufenthalts hinaus mir gegönnt habe. Ich sehe also auch vieles neue. Vor allem wieder andere Verkäufer: einen Mann, der Kinderpistolen in einem Bündel vorn die Schulter herunterhängen hat, hin und wieder aus einer, die er in der Hand hält, knallt, daß es durch die klare Luft die Straße entlang schallt. Auch viele Korbverkäufer mit allerhand Korbarten, bunten, die denen etwas ähnlich sehen, welche man überall auf Capri kaufen kann, doppelte Henkelkörbe mit einem strengen Quadratmuster, auf denen vier bunte Tupfen in der Mitte der Quadrate sitzen. Ich sah auch einen Mann mit einem großen Reisekorb, durch dessen Geflecht sich grün und rot gefärbte Strohbänder zogen; aber das war kein Verkäufer. – An diesem Morgen versuchte ich vergeblich, auf dem Zollamte meinen Koffer abfertigen zu lassen. Da ich den Paß nicht hatte (er war zur Erteilung des Ausreisevisums abgeliefert) so nahm man den Koffer zwar an, fertigte ihn jedoch nicht ab. Im übrigen konnte ich vormittags nichts erledigen, aß in dem kleinen Kellerrestaurant und ging nachmittags zu Reich, dem ich auf Asjas Wunsch Äpfel mitbrachte. Ich sah Asja an diesem Tage nicht, hatte aber, nachmittags und abends, zwei lange Telefongespräche mit ihr. Abends an der Erwiderung auf den Potemkin-Aufsatz von Schmitz geschrieben.

27 Januar. Ich trage immer den Mantel von Basseches. – Das war ein wichtiger Tag. Vormittags war ich nochmals im Spielzeugmuseum und es besteht nun eine Chance, daß die Sache mit den Photographien in Ordnung kommt. Ich sah die Gegenstände, die Bartram in seinem Arbeitszimmer hat. Sehr auffallend war eine rechteckige Wandkarte, schmal aber lang, die die Geschichte als eine Reihe von Strömen, verschiedenfarbigen kurvenreichen Bändern allegorisch vorstellte. Ins Strombette waren jeweilen die Daten und Namen in chronologischer Folge eingetragen. Die Karte stammte aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, ich hätte sie einhundertfünfzig Jahre früher angesetzt. Daneben gab es ein interessantes Spielwerk, eine Landschaft, welche an der Wand in einem gläsernen Kasten hing. Das Werk war entzwei, auch die Uhr ausgebrochen, bei deren Schlägen früher Windmühlen, Brunnenzüge, Fensterläden und Personen sich bewegt hatten. Rechts und links hingen daneben, auch unter Glas, ähnliche Reliefkompositionen, der Brand von Troja und Moses, wie er Wasser aus dem Felsen schlägt. Sie waren jedoch nicht beweglich. Sonst noch Kinderbücher, eine Spielkartensammlung und vieles andere mehr. Das Museum war an diesem Tage (Donnerstag) nicht geöffnet und ich gelangte zu Bartram durch einen Hof. Man hat neben sich eine besonders schöne alte Kirche. Es gibt im Stil der Kirchtürme hier eine ganz erstaunliche Verschiedenheit. Ich vermute, die schmalen, zierlichen, die von der Form eines Obelisken sind, mögen aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen. Diese Kirchen stehen auf den Höfen nicht anders als Dorfkirchen in der Mitte einer architektonisch nur spärlich bestellten Landschaft. Sofort darauf ging ich nach Hause, um einer riesigen Tafel mich zu entledigen – eines seltenen aber beschädigten und leider auf Karton geklebten Einblattdruckes, den Bartram mir als Duplikat aus seiner Sammlung zum Geschenk gegeben hatte. Darauf zu Reich. Dort traf ich Asja und Manja, die gerade gekommen waren. (Die Bekanntschaft der reizenden Dascha, einer ukrainischen Jüdin, die in diesen Tagen für Reich kocht, machte ich erst beim folgenden Besuch.) Ich kam in eine gereizte Atmosphäre und vermied nur mit Mühe, daß sie sich nicht schon über mir entlud. Die Ansätze bekam ich zu fühlen aber die Gegenstände waren zu belanglos, als daß ich Lust hätte, sie zu erinnern. So kam es denn gleich nachher zwischen Reich und Asja zu einem Ausbruch, als Asja ihm, maulend und ärgerlich, das Bett machte. Endlich gingen wir. Asja war innerlich mit den verschiedenen Bemühungen beschäftigt, welche sie gerade unternahm, um zu einer Stelle zu kommen und davon sprach sie unterwegs. Übrigens gingen wir zusammen nur bis zu der nächsten Haltestelle der Elektrischen. Eine gewisse Hoffnung bestand, sie am Abend zu sehen, ein Telefongespräch sollte jedoch erst entscheiden, ob sie nicht Knorrin aufzusuchen hätte. Ich hatte mich gewöhnt, so wenig Hoffnung wie möglich auf solche Verabredungen zu setzen. Und als sie mich dann am Abend anrief, daß sie Knorrin wegen zu großer Müdigkeit abgesagt hatte, nun aber unerwartet von der Schneiderin die Nachricht erhalten hatte, sie müsse noch an diesem Abend kommen, ihr Kleid abzuholen, denn am nächsten sei niemand mehr in der Wohnung die Schneiderin sollte ins Krankenhaus kommen – da machte ich mir garkeine Hoffnung mehr, sie am Abend zu sehen. Es kam aber anders: Asja bat mich, vorm Hause der Schneiderin sie zu treffen, und versprach, nachher mit mir noch irgendwo hin zu gehen. Wir dachten an eines der Lokale am Arbat. Beinahe gleichzeitig kamen wir beim Hause der Schneiderin an, das neben dem Theater revoluzie liegt. Davor mußte ich dann fast eine Stunde warten – und glaubte zuletzt bestimmt, Asja durch eine ganz kurze Abwesenheit bei der Besichtigung eines Hofes an diesem Hause, das deren nicht weniger als drei hatte, verfehlt zu haben. Seit zehn Minuten hatte ich mir wiederholt, mein Warten sei ohne alle Vernunft, als sie endlich doch kam. Zum Arbat fuhren wir. Und dort gingen wir nach kurzem Schwanken in ein Gasthaus namens »Prag«. Wir stiegen die breite Treppe hinauf, die im Bogen von unten in den ersten Stock führte und kamen in einen sehr hellen Saal, mit vielen Tischen, die zumeist unbesetzt waren. Am rechten Ende erhob sich eine Estrade und von da kam mit großen Zwischenpausen Orchestermusik oder die Stimme eines Konferenziers oder Lieder eines ukrainischen Chores. Wir wechselten gleich zu Anfang den Platz, es zog Asja am Fenster. Sie schämte sich, weil sie mit zerrissenen Schuhen in ein so »feines« Lokal gekommen war. Bei der Schneiderin hatte sie das neue Kleid angezogen, das aus altem schwarzen von Motten bereits angefressenen Stoffe gemacht worden war. Es stand ihr sehr gut, im ganzen ähnelte es dem blauen. Anfangs sprachen wir von Astachoff. Asja bestellte Schaschlik und ich ein Glas Bier. So saßen wir uns gegenüber, dachten manchmal an meine Abreise, sprachen davon und sahen uns an. Hier sagte es mir nun Asja, vielleicht zum ersten Male rund heraus, daß sie eine Zeitlang sehr gerne mich hätte heiraten wollen. Und wenn es nicht geschehen sei, so hätte, wie sie denke, nicht sie verspielt sondern ich. (Vielleicht sagte sie nicht gerade so ein scharfes Wort »verspielt«; ich weiß es nicht mehr.) Ich sagte, mich heiraten zu wollen – bei diesem Willen seien auch ihre Dämonen im Spiel gewesen. – Ja, sie habe daran gedacht, wie unglaublich komisch das sei, wenn sie als meine Frau zu meinen Bekannten gekommen wäre. Nun aber, nach der Krankheit, habe sie keine Dämonen mehr. Sie sei ganz passiv. Jetzt werde aber nichts mehr aus uns werden. Ich: Aber ich halte an Dir fest, ich werde auch, wenn Du in Wladiwostok bist, nach Wladiwostok kommen. – Willst Du da auch beim roten General den Hausfreund spielen? Wenn er so dumm ist wie Reich, und Dich nicht herausschmeißt. Ich habe nichts dagegen. Und wenn er Dich herausschmeißt habe ich auch nichts dagegen. – Ein anderes Mal sagte sie: »Ich habe Dich schon sehr gewöhnt.« Ich sagte ihr aber zuletzt: »Als ich herkam, habe ich Dir in den ersten Tagen gesagt, jetzt würde ich Dich sofort heiraten. Ich weiß aber doch nicht, ob ich es tun würde. Ich glaube, ich würde es nicht aushalten.« Und nun sagte sie etwas sehr Schönes: Warum nicht? Ich bin ein treuer Hund. Ich habe so eine barbarische Stellung, wenn ich mit einem Mann lebe – es ist ja falsch, aber da kann ich nichts machen. Wenn Du mit mir zusammen wärest, dann würdest Du das alles nicht kennen, die Angst, oder Traurigkeit, was Du so oft hast. – So sprachen wir vieles. Ob ich nur immer den Mond ansehen und dabei an die Asja denken wolle. Ich sagte, daß ich hoffe, es werde, wenn wir das nächste Mal uns sehen, besser werden. – Daß Du dann wieder vierundzwanzig Stunden auf mir liegen kannst? – Ich sagte, daran hätte ich gerade jetzt nicht gedacht, sondern ihr näher zu sein, mit ihr zu reden. Wenn ich ihr näher sei, dann werde erst dieser andere Wunsch wiederkommen. »Ganz angenehm« sagte sie. – Mich machte das Gespräch den folgenden Tag, ja schon die Nacht durch, sehr unruhig. Mein Wille zu reisen war aber doch eben stärker als der Trieb zu ihr gewesen, wenn auch wahrscheinlich nur, wegen der vielen Hemmungen, auf die dieser letzte traf. So wie er noch jetzt auf sie trifft. Das Leben in Rußland ist mir zu schwer innerhalb der Partei und außerhalb ihrer viel chancenloser aber kaum weniger schwer. Sie aber wurzelt doch mit sehr vielem hier in Rußland. Freilich, dann gibt es wieder ihre Sehnsucht nach Europa, die sehr mit dem zusammenhängt, was ihr an mir anziehend scheinen könnte. Und in Europa mit ihr zu leben, das könnte, wenn sie dafür zu gewinnen wäre, eines Tages mir das Wichtigste, Nächstliegende werden. In Rußland – das glaube ich nicht. Wir fuhren im Schlitten bis zu ihrer Wohnung, dicht aneinander gedrängt. Es war dunkel. Das war das einzige Dunkel, das wir in Moskau gehabt hatten – auf offener Straße und auf dem schmalen Sitz eines Schlittens.

28 Januar. Bei herrlichem Tauwetter früh ausgegangen, um die Straßen rechts vom Arbat kennenzulernen, wie ich es längst schon vorhatte. Ich kam also auf den Platz, wo früher der Hundezwinger der Zaren gestanden hatte. Er wird von niedrigen Häusern gebildet, die teilweise säulengetragne Portale haben. Dazwischen stehen aber auf einer Seite häßliche hohe Häuser, die neuer sind. Hier ist das »Museum der Lebensweise der vierziger Jahre« – kurz ein niedriges dreistöckiges Haus dessen Räume sehr geschmackvoll im Stile der Wohnung eines reichen Bürgers aus der Zeit gehalten sind. Es gibt schöne Möbel, mit vielen Anklängen an den Stil Louis Philippe, Kästchen, Leuchter, Trumeaus, Wandschirme (einen sehr eigentümlichen, der dickes Glas zwischen hölzernem Fachwerk hat). All diese Räume hat man so eingerichtet, als seien sie noch eben bewohnt gewesen, Papier, Zettel, Schlafröcke, Shawls liegen auf Tischen oder hängen über den Stühlen. Immerhin hat man dies alles sehr schnell durchschritten. Ich fand zu meinem Erstaunen kein eigentliches Kinderzimmer (daher auch kein Spielzeug), vielleicht hatte man damals keine besonderen Spielzimmer? Oder fehlte es? Oder war es im abgesperrten obersten Geschoß? Danach spazierte ich weiter durch Seitenstraßen. Endlich kam ich wieder auf den Arbat, blieb an einem Bücherstand stehen und fand ein Buch von Victor Tissot aus dem Jahre 1882 »La Russie et les Russes«. Ich kaufte es für 25 Kopeken, es bot immerhin eine Chance, einige Tatsachen und Namen kennen zu lernen, die mir für meine Auffassung von Moskau und den geplanten Artikel über die Stadt von Nutzen sein konnten. Ich legte dieses Buch zu Hause ab, dann ging ich zu Reich. Diesmal ging es besser mit unserm Gespräch; ich hatte mir fest vorgenommen, es zu keiner Spannung kommen zu lassen. Wir sprachen über »Metropolis« und die Ablehnung, die der Film in Berlin, wenigstens bei den Intellektuellen, gefunden hatte. Reich wollte alle Schuld an dem mißglückten Experiment den überspannten Forderungen der Intellektuellen zuschieben, die zu solchen Wagnissen antreiben. Ich bestritt das. Asja kam nicht – sie sollte erst am Abend kommen. Aber eine Zeit lang war Manja dort. Dann war auch Dascha im Zimmer, eine kleine ukrainische Jüdin, die dort wohnt und jetzt für Reich kocht. Sie gefiel mir sehr gut. Die Mädchen sprachen jiddisch, ich verstand aber nicht, was sie sagten. Zu Hause wieder angelangt, rief ich Asja an und bat sie, zu mir zu kommen, nachdem sie Reich verlassen habe. Sie kam auch später wirklich. Sie war sehr müde und legte sich gleich auf das Bett. Ich war zuerst sehr befangen, konnte kaum ein Wort aus der Kehle bringen vor Furcht, sie sogleich wieder fortgehen zu sehen. Ich holte mein großes Mäuseblatt vor, das Bartram mir zum Geschenk gemacht hatte und zeigte es ihr. Dann sprachen wir auch vom Sonntag: ich versprach, doch zu Daga sie zu begleiten. Wir küßten uns wieder und sprachen davon, in Berlin zusammen zu leben, zu heiraten, mit einander wenigstens einmal zu fahren. Asja sagte, es sei ihr noch von keiner Stadt der Abschied so schwer geworden wie von Berlin, ob das mit mir zusammenhänge? Zusammen nahmen wir zur Rachlin einen Schlitten. Es lag nicht einmal genug Schnee in der Twerskaja, um dem Schlitten schnelle Fahrt zu erlauben. Desto besser ging es in den Seitenstraßen: er nahm einen Weg, den ich nicht kannte, wir kamen an einem Bad vorbei und sahen einen wundervollen abgelegnen Winkel Moskaus. Asja erzählte mir von den russischen Badestuben; daß es die eigentlichen Zentren der Prostitution sind, wie sie in Deutschland es im Mittelalter waren, hatte ich schon erfahren. Ich erzählte ihr von Marseilles. Niemand war bei der Rachlin zu Besuch als wir kurz vor zehn dort hinkamen. Es war ein schöner ruhiger Abend. Sie erzählte allerlei Einzelheiten aus dem Archiv. Unter anderm, daß man in den chiffrierten Stellen aus dem Briefwechsel einiger Mitglieder der Zarenfamilie die unbeschreiblichste Pornographie gefunden hätte. Gespräch, ob man das zu veröffentlichen habe oder nicht. Ich kam auf die Wahrheit der klugen Bemerkung von Reich, der die Rachlin und Manja unter die Kategorie der »moralischen« Kommunisten begriffen hatte, die immer in mittleren Stellungen bleiben werden und niemals die Möglichkeit der eigentlich »politischen« vor sich haben. Ich saß auf dem großen Diwan dicht neben Asja. Es gab Grütze mit Milch und Tee. Ich ging gegen dreiviertelzwölf. Auch nachts war das Wetter wundervoll warm.

29 Januar. Der Tag war fast in jeder Einzelheit verfehlt. Morgens erschien ich gegen elf Uhr bei Basseches und fand ihn wider Erwarten schon wach, bei der Arbeit. Darum kam ich aber ums Antichambrieren doch nicht herum. Diesmal gab es eine Verzögerung dadurch, daß seine Post verlegt worden war; und bis man sie entdeckte, verging zumindest eine halbe Stunde. Darauf wurde noch auf die Fertigstellung einer Maschinenabschrift gewartet und in der Zwischenzeit bekam ich wie gewöhnlich irgendwelche frisch entstandenen Leitartikel im Manuscript zu lesen. Kurz, die ohnehin schwierigen Formalitäten der Abreise wurden durch diesen Weg, sie zu erledigen, noch mühseliger. Es stellte sich im Laufe dieser Tage heraus, wie gänzlich verkehrt der Rat von Gnedin, in Moskau mein Gepäck verzollen zu lassen, gewesen war. Und wenn ich dann mitten in den unausdenklichen Schwierigkeiten und in den Chikanen, denen ich durch ihn ausgesetzt wurde, an ihn dachte, prägte sich mir fester als je meine alte Reisemaxime ein: Niemals auf den Rat eines Menschen zu achten, der ihn ungefragt abgibt. Dazu gehört natürlich komplementär die Praxis, wenn man schon seine Angelegenheiten (so wie ich das tat) in die Hand eines anderen legt, sich strikt nach dessen Ratschlägen zu richten. So aber sprang mir denn schließlich, am letzten entscheidenden Tage der Abreise Basseches ab und ich hatte eine unausdenkliche Mühe, am 1 Februar, wenige Stunden vor meiner Abfahrt, mit dem Diener, den er mir mitgegeben hatte, die Aufgabe des Koffers zu bewerkstelligen. An diesem Vormittag konnte fast garnichts ausgerichtet werden. Wir holten aus der Miliz den Paß mit dem Ausreisevisum. Viel zu spät kam mir der Gedanke, es sei Sonnabend und kaum Aussicht, daß das Zollamt länger als ein Uhr geöffnet sei. Als wir endlich am Narkomindel standen war es nach zwei. Denn wir waren in aller Ruhe zu Fuß die Petrowka hinunterspaziert, dann noch in das Verwaltungsgebäude des Bolschoi Theater, wo ich durch Basseches Vermittlung Karten für das Ballett am Sonntag zugesichert bekam, endlich in die Staatsbank gegangen. Als wir endlich gegen halb drei am Kalantschewskajaplatz waren, hieß es denn auch, soeben seien die Beamten fortgegangen. Ich nahm mit Basseches in einem Auto Platz und ließ mich, um zur Rachlin zu fahren, an einer Haltestelle der Tram absetzen. Es war verabredet worden, daß ich um halb drei sie abhole, um mit ihr zu den Leninbergen hinauszufahren. Sie und Asja waren zu Hause. Die Nachricht, daß ich Karten zum Ballett erhalten werde, nahm Asja nicht so vergnügt auf, wie ich erwartet hatte. Wichtiger sei es, zum Montag Billetts zu bekommen. Im »Großen Theater« werde man den »Revisor« geben. Ich war durch die Fehlschläge des Vormittags so sehr erschöpft und gereizt, daß ich nichts zu erwidern vermochte. Indessen lud die Rachlin mich ein, nach der Rückkehr von unserem Gange bei ihr zu essen. Ich sagte zu und vergewisserte mich, daß Asja noch da sein werde. Mit diesem Spaziergang ging es nun aber so: In der Nähe des Hauses fuhr die Elektrische uns gerade vor der Nase fort. Wir gingen in der Richtung des Revolutionsplatzes weiter – wahrscheinlich gedachte die Rachlin dort zu warten, weil wir mehr Linien zur Verfügung hätten. Ich weiß es aber nicht. Die paar Schritt strengte mich zwar nicht das Gehen, wohl aber die Unterhaltung mit ihren Halb- oder Mißverständnissen so an, daß ich aus lauter Schwäche »ja« sagte, als sie mich fragte, ob wir auf einen vorüberkommenden Straßenbahnwagen, der in Fahrt war, aufspringen wollten. Mein Fehler war schon, ihre Aufmerksamkeit durch meinen Blick auf diesen Wagen gelenkt zu haben, der ihr sonst sicher entgangen wäre. Als sie dann auf der Plattform stand und gleich darauf die Bahn etwas schneller lief, rannte ich zwar noch ein paar Schritte neben ihr her, sprang aber nicht auf. Sie rief mir zu »Ich warte auf Sie da« und ich ging langsam über den Roten Platz auf die Haltestelle der Trambahn zu, welche in seiner Mitte liegt. Sie mußte mich dort wohl einen Augenblick früher erwartet haben, denn als ich kam war sie bereits nicht mehr zu finden. Sie hatte sich, wie später herauskam, in der Nähe nach mir umgesehen. Ich stand indessen dort und begriff nicht, wo sie sich aufhalten könne. Endlich erklärte ich mir ihren Zuruf so: Sie wolle an der Endstation der Trambahn auf mich warten, bestieg den nächsten Wagen der betreffenden Linie und fuhr ungefähr eine halbe Stunde lang in ziemlich gerader Linie durch die jenseits der Moskwa gelegene Stadt bis an die Endstation. Vielleicht hatte ich es auf solche einsame Fahrt im Grunde auch angelegt. Tatsache ist, daß eine gemeinsame mit ihr mir wahrscheinlich, wohin immer sie mich geführt haben mochte, weit weniger genußreich gewesen wäre. Dafür war ich zu müde. Nun aber war ich bei dieser aufgedrungenen und beinah ziellosen Fahrt durch einen mir ganz fremden Teil der Stadt sehr glücklich. Jetzt erst ermaß ich die volle Ähnlichkeit gewisser Vorstadtteile mit napolitaner Hafenstraßen. Ich sah auch den großen moskauer Sender, der anders als alle, die ich sonst sah, geformt ist. Die Chaussee, die die Bahn entlangfuhr, hatte zur Rechten ab und zu Herrenhäuser, zur Linken einzelne Schuppen oder Häuschen, meist freies Feld. Was vom Dorfe in Moskau steckt, das tritt in den Vorstadtstraßen plötzlich ganz unverkleidet, deutlich und unbedingt heraus. Es gibt auch vielleicht keine Stadt, in der die riesenhaften Plätze so dörflich gestaltlos und immer wie vom schlechten Wetter, tauendem Schnee oder Regen aufgelöst daliegen. An einem solchen Platze, allerdings keinem städtischen, ja kaum mehr einem dorfartigen, vor einer Wirtschaft endete die Strecke, natürlich war die Rachlin nicht dort. Ich fuhr sogleich zurück und hatte noch gerade die Energie, nach Hause zurückzukehren, anstatt der Einladung zum Essen, die sie mir gegeben hatte, zu folgen. Anstelle eines Mittagessens aß ich ein paar von den staatlichen Waffeln. Kaum war ich zu Hause, so rief die Rachlin an. Ich war grundlos gereizt gegen sie, hielt mich gewissermaßen in Defensivstellung und wurde also doppelt angenehm durch ihre freundlichen, einlenkenden Worte überrascht. Vor allem ersah ich aus ihnen, daß sie den Vorfall nicht in allzu lächerlicher Form vor Asja würde kommen lassen. Aber sogleich zum Essen zu ihr zu kommen, schlug ich doch ab; dazu war ich zu müde. Wir verblieben, ich solle um sieben Uhr kommen. Zu meiner angenehmsten Überraschung war ich mit Asja und ihr allein. Ich weiß nicht mehr, wovon die Rede war. Nur daran entsinne ich mich, daß als ich ging – die Rachlin war, mir voraus, aus dem Zimmer gegangen – Asja mir eine Kußhand nachwarf. Dann ein vergeblicher Versuch, in einem Restaurant am Arbat etwas Warmes zu essen. Ich wollte Suppe bestellen und man brachte zwei kleine Scheiben Käse.

30 Januar. Ich trage einiges über Moskau nach, das mir erst hier in Berlin aufging (wo ich seit dem 5 ten Februar diese Eintragungen, beginnend mit dem 29 Januar zu Ende führe). Berlin ist für den, der aus Moskau kommt, eine tote Stadt. Die Menschen auf der Straße erscheinen einem ganz trostlos vereinzelt, jeder hat es sehr weit zum andern und ist inmitten eines großen Stücks Straße vereinsamt. Weiterhin: mir kam, wie ich vom Bahnhof Zoo in den Grunewald fuhr, die Gegend, durch die ich mußte, geputzt und gescheuert, unmäßig gereinigt, unmäßig komfortabel vor. Es ist mit dem Bilde der Stadt und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen lernen – was man lernt, ist Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. Darum ist andererseits auch der russische Aufenthalt für die ausländischen Besucher ein so sehr genauer Prüfstein. Es wird jeden nötigen, seinen Standpunkt zu wählen und genau zu präzisieren. Der wird im allgemeinen an schnellfertigen Theorien um so fruchtbarer sein, je mehr er abseitig und privat, und dem Format des russischen Geschehens unangemessen ist. Wer tiefer in die russischen Zustände eindringt, wird sich sobald zu Abstraktionen, wie sie dem Europäer ohne Mühe eingehen, nicht gedrungen fühlen. – In den letzten Tagen von meinem Aufenthalt schienen mir die mongolischen Verkäufer mit den bunten Papierwaren wieder häufiger aufzutreten. Ich sah einen Mann – keinen Mongolen zwar sondern einen Russen – neben Korbwaren kleine Käfige feilhalten, die aus Glanzpapier gemacht waren und im Innern papierne Vögelchen enthielten. Aber auch ein wirklicher Papagei, ein weißer Aron, begegnete mir: auf der Mjaßnitzkaja saß er auf einem Korbe, in dem eine Frau Weißwaren zum Verkaufe an Passanten aufbewahrte. – Anderswo sah ich Kinderschaukeln im Straßenhandel. Moskau ist so gut wie befreit vom Glockengeläute, das eine so unwiderstehliche Traurigkeit in den Großstädten zu verbreiten pflegt. Auch das ist etwas, was man erst nach der Rückkehr erkennen und lieben lernt. – Als ich am Jaroslawski-Bahnhof ankam, war Asja schon dort. Ich hatte mich verspätet, weil ich auf die Tram eine Viertelstunde hatte warten müssen und am Sonntag morgen kein Autobus ging. Zum Frühstücken war keine Zeit mehr. Der Tag, zumindest der Vormittag ging unter Beklemmungsanfällen dahin. Erst auf der Rückfahrt vom Sanatorium kam ich ganz zum Genuß der herrlichen Schlittenfahrt. Das Wetter war ganz milde, und die Sonne lag uns im Rücken, ich konnte, als ich die Hand auf Asjas Rücken legte, sogar fühlen, sie wärmte. Unser Istwosschik war ein Sohn des Mannes, der Reich immer fuhr. Diesmal erfuhr ich, die entzückenden kleinen Häuschen, an denen man anfangs entlangfuhr seien nicht Datschen sondern Häuser wohlhabender Bauern. Asja war während der Fahrt sehr glücklich, um so schmerzhafter war der Rückschlag bei ihrer Ankunft. Daga war nicht draußen unter den Kindern, die in der warmen Sonne im tauenden Schnee spielten. Drinnen rief man nach ihr. Mit verweintem Gesicht, zerrissenen Schuhen und Strümpfen, so gut wie barfuß, kam sie die steinerne Treppe hinunter ins Vestibül. Es stellte sich heraus, daß das Paket mit Strümpfen, das ihr zugesandt worden war, sie nicht erreicht hatte und daß im Laufe der vergangenen vierzehn Tage man sich überhaupt kaum um sie bekümmert hatte. Asja war so erregt, daß sie kaum ein Wort herausbringen, auch gegen die Ärztin nicht auftreten konnte, wie sie es gewollt hätte. Sie saß beinahe die ganze Zeit neben Daga auf einer hölzernen Bank im Vorraum und nähte verzweifelt an Schuhen und Strümpfen. Aber auch das warf sie später sich vor: daß sie die Schuhe zu flicken gesucht habe. Es waren völlig zerrissene Hausschuhe, die das Kind nicht mehr wärmen konnten. Und sie befürchtete, man möchte sie ihr nun wieder überziehen anstatt sie in Schuhen oder in Walinki laufen zu lassen. Wir hatten uns vorgenommen, fünf Minuten in unserm Schlitten mit Daga spazieren zu fahren; aber das war nicht möglich. Wir waren schon längst von allen Gästen die letzten als Asja immer noch saß und nähte und Daga zum Essen gerufen wurde. Wir gingen; Asja in der trostlosesten Verfassung. Da wir gerade einige wenige Minuten nach Abgang eines Zuges am Bahnhof ankamen, hatten wir beinah eine volle Stunde lang zu warten. Wir spielten erst lange: wo sitzen? Asja beharrte auf einem Platze, an welchem ich durchaus nicht sitzen wollte. Als sie aber dann schließlich nachgab, blieb ich eigensinnig und beharrte beim einmal gewählten Platze. Wir ließen uns Eier, Schinken und Tee geben. Auf der Rückfahrt sprach ich von dem Dramenstoff, auf welchen mich das Stück von Illesch gebracht hatte: die Geschichte von einem Waren-Transport in der Revolutionszeit (etwa einer für die Gefangenen bestimmten Lebensmittelsendung) auf die Bühne zu bringen. Wir fuhren von der Bahn im Schlitten zu Reich, der inzwischen das neue Quartier bezogen hatte. Am nächsten Tage zog dann auch Asja ein. Wir blieben sehr lange oben und warteten auf das Essen. Reich befragte mich wieder wegen des Aufsatzes über Humanismus und ich erklärte ihm, wie man nach meiner Meinung ganz besonders darauf achten müsse, daß mit dem eigentlichen Siege der Bourgeoisie und dem Verfall der Stellung der Literaten zusammenfällt das Auseinandertreten der beiden ehemals geeinten (zumindest in der Gestalt des Gelehrten vereinigten) Typen von Literat und Gelehrtem. Es ist festzuhalten, daß im Zeitalter der sich vorbereitenden Revolution die einflußreichsten Literaten mindestens zu gleichen Teilen Gelehrte wie Dichter gewesen seien. Ja, wahrscheinlich hätten sogar Gelehrte das Übergewicht gehabt. Ich begann die Schmerzen im Rücken zu fühlen, die mir in den letzten Moskauer Tagen noch zusetzten. Endlich kam das Essen, das die Nachbarin brachte. Es war sehr gut. Wir gingen danach, Asja und ich, um jeder noch nach Hause zu gehen und abends uns im Ballett zu treffen. Vorbei an einem, der betrunken auf der Straße lag und eine Zigarette rauchte. Ich setzte Asja in die Bahn und fuhr dann selber ins Hotel. Hier fand ich die Theaterkarten vor. Man gab am Abend »Petruschka« von Strawinski, »Die Sylven« – ein Ballett von einem unbedeutenden Komponisten, und »Spanisches Caprichio« von Rimski-Korsakoff. Ich war früh da und während ich im Vestibül auf Asja wartete: mit dem Bewußtsein, dieses ist der letzte Abend jetzt in Moskau, an dem wir uns allein sprechen werden, hatte ich nur den einen Wunsch, einmal ganz früh mit ihr im Theater zu sitzen und lange auf das Hochgehen des Vorhangs zu warten. Asja kam spät, immerhin nahmen wir unsere Plätze noch eben gerade zur rechten Zeit ein. Hinter uns saßen Deutsche; in der gleichen Reihe wie wir war ein japanisches Ehepaar mit zwei Töchtern zu sehen, die ihr blendendschwarzes Haar auf japanische Art trugen. Wir saßen in der siebenten Reihe von der Bühne. Im zweiten Ballett trat die berühmte, nun schon alte Balletteuse Geizer auf, die Asja in Orel gekannt hatte. Die »Sylven« sind ein vielfach läppisches Ballett, aber sie geben eine vorzügliche Vorstellung von dem Stil, den dies Theater früher hatte. Vielleicht stammt dieses Stück aus der Zeit von Nikolaus I. Es gibt ein Vergnügen, das dem der Paraden äußerst ähnelt. Zum Schluß das herrlich einstudierte, windschnell vorübereilende Ballet von Rimski-Korsakoff. Es gab zwei Pausen. Ich hatte mich in der ersten von Asja getrennt und versucht, vor dem Theater noch ein Programm zu bekommen. Als ich zurückkam, sah ich sie mit einem Manne im Gespräch an der Wand stehen. Mit Schrecken sagte ich mir, wie unverschämt ich ihn fixiert habe, als ich von Asja erfuhr, das sei Knorrin gewesen. Er duzt sie immer – mit Gewalt und ihr bleibt nichts übrig, als auch ihn zu duzen. Auf seine Frage, ob sie allein im Theater sei, hatte sie ihm erwidert: »Nein«, sie sei mit einem Journalisten aus Berlin hier. Sie hatte ihm schon früher mich erwähnt. Asja hatte an diesem Abend das neue Kleid an, zu welchem ich den Stoff ihr geschenkt hatte. Über den Schultern trug sie das gelbe Umschlagetuch, das ich aus Rom ihr nach Riga mitgebracht hatte. Da auch die Farbe ihres Gesichtes teils von Natur teils von Krankheit und der Aufregung dieses Tages ein Gelb war, in das kein Schimmer von Rot sich mischte, so bildete ihre ganze Erscheinung die Grenze dreier eng benachbarter Farbtöne. Mir blieb nach dem Theater nur eben noch Zeit, für den folgenden Abend mich mit ihr zu besprechen. Da ich den ganzen Tag abwesend sein mußte, wenn ich den Ausflug nach Troitza wirklich durchführen wollte, blieb nur der Abend. Sie aber wollte ihre Wohnung nicht verlassen, weil sie am übernächsten Tage in der Frühe wieder zu Daga hinauszufahren vorhatte. So wurde denn besprochen, daß ich bestimmt am Abend kommen sollte und sogar das ward nur mit knapper Not vereinbart. Mitten im Gespräche wollte Asja auf einen Trambahnwagen springen – ließ aber davon ab. Wir standen im Getriebe auf dem großen Theaterplatz. Unwillen über sie und Liebe zu ihr sprangen windschnell in mir um; schließlich grüßten wir uns, sie von der Plattform ihrer Tram herab – ich zurückbleibend, vielmehr erwägend, ob ich nicht ihr nach, noch zu ihr aufspringen solle.

31 Januar. Meine Abreise war durch Bestellung des Platzes, die ich am 30 ten veranlaßt hatte, nun auf den 1 ten unwiderruflich festgesetzt. Es galt aber endlich, den Koffer zu verzollen. Wie vereinbart war ich also um ¼ 8 bei Basseches, um dann so zeitig mit ihm auf dem Zollamt zu sein, daß der Zug, der um zehn fuhr, noch zu erreichen sei. In Wirklichkeit ging der Zug erst um halb elf. Das erfuhren wir aber nicht zeitig genug, um diese halbe Stunde mehr noch ausnützen zu können. Nur hatten wir es ihr zu verdanken, daß unser Ausflug nach Troitza überhaupt noch zustande kam. Denn wenn der Zug um 10 Uhr wirklich abgegangen wäre, so hätten wir ihn überhaupt nicht mehr erreicht. Die Formalitäten im Zollamt zogen sich qualvoll in die Länge und wir wurden an diesem Tage nicht fertig. Natürlich hatte ich wieder ein Auto zu zahlen. Die ganze Veranstaltung war umsonst, denn von den Spielwaren nahm man nicht einmal Notiz und hätte es sicher an der Grenze ebensowenig getan als hier. Der Diener war mit um hier am Zollamt meinen Paß in Empfang zu nehmen und sogleich zum polnischen Konsulat zu fahren um dort das Visum für mich einzuholen. Also: wir erreichten nicht nur den Zug sondern hatten zwanzig Minuten im Waggon auf den Abgang zu warten. Ich aber sagte mir, nicht ohne Ärger, indessen hätten wir die Verzollung erledigen können. Da aber Basseches schon verstimmt genug war, so ließ ich mir nicht viel merken. Die Fahrt war eintönig. Ich hatte vergessen, mir Lektüre mitzunehmen und schlief während eines Teiles der Reise. Nach zwei Stunden langten wir an. Noch hatte ich von meiner Absicht, hier Spielsachen zu kaufen, nicht gesprochen. Ich fürchtete, ihm möchte die Geduld reißen. Da ergab es sich, daß gleich die ersten Schritte uns an einem Spielwarenlager vorbeiführten. Nun rückte ich also mit der Sprache heraus. Aber gleich mit mir in das Magazin hineinzugehen, dazu vermochte ich ihn nicht zu veranlassen. Vor uns lag etwas erhöht der große festungsartige Komplex der Klostergebäude. Weit großartiger war dieser Anblick als ich ihn vermutet hatte. In seiner städtisch wehrhaften Geschlossenheit konnte er an Assisi erinnern; mir aber fiel merkwürdigerweise zuerst Dachau ein; dort hebt sich der Berg mit der Kirche ganz ähnlich als Stadtkrone aus der Stadt wie hier die langgestreckten Wohnbauten mit der großen Kirche in ihrer Mitte. An diesem Tage war es ziemlich tot: die zahlreichen Buden der Schneider, Uhrmacher, Bäcker, Schuster, die unten an dem Fuß des Klosterhügels sich entlangziehen waren alle geschlossen. Auch hier war das schönste, wärmste Winterwetter; die Sonne kam freilich nicht zum Vorschein. Der Anblick des Spielwarenmagazins hatte den Wunsch, neues Spielzeug hier aufzutreiben, in den Vordergrund treten lassen und machte mich bei der Besichtigung der Klosterschätze ungeduldig; ich hatte die Allüren eines Typs von Reisenden, den sonst niemand mehr hassen kann als ich. Desto liebenswürdiger war unser Führer, der Verwalter des Museums, das aus dem Kloster war gemacht worden. Mein Drängen hatte freilich noch andere Gründe. In den meisten der Räume, wo die unschätzbaren Webereien, Silber- und Goldgeräte, Manuscripte, Devotionalien in gläsernen Schreinen aufbewahrt wurden, von denen ein Diener, welcher uns voranging, die Vorhänge und Tücher fortzog, war es schneidend kalt und auf diesem einstündigen Rundgang holte ich mir wahrscheinlich die Keime einer schweren Erkältung, die in Berlin, nach meiner Rückkehr, zum Ausbruch kam. Endlich hat die unabsehbare Menge der Kostbarkeiten, deren eigentlicher Kunstwert dazu sich meist nur sehr speziellen Kennern erschließen kann, durchaus etwas Abstumpfendes, ja sie fordert zu einer Art von Brutalität in der Besichtigung geradezu heraus. Basseches hatte dazu den Drang nach »kompletter« Durchmusterung von allem, was es zu sehen gab und ließ sich sogar in die Gruft hinabführen, in der unter Glas die Gebeine des heiligen Sergius liegen, der dieses Kloster gegründet hat. Mir ist nicht möglich, noch so unvollkommen aufzuzählen, was alles zu sehen war. Gegen eine Mauer gelehnt stand das berühmte Bild von Rubloff, das zum Wahrzeichen dieses Klosters geworden ist. Später sahen wir in der Kathedrale selbst den leeren Platz an der Ikonostase, wo es gehangen hatte und von dem es zu Zwecken der Konservierung entfernt worden war. Die Wandbilder der Kathedrale sind ernstlich gefährdet. Denn da die Zentralheizung nicht benutzt wird, im Frühling also eine jähe Erwärmung der Mauern stattfindet, so entstehen in der Wand Sprünge und Risse, durch die Feuchtigkeit eindringt. In einem Wandschrank sah ich die riesige goldene mit Edelsteinen über und über ausgelegte Metallverkleidung, die für das Bild Rubloffs später gestiftet wurde. Sie läßt am Körper der Engel nichts frei als die unbekleideten Stellen: Gesicht und Hände. Über alles andere legt sich die massive Goldschicht und Hals und Arme müssen, wenn sich die Schablone übers Bild legt, wie eingepreßt in schwere metallische Ketten den Engeln etwas von chinesischen Verbrechern geben, die in Halseisen ihre Untaten büßen. Im Zimmer unseres Führers endete der Rundgang. Der alte Mann war verheiratet, denn im Zimmer zeigte er die Ölbilder seiner Frau und seiner Tochter an der Wand. Jetzt lebt er in diesem großen hellen mönchischen Räume allein, nicht ganz von der Welt abgeschnitten, denn es besuchen viele Ausländer das Kloster. Auf einem kleinen Tisch lag eine eben ausgepackte Sendung von wissenschaftlichen Büchern, die aus England gekommen waren. Auch hier Eintragung in ein Gästebuch. Die Sitte scheint in Rußland auch unter der Bourgeoisie sich weit länger gehalten zu haben als hier, zumindest, wenn ich daraus einen Schluß ziehen darf, daß auch bei Schick mir so ein Album vorgelegt wurde, in das ich mich eintragen mußte. – Aber war nicht weit großartiger als alles im Innern die Anlage des Klosters selber. Wir hatten ehe wir den weiten Raum mit seiner wehrhaften Umfassung betreten hatten, vor dem Portal Halt gemacht. Rechts und links war auf zwei Bronzetafeln eingetragen, was man an unentbehrlichen Daten zur Geschichte des Klosters kennt. Schöner und schlichter als die gelbrosa getönte Kirche im Rokokostil, die in der Hofmitte sich erhebt, umgeben von kleineren älteren Bauten – darunter dem Mausoleum des Boris Godunoff – schlichter sind die langen Wirtschafts- und Wohngebäude, die sich im Rechteck um den riesigen Freiplatz herumziehen. Am schönsten das große bunte Refektorium. Der Blick aus den Fenstern des Innern führt bald auf diesen Freiplatz, bald auf Schächte, Gänge zwischen den Mauern, ein Labyrinth festungsartiger Steinwälle. Es hat auch einen unterirdischen Gang hier gegeben, den zwei Mönche mit Preisgabe ihres Lebens, um während einer Belagerung das Kloster zu retten, in die Luft sprengten. Wir aßen in einer Stolowaja, die schräg dem Eingang in den Klosterhof gegenüberliegt. Sakuska, Wodka, Suppe und Fleisch. Mehrere große Stuben waren mit Menschen angefüllt. Es gab wirkliche Typen aus dem russischen Dorf, bezw. der Kleinstadt – Sergejevo ist vor kurzem zur Stadt erklärt worden. Während wir aßen kam ein Hausierer, der Drahtgestelle zu verkaufen hatte, welche im Handumdrehn sich von einem Lampenschirm in einen Teller oder einen Aufsatz für Obst verwandeln ließen. Basseches meinte, dies Gewerbe stamme aus Kroatien. Ich selber fand eine sehr alte Erinnerung beim Anblick dieser eher unschönen Spielerei in mir sich regen. Mein Vater muß wohl wie ich klein war bei einem Aufenthalt in der Sommerfrische (in Freudenstadt?) so etwas einmal gekauft haben. Vom Kellner ließ sich Basseches unterm Essen Adressen von Spielzeughändlern angeben und sodann machten wir uns auf den Weg. Wir hatten aber noch nicht zehn Minuten marschiert als eine kurze Auskunft, die Basseches einholte, uns veranlaßte umzukehren und uns in einen Schlitten zu setzen, der gerade leer dort entlangfuhr. Das Gehen nach dem Essen hatte mich angestrengt, so daß ich nicht einmal fragen mochte, was eigentlich unser Umkehren veranlaßt hatte. Soviel schien sicher, daß wir dort in den Magazinen nahe der Bahn die größte Chance hatten, meinen Wunsch zu erfüllen. Sie lagen beide dicht neben einander. Das erste enthielt Holzwaren. Man machte Licht, als wir es betraten, es dunkelte schon. Wie ich es erwartet hatte, konnte ein Lager hölzerner Spielsachen mir nicht sehr viel Unbekanntes zeigen. Ich kaufte einige Stücke mehr auf Drängen von Basseches als mit eigner Entschließung, freue mich aber nun, es getan zu haben. Auch hier verloren wir Zeit, ich mußte lange warten, bis ein Tscherwonez in der Nähe war gewechselt worden. Nun brannte ich vor Unruhe, das Lager der Papiermachéspielzeuge zu sehen; ich fürchtete, man möchte dort schon geschlossen haben. Das war nun nicht der Fall. Wohl aber war es, als wir glücklich dort waren, innen im Hause schon ganz finster und hier gab es im Lagerraum keinerlei Beleuchtung. Wir mußten auf gut Glück auf den Gestellen herumtasten. Ab und zu schlug ich ein Streichholz an. So fiel mir einiges sehr Schöne in die Hände, das mir wohl anders nicht geworden wäre, denn dem Mann konnten wir natürlich nicht begreiflich machen, was ich suchte. Als wir endlich im Schlitten saßen, hatten wir jeder zwei große Pakete – Basseches dazu noch einen Haufen Broschüren, die er im Kloster gekauft hatte, um sich mit Material für einen Artikel zu versehen. Die lange Wartezeit in der trübselig erhellten Bahnhofsrestauration kürzten wir uns noch einmal mit Tee und Sakuska. Ich war müde, begann auch, mich etwas unwohl zu fühlen. Nicht ohne Zusammenhang damit stand die Angst, mit der ich an das Viele dachte, was in Moskau noch zu erledigen war. Die Rückfahrt war pittoresk. Im Waggon brannte eine Laterne, aus der unterwegs das Stearinlicht gestohlen wurde. Unweit von unsern Plätzen stand ein eiserner Ofen. Unter den Bänken lagen, aufs Geratewohl verstreut, große Holzklötze. Ab und zu aber ging jemand vom Personal auf einen Sitz zu, hob ihn auf und entnahm dem so geöffneten truhenartigen Behälter weiteren Brennstoff. Es war 8 Uhr als wir in Moskau ankamen. Das war mein letzter Abend, Basseches nahm ein Auto. Vor meinem Hotel ließ ich halten, um zuvörderst einmal die gekauften Spielwaren abzustellen und in aller Eile die Manuscripte an mich zu nehmen, die ich nach einer Stunde Reich heraufzubringen hatte. Bei Basseches langwierige Instruktion seines Dieners, den ich gegen halb zwölf abzuholen versprach. Sodann setzte ich mich auf die Bahn, erriet mit Glück die Haltestelle, an der ich auszusteigen hatte, um zu Reich zu gehen und war eher dort als ich gehofft hatte. Sehr gern hätte ich freilich einen Schlitten benutzt, aber das war unmöglich: ich kannte weder den Namen der Straße, in welcher Reich wohnte noch fand ich auf dem Stadtplan den des nahegelegenen Platzes. Asja lag schon im Bett. Sie sagte, daß sie lange auf mich gewartet habe, nun aber garnicht mehr auf mich gezählt habe. So hätte (sie) sogleich mit mir fortgehen wollen, um mir ganz in der Nähe eine Kaschemme zu zeigen, in die sie durch Zufall geraten war. Auch ein Bad war unweit von hier. Sie war auf das alles gestoßen, als sie vom Wege abgekommen war und durch Höfe und Nebengassen sich hierher durchgeschlagen hatte. Reich war auch im Zimmer, es wuchs ihm allmählich ein Bart. Ich war sehr erschöpft, so sehr daß ich auf einige der gewohnten ängstlichen Erkundigungen von Asja (nach ihrem Schwämmchen etc.) unter ausdrücklicher Betonung meiner großen Abspannung ziemlich grob wurde. Aber es gab sich alles sehr schnell. Ich berichtete von meinem Ausfluge so gut es eben in der Kürze gehen wollte. Dann kamen die Aufträge für Berlin: Anrufe an die allerverschiedensten Bekannten. Später ging Reich hinaus, ließ mich eine Weile mit Asja allein und hörte im Radio die Übertragung der Aufführung des »Revisors« mit Tschechow im großen Theater. Am nächsten Morgen sollte Asja zu Daga fahren und ich mußte mit der Möglichkeit rechnen, vor meiner Abreise sie nicht mehr zu sehen. Ich küßte sie. Als Reich hereinkam, ging Asja ins Nebenzimmer, um Radio zu hören. Ich blieb nicht mehr sehr lange. Bevor ich ging aber zeigte ich noch die Ansichtskarten, die ich vom Kloster mir nach Hause mitgenommen hatte.

1 Februar. Morgens ging ich noch einmal in meine gewohnte Conditorei, bestellte Kaffee und aß dazu eine Pastete. Dann ins Spielzeugmuseum. Nicht alle Photos, die ich bestellt hatte, waren angefertigt worden. Ich nahm es nicht schwer, denn auf diese Weise gelangte ich in dem Augenblick, da ich Geld am allernotwendigsten hatte, in den Besitz von 10 Tscherwonjez. (Die Photographien nämlich hatte ich vorher bezahlt.{)} Ich hielt mich im Spielzeugmuseum nicht lange auf, fuhr vielmehr schleunigst in das Institut der Kamenewa, wo ich von Dr. Njemen mich verabschiedete. Von dort im Schlitten zu Basseches. Von dort mit dem Diener ins Fahrkartenbüro und dann im Auto weiter zum Zollamt. Was von neuem dort durchzumachen war, ist nicht zu beschreiben. Vor einem Kassenschalter, {an dem} gerade Tausende durchgezählt wurden, hatte man zwanzig Minuten zu warten. Im ganzen Hause wollte niemand fünf Rubel wechseln. Es war sehr nötig, daß dieser Koffer, in dem nicht nur die schönen Spielsachen sondern auch all meine Manuscripte waren, den Zug erreichte, zu dem ich selbst das Billett hatte. Denn da man ihn nicht weiter als bis zur Grenze aufgeben konnte, so war meine Anwesenheit an der Grenze zur Zeit seines Eintreffens unerläßlich. Endlich gelang das. Aber von neuem hatte ich die Erfahrung zu machen, wie den Leuten das Knechtstum noch in den Knochen steckt. So wehrlos war dieser Diener aller Schikane und Indolenz der Zollbeamten gegenüber. Ich atmete auf, als ich mit einem Tscherwonez ihn entlassen konnte. Selber hatte die Aufregung meine Schmerzen im Rücken wieder geweckt. Ich war froh, einige ruhige Stunden vor mir zu haben. Langsam schlenderte ich an der schönen Budenreihe des Platzes vorbei, kaufte mir wieder einen roten Beutel mit Krimtabak und bestellte mir dann im Restaurant des Jaroslawski-Bahnhofs ein Mittagessen. Auch besaß ich noch Geld genug, um Dora zu telegraphieren und ein Dominospiel für Asja zu kaufen. Mit aller gesammelten Aufmerksamkeit machte ich diese letzten Wege in der Stadt; und sie machten mir Freude, weil ich mehr, als es zu Zeiten meines Aufenthaltes meist der Fall gewesen war, mich gehen lassen konnte. Kurz vor drei Uhr war ich wieder im Hotel. Der Schweizer sagte mir, daß eine Dame dagewesen sei. Sie habe gesagt, sie werde wiederkommen. Ich ging in mein Zimmer, sodann gleich ins Contor hinauf, um zu zahlen. Erst als ich wieder herunterkam, bemerkte ich auf dem Schreibtisch einen Zettel von Asja. Sie habe lange auf mich gewartet, noch nichts gegessen und sei in der Stolowaja nebenan. Ich solle sie holen. Ich eilte auf die Straße und sah sie mir entgegenkommen. Sie hatte nichts als ein Stück Fleisch gegessen, war noch hungrig und ehe ich sie noch in mein Zimmer geführt hatte, lief ich wieder zum Platz hinaus, holte ihr Mandarinen und Näschereien. In der Eile hatte ich meine Zimmerschlüssel mitgenommen; Asja saß im Vorraum. Ich sagte: »Warum bist Du nicht reingegangen? Der Schlüssel steckt doch!« Und mir fiel die seltene Freundschaft in ihrem Lächeln auf, als sie »nein« sagte. Diesmal war Daga in guter Verfassung gewesen, mit der Ärztin hatte Asja eine sehr scharfe erfolgreiche Aussprache gehabt. Nun lag sie bei mir im Zimmer auf dem Bette, ermüdet aber es ging ihr gut. Ich saß bald bei ihr, bald am Tische, wo ich ihr Kuverts mit meiner Adresse schrieb, bald trat ich zum Koffer und packte das Spielzeug, meine Einkäufe vom vergangenen Tage aus und zeigte sie ihr. Sie hatte große Freude daran. Unterdessen aber – nicht unverursacht auch durch meine große Erschöpfung – kamen die Tränen mir immer näher. Noch besprachen wir einiges. Wie ich ihr schreiben könne und wie nicht. Ich bat sie, mir einen Tabakbeutel zu machen. Zu schreiben. Endlich, wie nur noch Minuten blieben, begann meine Stimme unsicher zu werden und Asja sah, daß ich weinte. Zuletzt sagte sie: Weine nicht, sonst muß ich zuletzt auch weinen und wenn ich einmal zu weinen anfange, höre ich nicht so schnell auf wie Du. Wir umarmten uns fest. Dann ging es hinauf ins Comptoir, wo es nichts zu tun gab (aber auf den Sowjeduschi wollte ich nicht warten), das Zimmermädchen erschien – ich schlich mich ohne Trinkgeld zu geben davon, mit meinem Koffer zur Hoteltür hinaus und Asja, mit Reichs Mantel unterm Arme, folgte mir. Gleich ließ ich sie einen Schlitten anrufen. Aber als ich einsteigen wollte und schon nochmals Abschied genommen hatte, hieß ich sie bis zur Ecke der Twerskaja mitfahren. Da stieg sie aus, ich riß während der Schlitten schon anzog, noch einmal hier auf offner Straße ihre Hand an meine Lippen. Sie stand noch lange und winkte. Ich winkte aus dem Schlitten zurück. Erst schien sie abgewandt zu gehen, dann sah ich sie nicht mehr. Mit dem großen Koffer auf meinem Schoße fuhr ich weinend durch die dämmernden Straßen zum Bahnhof.

Tagebuch meiner Loire-Reise

12 August 1927 Ich werde mich mit Stichworten begnügen. Die bekannte Qual der Einsamkeit, die mich besonders auf Reisen überkommt, nimmt zum ersten Male die Züge des Alt-Seins an. L. ist nicht mitgekommen. Die Chancen für ein Mißverständnis sind nicht mehr als 10 %. 90 % Chancen bestehen dafür, daß ich auf die banale Art genasführt bin. Freilich habe ich absichtlich die Möglichkeit dazu gegeben. Das erscheint jetzt als Fehler. Wäre sie gekommen, so wäre es die Grundlage des Vergnügens an dieser Reise gewesen.

Ich kann überzeugt sein, daß ich jetzt, einsam, alle Plätze finde, an denen es mit ihr reizend gewesen wäre. So sitze ich nun in einer kleinen ganz stillen und sehr guten Wirtschaft, Hotel St Catherine in Orléans. Der Tisch hat genau die Breite, an dem es gut ist, einander gegenüberzusitzen. Die elektrischen Birnen im Raum sind so schwach, daß ich kaum schreiben kann.

Bis mittags habe ich geschwankt, ob ich überhaupt, nun, allein, fahre. Wenn nicht Scholem heute ankäme, hätte ich es wahrscheinlich nicht getan. Aber ich bin geflohen. Ich könnte jetzt seine manchmal etwas ostentative Selbstsicherheit einfach nicht ertragen.

Heute nachmittag sah ich die Kathedrale von Orléans und notiere: moderne farbige Scheiben, die garnichts bedeuten. Dagegen oben in den Emporen weiße Scheiben. Auch die Rose über dem Portal ist weiß: eine Polarsonne. Hinter den weißen Scheiben der Seitenschiffe sieht man verdämmernd die Strebepfeiler wie Gestade von Brockennebel. Im Querschiff haben Fensterrosen grelle barbarische Farben in Rot und Gelb. – Eine unglaubliche Schönheit der Außenseite: der Chor hat außen eine Basis aus Stein aus der heraus sich die Pilaster und Schäfte heben. Sie wurzeln gleichsam im Mauerstein.

Während ich durch die Kathedrale ging, probte der Organist.

Ich könnte über alles und gerade das Unwichtigste, weinen: daß ich nicht französisch auf dieser Reise spreche. (Überhaupt nichts!) Weinen, wenn ich an Rue de Reuilly denke, eine für mich zauberhafte Vokabel, die ich nicht mehr handhaben kann.

13 August. Auf dem Bahnhof in Orléans, im Zug nach Blois. Ich schlief besser als ich dachte. Vom Hotel aus ging ich nochmals zur Kathedrale. Diesmal näherte ich mich ihr von der Seite des Hôtel de Ville, dem gegenüber sich ältere Häuser auf einer schönen Rampe erheben. In der Kathedrale erfuhr ich, welche Bewandtnis es mit dem roten Hut hat, der von der Decke herabhängt. Es ist der Hut eines Kardinals (wahrscheinlich des zu Füßen der Statue der Jeanne ruhenden Kardinals Touchet) der dort hängt und hängen bleibt, bis er von selber herunterfällt. – Von weitem, vo{m} Boulevard St Vincent aus gesehen sind die Strebepfeiler gebrochene Stücke aus der Dornenkrone Christi. Nirgends sah ich eine so dornige Kathedrale wie diese mit ihrer eiskalten Rose.

Beim Gang durch die Stadt, in der ich alle Kirchen aufsuchte, die im Führer stehen, fiel mir ein, L. kann sehr gut wirklich fort gewesen sein, nämlich eine Reise mit ihrem Freund gemacht haben. Möglichkeit erwogen, kurz vor der Abreise nach Berlin nochmals in ihrer Wohnung vorzusprechen oder das Hotel in der Rue de la Chapelle, wenn möglich beobachten.

Orléans ist ein Zentrum des Angelsports. Ein sehr verführerisches Geschäft mit sämtliche{m} Bedarf dazu »Le Pêcheur Moderne« in der Rue de Bourgogne.

In Blois. Hier auf der Terrasse hinter der Kathedrale St Louis muß man sitzen, um die berühmte französische clarté, die französische limpidité, die Ordnung in vollendeter Einstimmigkeit von Landschaft, Gartenkunst, Architektur vor sich zu haben. Gottseidank ist der Himmel ganz voller Regenwolken, die Sonne ist verschwunden. In mir habe ich noch immer die Bitterkeit, ein aufgerührter Grund, der sich nicht wieder setzen will. Es war ein ganz untrüglicher Instinkt in mir, der mich hieß, gerade diese Reise mit L., mit einer Pariserin zu machen. Als Landschaft entzieht sich die Abwesende mir zum zweiten Male und in jeder Minute von neuem. Landschaften, Höfe stelle ich als Rahmen um sie herum, die alle leer bleiben. Und die winzige Einflüsterung meiner Eigenliebe, das alles sei Verfehlung, nicht Arrangement, macht die Sache noch schlimmer. Immerhin will (ich) nach der Rückkehr, meine Bemühung, sie wiederzufinden, nicht zu weit gehen lassen. In Paris kann ich auf sie verzichten, kann sie sogar, wie die Dinge nun liegen, kaum brauchen. Am meisten habe ich während der Führung im Schloß von Blois gelitten. Hier hätte ihr Erstaunen alles erträglich wenn nicht freundlich gemacht. So sah ich in den leeren Räumen, an deren Wänden Bemalung die ehemalige Bespannung mit Gobelins oder korduansischem Leder nachahmt, nur, daß ich fast der einzige war, der allein war. Ich bin garnicht weit ab vom Weinen; wozu das alles, nicht nur diese Vorbereitungen sondern dies Sich-Verändert-Haben, wenn nicht einmal der einfältigste kleine Reiseplan, den jeder Commis durchführen kann, mir glückt. Soll ich nie wieder mit einer Frau, die ich begehre, reisen?

15 August Ich beobachte mit Erstaunen den Einfluß des Komforts auf meine trübe Stimmung. Da ich ...

Am gleichen Tag, abends. Kurz, ich habe ein luxuriöses, ausgezeichnetes Zimmer, das mir, so gut es geht, L's Stelle vertreten muß. Ich werde sie vermutlich nicht wiedersehen und ich werde auch nur sehr moderierte Anstrengungen in dieser Hinsicht machen. Aber ich habe mich dabei überrascht, daß ich mir ihr Gesicht hervorzurufen suche, und zwar um das darin zu finden (jenes Kalte, jedem Kontakt mit mir sich Versagende) in dem ich den Ursprung der augenblicklichen Lage zu sehen habe. Diese Bemühung war heute nachmittag unter den Bäumen vorm Café Universel, im Rücken der großen Balzac-Statue, die den Meister im Schlafrock zeigt.

Nur der Anblick der Bauwerke gibt wirklich das Gefühl, angekommen zu sein: hier (in Tours, oder sonstwo, und nirgend anders) zu sein. Ich stand hinterm Chore von Saint-Gatien. Mein Blick ging auf die ganz tote graue und unscheinbare Außenseite der berühmten Glasfenster, wie ich vorher die Fassade sitzend, von einer Bank aus betrachten konnte, so nun die Rückseite an eine Mauer lehnend. Es gab mir einen Chock. Gegen diese Ruhe, diese Gegenwart, die im Anblick großer Architekturen eingelöst wird, ist all unser tägliches Treiben Eisenbahnfahren, das nun plötzlich, mit einem Ruck einhält. Da sind wir: nichts bringt uns weiter. Tours hat die heitersten kindlichste(n) Rosen, die ich je sah, zumal die lachende überm Portal. Danach durch kleine, untersetzte Straßen hinterm Dom. Aber welche Namen: Rue Racine, Rue Montaigne. Und jener Platz ist der des Gregor von Tours. Eine Frau trug Zeitungen aus und sie stößt ins Hörn: ein letzter Überrest des mittelalterlichen Ausrufers – wahrscheinlich. Die Häuser sind zweistöckig, aber viel niedriger noch sind die Mauern der Höfe, in denen die Türen sind.

In der Kathedrale wurde ich plötzlich heiter, mir fiel ein, heute vor einem Monat war ich in Chartres – noch nicht ein Monat seit ich L. kenne – zwischen diesen beiden Kathedralen war sie (diese rose parisienne) wunderbar eingepflanzt. Und damit gut. Sie hatte ihren Ort.

16 August Ich bin nochmals in St Gatien gewesen. Die Scheiben müssen von Anfang an verschossenen Sammetgewändern so ähnlich gesehen haben wie jetzt. Übrigens ist diese Rose ein unübertreffliches Symbol der kirchlichen Denkungsweise: außen verschiefert, schuppig, beinahe aussätzig, innen blühend, rauschhaft und golden. Wenn man ans andere Ufer der Loire hinüberkommt, sieht St Gatien nicht gotisch, wie es sich gebührte, über Giebel hinüber sondern erhebt sich über dem Laubwerk der Bäume auf den Loire-Inseln und auf der Uferpromenade. – Gestern sah ich auf einem Dach zwei Kaminhauben hoch über die Stadt sich heben: ein neues Paradies, das Vergil mit pathetischer Geberde einem frostig in sich zurückschauernden Dante zeigt. – Die Kathedrale geht vorn auf die place du quatorze juillet hinten auf die place St Grégoire de Tours hinaus; ruht mit dem Haupt gewissermaßen auf einem Kissen und mit den Füßen im Wasser. Zu den Straßennamen: auf dem Schilde der Rue Auguste Comte steht neben der Jahreszahl die Angabe »Positiviste«. Was müssen die ausgezeichneten Leute sich darunter denken. – (Hinter der Kathedrale: Rue du petit coupidon)

Ich hätte auf dieser Reise ein Photo von L. machen lassen. Im übrigen habe ich meinen nicht allzu zerstörten Gleichmut mir mit der Annahme wiederverschafft, ihr Fortbleiben sei Einfluß eines Dritten. Denn, meine Eigenliebe, auch die Wahrscheinlichkeit, läßt nicht zu, daß sie mich von Anfang bis zu Ende betrogen habe. Und anzunehmen, daß eine fehlerhafte Verabredung schuld sei, würde mich rasend machen.

Ich habe nie eine Stadt wie Tours gesehen (es sei denn Heidelberg) die der Landschaft so sehr das Ihre läßt. Kaum daß in die Loire-Ufer ein leichtes Grau (sich) mischt, wo sie die Stadt durchziehen. Und ins Land hinein zieht der Boulevard Grammont sich wie durch festlich bebaute, besiedelte Wiesen. Die große steiner{n}e Brücke schwingt niedrig wie eine Hand, die ihn streichelt, sich über den Fluß. Alles ist niedrig außer ein paar hohen Türmen. Es ist eine Stadt à la portée des enfants; mir macht es Vergnügen, daran zu denken, daß der große katholische Jugendschriftenverlag Mame in Tours ist.


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