Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Grips III

Psychose

»8.15 Uhr. Heute wieder um sieben und eine halbe Minute später aufgewacht als vorgenommen. Sehr beunruhigt darüber. Sanitätsrat angeläutet. Er mir nur kurze Auskunft gegeben (deshalb nicht mehr konsultieren!): Alterserscheinung. Lächerliche Ausflucht, weil schwierige Konflikte in meinem Seelenleben nicht diagnostizieren kann. (Auch deshalb nicht mehr konsultieren!) Beim Morgenspaziergang über neuen Arzt nachdenken. Jetzt Eintragung unterbrechen. 8.20 Uhr im Radio Wetterbericht hören, wie mich zum Morgenspaziergang kleiden muß.«

Kanzleirat a. D. Malepartus Blase numeriert die 10 973ste Seite seines Tagebuches, klappt es vorsichtig zu. Streicht mit der Hand wie allmorgendlich prüfend über die Geheimratsecken, ob sie sich vergrößert, die mächtige Stirnkuppel mehr freigegeben haben. Konstatiert mit raschem Blick in den Taschenspiegel, daß seine Ähnlichkeit mit Gerhart Hauptmann in erster und Wolfgang von Goethe in zweiter Linie über Nacht beträchtlich gewachsen ist. Entdeckt zugleich einen tieferen Ausdruck Leid in seinen Zügen. Grübelt darüber nach. Vergißt das Radio. Klappt in Gedanken das Tagebuch wieder auf, setzt bekümmert seine Eintragungen fort –:

»8.21 Uhr. Tragödie meines Seelenlebens immer deutlicher auf meinem Antlitz sichtbar. Nochmals Gründe aufzählen.

Römisch I: Allgemeiner sittlicher Verfall der Menschheit.

Beweis a) Der kurze Rock. In Klammer: und was er logischerweise nach sich zieht. Klammer zu.

b) Dieses Jahr laut amtlicher Statistik nur vierzehn neue Homerausgaben erschienen gegen sechszehn laut vorjähriger Statistik.

c) Wurde gestern von pöbelhaftem Arbeiter angerempelt, obgleich deutlich erkennbar »Die Weber« unterm Arme trug.

d) Laut eigener Beobachtung spielt Radiokapelle wöchentlich ein Drittel mehr Jazzmusik als klassische. Diesbezügliche Eingabe meinerseits wird abgelehnt mit der Begründung, daß so dem allgemeinen Geschmack der Hörer entspräche. Gedankenstrich. Neuer Abschnitt.

Römisch II: Mein Ehezerfall.

Letzter Beweis: Selma weigert sich noch immer, ihr Hebammenschild von der Hauswand zu entfernen, obgleich laut Ehevertrag Paragraph 7 dazu verpflichtet.

Neuer Abschnitt. Obige Gründe genügen.

Notwendigkeit, energisch gegen diese immer wildere Selbstzerfleischung vorzugehen, zumal Menschheit meinem Leid an ihr völlig verständnislos gegenübersteht. Klammer: Schicksal aller höheren Menschen. Klammer zu.

Auch darüber beim Morgenspaziergang nachdenken.«

In diesem Zusammenhang erinnert sich Malepartus plötzlich des Radiowetterberichtes, von dem seine Morgenkleidung abhängt: leichte, puffige Knickerbockers oder Weimarer Rock mit Plasteron. Faßt den Kopfhörer. Schaltet ein.

Statt der gelangweilten Ansagerstimme zerschneidet seine von den vorigen Gedanken erschütterten Nerven ein bestialisches Gepolter, Klirren, Krachen und Splittern – in einer langen Keifschleife endend, die Blase sofort als Dienstmädchen Frida Abendmatt angehörig identifiziert.

Nichts Gutes ahnend, öffnet er die Tür zu jenem Raum, den er selbst durch ein großes Schild als »Sammlung Blase« bezeichnet hat, weil darin seine umfänglichen Bronzetten-, Reptils-, Schmetterlings-, Gesteins-, Münzen-, Buch-, Briefmarken- und Kakteen-Kollektionen aufgestapelt sind.

Erstarrt auf der Schwelle.

Eine kulturwissenschaftliche Katastrophe grinst ihn an.

Der an Silberfäden mitten im Raume hängende Bronzebuddha – statt, zwischen Himmel und Erde zu hocken – hat sich auf das unter ihm ruhende Aquarium voll echt japanischer Zuchtgoldfische gestürzt; dreien davon den Zuchtgoldschwanz abgehauen. Das Glas in tausend Stücke geschlagen, den Vitrinenboden durchlöchert; sich gierig in die darunter schlummernde Briefmarkensammlung gewühlt, die entsetzt in alle Winde zerstiebt ist; landet schließlich mit zerbeultem Hinterkopf dicht vorm Kakteenregal, aus dem Hunderte Stacheln sehnsüchtig nach ihm langen, dem Schandtäter trotz seiner Göttlichkeit kräftig den Hintern zu zerstechen.

Auf dem Teheraner Kultteppich spielt sich eine Sintflut en miniature ab. Hunderte ehrwürdiger Briefmarken sind in dem niedergeschwabberten Goldfischwasser ersoffen. Pietätlos fressen die Wasserflöhe den Königsbildern die Nasen weg. Überall herrscht Wassernot. Nur die Goldfische – meterweit geschleudert – liegen trocken, zappeln verzweifelt, schnappen nach Luft, ersticken in dem Bücherstaub.

 

Malepartus Blase übersieht sofort: der Sachschaden ist enorm. Seine Goldfische waren die gesuchtesten Zuchtexemplare von ganz Deutschland. Der Buddha – ein Glanzstück seines Genres – muß mit zerbeultem Hinterkopf fünfzig Prozent abgeschrieben werden. Was von den Briefmarken nicht bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, klebt an Fridas dreckigen Filzsohlen, die mit höhnischer Wollust darauf herumlatschen. Schmerzzerissen erkennt er Fetzen der kostbaren Mauritius, eine ganze Serie Thurn und Taxis, Mehrhundertmarkwerte, völlig demoliert.

Gelähmt von der Katastrophe, kreisen in seinem Gehirn zwei Gedanken: hinspringen! retten, was noch zu retten ist! – und: rasch den Schaden überrechnen; mit einem Wort und der vierstelligen Schadensumme das Subjekt, die Frida, zu Boden schmettern.

In der Aufregung verfitzen sich die beiden Triebe, stellen einander Beine, unterbinden sich gegenseitig das Lebenslicht, so daß sie als jämmerliche Wechselbälger zur Welt kommen. Die Hilfsaktion als verstauchte Kniebeuge, die niederschmetternde Zahl als unartikuliertes Gurgeln.

Dienstmädchen Frida Abendmatt spürt etwas wie Widerstand. Von ihrer Mutter, die den Kanzleirat gewiegt und gesäugt hat, dazu erzogen, Malepartus Blase als ungeschickten dummen Bengel zu behandeln, obgleich er einige fünfundzwanzig Jahre älter ist als sie; durch irgendeinen anatomischen Konnex die kleinste Handbewegung mit Schimpfgeknatter begleitend, empfindet sie jede Einmischung in ihre Hausangelegenheiten als persönliche Beleidigung. Daß sie beim Abstäuben den Buddha per Besenstiel heruntergelangt und damit das Unglück verursacht hat, ist ihre eigenste Angelegenheit. Was hat der Junge ihr da hineinzuquatschen.

Wie eine schlechtgeölte Dampfwalze quietscht sie los:

»Da hammse de Bescherung!

Seit zwanzj Jahren predge ich, sie solln den ollen Gipsonkel in die Scherbenkiste schmeißen. Daß der mal hier runterpumpern würde, konnte doch e Blinder sehn.

Nu binj noch so gut un zerschneid mer de Pfoten mit dem Scherbengelumpe. Dreck verfluchter!«

Und dabei zerlatscht sie einen Satz brasilianischer Fehldrucke aus den fünfziger Jahren, Blases wertvollsten philatelistischen Besitz.

Dem Kanzleirat fährt der Schreck in die Zähne.

Mit einem Verzweiflungsschrei will er ihr die Sohlen von den Plattfüßen reißen. Rammt sich beim Niederschnellen an den Besenstiel. Ist so vor den Kopf gestoßen, daß sein wilder Zorn in wehleidigem Jammern verebbt –:

»Konnten sie nicht vorsichtiger auskehren, Fräulein Frida. Was denken sie, wie hoch der Verlust roh berechnet ist –?«

Und damit schnappt er Luft zu einer vierstelligen Bombenzahl. – Frida wird zu weinen beginnen, da sie nie daran denken kann, den Schaden wieder gutzumachen. Trotz seines eigenen Kummers wird er sie trösten, Absolution versprechen. Aber sie sähe ja selbst, daß es nicht so weiter gehe. Sie müsse den Dienst quittieren. Das Gnadenbrot werde ihr selbstverständlich gewährt.

Aber wieder bleibt ihm das erste Wort in der Kehle stecken. Frida hört überhaupt nicht auf sein Gejammer; rollt den Teppich samt Scherben, Goldfischleichen und Briefmarkenresten zusammen, steuert geradewegs zur Tür.

»Wohin –?«

– schluchzt er auf und verrenkt die Arme, einen Zipfel des Teppichs zu erwischen.

»Na – auskloppen! Der Test muß doch runter!«

»Test –? – wimmert er.

»Wissen sie, daß an dem Teppich mein halbes Vermögen klebt –? Jede einzelne Briefmarke ist mir teurer als sie samt ihrem vermaledeiten Reinmachefimmel!«

 

Frida ist beleidigt.

Wegen dieser ausgefranzten Papierlappen wagt der Bengel das erste Mal seit Jahren wieder laut zu werden. Da soll er's aber mal gründlich hören!

Knacks –, den Lautsprecher auf äußerste Stärke gestellt. Losgerattert:

»Machnse bloß keen Käseladen off!

Mit ihrem Sammelpipmatz! Das gehörtsj überhaupt nich fürn erwachsnen Menschen, seine Zeit mit dreckjen Briefmarken un Kaktussen zu verplempern!

Weil se nischt Vernünftjes zu tun ham!

Ich, wenn ich ihre Frau wäre, würde ihn' ne Küchenscherze umbinden un erscht mal arbeetn lern!«

Knacks –, Lautsprecher zu.

Teppich ihm auf die Hühneraugen gepfeffert. Türe zugekracht, daß dem Lausejungen das Frechwerden in Zukunft vergeht.

*

Malepartus Blase starrt ihr sprachlos nach.

Das hat ihm noch niemand gesagt! – Und diese Person ist von ihm fast dreißig Jahre ernährt, gekleidet, stets anständig behandelt worden. Ängstlich hat er sich immer bemüht, sie die Dienstbarkeit nicht fühlbar werden zu lassen. Ergebnis –: sie lappt ihn ab wie einen Schuljungen!

Er ist bereit, seine soziale Ader radikal verkalken zu lassen. –

Warum überhaupt hat er sie nicht längst hinausgeworfen? Fühlt er sich etwa wohl in ihrer Nähe –? Stört sie mit ihrer aufdringlich lauten Art nicht fortgesetzt den Frieden des Hauses? Ja, zittert er in seiner Eigenschaft als Hausherr nicht geradezu, wenn sie im Nebenzimmer rumort, daß seine mühsam aufgebauten Gedankengerüste durch ihre Knatterei glatt zusammenstürzen –?! Dazu ist sie häßlich wie die Pest. Dürr, runzlig, mit Knorpelnase und Kaffernmaul. Schielt übers Kreuz. Zum Teufel! was hält ihn ab, diesen permanenten Albdruck einfach abzuschütteln –?!

Unwillkürlich packt er den Teppich fester, schwingt ihn hoch – etwa wie der Urmensch den Baumstamm, seinen Feind zu erschlagen.

Aber Teppich bleibt Teppich und Blase ebenfalls Blase.

Es könnte bei der Entlassungsmitteilung zu einer Aussprache kommen. Und sie hat nun einmal ein unglaubliches Schandmaul. Wahrscheinlich käme Malepartus überhaupt nicht zu Worte. Wie oft hat er's schon versucht; und am Ende mußte er ihr noch demütig danken, daß sie bei ihm bleiben wolle, da sonst die ganze Wirtschaft auseinanderfiele.

– – – – Schließlich ist es eine schöne, bürgerliche Sitte, alte Dienstboten nicht aus dem Hause zu jagen, wenn sie arbeitsunfähig werden. Gewiß handelt er so recht im Sinne seiner seligen Eltern, die Fridas Mutter immer sehr geschätzt haben. – Und tüchtig ist sie vor allem. Hat sich völlig seinem Leben angepaßt, wird ihm nie lästig, tut immer das Richtige am rechten Ort. Er kann sich nicht erinnern, daß sie jemals etwas zerbrochen …

Hier macht der Buddha eine protestierende Bewegung, klirrt an eine Glasscherbe.

 

Der Kanzleirat erwacht aus seinen Träumen. Erinnert sich des furchtbaren Unglücks. Nimmt es, nimmt Frida und ihre Brutalität gegen ihren Wohltäter als unabänderliches Fatum. Ergänzt seine Seelenleidstabelle um Römisch III: Fridas Rohheit und Undankbarkeit.

Beweis a) Sie demoliert meine kostbare Goldfisch- und Briefmarkensammlung bis auf die Grundmauern; beschimpft mich beim Hinweis auf die zerstörten Werte in übelster Weise. –

Seufzend beugt er sich nieder, beginnt mühsam Marken- um Marken-, Goldfisch- um Goldfischleiche aufzulesen. Verfällt beim Anblick seiner aufgebahrten Lieblinge in immer tiefere Trauer. Notiert schmerzverschleiert:

Zu Römisch I: Kulturzerfall.

Beweis e) Mitgefühl mit dem gewöhnlichen Volke führt notwendig zur Überhebung desselben. Siehe auch die sogenannte Revolution 1918.

*

Eine Stunde lang ist Malepartus mit Pinzette, Lupe, Federwisch und Registriertabelle beschäftigt, den Schaden auf Heller und Pfennig zu berechnen; noch Verwendbares nach entsprechender Abschreibung wieder einzuordnen; eine genau spezifizierte Lohnabschreibungsliste für Dienstmädchen Frida Abendmatt anzufertigen. Eine weitere Stunde grübelt er nach, wie er dieselbe derselben umgehend zustellen könne – ohne dabei aufs neue beleidigt zu werden. Schließlich wählt er den Post-Einschreibeweg. Der beigefügte, kurze Bericht enthält die nochmalige, genaue Schilderung des Unglücks und »die Notwendigkeit, bei Abwesenheit jedes anderen in Frage kommenden Täters Betitelte allein als schuldig ansprechen zu müssen«; die Rateneinteilung von je dreiunddreißig ein Drittel Prozent Lohnbrutto monatlich, wonach Dienstmädchen Frida bis in ihr hundertundzwanzigstes Lebensjahr abzahlen müßte.

Gerade will er ins Nebenzimmer, ihn frankieren. Da stößt er im Türrahmen auf Hebamme Selma Leistenbruch, seine ihm gesetzlich angetraute Ehefrau.

 

Jedermann wird bei deren Anblick erkennen, daß man hier nicht von einer Liebesheirat sprechen darf. Der aus lauter kleinen Ferkelhintervierteln zusammengeklatschte Dreizentnerkorpus der Hebamme würde es dem spitzesten Pfeile Amors unmöglich machen, bis zu Selmas Herzen vorzudringen, dieweil er unterwegs längst in Fettümpeln elendlich ersoffen wäre. Weshalb sich Malepartus Blase trotzdem entschloß, sein schmales Junggesellenbett mit einem Vierquadratmeterkasten zu vertauschen, wird die sehr offenherzige Selma wenige Zeilen später selbst enthüllen.

Gewisse, noch zu erörternde Umstände haben dazu geführt, daß jedes Zusammentreffen des Kanzleirats mit der Hebamme statt in eheliche Zärtlichkeiten in einen Verzweiflungskampf Blases um seine elementarsten männlichen Rechte ausartet. –

Sobald er sie also jetzt erblickt, straffen sich seine Sehnen zu blindwütiger Abwehr. Die Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte gestützt, den Oberkörper kampfentschlossen vorgestreckt, mit gesträubtem Haupthaar, macht er den Eindruck eines gereizten Katers. Eröffnet fauchend die Kampagne:

»Guten Morgen! Ich bin sehr erstaunt, dich in meinen Gemächern anzutreffen. Laut Ehevertrag Paragraph 4 bist du von 8 bis 10 Uhr morgens ohne meine Einwilligung nicht berechtigt, dich hier aufzuhalten.«

Wie aus dem Magen eines Preisschweins grunzt es gemütlich Antwort:

»Hui – jui – jui – jui – jui – –«

Vor Blases starren Pupillen schnüffelt ein rosiges Schweineschnäuzchen zärtlich auf und ab, daß er angewidert einige Schritte zurückweicht.

Das Grunzen geht in fettige Laute über:

»Hör mal, Kleiner. Was hast du wieder mit der Frida gehabt? Die knettert in der Küche herum. Will dir nächstens den ganzen Krimskrams hier in Scherben schmeißen. Fröschlein, Fröschlein. Ich soll mich wohl wieder mal nachts auf dich drauflegen, daß dir'n paar Rippen krachen, he –?!«

Und dabei klatscht sie ihm behaglich auf den Podex; intoniert eine Lache, deren Resonanz ihm das Trommelfell zu zerreißen droht.

 

Blase bekommt Nervenzucken.

– Unerhört, wie diese Weiber mit ihm umzuspringen belieben! Bei der Frida ist das noch verzeihlich, denn als gewöhnlichem Dienstmädchen muß ihr jedes feinere Taktgefühl mangeln. Aber von seiner Gattin kann er schließlich den nötigen Respekt vor seiner Kulturstufe verlangen. Das muß ihr ein für alle Mal klar gemacht werden! –

Noch einige Schritte zurückweichend, um aus dem Bereich ihrer deprimierenden Liebkosung zu kommen, haut er mit der erhobenen Hand jedes Wort ehern in die Luft:

»Liebe – Selma!

Erstens: Dienstmädchen Frida steht in meinem Dienst. Eventuelle Konflikte meinerseits mit ihr berechtigen dich nicht zu unerlaubten Eingriffen.

Zweitens wiederhole ich: laut Ehevertrag Paragraph 4 bist du nicht berechtigt, dich von 8 bis 10 Uhr morgens hier – –«

 

Selma hat inzwischen ihre mächtigen Keulen einer starkeichenen altdeutschen Truhe anvertraut, die ächzend Weltrekorde stemmen muß. Zieht ihr Malepartchen zu sich aufs Knie. Tätschelt mit ihren Punktrollerfingern seine Wangen; püschelt ihm zärtlich in seine Paragraphen hinein:

»Nu – nu – nu –, was hat das Kleinchen denn wieder mal für Weh-Wehchen –?«

Vergeblich versucht der empörte Kanzleirat, mit Händen und Füßen gegen seine gewaltsame Verwendung als Ammensäugling zu protestieren. Setzt wiederholt zu einem kurzatmigen:

»– – laut Ehevertrag – –« an.

Selma unterbindet jede Rechtsberufung mit einem langen, schmalzigen Pussel, das Blase dem Erstickungstod nahe bringt. Schnaufend vor Atemnot hört er wie durch nasse Windelhöschen:

»Is kluges Kindchen. Macht für alles drose Verträge. Vergißt nur, daß Selmatante kein Wort davon delesen hat! Hehe! hehe! hehehehe – – –!«

Wieder prasselt Trommelfeuer Gelächter auf ihn nieder.

 

Blase droht vor Wut, Scham und Empörung zu platzen. Schreiend hämmert er mit den Fäustchen wie ein ungezogener Bengel, gegen Selmas höhnisch schwappernden Busen:

»Das ist eine Gemeinheit!

Ich verlange, daß du unsern Ehevertrag sofort liest und respektierst, – wie ich ihn respektiere!!«

 

Der Hebamme gefällt das Trommeln gegen ihre Wonnekuppeln. Sie spürt dabei einen süßen Kitzel; ermuntert Malepartchen, wacker weiter zu dreschen; schließt wollüstig die Augen. Leider versagt er schon nach wenigen Sekunden, muß erschöpft die Arme senken. Liegt schlaff wie ein satter Säugling in ihren Armen, läßt sich willenlos von ihr wiegen.

Über ihm grunzt es wieder drohend:

»Was will denn der Kleine, he –?

Hat denn das Fröschlein jemals selber den Ehevertrag erfüllt? Was schreit denn das Kindchen –? Hats mir denn schon mal bewiesen, daß es ein Mann ist und ich eine Frau, und daß es schließlich noch einen Zweck hat, nachts in einem Bette zusammenzuliegen, he –?! Wie wärs denn mit diesem Eheparagraphen, Bläschen –?!?«

Und schon der Gedanke daran erzeugt in ihr Wonnewellen Schweiß, die Blases schwachem Sexus einen Ohnmachtsanfall zuwedeln.

 

Wie ein epileptischer Bandwurm wühlt ihr Wiegenlied in seinen Gedärmen.

– Jetzt wird sie gleich zärtlich werden! Das sind die entsetzlichsten Stunden in seiner Ehe, die stets mit wochenlangen Sehnenschmerzen, Muskelquetschungen und Nierenreißen enden. – Um Gotteswillen, aus ihren Klauen flüchten!

Mit aller Kraft rafft er sich hoch, strampelt gegen ihre sich näher und näher schiebenden Scyllaschenkel, heult wie ein kopierter Pavian:

»Davon steht nicht das Geringste im Vertrag! Der Passus lautet: Die Ehe ist eine Gemeinschaft zur Erleichterung und Verschönerung des gegenseitigen Lebensabends!«

Aber Selma ist unerbittlich.

Sein verzweifeltes Strampeln steigert ihre erwachten Liebesbedürfnisse. Wollustschnaufend schaukelt sie ihren Gatten auf den Knieen auf und nieder, keucht dazu im Takt:

»Komm – erleichtern wir uns – Fröschlein!
Rasch – verschönern wir uns – Partchen!
heia – heia – hoppsassa!!«

Wie ein Gummiball federt der Kanzleirat auf und ab. Erleidet einen Schwindelanfall. Greift balanzesuchend in die Luft – Selma gerade ins Gesicht. Verstaucht ihr das Nasenbein, daß sie vor Schmerz aufheult, ihn beiseite stößt, mit blutender Nase zum Ausguß galoppiert.

 

Von der erdrückenden Umklammerung befreit, seine Feindin blutend, wehrlos in ungefährlicher Entfernung erblickend, kehrt Malepartus der männliche Mut scheffelweise zurück.

Im Nu hat er sich auf die Beine gestellt, strafft die Energiefalte über der Nasenwurzel – wie er es in seiner Jugend an Nietzschebildern studiert hat, haut wieder jedes Wort ehern in den Äther:

»Schäme dich, Selma, mit solch gemeinen Absichten in den heiligen Stand der Ehe getreten zu sein! Nur der öffentliche Skandal hält mich ab, daraufhin die Scheidung wegen unziemlicher Anträge deinerseits an mich einzuklagen!«

 

Selma hält ihre Nasenlöcher dicht an den Wasserhahn.

In Eilmärschen strömt das Blut zu Kopf, verwandelt ihre dickleibige Gutmütigkeit in rotgeschwollenen Zorn. Wütend über sein blödsinniges Gemecker jault sie zu ihm hinüber:

»Genier dich man bloß nicht! Skandaliere man, Frosch! Meinetwegen kanns den größten Sensationsprozeß geben. Ich verliere nichts dabei als dich ausgekrähten Suppenhahn! Aber das sag ich dir: Blatt nehm ich mir beim Richter nicht vor den Mund! Wissen sie – sag ich – warum die Vogelscheuche dort mit mir in den heiligen Stand der Ehe treten wollte, Herr Richter, he –? Was der für Absichten hatte –? Weil gerade Inflation war, und der pensionierte Herr Kanzleirat nischt zu fressen hatte; und ich von meinen Wöchnerinnen einen satten Batzen Geld verdiente. Sonst hätte sich der hochnäsige Herr Kakteensammler wohl gehütet, einer fetten Amme ins Bette zu kriechen, die andern Weibern die Kinder aus dem Bauche zieht!«

*

Der Herr Kanzleirat zuckt zusammen.

Die schwerste Tragödie seines Daseins, die Dutzende Seiten seines Tagebuches füllt, kommt ihm plötzlich klar zu Bewußtsein.

Wie in der Inflation der Kaufwert seiner Pension mehr und mehr sank, bis er vor der verzweifelten Wahl stand: entweder ein Stück seiner geliebten Sammlung nach dem anderen zu verkaufen – oder zu heiraten. Nach den qualvollsten Kämpfen, den einzigen schlaflosen Nächten seines Lebens, an der Grenze äußerster persönlicher Einschränkung, entschloß er sich blutenden Herzens zum letzteren, um seine geliebten Kakteen und Briefmarken zu retten.

Ein heroischer Märtyrer für die Bildung!

Annoncierte: »Hochgebildeter Herr, den ersten Kreisen angehörend, vornehmer Charakter, edles Gemüt, durch die Zeit in unverschuldete Bedrängnis geraten, sucht auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege nur Dame allererster Kreise, feingebildet, voll Kunstsinn und Naturfrische, nicht unter vierzig Jahre alt …,« worauf sich als einzige Bewerberin Hebamme Selma Leistenbruch meldete. –

Beim ersten Zusammentreffen mußte sich Malepartus krampfhaft an der Stuhlkante festhalten, um nicht umzusinken. Tagelang litt er bei Vorstellung ehelicher Zärtlichkeiten mit genannter Selma Leistenbruch an Schüttelfrost. Bat schriftlich um Bedenkzeit.

Aber die wachsende Teuerung und ihr rentensicheres Einkommen ließen sie schließlich auch Blases kritischen Augen als »den allerersten Kreisen angehörend, feingebildet, voll Kunst- und Natursinn« erscheinen.

Der ofterwähnte Ehevertrag kam zustande, den Selma unbesehen unterschrieb. Für sie war es die beste Inflationsschiebung, einen so ansehnlichen, gebildeten Mann erwischt zu haben. Sie war immer für die Bildung gewesen. Schon als Mädchen hatte sie eine Vorliebe für Akademiker, weil sie einstmals von einem solchen entjungfert worden war. Jetzt schleppte sie ihren repräsentablen Fang stolz durch ihre Marktweiber und Waschfrauenbekanntschaft. Die Zustände Herrn Blases bei diesen Visiten kann sich der Leser selbst denken. –

Aber alles Neue wird alt, zumal sich der ansehnliche Herr als Ritter Kannichtmehr entpuppte. Schließlich war sie seiner eigentlich herzlich überdrüssig.

 

Malepartus Blase andererseits hatte in dieser unglücklichen Ehe nur Leid erfahren. Die unglaubliche Figur seiner Gattin, ihr unaussprechbarer Name und Beruf, dessen degradierendes Schild unten neben dem seinen, die fortgesetzten ehelichen Vergewaltigungsversuche mit wochenlangen schmerzlichen Nachwehen, ihre völlige Unbildung und Rücksichtslosigkeit gegen seine höheren Interessen, die Knoblauchgesellschaft, die in ihren Zimmern hauste, ließen seine klassischen Schläfen vorzeitig ergrauen.

Nach der Stabilisierung, als seine aufgewertete Pension wieder ein angenehmes Leben gestattete, kam er sich oft wie der leichtsinnige Esau vor, der sein Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht verkauft hatte. Besonders, wenn er bedachte, daß er nur deshalb früher nicht geheiratet hatte, weil kein weibliches Wesen dem Idealbild, das er in sich trug, genügen konnte. Und auf unbefleckte Ideale hatte er immer gehalten! –

Ein teuflischer Gedankenkonnex führte ihm stets beim wehmütigen Gedenken dieser seiner früheren Kulturhöhe das plastische Bild seiner Selma eindringlich vor Augen.

Aber er beschloß – wiederum nach Dutzenden Tagebuchseiten Reflexion – vorbildlich ethisch zu handeln, aus Dankbarkeit bei der Hebamme zu verharren.

Auf diese Kulturtat war er nicht wenig stolz; pflegte sie in intimem Freundeskreise, so oft der Streit um das Ethos unserer Zeit entbrannte, – natürlich mit fixiertem Namen (auf welche Selbstüberwindung er nicht weniger stolz war!) breitgewalzt zu erzählen.

Jetzt jedoch, nachdem sie so erschreckend wenig Verständnis für seine aufopfernde Handlungsweise offenbart, ihn mit den gemeinsten Schmähungen und Verleumdungen überschüttet hatte, kommt ihm jäh eine andere Philosophie zu Sinn –: Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht! –

Er greift zur Peitsche. Wohlgezielt sitzen seine Hiebe.

»Selma!

Dir ist bekannt, daß meine Pension mir längst wieder ein alleiniges Leben gestattet. Übrigens immer gestattet hat. Wenn ich trotzdem bei dir blieb, bewogen mich lediglich innere Gründe, über die ich nicht reden will.

Du jedoch zwingst mich durch deine Verleumdungen, dich zu überzeugen, daß es nicht äußere Gründe waren. Ich bin zu gebildet, dir auf deine Schmähungen irgendwie zu antworten, und beantworte sie deshalb lediglich mit Einreichung der Scheidungsklage!«

 

Selma faltet gerade ihr Taschentuch zusammen, durchtränkt es mit Wasser, stillt ihr Nasenbluten. Während des Wassereinschniefens bellt sie verächtlich zu ihm hinüber:

»Feste, Frosch! Feste! Blas dich nur ordentlich auf! Kannst dir ja wieder mit eigenem die Kuddeln füllen, he! Werd schon was vermissen, wenn ich dich ausgequetschten Lulatsch nicht mehr hab!«

Wieder verkleben ihre fettigen Lachflecke ihm die Ohren.

 

Malepartus Blase steht unbeweglich.

Auf Grund der neuen Sachlage kann er jede beleidigende Äußerung dieser Person als Scheidungsursache benutzen. Momentan beschränkt er sich auf ein lippengeschürztes:

»Ich bin zu gebildet, ihnen zu antworten – –«

»Quatschkopf bist du!«

– kläfft sie zurück, von dem unaufhörlichen Nasenbluten um die Geduld gebracht.

»Stopfst dir den Holzkopf mit angefaultem Krempel voll und willst anderen Leuten weiß machen, es stecke wer weiß was dahinter! Mir kann das gar nicht imponieren, was du da immer als Bildung raussteckst! Der dümmste Säugling hat mehr Grütze in seinem Butterschädel als du Strohwisch!!«

Schreits, haut ihm den nassen Lappen rechts und links um die Ohren. Trampelt zur Tür hinaus, daß das Haus von ihrem Zentnerschritt erdröhnt.

*

Der nasse Wasserklatsch hat den Kanzleirat so überrascht, daß er vergißt, der Leistenbruch nachzurufen, sie solle unverzüglich ihr Hebammenschild von der Hauswand entfernen, ansonst er selbst es tun werde. –

Die Umstände, unter denen die Befreiung von diesem häßlichen Fettfleck auf seinem Seelenchemiset vor sich ging, sind so deprimierend, daß kein Fünkchen Freude darüber in seinem Herzen hochzuglimmen wagt. Seufzend flüchtet er wieder zum Tagebuch. Ergänzt wehmütig die Seelenleidstabelle – zu Römisch II: mein Ehezerfall.

Beweis b) Selma zeigt nicht das geringste Verständnis für mein höheres Leben.

c) Auch läßt sie jedes feinere ehegattliche Gefühl vermissen, beschimpft mich in unaussprechlicher Weise. –

Jetzt müßte eigentlich folgen:

Deshalb habe ich mich heute 9.36 Uhr entschlossen, die Ehe mit derselben zu lösen, ihr entsprechende Mitteilung gemacht.

Aber er zögert.

Was einmal in seinem Tagebuch steht, ist endgültig, unauslöschbar. Die Nachwelt darf nicht erfahren, daß auch Malepartus Blase im Zenit seiner Reife nicht von Zweifeln und Widersprüchen frei gewesen ist. Der Zweck seiner Aufzeichnungen: der Nachwelt ein steil zur Höhe führendes konstruktives Leben dokumentarisch zu überliefern, wäre verfehlt.

In diesem Sinne – monologisiert er, stumm das Zimmer durchmessend, – gibt es eigentlich auf Selmas Schmähungen nur eine Antwort –: schweigend das Leid auf sich nehmen; ihr, sofern sie aufrichtige Reue zum Ausdruck bringen sollte, zu verzeihen.

Das wäre eine sittliche Tat!

»Ja« – steigert er sich glühend weiter, unwillkürlich Jamben deklamierend:

»Würdig des größeren Manns ist,
auch ohne Reu zu verzeihen.
Jenes war christliche Art.
Dieses – sei blasisch genannt!«

Mit solchen Gedanken begibt sich Malepartus Blase, neu beschwingt, auf seinen Morgenspaziergang.

*

Die Schwingung hält den halben Weg unverändert an. Malepartus vergleicht sein hochgemutes, federndes Schreiten mit dem gebückten Dahinschleichen der anderen und ersinnt eine Fabel vom Adler im Sperlingsreich.

Aber der pralle Weimarer Rock brennt in der Julihitze auf dem sonnegekitzelten Leibe, verengt den Atem, erzeugt gedrückte Gedanken. Gegen eigenen Willen kommen ihm nochmals Satz für Satz die gehabten Auseinandersetzungen mit den zwei Frauen zu Bewußtsein. So schmerzlich die daraus resultierenden Tatsachen: Verlust eines wesentlichen Bestandteils der »berühmten Sammlung Blase« und drohender Zerfall seines ehelichen Verhältnisses – sind, ihn beschäftigt ein ganz anderes Problem.

Zweimal ist von seiner Bildung in herabsetzendem Sinne die Rede gewesen. –

An sich könnte er ja über diese Rüpeleien durchaus unmaßgeblicher Instanzen mit überlegenem Lächeln hinwegsehen, aber – und hier erst beginnt das Problem –: sie rühren einen ungelösten Konflikt in seinem Seelenleben auf, mit dem er seit dem Erwachen seiner geistigen Fähigkeiten geradezu gigantisch ringt. Es ist unzweifelhaft, daß er das sich selbst vorgesetzte, mit allen Kräften und Mitteln erstrebte Bildungsideal, gewissermaßen die höchste Idee seiner selbst, trotz jahrzehntelanger systematischer Arbeit nicht erreicht hat. Wie ein unbesteigbarer Koloß thront sie am äußersten Rande seines geistigen Horizontes; und je mehr er sich dem Gipfel nähert, umso ferner scheint er zu rücken. Mehr und mehr muß er einsehen, daß das Bildungsideal einem Phantome gleicht – in Wirklichkeit überhaupt nicht existierend, als verderbenbringendes Irrlicht den müden Wanderer immer weiter und weiter lockend, bis er in der Wüste des »Ich weiß, daß ich nichts weiß« elend verschmachten muß. Oder noch tragischer: im Nietzschewahnsinn endet.

 

In seiner Jugend hatte er – wie er später selbst ironisierte – mit diesem Wahnsinn kokettiert, weil er sich dadurch einen unsterblichen Platz im Pantheon der Wahnsinnsgenies zu sichern glaubte. Aber trotz eines ungeheuren Bücherkonsums, trotzdem er sich den Nietzsche-Schnauzbart wachsen ließ und die Augenbrauen nietzschisch nach unten bürstete, stellte sich weder Genie noch Wahnsinn ein. –

Es folgte die Entdeckung seiner frappanten Ähnlichkeit mit Gerhart Hauptmann, die zum Studium von dessen Werken führte. Aus ihnen ergoß sich ein Strom olympischer Heiterkeit über sein Wesen. Hier fand er alle Dissonanzen der menschlichen Seele zu wundervoller Harmonie vereinigt –: liebe vor allem dich selbst – und dann liebe auch ein wenig die anderen. Siehe, wie traurig das Leben ist, – und siehe auch, wie wundervoll dich diese Trauer kleidet.

 

Aber auch diese Harmonie wurde zuweilen getrübt von unausrottbaren Zweifeln; zumal wenn am Schachstammtisch, in einem Radiovortrag ein unbekanntes Wort, ein neuer Begriff auftauchte, über den Blase nicht sofort erschöpfend Auskunft geben konnte. Dann stürzte er sich wieder in die Danaidenarbeit, die er periodisch seit seinem zwanzigsten Lebensjahre vor sich her wälzte. Er begann Wort für Wort das Brockhauslexikon zu studieren.

Hier war eine Enzyklopädie aller Bildungselemente!

Vier Wochen lang fraß er täglich fünfzig neue Worte und Begriffe, bis er mit Schrecken bemerkte, daß von den ersten fünfhundert kein blauer Dunst in seinem Gedächtnis zurückgeblieben war. – Noch einmal raffte er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf, lernte Wort für Wort, Satz für Satz das Lexikon auswendig. Diesmal begann die Krise schon nach wenigen Tagen, sodaß er regelmäßig bei dem Begriff: »Aphrosyne, Unvernunft; auch als Personifikation«, den Kampf gegen die Bildung aufgeben mußte. –

Aus diesem jährlich zweimal wiederholten Repetitorium ergab sich auch das seltsame Phänomen, daß in seinen Redewendungen die Wörter mit a vorherrschten, worunter sich die unbekanntesten Begriffe wie »ablozieren, afterklauen, akzessorisch, Allotmentsystem« befanden, die kein Mensch außer ihm verstand.

 

Das Lexikonproblem im Zusammenhang mit dem Bildungsproblem taucht auch jetzt gespenstisch vor ihm auf; aber er verweist es in anbetracht seines durch die heutigen Ereignisse schon sehr geschwächten Zustandes lediglich in die Seelenleidstabelle –:

10.36 Uhr. Neuer Abschnitt. Römisch IV: Das Bildungsproblem.

Beweis a) Trotz öfterer, intensiver Inangriffnahme des Studiums der enzyklopädischen Wissenschaft scheiterte ich stets bei »Aphrosyne – Unvernunft; auch als Personifikation.«

*

In schrittgenauer Verfolgung seines allmorgendlichen Spazierganges ist er gerade fünfundzwanzig Fuß rechts vom Dom angelangt, als dessen Glocken die elfte Morgenstunde verkünden. Das Wetter ist nach seiner Feststellung: heiter, beständig, etwas bewölkt; Niederschläge jedoch nicht zu erwarten. Also steht einem Besuche des Sonnenbades nichts im Wege.

Am Tore hat er sich nach langem Erwägen entschlossen, den Sonnenstammgästen sein Seelenleidsproblem zur Diskussion freizugeben. Vielleicht hat einer von ihnen Ähnliches erlitten, vermag irgendeinen positiven Wink zu seiner Heilung zu geben.

In diesen Gedanken betritt er das Bad.

 

Seine Sonnenfreunde sind bereits vollzählig versammelt.

Dicht am Eingang döst auf einer Pritsche – alle Viere von sich gestreckt – Herr Muff. Wird von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr abends diese Stellung nicht wechseln; es sei denn, um einen deutschen Käse zu sich zu nehmen oder ihn in metamorpher Gestalt wieder von sich zu geben. Seine soziale Stellung ist so dunkel wie seine Staatsangehörigkeit, denn Eingeweihte wollen aus seinem Munde noch kein anderes Wort gehört haben als ein dumpfgeknurrtes »Tog« –, was aber ebensowohl auch »Hugh« als »shok« heißen kann. Das dichtbehaarte Äußere, der kegelförmige kahle Schädel, Hängearme und Watschgang haben Blase oft schon zu der kühnen Fantasie verleitet, er habe hier ein Exemplar jener ausgestorbenen Zwischenstufe vom Menschenaffen zum Affenmenschen vor sich, auf der die Darwinsche Theorie basiert. – Zu erwähnen wäre noch, daß Muff der beliebteste von den Sonnenbrüdern ist, weil er den sehr redseligen Mitbrüdern stundenlang geduldig zuhört – ohne sie auch nur durch eine Bewegung zu unterbrechen; außer er knurre beim Eintritt eines Bekannten »Tog« oder nehme den obenerwähnten deutschen Käse zu sich, resp. gäbe ihn von sich. –

Wenige Schritte weiter stößt Malepartus auf den zweiten Sonnenfreund: Doktor Essig.

Prustend seinen neptunischen Bauch den neckischen Duschestrahlen hinhaltend, mit beiden Händen behaglich den Hintern massierend, ist er schon wieder am Werke, alles, was denken kann und dem Duscheraum zunahe kommt, sei das nun Säugling, Sonnengreis oder Kinderfräulein, mit politischen Aufklärungsvorträgen zu bespritzen. Etwa in der Art –:

»– – Wer am Weltkrieg schuld ist, fragen sie mich –?«

– klatscht er einer taubstummen Matrone auf den Nacken, daß sie vor Schreck beinahe die Sprache wiederfindet.

»Na – das ist doch ganz klar!

Sehen sie: damals, als der Zar und der König von England bei Wilhelm in Potsdam zu Besuch waren; wissen sie, bei der Hochzeitstafel vom Eitelfritz; na also – da haben sich die beiden Halunken doch schon übers Kreuz zugeblinzelt als wie –: wir zwei Beiden werden das Kind schon schaukeln!«

Oder er attackiert einen achtjährigen Jungen, der ihm bewundernd auf den rostbraunen Bauch starrt –:

»Die Kerle, die Dichter, sollten sie allesamt unter Sittenkontrolle stellen! Weißt Du, warum?«

»Nö« – klönt der Junge frech zurück.

»Na – dann sags mal deinem Lehrer, und der soll sichs hinter die Ohren schreiben. Das ist doch ganz klar! Weil den Schmierfinken keiner ordentlich auf die Finger sieht, werden sie übermütig und kriechen uns in die innersten Eingeweide hinein. Na, und hast du schon einmal einen anständigen Menschen gesehen, der wissen will, wie es in seinen Eingeweiden aussieht –?!«

– – – – – –

All diese Geschichten haben ihm den Spitznamen »Doktor Salatöl« eingetragen; wahrscheinlich, weil im Salatöl Essig und Öl genau so durcheinandergemanscht wird wie in seiner Weltgeschichte. –

Wann er als Arzt praktiziert hatte, kann nur seine Geburtsurkunde entscheiden. Vermutlich zur Zeit Friedrich des Großen; denn bei vorkommenden Erkrankungen kannte er nur das einzige Universalmittel: zu Aderlassen.

 

Als der Kanzleirat rasch an der Dusche vorbei will, hat ihn Doktor Essig schon bemerkt. Massiert sich bei seinem Anblick noch behaglicher den Hintern. Ruft ihn an:

»He, Bläschen!

Wissen sie, warum der Völkerbund in Genf aufgetakelt wurde?« –

und ehe Malepartus ärgerlich antworten kann, daß ihn das momentan absolut nicht interessiere, –:

»Na – das ist doch ganz klar!

Damit sie hinterher, wenns wieder losgeht, alle sagen können: Na – was wollt ihr denn! Wir habens doch versucht mit dem Völkerfrieden! Seht ihr nicht selber, was daraus geworden ist –?!«

– worauf er sich in Ermangelung eines begeisterten Auditoriums autoerotisch auf den Bauch applaudiert.

 

Kaum der leidigen Politik entronnen, stürzt sich sofort die Biochemie in Gestalt des Sonnenbruders Balthasar auf den Kanzleirat.

Dieser – von Angesicht wie das Christusbild in einer pommerschen Dorfkirche anzuschauen – hat in seinem Leben vier große Erleuchtungen gehabt. Die erste, als er – ein wohlbestallter städtischer Straßenreinigungsbeamter – erkannte, man könne ebenso luxuriös leben, wenn man chronische Arbeitslosenunterstützung beziehe und dazu in der Sonne penne. Die zweite, als er seine Alte als durchaus versorgungsunberechtigt aus dem Hause jagte – mit der Begründung: wenn der Mann arbeite, könne es ebenso gut die Frau. Die dritte, als er die Biochemie entdeckte, die radikal alle seelischen und körperlichen Leiden zu heilen imstande ist. Und schließlich die vierte, an der er sich allerdings nur im tiefsten Alleinsein freute, –: daß man mit dieser Biochemie allerhand Nebeneinnahmen erzielen könne. Durch Propaganda und Verkauf ihrer Schriften, durch selbstständige Praxis bei leichten Fällen, durch Einschwätzen von angeblichen Krankheitssymptomen, die er dann mit Leichtigkeit zu heilen vermochte. Für ihn ist jeder Mensch irgendwie krank, biochemiebedürftig; und bei der geheimnisvollen Mystik des Wortes und der undurchsichtigen Heilmethode stempelt er jeden neuen Bekannten sofort zum Patienten und sich zu seinem einzig berufenen Arzt. –

Blase, den Balthasar einmal monatelang behandelt und geschröpft hat, wird von ihm als langjähriger Abonnent aller biochemischen Schriften stets besonders höflich begrüßt, nach dem Befinden gefragt, mit einer neuen Broschüre beglückt, die Malepartus schon aus Bildungsgängen niemals abschlägt. – Man muß sich auf der Höhe der Wissenschaft halten!

 

Aus einem intensiven Gespräch über neue biochemische Heilerfolge bei nervenkranken Laubfröschen stört sie ein musikähnliches Grunzen auf.

Tolstoi segelt auf sie zu. –

Wie heißt er eigentlich mit bürgerlichem Namen –?

Kein Mensch weiß es. Der massive Bauernschädel, der Patriarchenbart, die überraschende Ähnlichkeit mit dem Dichter haben ihn auf den ersten Blick Tolstoi getauft. So ehrwürdig wie sein Aussehen ist auch sein Bratenrock, auf dem sich eine Speisenkartenchronik des letzten Halbjahrhunderts erhalten hat. – Als Klavierpauker in einem Tingeltangel geendet, lebt er von der besseren Vergangenheit, deren Glanzpunkt eine Quartettreise an den Hof zu Lippe-Detmold bildet.

Fragt man ihn etwa, was er da vor sich hinsumme, belehrt er regelmäßig eifrig:

»Freilich, freilich; was ist es doch –?

Warten sie mal. – Ach ja, richtig, richtig, Herr. Das Trio aus dem cis-moll von Haydn, das wir damals seiner Durchlaucht, dem Fürsten zu Schaumburg-Lippe, vorspielten.« –

Jeder, der ihn kennt, vermeidet es ängstlich, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen. Berichte ihm von neuentdeckten Sonnenprotuberanzen, – Tolstoi wird totsicher eine Beziehung zwischen ihnen und seiner Durchlaucht, dem Fürsten zu Schaumburg-Lippe, aufspüren.

Nur ein zweiter Gedanke kreist noch in seinem teilweise schon zur Seelenwanderung abberufenen Gehirn –: die Verjüngung. Nicht durch Steinach, sondern durch Sonnenbad. Allerdings kann man bei ihm noch keine sichtbaren Anzeichen dafür entdecken. –

Halt. Daß ich nicht lüge!

Sein membrum genitalis hat als erster Verjüngungsfaktor wieder Säuglingsmaße angenommen.

*

Was eigentlich konnte unseren Philosophen bewegen, diese ihm geistig weit unterlegene Gesellschaft in seiner Nähe zu dulden, ja, mehr und mehr jeder höher nivellierten vorzuziehen –?

In früheren Jahren gehörte er eine Zeit lang den ersten Vereinen seiner Stadt an: der »Harmonie«, dem »Kunstkreis« und der wissenschaftlichen Vereinigung »Globus«. Aber nachdem er erkannt hatte, daß ihm überall jedermann – sei es nun an Herkunft, natürlicher Charme, wirklicher Bildung oder Fachgelehrtheit – überlegen war, philosophierte er urplötzlich: es sei eines kultivierten Menschen von einer bestimmten Stufe ab unwürdig, einem Vereine anzugehören. Das habe schon Nietzsche als Herdentrieb gegeißelt. Der wahrhaft Große reift nur in der Einsamkeit. Der wahrhaft Große teilt sich nur gelegentlich der staunenden Umwelt mit –.

Überkam ihn also jetzt dieser bergbachgleiche Mitteilungsdrang, so berief er die Sonnenbrüder um sich herum; berichtete den Maulaufsperrenden von der durch ihn, Malepartus Blase, neuentdeckten Stilähnlichkeit australischer Negerplastik mit frühen Buddhastatuen, die fundamentale Umwälzungen in der Geologie hervorrufen würde. Oder er schnitt sein Lieblingsthema an –: den konstruktiven Menschen, der durch jahrzehntelange, schriftlich fixierte Selbstbeobachtung in Form einer bis ins feinste getriebenen Trieb-, Affekt- und Gedankenstatistik sein Seelenleben wie durch mechanische Hebel beliebig zu lenken imstande sei; seine genialen Betrachtungen stets mit einem bescheidenen Hinweis auf sich selbst schließend, der wohl als das bisher am reinsten dahingezüchtete Individuum dieses Zukunftstyps anzusehen sei. –

Ohne ein Wort davon verstanden zu haben, glotzen die Sonnenbrüder ihn an. Aus ihren Mienen liest Blase grenzenloses Staunen, sprachlose Bewunderung; was ihn wiederum zu der These inspiriert –: neue große Ideen kann man dem unverbildeten Volke viel leichter klar machen als der skeptischen Wissenschaft.

 

Aber heute gilt es nicht, ein gelöstes Problem behaglich vorzutragen, sondern eins zu lösen; und hierfür erscheint ihm der Sonnenklub plötzlich wieder nur als dummer, lästiger Störenfried. –

Schweigend wandert er nach seiner Zelle. Kleidet sich aus. Beginnt mißmutig die täglichen Übungen, die eine individuelle Mischung sämtlicher Gesundheitsmethoden darstellen und als »System Blase« längst schriftlich niedergelegt sind. –

Das ungelöste Seelenleid gerät auch hier dazwischen, wirft Übung 3) Rumpfrollen mit seitrückgestreckten Händen – und Übung 4) Kniebeuge nach Müllerscher Art – jählings durcheinander. Ergebnis: Malepartus Blase verliert die Balanze, kippt nach hinten über, verstaucht sich den Wurmfortsatz.

 

Mit zusammengebissenen Lippen, die Hand auf den unteren Rücken gepreßt, hinkt er eine Weile ärgerlich im Bade herum. Kläfft in sich hinein:

– Diese blöden, rotbäuchigen Hammel alle miteinander! Wozu sind sie eigentlich nütze? Hier faul herumzuliegen und die Sonne anzustieren. Hätte ich ihnen nicht ein bißchen Bildung beigebracht, wäre ihnen in der Hitze längst das Idiotenhirn eingetrocknet. – Ich kann einfach verlangen, daß sie mir jetzt auch mal helfen! –

Denkts. Humpelt zu Herrn Muff. Expliziert ihm haarklein sein Seelenleid. Verlangt brüsk einen Rat.

 

Muff kaut gerade an einem deutschen Käse. Reagiert auf die erregten Vorstellungen des Kanzleirates nur mit einem dumpfgeknurrten »Tog«, das dazu noch dem vorübergehenden Badebesitzer gilt.

Wiederholte dringende Hilfeforderung Blases. –

Da geschieht etwas Ungeheuerliches.

Herr Muff verliert zum ersten Mal in seinem Leben die Geduld, kaut verächtlich seinen Käse zuende, dreht dem Kanzleirat den Gorillapodex zu, antwortet anatomisch …

 

Blase wird bis zur Dusche geblasen, wo ihn Doktor Essig mit der neuesten politischen Diagnose bespritzt. Gereizt unterbricht Malepartus. Verlangt unverzüglich ein Mittel gegen sein Seelenleid. Es sei Essigs Pflicht als Arzt und Freund, usw.

Doktor Essig reibt sich vergnügt die Keulen.

»Sollen sie haben, Bläschen, sollen sie haben.

Wissen sie, warum alle Frontsoldaten an Nervenreißen leiden, he –?

Na – das ist doch ganz klar!

Das haben die Lumiche, die Ärzte, so gewollt, damit sie hinterher ein Schweinegeld mit ihren Nervenkuren verdienen können, die Lumpe!« –

Wütend zischt Blase zurück:

»Erstens bin ich kein Frontsoldat! Zweitens habe ich keine Nerven – sondern Seelenschmerzen! Und drittens sind sie selber so'n Lump, Herr Doktor Essig!«

Erstaunt starrt ihn Doktor Essig an.

»Na – hören sie mal! Verwechseln sie mich gefälligst nicht mit so'nem neumodischen Pillenkorkser!

Das weiß ich schon lange, was ihnen fehlt. Das ist doch ganz klar!

Einfach ein kräftiger Aderlaß!

Sollen mal sehen, wie dann die Nervenschmerzen nachlassen.«

Blase ist schon im Känguruhgalopp weiter.

 

Tolstoi, der – das geliebte cis-moll vor sich hinbrummelnd – seinen Weg kreuzt, wird angefaucht:

»Waren sie schon mal seelenkrank?!«

»Ausgeschlossen! ausgeschlossen!« – versichert Tolstoi eifrig, und seine rosigen Bäcklein blitzen vor Gesundheit.

»Aber warten sie mal, Herr. – Ach ja – richtig, richtig: Seine Durchlaucht, der Fürst zu Schaumburg-Lippe, der allerdings an einer schweren Gicht litt – –«

»– – soll sich von ihnen in Teufels Namen das cis-moll Quartett von Haydn vorspielen lassen! Ich habe keinen Appetit darauf!«

– brüllt Malepartus zurück. –

Im selben Augenblick wird auch schon der auf ihn zusteuernde Balthasar mit einem wütenden:

»Bleiben sie mir mit ihrer verfluchten Biochemie vom Halse und kurieren sie nervenkranke Laubfrösche damit!«

zum entsetzten Rückzug gezwungen.

Malepartus springt mit einem mächtigen Satz ins Wasser. Versucht, sein Seelenleid in einer wirbelnden Tauchspirale zu ertränken.

*

Beim Wiederauftauchen ist der Ärger merklich abgekühlt; zumal das halbe Bad an den Rändern steht, die Eleganz und Elastizität des alten Herrn beifällig begafft.

 

In Fortsetzung seines genau festgesetzten Sonnenbadprogramms steigt er nach achtundvierzig Schwimmschlägen in den Schwitzkasten, um eventuell vom Frühstück zurückgebliebene Fettpolsterchen abschmelzen zu lassen, bis sein Körper wieder die allseitig bewunderte klassische Ebenmäßigkeit erlangt hat. –

Die Sonne heizt heute tropisch.

Kaum geschlossen, herrscht im Kasten eine solche Kafferntemperatur, daß Blases Blut wahre Veitstänze in den Adern vollführt. In wilden Spiralen schießt es zu Kopf, tobt gegen die Schläfen. Malepartus beginnt fieberzufantasieren, fühlt sich fortgesetzt von einem Eisenhammer auf den Schädel gepocht.

Jeder normale Mensch würde bei diesen Symptomen eines beginnenden Hitzschlags schleunigst in den Schatten flüchten. Blase jedoch ist gewohnt, jedesmal dreißig Minuten zu schwitzen. Und dabei bleibts! –

Die Bluttierchen bekommen den Koller, strampeln rasend in des Kanzleirats Gedanken hinein, kehren das Unterste zu oberst. In seinem Gehirn kreists, spuckts, keifts, kreischts, zappelts wüst durcheinander. In wenigen Minuten hagelts Depressionen, daß ihre Registrierung durch die Seelenleidstabelle einfach nicht mehr folgen kann.

Anfangs notieren die Gedanken noch ordnungsgemäß:

11.45 Uhr. Neuer Abschnitt. Römisch V: die Sonnenbadfreunde.

Beweis a) Trotzdem ich jahrelang in uneigennützigster Weise für ihre Bildung sorgte, versagen sie jetzt, da ich einmal ihrer Hilfe bedarf, vollkommen. –

Bei Folgendem läßt er schon die Tabellenziffern aus –:

Der blödsinnige Essig will mich primitiv zu Ader lassen. Tolstoi hört überhaupt nicht hin und erzählt mir idiotische Geschichten vom gichtkranken Fürsten zu Lippe-Detmold. Balthasar halst mir wieder seine blödsinnige Biochemie auf. Muff … Das ganze Sonnenbad ist mir von diesen Leuten verleidet! Als gebildeter Mensch kann man hier überhaupt nicht mehr verkehren. – – –

 

Die Temperatur im Kasten wird immer unerträglicher. Mit ihr Blases Zustand. Von Pessimismus zu Pessimismus stürzt seine Stimmung, nähert sich rapid dem absoluten Nullpunkt. Durch sein Gehirn schwirren Eulen und Fledermäuse.

– Mein ganzes Leben habe ich Gutes getan im Dienste der menschlichen Kultur. Jetztund – was ernt ich? Leid, Hohn, Gleichgültigkeit! – O – hat schon einmal ein einsamerer, unglücklicherer Mensch diesen Planeten bevölkert –?!

Ja – symbolisch ist diese meine Abgeschlossenheit im Folterkasten von der Welt, die gaffend herumsteht, lachend zuschaut, wie sich meine Seele in Schweiß und Blut verzehrt. Ein zweites Golgatha!

 

Die Hitze im Kasten, Blases Delirium sieden zum Höhepunkt. Ohne klares Bewußtsein fuchtelt er im Kreise herum, reckt die Fäuste gegen seine Peiniger; schreit die Bengels, die zu ihm auffeixen, drohend an:

»Aber ich will nicht hier vor euch entblößt sitzen! Will nicht dulden, daß ihr euch an jedem Tropfen Blut von mir weidet!

Sobald ich dieser Folterkammer entronnen bin, raste ich nicht, bis ich die Heilung von meinem Seelenleid ergründet. Dann wehe euch: ihr Judasse! ihr blindes Volk von Israel! Dann bin ich der Hohnlachende, Gleichgültige, kalte Peiniger!

Wer sich dann mir hilfeheischend nähert, dem antworte ich, wie ihr mir auf mein Flehen geantwortet habt –: ich blase ihn an!!«

 

Wild die Fäuste schüttelnd, haut er ein erlösendes Luftloch in den Kasten. Wird vom Bademeister unter dem Gelächter der Umstehenden mit einem nassen Handtuch über den Kopf geklatscht. –

Über Malepartus Bewußtsein bricht Dämmerung.

Der längst marschierende Hitzschlag trifft ein. Blase verfärbt sich, jappst noch ein paarmal, hängt wie ein stumpfguillotinierter Jacobiner im Kasten.

 

Hilflos glotzt die Mitwelt auf seine klassische Sonnenleiche. –

Aber –: heil dem oft geschmähten Aderlaß!

Ohne ihn und Doktor Essig wäre Malepartus Blase als mittlerer Grips geendet. So steht ihm noch die Entwicklung zum weltgeschichtlichen Grips bevor.

Psychoanalyse

Malepartus Blase, ein feuchtes Tuch malerisch um den längst wieder intakten Kopf geschlungen, wandert im Zimmer auf und ab. Anscheinend tief in die Ergänzung seiner Seelenleidstabelle versunken, verlockt ihn die Promenade vor dem großen Wandspiegel zu fantastischen Abschweifungen.

Jedesmal beim Vorüberwandern bleibt er vor seinem Spiegelbild stehen. Prüft es eingehend. Entdeckt neue Ähnlichkeiten mit klassischen Figuren.

Etwa so –:

Wenn jetzt draußen ein erbitterter Barrikadenkampf um die Freiheit tobte, und ein amerikanischer Berichterstatter träte unversehens ins Zimmer –: er würde meinen mit Wundtuch umbundenen Kopf sofort photographieren, als Idealbild des deutschen Freiheitskämpfers, – Klammer: etwa im Sinne Theodor Körners; Klammer zu –, der New-York Herald drahten.

Drei Schritte weiter. Seelenleidstabelle.

Zu Römisch II: mein Ehezerfall.

Beweis d) Trotz meines kranken Zustandes zeigt Selma nicht das mindeste Mitgefühl, kocht nur die gewöhnliche Kost.

Wenden. Drei Schritte zurück zum Spiegel. – Oder so mag der totkranke Nietzsche –, Klammer auf: gesetzt, er habe sich den Schnauzbart abrasieren lassen; Klammer zu –, in unbeobachteten Augenblicken ausgesehen haben.

Drei Schritte weiter. Seelenleidstabelle.

Beweis e) Auch geht Selma über unseren gehabten ehefundamentalen Zwist hinweg, als sei es selbstverständlich, daß ich ihr aus höherer Sittlichkeit verziehen habe.

Wenden. Drei Schritte zurück zum Spiegel. – Oder legte ich jetzt etwa das indische Fürstenkleid aus der »berühmten Sammlung Blase« an – und ginge so langsamen Schrittes durch die Straßen; jedermann schaute sich nach mir um und flüsterte seiner Begleiterin bewundernd zu: »ein indischer Weiser –, Klammer auf: »etwa in der Art Rabindranath Tagores; Klammer zu.«

 

Der Kostümwechsel hat es ihm so angetan, daß er darüber sein Seelenleid vergißt, vor dem Spiegel verharrt, mit Hilfe der von ihm eingehend studierten »Trachtenkunde des klassischen Schauspielers« und eines angeborenen mimischen Talentes nach und nach seinen tuchumflorten Kopf zur Darstellung aller Shakespearischen und Schillerschen Helden hervorragend geeignet findet. Schließlich erwacht am Mimus der Gestus, am Gestus das Pathos. Malepartus greift zum Wallenstein, schlägt seine Lieblingsstelle auf, zupft sich am imaginären Feldherrnspitzbart, dialogisiert mit seinem Spiegelbild –:

»So bist du schon im Hafen, alter Mann?
Ich nicht. Es treibt der ungeschwächte Mut
Noch frisch und herrlich auf der Lebenswoge.
Strich. –
Wer nennt das Glück noch falsch? Mir war es treu,
Hob aus der Menschen Reihen mich heraus.
Strich.
Nichts ist gemein in meines Schicksals Wegen
Noch in den Furchen meiner Hand. Wer
Möchte mein Leben mir nach Menschenweise deuten?«

Er hält inne. – Die nächste Zeile verhalten gesprochen, mit bitterem Lächeln, unwillkürlich gezwungen, an Selma zu denken –:

»Zwar jetzo schein ich tief herabgestürzt.«

Aber mit erhobener Hand, in dröhnender Siegesgewißheit:

»Doch werd ich wieder steigen!
Hohe Flut wird bald auf diese Ebbe schwellend folgen!«

 

Hier antwortet ihm die höhnische Nemesis. Allerdings nicht in Schillerschen Jamben, sondern im plattesten Pöbeljargon:

»Bei dem kommts wohl widder mal ruckweise!

Gottverdammich, sinse stille! Unten blei'm de Leite stehn un rufen nach 'm Krankenauto!«

Dienstmädchen Fridas Meerkatzenkopf ist zur Tür hereingeschossen. Knetterts. Schießt zurück. Die Tür kracht zu. Das Knettern verklingt in der Ferne.

 

Malepartus Blase zuckt zusammen.

Aus dem Spiegel starrt ihm Hamlets leidzerfurchtes Antlitz entgegen. Erinnerung an die Seelenleidstabelle erwacht. Er ergänzt mit gefurchter Stirn:

Zu Römisch III: Dienstmädchen Fridas Verständnislosigkeit. Beweis b) Selbst in schwerkrankem Zustande bleibe ich nicht von ihren Rohheiten verschont.

 

Müde des Kampfes gegen die häuslichen Dämonen schleift er sich zum Schreibtisch. Entwirft einen Brief an die Redaktion der »Horen«, vornehmste Zeitschrift für Kultur und Kunst. Folgenden Inhalts:

»Werte Horen.

Oft schon fand ich Trost und Rat bei Euch. In allen Kultur- und Kunstfragen seid Ihr mir ein treuer Führer gewesen, vergleichbar einem Bädeker der Seele.

Verstehet denn, wenn ich mich als langjähriger Abonnent vertrauensvoll in einem Problem an Euch wende, das zwar offiziell noch nicht als Kulturfrage anerkannt ist, von dessen Lösung aber letzten Endes die ganze menschliche Kultur abhängt –: ich bin seelenkrank. Ja, ich bin sogar seelentotkrank. Und ich ahne, daß es vielleicht Viele sind oder noch werden, die Euch abonniert haben.

Deshalb helft uns, Horen!

Veranstaltet einen Wettbewerb, ein Preisausschreiben nach dem sichersten, raschesten, billigsten Mittel zur Heilung genannter Seelenkrankheit.

Wollt Ihr nicht die Verantwortung für eine drohende Seelenleidsepidemie in Westeuropa auf Euch nehmen, so helft uns!

Hochachtungsvoll
Malepartus Blase.
Philosoph und Kanzleirat a. D.

 

Anschließend damit beschäftigt, die Seelenleidstabelle sauber abzuschreiben, sie dem Briefe beizufügen, unterbricht ihn ein energisches Klopfen.

Malepartus schreckt auf –: Selma!

Er schaut nach der Uhr: 16.14 Uhr.

Von 16 bis 18 Uhr ist es Selma laut Ehevertrag wieder verboten, sich ohne seine Erlaubnis hier aufzuhalten.

Diesmal läßt er sich nicht überrumpeln.

Lautlos huscht er zur Tür. Will rasch den Schlüssel umdrehen, durch die geschlossene Tür diktatorisch auf den entsprechenden Eheparagraphen verweisen.

Aber schon ist sie geöffnet. Im Rahmen steht – Blases junger Freund und Schüler.

*

Bei dessen Anblick kommt mir zu Bewußtsein, daß ich ein wesentliches Charakteristikum von Malepartus Blase zu erwähnen vergaß –: seinen Rasseinstinkt. Er anerkennt als kulturzeugend nur die hochgewachsenen, blonden Menschen. Schon in seiner Jugend vermochte ihn nur der blonde, blauäugige Mädchentyp zu begeistern. Später – nach dem Studium Artur Dinters – systematisierte er diesen Trieb und beschloß, nur eine nachweisbar rassereinste Jungfrau zu ehelichen. Daß ihm eine solche nie begegnete, war eine der Ursachen seines langen Junggesellentums.

Unnötig, zu berichten, daß er fanatischer Antisemit. Unnötig auch, daß er sich selbst einen Stammbaum rekonstruiert hatte, der bis in die Kemmenaden der Wartburg zurückreichte. Deshalb pflegte er sie alljährlich einmal zu besuchen und hochaufgerichtet durch die Säle zu schreiten. Ist all der Pomp und Prunk doch gewissermaßen auch sein stammbäumiges Eigentum! –

Leidenschaftlich tritt er für strengste Inzucht der germanischen Edelexemplare ein. Seine Hauptaufgabe ist, in Straße, Café und Gesellschaft junge Menschen, die er auf den ersten Blick als reinrassig erkennt, anzuhalten; ihnen eindringlich Schäden und Gefahren einer Mischverbindung mit Rasseunreinen klarzumachen; eine Broschüre aus seiner Feder zu überreichen: »Zwölf konstruktive Thesen für germanische Gattenwahl«; das einzige Manuskript von ihm, das gedruckt wurde.

 

Während ihn die Meisten mit echt germanischer Sprödigkeit noch vor Überreichung der Broschüre stehen ließen, hat dieser Jüngling hier hingegeben bis zur Überreichung gelauscht. Sichtlich ergriffen drückte er dem Kanzleirat die Hand, dankte mit tränenerstickter Stimme; bat, mehr und jetzt sofort zu hören. Soeben sei er durch einen Rasseunreinen um sein letztes Stück Brot gebracht worden, stehe am Rande eines germanischen Selbstmordes.

Erschrocken zog ihn der Kanzleirat in ein nahes Speisehaus. Sah mit Vergnügen, wie der Verzweifelte nach Vertilgung von zwei großen Diners und einigen Litern schäumenden Mets seinen Lebensmut wiederfand. Seine Freude steigerte sich zum Entzücken, als der Jüngling beim Obst zu Blases Broschüre griff, sich begeistert zu ihren Thesen bekannte; seine Begegnung mit dem Philosophen als Sonnenwende seines Lebens feierte; heilig gelobte, streng nach des Meisters Vorbild zu leben.

Was wollte es dagegen besagen, daß er beim Abschied einen kleinen Pump aufnahm, um sich in den nächsten Tagen – unbeeinflußt von lästigen Brotsorgen – ganz der Übung der zwölf Thesen widmen zu können. Malepartus gefiel dieser edle germanische Freimut. In der feuchtfröhlichen Metstimmung verwechselte er einen Fünfziger mit einem Hunderter, auf welche Großzügigkeit er hinterher nicht wenig stolz war.

 

Wieder nüchtern geworden, kam ihm ein konstruktiver Gedanke.

– Wie, wenn er – statt nur in Wort und Schrift, einmal in Fleisch und Blut Rasseaufbauarbeit leistete. Wenn er all seine konstruktiven Gedanken der Nachwelt nicht nur im allgemeinen, auch im besonderen –: durch persönliche Erziehung und Beispielgebung – überlieferte. War das nicht schon platonischer, faustischer Brauch gewesen –?

Dies Letztere gab den Ausschlag.

Er beschloß, den Jüngling als Seelensohn zu adoptieren.

 

Als er das dem Erstaunten bei der nächsten Begegnung mitteilte, strahlte aus dessen Blauaugen eine ganze Lenzfeier mit sämtlichen germanischen Freudesymbolen und Lichtgöttern. In wildwogender Wonne küßte er die Hand seines Wohltäters, die dieser ihm – schimmernde Scheu und Scham im hehrblinkenden Blicke – entzog; sofort auf die Rückseite der Speisekarte den Entwurf eines Seelenadoptivvertrages niederschrieb. Hierbei wurde auch ihm eine Freude zuteil.

Jener Jüngling zeigte in seinen geistigen Anfängen überraschende Ähnlichkeit mit Malepartus' eigenem Beginn. Füllte er doch die Rubrik: bisheriger Beruf meines Seelensohnes, – mit »lyrischer Dichter« aus.

»Beim Teut! Du bringst in verschwend'rischer Fülle alle Gaben des Hel, Sohn meiner Seele, zum Bund!«

– skandierte Blase begeistert und berichtete von seiner eigenen »lyrischen Periode«.

Wie er einst in mächtigen Sonnendithyramben und weichen Nocturnos der Muse gedient – so verheißungsvoll, daß sein Ordinarius schon die Verse des Primaners Blase mit den besten Gedichten Jung-Goethes verglich.

Aber der Ernst des Lebens trat frühzeitig an ihn heran in der Gestalt seines musefeindlichen Vaters. Malepartus mußte der blondlockigen Göttin entsagen und bestieg stöhnend den Kontorsessel.

Auch sein trotziger Traum, eines Tages doch die Fesseln seines zum Lasttier erniedrigten Pegasus zu sprengen, sich auf das ungeduldig stampfende Flügelroß zu schwingen, auf ihm im Fluge die Welt zu durchmessen, vor jeder Buchhandlung haltend, »Blase's gesammelte Werke« im Schaufenster bewundernd, zerrann nach und nach zur Tragödie des im Alltag Untergetauchten. Nur dreimal im Jahre tauchte er wie ein versunkener Stern am heimatlichen Musenhimmel auf: Weihnachten, Ostern und Pfingsten brachte die Hausfrauenzeitung honorarfreie Gedichte von Malepartus Blase.

Darüber existierte ein zwanzigjähriger Vertrag. –

Aber dieser blondfrische Jüngling hier, der noch so keck und ungebrochen lyrischer Dichter in dieser unlyrischen, mechanisierten Zeit zu sein wagt, – ist er nicht wie eine Wiederkehr seiner heißen Jugendträume –?

Wehmütig gedenkt er seines eigenen kargen Taschengeldes in jener Zeit, gedenkt der vielfachen kulturellen Bedürfnisse eines jungen lyrischen Dichters und erhöht den Monatswechsel von 100 auf 150 Mark.

 

Und in der Tat: was sind hundertfünfzig Mark Monatswechsel für die kulturellen Bedürfnisse eines lyrischen Dichters! Da genügt es nicht, alle Premieren in Theater und Kino, alle Rosenausstellungen und Modetees besucht zu haben, um seiner Lyrik die neuesten Kulturdessous überzuziehen. Da genügt es nicht, alle Lyriken der Weltliteratur, alle Neuerscheinungen der Konkurrenz beschnüffelt zu haben, um den allerneuesten Stil nach altafrikanischen Kaubewegungen zu erfinden. Da muß man in jenen Kreisen heimisch sein, wo jene Frauen durch jene Räume schweben, die laut Verlegermeinung einzig befähigt sind, lyrische Ideale zu verkörpern; weil sie einzig befähigt sind, ihre Ideale in Luxusausgaben zu kaufen. Und dazu bedarf man entsprechender Modehosen und der allersuperbsten Umgangsformen. Schließlich müssen aus Gründen plastischer Darstellung diese Frauen von ihren lyrischen Bedichtern geliebt worden sein; und ich überlasse es jedem Eingeweihten, nachzurechnen, was Modelle für lyrische Luxusausgaben kosten, ehe man ihnen den ersten verwendbaren Liebeslaut entlockt. Zu all diesen Hotelspesen, Weekend-Autoturen, Badereisen, lyrischen Parfüms, Speise-, Getränk- und Geschenkpreisen gesellt sich ein noch teuerer Faktor: der Liebeswechsel. Lyrik heißt: immer neue Gefühle aus der gleichen Zitrone quetschen. Folglich muß die Zitrone immer an einer anderen Staude hängen. Jeder Umzug kostet Geld. Und jede neue Zitronenfüllung beginnt mit einem Sekt-Diner bei Kempinski und endet – je nach lyrischem Bedarf. Aber niemals billig. Logischer Schluß: Lyrik kostet Geld, Geld und nochmals Geld!

Also – was sind hundertfünfzig Mark Monatswechsel für die kulturellen Bedürfnisse eines lyrischen Dichters?!

 

Wer will es deshalb unserem Jüngling Siegfried (– muß ich erst sagen, daß er von Malepartus sofort so umgetauft wurde, obgleich er schlicht »Ede« hieß –) verdenken, wenn er nicht erst auf seine Entdeckung durch Malepartus Blase gewartet, sondern schon vorher seine Existenz als lyrischer Dichter sichergestellt hatte.

Und zwar auf ähnliche Weise wie im Fall Blase.

Im Literatencafé der Stadt erspähte er scharf jene Kulturgreise, die seiner Meinung nach keinen anderen Sinn für die Kultur mehr haben, als seine Mäzene zu werden. Unauffällig, scheinbar völlig in sein Seelenleid versunken, pürscht er sich an ihren Tisch heran, starrt mit melancholischem Blick – die Selbstmordslocke tief in die Stirn hängend – sein mitleidswabbriges Gegenüber an.

Hilft das nicht, bekommt er einen Verzweiflungsanfall, zerkaut Dantesche Höllenverse. Schleudert dem unbarmherzigen Menschenbruder per Reime ins Gesicht: er allein sei schuld, wenn die Selbstmordschronik der deutschen Nationalliteratur um einen erlauchten Namen bereichert werde.

Hilft das nicht, gibt er die Mäzenangelei auf. –

Bisher hatte es fast immer geholfen.

Die Kulturgreise erinnerten sich wehmütig ihrer eigenen Selbstmordperiode, und was der Menschheit durch deren Überwindung erhalten geblieben. Mit einem Schnaps begann die Hilfsaktion und endete regelmäßig mit Adoption als Seelensohn und 150 oder 200 Mark Monatswechsel. Jeder sah in dem hoffnungsvollen Jüngling sein verjüngtes Ebenbild und beschloß heimlich, was er unwiederbringlich verpfuscht hatte, durch ihn herrlich zu vollenden; auf diese Weise wenigstens ein Altenteil in der Kulturgeschichte zu ergattern.

So brachte Siegfried viel Glück und Segen in die Welt –:

Seinen Mäzenen eine letzte Wasserwolke Kultur.

Sich selbst einen Monatsgehalt von über 1000 Mark für lyrische Erlebnisse.

Der Menschheit zu ihrer Belustigung und Selbstbespiegelung die Schicksale und Gewohnheiten seiner Kulturgreise, gesammelt in einem Novellenband, der unter dem Titel »Köpfe« oder »Nipse« oder ähnlich – irgendeinmal erscheinen wird. –

 

Wird sich danach noch einer meiner geehrten Leser wundern oder gar entrüsten, wenn ich ihm nunmehr auch den Zunamen Siegfrieds kundtue.

Er lautet: Ferzchen.

Siegfried – Ferzchen. In Wahrheit ein seltener Fall der so oft geforderten Namensbeseelung! Siegfried – das ist die hohe, breitschultrige, blondlockige, blauäugige Teutonengestalt. Ferzchen – das ist sein elastisches Wesen, das sich geschickt durch alle Fährnisse und Därme des Lebens zu schlängeln versteht, ohne viel Aufhebens von sich zu machen, ohne die geringste Kraftvergeudung. Das ist seine Bedeutung gewissermaßen im verkörperlichten Leben der Kultur –: ein vollendeter Selbstgenießer.

Siegfried – das ist er außen, Ferzchen – das ist er innen!

*

Also: – Seelensohn Siegfried tritt ins Zimmer.

Malepartus Blases tragisch zerknittertes Gesicht hellt sich bei seinem Anblick im Nu auf; zumal Siegfried ein Bündel Blasischer Gedichte unterm Arme trägt, die er sich studienhalber geliehen hatte, und über die er sofort eine begeisterte Lobeshymne anstimmt. –

Während der Kanzleirat den bescheiden an der Tür Verharrenden auf das bequemste Fauteuil nötigt, ihm seine beste Zigarre anbietet, das Lob wie Salatöl durch die geschmeichelten Ohren rinnen läßt, kommt ihm wundersam zu Bewußtsein, wie beneidenswert er als Vater eines so hochgebildeten, feinfühligen Seelensohnes ist.

– Wozu klag ich über das Unverständnis der Welt, da sie mir in Pferzchen (– er spricht den Namen stets nur so aus –) das Höchste geschenkt hat: den platonischen Freund! Hier find ich bestimmt Trost und Hilfe für mein Seelenleid.

 

Gesagt, getan.

Er beginnt Siegfried seine Symptome einer schweren inneren Krankheit zu explizieren –:

das täglich um 4 bis 8 Minuten zuspäte Erwachen. Die Atemnot vom fünfunddreißigsten Schwimmschlag ab. Den lässigen Stuhlgang. Ermüdung – selbst Einschlaf über den interessantesten Büchern. Vernachlässigung seiner konstruktiven Gewohnheiten. Fast könne er von sich nicht mehr als Höchstzuchtexemplar des Typus Geistmensch sprechen.

 

Siegfried bläst behaglich den Havannaduft durch die Nase. Überlegt –: ich will wieder mal Vorschuß hamstern. Also muß ich den Alten kulturbeschmusen. Besorgtheit mimen. Was meinem Seelenpapa fehlt, ist natürlich klar: Mumm in den Knochen. Alles, was er von sich gibt, hoffnungslos arterienverkalkt.

Empfehlen wir in Gottes Namen Biomalz oder Lukutate. Schadet nicht, schmeckt süß und klingt mystisch lebensretterisch. –

Also hält er einen Vortrag über die fabelhaften Heilkräfte dieser beiden Lebensverlängerungsmittel. –

Etwas beleidigt winkt Malepartus ab.

– Versteht ihn auch sein Seelensohn nicht –?

Seine Stimme tremoliert vereinsamt:

»Lieber Siegfried.

Es handelt sich nicht um körperliche Gebrechen oder Schmerzen. Von denen bin ich – Gott sei Dank! – frei. Du mußt schon tiefer in mein Inneres steigen, gewissermaßen zum Sitz der Seele, um mein Leid zu erforschen.«

Und damit liest er ihm seine Seelenleidstabelle vor.

 

Siegfried verbeißt sich mühsam das Lachen.

– Der Alte ist wahrhaftig die größte Knalltype unter all seinen Kulturgreisen! Schicken wir ihn mit seinem Seelenleid mal an die Nordsee, daß die Seepferde das große Wiehern bekommen! –

Und er schildert Malepartus die erhabene Ruhe des Meeres, an der sich schon mancher Große aus tiefstem Seelenleid wiederaufgerichtet habe. Dort könne er gleich Zarathustra donnernde Zwiesprache mit der Ewigkeit halten.

Dabei stellt er sich Malepartus Blase in der gestreiften Badehose vor, dem alten Sturmbär Nordsee seine Seelenleidstabelle vorlesend. Wenn der ihm nicht eine Wagenladung Hamburger Priem in die Visage pfeffert, will er nicht Ede heißen! –

Einen Augenblick macht den Kanzleirat das gleiche Bild – allerdings in veränderter Fassung: sein klassisches Profil – auf Hiddensee –, das qualvolle Seelenleid in die höhnisch tobende Sturmsee hineingeschleudert; Unterschrift: »Genie und Element!« schwanken.

Aber dann siegt die Angst, er könne sich dabei erkälten.

Wehmütig schüttelt er den Kopf:

»Ich bin so voll kosmischer Einsamkeit, Siegfried, daß ich ihr am liebsten entfliehen möchte. Denn was ist mein Leben noch anders als stumme Zwiesprache mit den Stimmen der Ewigkeit –!«

Hier unterbricht er sich. Memoriert den Satz mehreremals. Klappt rasch das Tagebuch auf, notiert ihn. Fügt hinzu:

»16,54 Uhr. Zu den nach meinem Tode erscheinen sollenden Aphorismen zur konstruktiven Weisheit.«

 

Siegfried hat ihm über die Schulter ins Buch geschielt. Liest die Eintragung. Wieder zwickt er sich krampfhaft in die Oberschenkel, um nicht herauszuprusten.

– Zu schade, daß er diese zoologische Seltenheit nicht einmal seinen Freunden in Freiheit dressiert vorführen kann. Man würde sich wälzen. Das ganze Café »Merkur« hinge voller Seelenleidstabellen seiner Stammgäste.

Halt!

Vielleicht kann ich ihn per Seelenleid hinlocken. –

Nachdenklich stützt er den Kopf, bis Malepartus' Aufzeichnung beendet. Faßt dessen Hand. Strahlt ihn mit seinen mythologisch-blauen Augen treuherzig an. Zerkaut einen aufquirlenden Lacher zu feierlichen Pathos:

»Teurer Seelenvater.

Es bekümmert mich tief, sie so an ihrer großen Seele leiden zu sehen. Mit Schrecken sehe ich, wie sie sich immer tiefer in die Wüste grenzenloser Einsamkeit vergraben. Wie sie sich den ihrer bedürfenden Freunden entziehen. Wie sie allem Menschlichen mehr und mehr entwachsen; sich gleichsam entmenschen, übermenschen –; wie der weltabgestorbene Yoghi einzig mit ewigen Dingen korrespondierend.«

Hier kommt ihm das Lachen ruckweise, als er bemerkt, daß Malepartus schmerzlich gedankenvoll einen imaginären Philosophenbart durchwühlt.

– Rasch erschüttert gurgeln und weiter im Texte:

»O kehren sie zurück, Herr Geheimrat! Schenken sie sich wieder der Welt! Versammeln sie wie Plato, wie Christus eine Gemeinde um sich und lesen sie ihre herrlichen »konstruktiven Weisheiten« vor. In unseren bewundernden Augen finden sie Erlösung von allem Seelenleid!«

 

Malepartus klingt die Stimme wie der Gesang eines Erzengels. –

Er wird berufen! Jünger sollen zu seinen Füßen sitzen. Er wird ihnen predigen! –

Ist es verwunderlich, daß er in einen leicht ekstatischen Zustand gerät, alle Wirklichkeit um sich vergißt; verzückt zum Spiegel schreitet, dort eine Propheten-Generalprobe in der Pose des segnenden Christus von Thorwaldsen veranstaltet, seinem Spiegelbild predigend:

»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!« –

Bei Siegfried ist es aus mit der Selbstbeherrschung. Kaum vermag er noch zu stammeln:

»Geben sie mir fünfzig Mark, Meister, und ich versammle das ganze Café »Merkur« um sie – –«

– da platzt der Lachmuskel mit lautem Knall. Siegfried legt sich platt über den Sessel und gibt aus allen Luftlöchern Gelächter von sich.

 

Malepartus Blase erwacht.

Erblickt den vom Lachkrampf Langgelegten. Entdeckt, daß er seine seelischen Unterhosen allzuweit gelüftet hat. Sinnt nach einer großartig überdeckenden Geste. Tut, als bemerke er die Heiterkeit seines Seelensohnes nicht. Knüpft in völliger Übergehung des eben Geschehenen an Siegfrieds Aufforderung, unter Menschen zu gehen, an. Wehrt unwillig ab:

»Sei still, Siegfried!

Versuche nicht, mich in jene dumpfe Atmosphäre zu locken, aus der du kommst. Hier – in der selbstgewählten Einsamkeit – atme ich reinere Luft als unter deinesgleichen.«

Er will weiterfahren, das armselige Pferzchen moralisch niederzuschmettern. Aber da nistet sich mitten in seine hochstelzige Verachtung ein kleines, boshaftes Gedankenteufelchen fest –: Siegfried könne, wes' er hier ungewollt Zeuge gewesen, in seinem Merkurkreise wiedererzählen. Als Flügelfama wird es die Stadt durcheilen: Kanzleirat Blase hat Christusdelirien.

Dagegen bedarf es einer von vornherein abschneidenden Geste. –

Er greift zur Brieftasche, entnimmt ihr einen Fünfzigmarkschein, reicht ihn Siegfried mit strengem Blick – jeden Widerstand tötlich durchbohrend:

»Und so verlaß mich denn, mein Sohn. Mit Hilfe dieses meines Geschenkes freue dich deines sorglosen Lebens im Kreise deiner gleich sorglosen Freunde. Vergiß, was du hier gehört hast. Versprich mir, es zu vergessen. Niemand soll Kunde haben von meinem Seelenleid. Du weißt: Mitleid tötet mich!«

Abschiednehmend streckt er ihm die mit suggestiver Elektrizität geladene Rechte zum Schweigegelöbnis entgegen.

 

Bereitwillig schlägt Siegfried ein.

Für fünfzig Mark hängt er sich einen Vollbart um und mimt den Apostel Paulus, wenn es der Kanzleirat verlangt.

– Eigentlich tut ihm diese Philosophenatrappe mit der Seelenleidskolik leid. Da wuchern bestimmt noch paar verdrängte Komplexe aus der »lyrischen« Periode. Wahrscheinlich hat er in der Pubertät zuviel Mondschein geschluckt und damit den Sexus verkleistert. Sollte mal zum Arzt gehen. Wenn's schon einer für die Seele sein muß, dann zum Psychoanalytiker. –

Diesen Gedanken – natürlich in angemessen schwülstiger Form – vorenthält er nicht seinem ihn dämonisch anstarrenden Seelenpapa.

 

Malepartus winkt schweigend ab.

– Wie sollte ein gewöhnlicher Arzt ihm helfen können! Er verachtet die Ärzte, die überall nur körperliches Leid sehen, körperlich heilen wollen. –

Aber der fremde Name der Heilmethode, das Vorderwort »Psycho –« und das Nachwort »– analyse« lassen ihn nicht locker. Was ist seine Seelenleidstabelle anders als eine Analyse, ja – in gewissem Sinne sogar Psychoanalyse –. Sollte irgendein Arzt von Blases konstruktiver Methode Kunde bekommen und mit ihrer Hilfe diese Psychoanalyse konstruiert haben –?

Es drängt ihn, mehr zu hören. –

Mit einer lässigen Geste hält er Siegfried, der eben in der Tür verschwinden will, zurück. Stellt eine spöttische Halbfrage über den Sinn dieser Psychoanalyse.

»Seelenleidsheilung« – antwortet Siegfried lakonisch.

Malepartus spitzt die Ohren.

Aber nach außen spielt er noch immer den Skeptischen, ironisiert die Möglichkeit, daß ein Arzt Seelenleid heilen könne. Luchst jedoch im gleichen Satz nach der Technik.

»Auf dem Rücken liegen. Über die Gründe zum Seelenleid nachdenken. Tabelle der Gründe anfertigen. Danach einen Grund nach dem anderen mit dem gesunden Menschenverstand zum Teufel jagen.«

– instruiert Siegfried kurz.

Blase ist frappiert.

– Das ist ja die Umkehrung seiner Technik, neues Seelenleid zu entdecken! Bei ihm heißts: auf dem Rücken liegen. Neue Gründe zum Seelenleid entdecken. Seelenleidstabelle anfertigen. Einen Grund zum Seelenleid nach dem anderen fest einprägen. –

Der Erfinder dieser Psychoanalyse ist ein Gauner, ein ruchloser Plagiatist der Blasischen Methodik!

 

Mühsam wahrt der Kanzleirat Fassung. Verabschiedet Siegfried rasch. Wiederholt dabei immer wieder –: »Auf dem Rücken liegen. Über die Gründe zum Seelenleid nachdenken, etc.«

Legt es schriftlich im Tagebuch nieder. Fügt bei:

»Genaue Erkundigungen über besagte Psychoanalyse einziehen. Danach sofort Erfinder derselben wegen gemeinen Raubs geistigen Eigentums verklagen.«

*

Mehr und mehr gerät er in den Zustand eines rasenden Liebhabers, dem ein anderer die über alles geliebte Braut – in diesem Falle die konstruktive Methode – bei Nacht und Nebel gestohlen hat. Flankiert am Büchertisch auf und ab wie der gereizte Berberlöwe am Käfiggitter.

Seine Erregung erreicht den Höhepunkt, als er zur Ablenkung nach der Zeitung greift und dort unter Radio-Nachrichten für den Nachmittag achtzehn Uhr einen Vortrag über die Psychoanalyse angekündigt findet.

Es ist fünf Minuten vor achtzehn. –

Im Galopp rast er durchs Zimmer. Legt sich einen riesigen Stenogrammblock zurecht, spitzt mit zitternden Fingern halb Dutzend Bleistifte, um jedes Wort über diese verfluchte Psychoanalyse nachzuschreiben.

– Da bereitet sich ein wissenschaftlicher Riesenprozeß vor, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht erlebt hat. Blases Name und seine umwälzende konstruktive Methode werden bald in aller Munde sein. Seine Jugendstimmen täuschten ihn nicht, die mahnten, regelmäßig Tagebuch zu führen. Einmal werde die Welt davor den Atem anhalten! –

Mit einem mächtigen Ruck stellt er das Radio an. Schreibt zwei Stunden lang im Schweiße seines Angesichts Wort für Wort, Komma für Komma, den Vortrag mit.

*

Als er das Stenogramm sauber abgeschrieben hat, sorgfältig überliest, verzieht sich sein Gesicht bei jedem Satz mehr zu einem verächtlichen Lächeln.

– Dieser Freud ist ein geistloser Charlatan. Keine Spur in seinem Plagiat von dem hohen Gedankenflug der Blasischen Originalmethode. Alltägliche Afterwissenschaft. Patientenfang mit billigsten Mitteln.

Zum Beispiel diese Behauptung:

Die meisten seelischen Leiden lassen sich auf verdrängte erotische Erlebnisse aus der Jugend zurückführen.

– Pah! Diese Naivität ist wahrhaft mitleiderregend!

– – –

Oder:

Hohe Kulturwerte entstehen aus der Umsetzung des übermächtigen Erostriebes ins Seelische, Geistige.

– Dafür sollte man diesen Frechling gerichtlich belangen!

– – –

Am empörendsten aber:

Asketentum, nicht ausgelebtes Triebleben, führt notwendig zu den schwersten seelischen Schäden wie Hysterie, Leidwahn, kurz – die ganze Tabelle der verschiedensten sogenannten Seelenleiden.

– Das ist sein Fall!

Will diese wissenschaftliche Null ihm vielleicht einschwätzen, Malepartus Blases größte Tat, seine erotische Abstinenz, habe – statt zu unzweifelhafter konstruktiver Kulturhöhe – zur Hysterie, zum Leidwahn, kurz, zur Tabelle der verschiedensten sogenannten Seelenleiden geführt! Der von jedem Philosophen verachtete Leib sei die Quelle seines Weltleids!?

Das ist ja geradezu haarsträubend!

Er muß sofort eine Antipsychoanalyse konstruieren, die morgen im Radio vorgetragen wird. Sonst nistet sich dieser verderbliche Unsinn in der Menschheit fest. Kein Jüngling fühlt sich mehr verpflichtet, nach Abstinenz zu streben. Babylonische Jugendexzesse stehen bevor!

Ratsch – das Tagebuch auf.

Überschrift: Antithesen zu Freuds Psychoanalyse.

 

– – Aber je öfter er den Text studiert, um zu jedem Beweis einen schlagenden Gegenbeweis aufzustellen, um so rascher vergißt er seine Absicht. Es geschieht mit ihm, was bisher mit jedem Freudgegner geschehen ist –: unwillkürlich beginnt er mitten im Schimpfen sein eigenes Unterbewußtsein nach etwaigen Verdrängungen zu untersuchen. Entdeckt einen ganzen Rattenkönig davon. Ist bald so mit seiner Auto-Psychoanalyse beschäftigt, daß er jeden grob anfahren würde, der ihm die Unsinnigkeit der ganzen Methode nachweisen wollte.

Hastig – ganz gegen sonstige Gewohnheit – wird das Abendbrot verschlungen.

21,15 Uhr steht in seinem Tagebuch unter: Antithesen zu Freuds Psychoanalyse:

»Lege mich jetzt laut Anweisung auf Rücken. Notiere jeden Gedanken, laut Vorschrift gleichgültig, ob wichtig oder unwichtig. Erwarte grundlegende Erkenntnisse über mein Seelenleid.«

*

Das Ergebnis seiner Psychoanalyse sieht folgendermaßen aus:

»Werden sich ungeheuer interessante Einblicke in mein Seelenleben ergeben. Unbequeme Lage das. Hätte eigentlich nicht heut Abend beginnen sollen. Telephon klingelt. Werde die ganze Nacht durchanalysieren müssen, ehe Fülle meines Seeleninhalts erschöpft. Wer kann jetzt noch anrufen? Erst wird analysiert. Klingelt schon wieder. Diesmal Feuerwehr auf Straße. Seelenzustand verändert sich merklich. So spät noch nie angerufen worden. Diese aufdringlich grellen Feuerwehrglocken! Rumoren im Magen. Dachte mir's doch, daß die eine Tomate auf Teller rechts faul sei. Soll ich nicht lieber zum Telephon gehen? Eigentlich müssen ja Feuerwehrglocken so grell sein, damit Platz – –. Bis jetzt noch kein verdrängtes Gefühl. Da pumpert die Frida wieder im Nebenzimmer herum. Merkwürdig, dieser späte Telefonanruf. Was hat eigentlich die Frida noch so spät drüben zu suchen? Scheint doch Quatsch mit der Psychoanalyse zu sein. Nun drückt auch noch Hosenknopf auf Rücken. Daß die Frida mir nur nichts wieder in Stücke schmeißt. Verdammt, muß auf Lokus! Bestimmt Großbrand; der ganze Löschzug rückt aus. Schweinerei, daß Frida faule Tomaten … Telephon klingelt wie toll. Da ist regelrechte Diarrhöe im Anzug. Wie soll hier ein Mensch Psychoanalyse treiben –? …«

 

Im selben Augenblick rasselt das Telephon bald den Hörer herunter.

Die Tür fliegt auf. Frida rattert herein:

»Sie sitzen wohl widder mal off'n Ohrn!«

Malepartus springt auf. Zum Telephon. Niemand meldet sich. Ärgerlich jagt er zum Lokus. Befreit sich von den Folgen des ersten, mißglückten Analyseversuchs.

*

Zur Chaiselongue zurückgekehrt, beschließt er angesichts des kläglichen Ergebnisses der ersten Analyse diesmal nur das zur Sache Gehörige, die Hauptgedanken, zu notieren.

Schreibt:

»Hauptsache, verdrängte erotische Erlebnisse aufspüren. Seit Jahrzehnten jedes Fünkchen Erotik systematisch unterdrückt. Zweifelsohne kulturelle Leistung das!

Wer mag nur so spät angerufen – – Zum Teufel! schon wieder abgelenkt. Du sollst keine Nebengedanken haben, Malepartus!

Wo war stehengeblieben?

Richtig, erotische Verdrängungen aufspüren. Letztes erotisches Erlebnis, wann? – Jugendliebe zu Flora. Vollkommen unerotisch. In schönster Blüte abgebrochen, weil geschlechtliche Berührung so reinen Wesens unvorstellbar. Ideal einer Liebe! Niemals Anlaß zu Seelenleid. Im Gegenteil: zu höchster Seelenfreude, Seelenerhebung. Hier selbstverständlich Psychoanalyse versagen.

Andere erotische Erlebnisse –?

Mit Fünfundzwanzig Besuch im Café Venus. Dicke Puffmamsell. Gereizt, ihr in Fett zu kneifen. Dabei silbernes S geholt. Sechs Wochen irrsinnige Schmerzen. Alle Weiber verflucht. Von da ab strengste Abstinenz. Wo steckt psychoanalytisches Symptom –? Hat doch überhaupt nichts mit Psyche zu tun! Dabei absolut nichts zu analysieren! Einfache Syphilis durch Ansteckung.

Übrigens werd ich immer müder. Ist längst 23 Uhr. Fortgesetzte Gähner.

Was gibts sonst zu analysieren –?

Natürlich –: Jugendsünden. Darüber äußert sich anständiger Mensch nicht. Wegen dieser Psychoanalyse werde ich mein aesthetisches Feingefühl nicht preisgeben. Ausgeschlossen! –

Wozu machen sie eigentlich solchen Tam-tam um die Psychoanalyse. Selbst so interessanter Mensch wie ich weiß nicht, was er von sich analysieren soll. So etwas langweiliges wie meine eigene Psychoanalyse habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Scheinbar ist meine Seele voller Bofel!

– – – – –

Mir fallen die Augen zu.

Seht ihr, ich habe euch gleich zu Anfang gesagt: der Freud ist ein Charlatan. Die ganze Methode Kurpfuscherei. Darüber morgen Vortrag im Radio halten. Etwa so: Meine Damen und Herren. Als ich gestern meine Psyche analysieren wollte, schlief ich darüber ein – – – –«

Die letzten Worte schreibt er schon im Halbschlaf. Also – ohne Verdrängung. Kein Wunder, daß dabei etwas herauskommt, was Malepartus Blase nur gestehen kann, wenn er sich – ohne die kulturellen Scheuklappen – psychoanalysiert!

*

Psychotherapie

Am nächsten Morgen hat Malepartus Blase mit seinem Seelensohn folgendes Telephongespräch:

Blase: »Guten Morgen, lieber Sohn. Du bist erstaunt –«

Siegfried (aus dem Schlafe aufgähnend): »Guten Morgen, guten Morgen, Herr Geheimrat. Gut geschlafen –?«

Blase (mit saurem Geschmack im Munde): »Leider sehr schlecht, Siegfried. Du verstehst –: mein Seelenleid – –
Äh, übrigens nebenbei. Ich habe spaßeshalber gestern einen Versuch mit dieser – –, na, wie heißt sie doch – –?«

Siegfried (innerlich gähnend): »– Psychoanalyse, Papa!«

Blase: »Ja. Richtig. Psy–cho–ana–lyse, hehe! Natürlich Blödsinn. Glatte Charlatanerei! Bin darüber vor Langeweile eingeschlafen, hehe!«

Siegfried (denkt sich, was wir uns alle dabei denken).

Blase: »Kommt natürlich für ernsthafte Menschen gar nicht in Frage. (– Jetzt ist er bestimmt von meiner Ablehnung der ganzen Methode überzeugt! –) – Tja, was ich noch sagen wollte … Ach so, richtig, richtig. Sag mal, Siegfried, gibt es dabei noch andere Techniken als – he he! – auf dem Rücken liegen, vergeblich nach erotischen Komplexen suchen, da man – Gott sei Dank! – sein Triebleben seit frühster Jugend in der Gewalt hat, aus philosophischem Instinkt heraus Asket ist!«

Siegfried (ergänzt für sich): »– oder impotent!«

Blase: »Du verstehst. Frage lediglich aus wissenschaftlichem Interesse. Gedenke eine niederschmetternde Kritik an Freud zu veröffentlichen.«

Siegfried (hat einen Lustspielgedanken. Feixt lautlos durch die Nasenlöcher): »Großartig! Gratuliere, Herr Geheimrat, gratuliere zu dieser olympischen Idee!«

Blase: »Danke, lieber Sohn.
Äh –, um zur Sache zurückzukehren. Könntest du mir also noch einige seiner hirnverbrannten Heilmittel mitteilen –?«

Siegfried: »Aber von Herzen gern, Papa. Über die lächerlichen erotischen Komplexe sprachen wir ja schon. Das Dümmste jedoch an der ganzen Methode ist die Heilung durch – hehehehe! – na, sie wissen doch – he! he!«

Blase (spitzt die Ohren): »Selbstverständlich weiß ich! Du meinst natürlich – hehe! hehe!«

Siegfried: »Ja, richtig! Das mein ich! hehehehe!«

Blase: »Purer Unsinn!«
(luchsend)
»Wie denkt er sich das eigentlich –? he! he!«

Siegfried (immer belustigter): »Ja, das frag ich sie! – he! hehehe!«

Blase: (– »Himmelherrgott! Stets, wenn ich ihn festhabe, schlägt er einen Haken! –«) (katarrhisch bellend)
»Heeeehe! heeeehe! Erkläre mir doch bloß mal –«

Siegfried (lacht sich schief über Blases vergebliche Angelei): »Kann man nicht erklären! Kann man einfach nicht erklären! heehe! heehe!«

Blase (zerknautscht vor Wut den Telephondraht. Sein Gelächter wird zum hysterischen Gejaule):
»Heeeeheeee! Spaßeshalber, Pferzchen! Spaßeshalber! heeeeheeee!!«

Siegfried (lacht, daß die Telephondrähte wackeln): »Müssen sie machen, Papa! Sie haben mehr Humor. Ich wälze mich hier im Bett, wenn sie mir das erklären können! heehee! heehee! he!«

Blase (heult wie ein schwanzgetretener Schloßhund): »hauhauhauhau! Natürlich kann ich das erklären! Aber erst muß ich wissen, was du meinst, hauauauau!«

Siegfried (bekommt Bettnässe): »Das wissen sie nicht? hahahaha! Das wissen sie nicht, was ich meine –? hahahaha!
Ja, zum Teufel, was haben sie denn dann die ganze Zeit über gemeint!? Worüber lachen sie dann eigentlich –?! ha! ha! haha!«

Blase (kläfft – wie obiger Hund, endgültig kopiert): »hauauhau! hauauhau! Das frag ich sie, Herr! Worüber feixen sie so dreckig!? Antwort! hau!«

Siegfried: »Muß da einer nicht feixen, wenn sie zu feixen anfangen und wissen noch gar nicht, worüber gefeixt werden soll!!«

Blase (verspuckt vor Empörung die Schalltrommel): »Erstens feix ich nicht! Ich lache! hau! Zweitens haben sie zu feixen angefangen, hau! Drittens feix ich über was ganz anderes als sie, hau! Viertens stehen sie gefälligst erst mal vom Bette auf, ehe sie sich erlauben dürfen, zu feixen, hauhau! Und wenn sie sich dann ausgefeixt haben, rufen sie mich gefälligst noch mal an und erklären mir, worüber sie gefeixt haben! Oder ich enterbe sie, hau! Verstanden?! Hauhau?« (Damit rüttelt er zornig am Telephonkasten, als habe er den Hörer auf die Gabel geschmettert. Lauscht angestrengt, ob das erschrockene Pferzchen noch rasch die Ursache seines Feixens von sich gibt.)

Siegfried (weiß Bescheid. Mimt den Erschrockenen. Quirlt harmlos eine seelische Platzpatrone in Blases aufgewühltes Seelenleid hinein): »Hören sie doch, Herr Geheimrat! Einen Augenblick noch! Ich feixe doch nicht über sie! Über den Freud! Über seine Methode, die unterdrückten erotischen Erlebnisse allesamt nachzuholen, um vom Seelenleid geheilt zu werden!«

 

Blase hat genug gehört.

Stolz, mit so viel Raffinesse das Geheimnis gelüftet zu haben, knallt er den Hörer triumphierend auf die Gabel. Mitten durchschnitten Siegfrieds letzter Satz:

»– besonders bei Jungfrauen –«

*

Malepartus Blase teilt sich die Verdauung der beiden aus voriger Unterhaltung entspringenden Seelenzustände genau ein: von 9,10 bis 9,30 Uhr über Pferzchen empört sein; von 9,31 bis 9,35 Uhr die neue Freudsche These widerlegen.

9,10 bis 9,12 Uhr wächst seine Empörung lawinenmächtig. 9,13 Uhr ist Siegfried enterbt. 9,14 Uhr entdeckt Blase, daß ihm dadurch wie im Ehescheidungsfalle Selma das moralische Übergewicht verloren geht; was ihn 9,15 Uhr veranlaßt, von jeder Bestrafung abzusehen; wodurch er 9,16 Uhr wieder auf einsamer ethischer Höhe balanziert. 9,17 Uhr restat: Durchwogtsein von einer schmerzlichen Welle neuen Seelenleids, die 9,18 Uhr der Tabelle angehängt wird:

Römisch VI: mein Seelensohn Siegfried.

Beweis a) Siegfried feixt respektlos darüber, daß ich feixe, ohne zu wissen, warum er feixt; – und behauptet, er feixe, weil ich über sein Feixen zu feixen angefangen hätte, ohne zu wissen, daß er über mein Feixen feixe! –

Damit ist der Feixkonflikt erledigt.

 

Die Freudsche These erledigt sich leider nicht so einfach. Nachdem er sie im Tagebuch fixiert hat, entsteht die Notwendigkeit, zu ihrer Widerlegung ein Experiment an sich selber zu machen. Was zu einem schweren seelischen Konflikte führt. Denn wie kann man die völlige Unterdrückung des Trieblebens als kulturelle Pflicht predigen und gleichzeitig sämtliche unterdrückten erotischen Erlebnisse nachholen wollen –?

Ein seelisches und körperliches Monstrum! –

Die bekannten faustischen zwei Seelen in Blases Brust geraten in einen heftigen Zwist.

1. Seele: Dieses ganze klassische Leben lang habe ich einen erbitterten Kampf gegen dich, Wurmseele Nummer 2, ausgefochten. Wenn Malepartus heute das Idealbild eines konstruktiven Menschen darstellt, so ist das mein Verdienst!

2. Seele: Idealbild –? Daß ich nicht lache! Einen idealen Bandwurm hast du Musjeh Blase infiziert, lang und feist wie seine Seelenleidstabelle. Wenn ich ihn nicht rechtzeitig auskuriere, frißt er ihm die konstruktiven Gedärme weg!

Höhere Seele: Du Narr! Der echte Philosoph geht eher an Seelenleid zugrunde, als daß er in die Niederungen niederer Sinnenlust hinabsteigt!

Hier macht Blase eine protestierende Geste –:

»Werte höhere Seele, du irrst. Der echteste Philosoph erhält vor allem sein kulturwichtiges Dasein solange als möglich der Menschheit. Auch um den Preis niederer Sinnenbefriedigung.«

Niedere Seele: Ätsch!

Siehste, Stehkragenseele, jetzt kannste stempeln gehn.

Obere Seele: Malepartus, ich kenne dich nicht mehr! Was hat dich über Nacht so verwandelt –? Bedenke –: du willst, was du längst verächtlich von dir warfst, wieder aus dem Gassenkote hervorkramen? Willst dich mit übelstinkender, gepöbelter Speise nähren –? brrrrr!

Untere Seele: Na, nur nicht so 's große Maul haben.
Als wenn du 'ne Götterspeise wärst!
Erotische Abstinenz würgt wie Lebertran, sagte schon der weise Sokrates.

Edelseele (ihn völlig überhörend): Ich muß lachen, Blase!
Du alter, abgetakelter Segler willst noch Wind in deinen schlotternden Hosen fangen –?
Versuchs!
Eh du die Taue zur Sturmfahrt straffst, bricht ab der Mast, haha! –

Die Pöbelseele versetzt Malepartus einen provozierenden Knuff, daß er sich breit aufreckt, die Taue strafft, den Wind in geblähten Segeln einfängt; eine Weile so der skeptischen Edelseele schweigend seine ungebrochene Männlichkeit demonstrierend –, obgleich ihm die Demonstration einige Anstrengung kostet.

Dann mustert er den Zweifler von oben bis unten, schleudert ihm ins Gesicht:

»Wenn ich noch heute mit der Nachholung sämtlicher unterdrückter erotischer Erlebnisse meines Lebens beginne – und zwar bei dem schwersten, diesbezüglichen Objekt, bei meiner Ehegattin Selma Leistenbruch, – so geschieht das nicht aus sträflicher Wollust; auch nicht zwecks Prüfung der Freudschen These, die ich unbesehen ablehne; sondern um dir – zweifelsüchtige Edelseele – zu beweisen, was noch an männlicher Kraft in mir steckt!!«

Diesen Satz mit Rundschriftfeder dick ins Tagebuch geschrieben. Unauslöschbar!

– – – – –

Hierauf beginnt Malepartus Blase seinen Morgenspaziergang.

*

Unterwegs beschäftigt ihn ausschließlich sein rundschriftfetter Entschluß. Mehreremals muß er Zwangsvorstellungen früherer ehelicher Zusammenpralle mit nachfolgender ärztlicher Behandlung wegen kleinerer Knochenbrüche und Muskelzerrungen zurückdämmen. Zum anderen vergegenwärtigt er sich öfter das Gleichnis vom abgetakelten Segler mit dem morschen Mast. Unzweifelhaft ist hier die Gefahr des Abbrechens oder Abknickens vorhanden.

Wie ihr begegnen –?

Eine Alliteration von Mast und Mark führt auf die richtige Spur –: das Mark stärken!

 

Vom gewohnten Wege abbiegend – in eine Apotheke tretend, bemerkt er mit Schrecken, daß zur Bedienung einzig eine Dame anwesend, die ihn freundlich lächelnd nach seinen Wünschen fragt. Er stottert etwas von morschen Mastbäumen und schlaffen Segeln, worauf er in ein nebenanliegendes Seeausrüstungsgeschäft verwiesen wird.

Gehorsam retiriert er zur Tür.

Da fällt ihm die rettende Übelkeit ein. Er röchelt, greift zur Stirn, sinkt auf einen Stuhl, begehrt Aspirin im Wasserglas.

 

Wieder erholt, als harmloser Nervenkranker legitimiert, wird das Fräulein nicht zynisch lächeln, wenn er den Chef, der im Augenblick abwesend, persönlich zu sprechen wünscht.

Blättert hastig in den ausgelegten Krankenkassenberichten nach dem Namen eines zweckentsprechenden Stärkemittels. Findet nichts. Wird immer nervöser. Läßt sich alle vorhandene Lektüre vorlegen und entdeckt auf der letzten Seite des »Junggesellen« zwei Annoncen, zwei rettende Namen: Okasa und Virit! –

Gerade tritt der Chef ein.

– Um Gotteswillen! Das ist ein Schachgegner von Blase! Stadtbekannter Satyriker! – Er wird sofort ahnen, wozu der Kanzleirat das Zeug braucht.

– – Ihn nicht zu Wort kommen lassen! Mit dem Auftrag überrumpeln, ehe er Blase erkennt, die Zusammenhänge ahnt, höhnisch die Mundwinkel nach unten zieht. Bereits aus dem Laden sein, wenn er zur Besinnung kommt –!

 

Malepartus schnellt vom Stuhle hoch. Springt zur Ladentafel. Bohrt seinen Blick in den des Ahnungslosen. Schnauzt ihn ohne Begrüßung an:

»Sofort zwei Packungen der Nervenstärkemittel Okasa und Virit! Dalli! Keine Zeit!«

Es gelingt.

Verdutzt wiederholt der Apotheker die Namen. Greift unter den Tisch, holt die Päckchen hervor, ohne Blase zu erkennen.

»Preis!« – kommandiert Malepartus.

»Zwanzig Mark!« – stammelt der Apotheker.

Der Kanzleirat schmettert einen Fünfzigmarkschein auf die Ladenkasse.

Aus!

Das Fräulein kann nicht wechseln. Muß in das Seeausrüstungsgeschäft nebenan wechseln gehen. –

Malepartus wird erkannt, begrüßt. Das verfluchte Mundwinkelziehen beginnt, abgelöst von einem behäbigen Gelächter, Schulterklopfen:

»Nun, alter Freund, was will man mit Okasa und Virit –?

Langts nicht mehr natura –? hehe!
Na, verstehe, verstehe.
Wenn ich die Selma hätte, bezöge ich das Zeug gleich en gros von der Fabrik!«

 

Malepartus unterdrückt einen Schreikrampf.

– Morgen weiß der ganze Schachklub, daß Kanzleirat Blase in seiner Ehe schachmatt ist! Man wird ihn zu Tode pisacken! – Er reißt die Päckchen an sich. Jagt ohne Gruß zur Tür hinaus. Rennt beinahe das zurückkehrende Fräulein um. Natürlich das Geld in Einzelmark gewechselt, daß er ja nur recht lange aufgehalten wird. –

Da klatscht auch schon die fettige Lache des im Türrahmen aufgetauchten Apothekers ihm auf dem Buckel nieder –:

»Nehmen sie doch Rotwein mit Ei, Bläschen. Das pulvert genau so auf und kostet nicht so 'n Heidengeld wie das Okasa!«

– wobei er den Namen »Okasa« über den ganzen Platz brüllt, daß alle Leute stehen bleiben; im Augenblick wissen, wie es um Blases Sexus bestellt ist.

*

Auf der Straßenbahn zielen alle Blicke auf die Päckchen. Alle Mundwinkel verziehen sich. Alle denken: dieser ansehnliche Mann mit dem Gerhart Hauptmannprofil kann nicht mehr hinten hoch! –

Abspringen. Ein Auto genommen.

Beim Bezahlen entfällt ihm ein Paket. Der Chauffeur hebts auf. Grinst übers ganze Gesicht.

Zu Tode erschöpft wankt Malepartus die Treppe hinauf. Brüllt die türöffnende Frida, die natürlich sofort auf die Päckchen schielt, wutverquollen an:

»Okasa! Stärkungsmittel für sexuelle Schwäche!«

– worauf sie prompt zurückbrüllt:

»Lesen se lieber die Bibel, statt an sowas zu denken, sie Ferkel!«

Aber Malepartus hört nichts mehr.

Eine leichte Ohnmacht umfängt seine okasagequälten Sinne.

*

Als er erwacht, den Vorfall mit schmerzlichem Schnörkel tagebuchen will, hinzufügend:

»Deshalb sehe ich mich 13,32 Uhr gezwungen, alle Experimente betreffs Seelenleidsheilung bis zur völligen Wiederherstellung meiner Gesundheit zu unterlassen.«

– grinst ihn höhnisch der mit Rundschrift ins Papier eingekerbte Schwur vom Morgen entgegen, noch heute Selma zu attackieren. Er erbebt im Innersten. Müht sich vergebens, den verhängnisvollen Satz durch Gummi, Federmesser und chemische Substanzen auszumerzen. Er fließt nur noch mehr in die Breite und wird somit völlig unausrottbar.

Eine Weile kämpft er mit dem Gedanken, den Schwur zu brechen. Eine weitere Weile will er das erste Mal eine Seite seines Tagebuches ausreißen. Aber vielleicht würde die Nachwelt durch diese Lücke an ihm irre! –

16,14 Uhr hat er alle Anfechtungen überwunden. Verschluckt mit der Miene des gifttrinkenden Sokrates sämtliche Portionen Okasa und Virit. Gießt fünf Gläser Malaga mit Ei hinterdrein, weil das Zeug so sauer schmeckt.

 

Um 17 Uhr haben sämtliche Magenwürmer von dem Sexualkräftigungsmittel en masse den Liebeskoller. Veranstalten ein wüstes Bacchanal in Blases Magen, dessen Taumel den Kanzleirat auf die Chaiselongue wirft, wo er unter jämmerlichem Stöhnen wie irrsinnig bauchgymnastet.

17,30 Uhr ist Blases Sexus so ins Gigantische gewachsen, daß er als liebestoller Pascha in seiner Bronzettensammlung nackter griechischer Göttinnen umhertorkelt. Einer nach der anderen die heißesten Liebesanträge macht. Ihnen schließlich im türkischen Pyjama einen Hochzeitstanz siamesischer Eunuchen vorführt. –

Frida fährt empört ins Zimmer.

Wird von Malepartus mit lüsternen Blicken verschlungen, gierig umtanzt; worauf sie entsetzt entkreischt. Sofort Hebamme Leistenbruch anklingelt: sie solle mal schnell nach Hause kommen. Der Bengel habe zuviel Scharfes gegessen und schnüffle alle Unterröcke an!

Selma imponiert das nicht.

»Wasser übern Kopf!

Und wenn das nicht hilft, drohen –: die fette Selma komme heute nacht mit ihrer drei Zentnerliebe über ihn, wenn er nicht gleich artig sei.«

 

Bei dieser Mitteilung gerät Malepartus völlig außer Rand und Band.

»Drei Zentner über mich! Sechs Zentner! Zehn Zentner! Eine ganze Tonne Zentner! Her damit! Wird alles kirre gemacht!« – jauchzt er auf und umfaßt Frida brünstig, haucht sie okasisch an.

Fridas hymen virginae zittert entsetzt.

Mit Karnickelsprüngen flüchtet sie in ihr keusches Stübchen. Riegelt zu. Schließt dreimal um. Rückt die Kommode vor. Stammelt Gebete. Erleidet in aufwühlenden Visionen ihre Vergewaltigung durch einen ganzen Auftrieb Zuchtbullen.

*

Als gegen 21 Uhr Hebamme Selma Leistenbruch nach Hause kommt, findet sie ihren Gatten damit beschäftigt, ihr gemeinsames Schlafzimmer mit ganzseitigen Bildern aus Fuchs' »Sittengeschichte« zu tapezieren.

Jedermann wird verstehen, daß der Anblick so vieler erfüllter Liebe die in ihrer Ehe allzuknapp Gehaltene rasend macht. Mit einem Wonnetriller stürzt sie sich auf den Philosophen.

 

Nach der vorherigen Schilderung von Blases Quadratpotenz könnten wir jetzt diskret den Vorhang vor das glückliche Ehebett dieser Nacht ziehen.

Aber wieder einmal: Theorie und Praxis! –

Schmalhüftigen Bronzetten, plattbrüstigen Illustrationen, bibelfesten Jungfrauen konnte Blase den wilden Mann glaubhaft machen. Aber als dieser dampfende Fleischkloß hier wollustschnaufend auf ihn losgewalzt kommt, bereit, ihn im nächsten Augenblick zu Asphaltur breitzuquetschen, ist es mit der erotischen Tollwut, mit Okasa, Malaga, Fuchs und Psychoanalyse jäh vorbei. Platzangst schießt durch alle Glieder. Gleich dem todgewissen Hektor flüchtet er siebenmal rings den Zimmermauern vor der blutdürstigen Amazone mit den Achillesbizepsen. Über Stühle, Tische, Bettränder und Matratzen, von Ecke zu Ecke, den Leimpinsel abwehrschwingend, sobald sie ihm allzu bedenklich auf die Pelle rückt.

Die wilde Jagd treibt Selma an immer neuen sittengeschichtlichen Tapeten vorbei, die ihr Blut immer höher sieden lassen. Vor ihren stieren Augen kreisen in Schweißwolken gebadete Liebespaare im Kostüm aller Jahrhunderte.

Achtlos zertrampelt sie Stühle, Tischplatten, Porzellangeschirr. Verletzt sich an den Scherben die Achillesverse. Das sickernde Blut reizt sie wie das rote Tuch den Stier nur noch mehr. Malepartus wird in eine Ecke getrieben, mit Zerquetschung bedroht, wenn er sich nicht bereit erklärt, sofort seine ehelichen Pflichten in ausreichendem Maße zu erfüllen.

Zitternd gelobt er alles zu.

In seine Ecke gekauert, eräugt er mit Entsetzen, wie sich Selma im Galopp entkleidet, bauchlings auf die Matratze wirft, einen Kupferstich an der Wand mit Madame Pompadour anstarrt, ungeduldig von Malepartus die sofortige Einlösung seines Versprechens fordert.

 

Es geschieht, was seit sechs Jahren allzehntäglich geschehen ist –:

Auf allen Vieren kriecht Malepartus leise stöhnend bis ans Bett. Starrt melancholisch zu ihren Saurierkeulen empor. Verflucht seinen Eheentschluß, die Inflation, die Zwiegeschlechtlichkeit der Menschen und seinen Knabensexus. Klettert seufzend den Bettrand hinauf. Verliert halbwegs die Balanze. Droht abzustürzen. Klammert sich krampfhaft an die nahen Felsvorsprünge fest. Die werden lebendig. Der Philosoph vermag auf den abschüssigen Hügelabhängen nicht festen Halt zu fassen. Rutscht bei jedem Kletterversuch ab. Wird von ihren feisten Kniescheiben zu immer erneuten Gebirgstouren gestoßen. Erschlafft bei jedem vergeblichen Aufstieg mehr; zumal die Rutschbahn von öfterer Benutzung spiegelglatt wird. Zu Tode erschöpft, vermag er seine mühsam aufgesparte, aufgeputschte Männlichkeit nicht mehr an sich zu halten.

 

Während sein Bewußtsein per Vererbungsbahn ins Mittelalter zurücksinkt, Szenen aus dem Sängerkrieg auf der Wartburg halluziniert, ist Selma durch das unentwegte Anstarren der Pompadourszene und seinen anatomischen Monolog über die Haltlosigkeit alles Männlichen auf dem Höhepunkt ihrer Liebessehnsucht angelangt.

Der wie ein wattiertes Stoffmännchen überm Bettrand hängende Philosoph wird hochgestemmt, solange mit drei Zentnern Hebammenliebe belastet, bis auch die Pompadour nichts mehr vor Selmas Liebeserfüllung voraus hat; und Malepartus an gewissen Schmerzen spürt, daß es wirklich Leute gibt, die ihn in Ekstase für einen Mann gehalten haben.

Worüber eingehend nachzudenken, er die nächsten drei Tage Rekonvaleszenz »wegen allgemeinen körperlichen Unwohlseins« (– wie er diskret in sein Tagebuch vermerkt –) genügend Muße hat.

*

Nach Ablauf dieser Frist, nachdem er die Seelenleidstabelle um die neuen Beweise ergänzt hat, grübelt er lange nach, ob er die Psychoanalyse auf diesem Wege fortbetreiben soll. Ob das mißglückte Experiment mit Selma zu wiederholen sei.

Da seine Psyche dabei absolut nichts gewonnen hat, verneint er das strikt. –

Öfteres Studium der Ferzchen-Instruktion hakt beharrlich bei dem Nachsatz fest: »besonders bei Jungfrauen«.

Er memoriert:

»Nachholung der unterdrückten erotischen Erlebnisse – besonders bei Jungfrauen!«

Dies scheint immerhin mehr Psyche zu enthalten als die animalischen Exzesse mit Selma.

 

Woher aber nun eine Jungfrau nehmen –?

In seiner Umgebung existiert nur eine einzige garantiert echte: Dienstmädchen Frida Abendmatt. Und diese muß schon aus Standesgründen als völlig indiskutabel abgelehnt werden. –

Aber sein Seelenleid wächst täglich, eine standesgemäße Jungfrau taucht nicht aus dem Schaum seiner Badewanne auf, und ebensfalls keine neue Seelenleidsheilungsmethode als die psychoanalytische »besonders bei Jungfrauen«. So muß sich unser Philosoph wohl oder übel mit dem Gedanken einer psychoanalytischen Verbindung mit Dienstmädchen Frida vertraut machen.

– Was gelten letzten Endes Standesunterschiede –? Nährte sich nicht auch Lionardo mit übelduftendem Ziegenkäse, um seine Gesundheit zu erhalten –?!

Solches bedenkend, begibt er sich eines Nachts nachtbehemdet in ihr keusches Jungfernstübchen.

*

Während Malepartus den dunklen Hausflur entlang tappt, überlegt er, wie man am besten in ihr Zimmer treten könne, ohne den Anschein einer Vergewaltigung zu erwecken. Beschließt, die Klinke hart niederzudrücken, sofort Licht anzuschalten, unverzüglich eine wissenschaftliche Erklärung zu geben.

 

Frida fährt jäh aus dem Schlafe.

Kreischt entsetzt auf, als sie den Hemdenmatz erblickt. Vor Schreck versagt ihr der Lautsprecher.

Malepartus hebt zum Gruß die Hand, erklärt salbungsvoll:

»Seien sie beruhigt, Jungfrau Frida. In edler Absicht stehe ich vor ihnen, obzwar in unedlem Gewande. Ich weiß, daß sie gleich mir an schwerem Seelenleid kranken, das auf unterdrückten erotischen Erlebnissen beruht, und bin bereit, sie davon zu heilen. Der Weg dazu erscheint schamlos, aber manches Niedrige dient höheren Zwecken. Denken wir hier zum Beispiel an Lionardos Ziegenkäse …«

Fridas Mund klappt sprachlos auf und zu.

– Bei dem Bengel muß es ausgebrochen sein –!

Sie greift nach der Wasserflasche. Auf ihrem Gesicht steht das Embryo des Satzes:

»Ziehnse gefälligtst erscht mal Hosen an, ehse mir zu nahe komm!« –

aber Malepartus, in Furcht, daß dem ersten Satz eine unendliche Sintflut zweiter folgt, läßt sie nicht zu Worte kommen –:

»Sie mißverstehen mich, Jungfrau Frida.

Ich will sie nicht überwältigen. Seien sie stolz darauf, daß gerade sie auserkoren sind, von mir zur Heilung des Seelenleids eines bedeutenden Philosophen in allen Ehren und ohne niedere Gelüste – entjungfert zu werden!«

Markerschütternder Schrei.

Eine blitzschnelle Fata morgana des früher erwähnten Auftriebs Zuchtbullen stürzt sich mit blutunterlaufenen Augen auf Jungfrau Frida. Sie fällt in Ohnmacht.

Malepartus sieht und hört nichts mehr.

Nur ein Gedanke durchrast ihn: Frida darf nicht zu Worte kommen! Noch kein lebendiger Mensch hat ihrem Geknatter eine Minute lang standgehalten.

Also reden – reden, bis sie ihm sprachlos um den Hals fällt, anatomisch antwortet.

»Nicht sträfliche Wollust treibt mich zu ihnen! Nein –, ernste, wissenschaftliche, gegenseitige Heilinteressen. Vor jedem irdischen und göttlichen Richter kann ich beschwören, daß lediglich philosophische Gründe mich zu ihrer Defloration veranlassen!

Sobald ich meine unterdrückten erotischen Erlebnisse bei ihnen nachgeholt habe, stellen wir unser früheres Dienstvertragsverhältnis wieder her.«

 

Bei diesem Satze erwacht Frida.

Während der Ohnmacht kämpften in ihrem Unterbewußtsein zwei Dämonen miteinander –: sofort den Lümmel zur Sittenpolizei schleppen – und: seinen Antrag annehmen; mit dessen Hilfe die fette Amme aus dem Hause bugsieren. Frau Kanzleirat werden. –

Aber als sie jetzt das von der Rückkehr ins frühere Dienstvertragsverhältnis hört, sich bewußt wird, daß sie hier lediglich Lückenbüßer spielen soll, weil der Ziegenbock wahrscheinlich aus dem Ehebett geflogen ist, – reift rasch ein anderer Plan –: einen Spektakel machen, als wäre sie im Schlaf überfallen worden, blute an allen Ecken und Enden; dickes Sühnegeld ergattern. –

Luft gepumpt zu einem Vieretagenschrei.

 

Malepartus hört Jungfrau Frida seufzen.

– Hosianna, sie ist bereit! Der Seufzer bedeutet Abschied von der Jungfräulichkeit. Und nun – hinein in die Fräulichkeit! –

Einen mächtigen Anlauf genommen. Mitten auf ihrer Steppdecke gelandet. Die Steppdecke von ihren keuschen Gliedern gezerrt.

Aber statt des nun erwarteten: von weichen Armen umfangen werden; im psychoanalytischen Wonnemeer versinken –, folgt: eine Ladung Backpfeifen ernten; im selben Bogen zurückfliegen; sich am Türpfosten den Wurmfortsatz lädieren; Gefühle eines Seekranken bei Windstärke 12 haben; eine ganze Jungfernstubeneinrichtung mit Bibel, Nippes-Jünglingen und Kattunhosenknäuel in zärtlichster Berührung mit seiner Schädeldecke.

Gerade stammelt er einen wehmütigen Seufzer zur Seelenleidstabelle Römisch III: Beweis c) Dienstmädchen Frida mißversteht meinen psychoanalytischen Deflorationsversuch – –

da zerkracht ein malerisches Porzellangefäß an seinem Grips. Mit einer Vision in Gelb verlischt Blases Bewußtsein.

 

Frida heckt ihren teuflischen Plan zu Ende.

Spritzt eine Flasche roter Tinte über Bett und Nachthemd. Knipst das Licht aus. Reißt die Tür zum Korridor sperrangelweit auf. Brüllt – wie von sämtlichen Pfeilen des Völkerkundemuseums durchlöchert:

»Hilfe! Hilfe! Mich hamse geschwängert! Gewalttätsch! Hilfe! Hilfe! Mir laifts Blut eemerweise fort!«

 

Von dem Spektakel erwacht Selma.

Will Malepartus wachrütteln. Vermißt ihn. Vermutet, Einbrecher haben ihr den Gatten von der Flanke gestohlen; wollen ihn und Dienstmädchen Frida ans Panoptikum verschachern.

Springt auf. Galoppiert in der Nachtjacke über den finsteren Korridor zu Fridas Zimmer, worin diese einen wilden Verzweiflungstanz aufführt, die dünnen Arme und Beine wie besessen in der Gegend herumschleudert, als wäre sie von einem tollwütigen Ballettmeister vergewaltigt worden.

Stolpert über den scheintot am Boden liegenden Malepartus. Fällt mit voller Wucht über ihn weg, daß im fernsten Unterbewußtsein des Seelenkranken der Himalaja auf ihn niederstürzt. –

Selma richtet sich fluchend auf.

Licht eingeschaltet. In dem Verkehrshindernis ihren Gatten erkannt. Von der heulenden Frida auf das noch immer strömende Blut hingewiesen, mit dem Vergewaltigungsmärchen bombardiert. Am meisten empört darüber, daß ihr Frosch hier noch ganz respektable Männlichkeit entwickelt haben muß, während er vor ihren geringsten Bedürfnissen jedesmal zum kläglichen Jammergreis zusammenschrumpft.

Sackt ihn unterm Arme. Kommandiert Frida, die Beine zu packen.

Abwechselnd von Selmas Puffern und Fridas spitzen Jungfernhufen gestoßen, rollt der Philosoph die Treppe hinunter. Erleidet im Unterbewußtsein einen Drippelselbstmord unter der Mitropa. –

 

Als er ins Oberbewußtsein hinaufdämmert, prallt sein klassischer Podex aufs Straßenpflaster, – einem Straßenkehrer just vor den Besen. Der kehrt ihm den Verstand munter.

Irgendwoher derber Knuff, Selmas Abschiedsschluchzer:

»Laß dich bloß nicht mehr bei mir blicken oder s'setzt Hiebe, daß dir die Jungfernjagd vergeht!«

Anschließend ein letzter Nasenstüber von Frida:

»Morgen weeß es die Sittenpoolizei, was sie fer Eener sin!«

Das Trio ergänzend der Straßenkehrer:

»Schwein, besoffenes! Zieh dir schleunigst die Hosen drüber – oder ich kehr dir'n Hintern schwarz!«

 

Malepartus gehorcht.

Greift mechanisch zur Seite. Findet eine alte Bureauhose mit Lüsterjackett und Bergstiefel; das einzige, was ihm die rasenden Furien gelassen.

*

Währenddessen haben sich die beiden oben schon verkracht, weil Frida als Sühne für ihre verlorene Unschuld den gleichen Beuteanteil fordert wie Selma. In der berühmten »Sammlung Blase« steigert sich der Streit zum Barrikadenkampf, wobei vor allem die Edelzuchtkakteen als Wurfgeschosse Verwendung finden.

Eine besonders edelgezüchtete durchknallt die Fensterscheibe, kehrt aus alter Anhänglichkeit zu ihrem Meister zurück, der froschgekrätscht aufspringt. –

Vergeblich sein Klopfen gegen die Tür, seine Unschuldsbeteuerungen, sein Flehen um Wiederaufnahme; wenigstens um Herausgabe des Kulturrockes, da er so nicht über die Straße gehen könne.

In der Außenpolitik wieder völlig einig, treiben ihn die Weiber mit einem Kakteenbombardement aus der Gegend; höhnisch nachrufend, er solle die Promenade lang auf die Jungfernjagd gehen.

*

Psychoekstase

Die ganze Nacht irrt der Philosoph in den Straßen umher. Hätte er jetzt das Tagebuch bei sich, die Seelenleidstabelle würde mit Rundschrift um Römisch VII: meine Heimatlosigkeit – ergänzt.

Jeden Menschen, dem er auf den stillen Straßen begegnet, starrt er mit leidzerwühltem Gesicht an –: siehst du nicht, o Mensch! daß ich ein einsamer, heimatloser Philosoph bin! Jammert dich nicht des ergreifenden Anblicks! –

Schließlich kennt sein Mitleid mit sich selber keine Grenzen mehr. Lange Monologe werden gemurmelt über die Ausstoßung der Wahrheitsucher, über das Martyrium der höheren Menschen in dieser niederen Welt. Nacheinander vergleicht er sich mit Diogenes, Kopernikus, Schopenhauer und natürlich Nietzsche. Rezitiert den halben Zarathustra.

Bei der Zeile:

»Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt.
Bald wird es schnei'n.
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat.«

– kommen ihm vor Erschütterung über sein Unglück Tränen. In diesem Augenblick wünscht er sich den besten Maler hier – ihn erblickend, mit bebenden Fingern porträtierend. Das Bild »Der weinende Philosoph« würde neben Lionardos Giaconda das berühmteste des Louvre. –

Auf diese Weise bis zum Morgen mit der ideellen Seite seines Leids beschäftigt, kommt ihm dessen materielle Seite: jetzt kein Dach mehr überm Kopfe zu haben –, überhaupt nicht zu Bewußtsein. Mit süßer Wollust genießt er die Lebensmaxime seines Seelenvetters: Siehe, wie traurig das Leben ist; und siehe auch, wie wundervoll dich diese Trauer kleidet.

*

Gegen Morgen hat er sich ausbemitleidet.

Beim besten Willen finden sich keine weltgeschichtlichen Vergleiche mehr. Dazu ist er hundemüde; hungrig. Und vielleicht das Schlimmste: kein Mensch kümmert sich um den kragenlosen, hinschlurfenden Alten im Lüsterjackett.

Früher wich vor seiner achtunggebietenden Persönlichkeit – besonders wenn sie im Weimarer Kulturrock einherschritt – jedermann ehrfürchtig zur Seite. Bewundernde Blicke streiften ihn. Backfische tuschelten sich zu: wie Wolfgang Goethe. Ja, die Zeitung einer Kleinstadt, die er besuchte, brachte unter Lokales: Wir haben die hohe Ehre, den berühmten Dichter Gerhart Hauptmann usw. …; worauf er im »Goldenen Lamm« begeistert gefeiert wurde. –

Aber jetzt rempelt ihn fortgesetzt schmutziger Straßenpöbel an. Ein roher Patron erlaubt sich sogar schamlose Anulkung –:

»Na, Vater, dich hat deine Ollje woll rausgesperrt heute Nacht –?«

– worauf die ganze Gossenmeute ein wüstes Gelächter anstimmt. Malepartus' Gesicht durchfurcht die Märtyrerfalte.

 

Um 8 Uhr, als die Zeit seiner gewohnten Morgenbeschäftigungen: Rasur, Frühstück, Zeitung, Radiowetterbericht heranrückt, ist der Tragödiendunst über seinem Schicksal verflogen. Mit kühlem Kopfe überlegt er, wie auf gesetzlichem Wege seine Wohnung, die alten Zustände zurückerobert werden können. Beschließt, während der Dauer des Rechtsstreits bei seinem Seelensohn Siegfried zu kampieren, den er moralisch verpflichtet hat, ihn aufzunehmen.

*

Siegfried amüsiert sich köstlich, als ihm der Kanzleirat das mißglückte psychoanalytische Experiment und seine verhängnisvollen Folgen berichtet. Besonders erheitert ihn die fixe Idee Blases mit der »Jungfrau«.

– Es wäre jammerschade, wenn dieser amerikanische Groteskfilm, zu dem sich das Schicksal seines Seelenpapas allmählich auswächst, ein kleinbürgerlich – deutsches Ende fände. Schon im Interesse der von ihm zu schreibenden Novelle muß der Kulturgreis noch meschuggener werden. –

Anstatt also mit ihm zum nächsten Rechtsanwalt zu traben, macht er ein streng-wissenschaftliches Gesicht. Erklärt Malepartus: erst müsse er endgültig von seinem Seelenleid geheilt werden. Sonst helfe ihm nicht seine Wohnung, nicht die »berühmte Sammlung Blase«, nicht der Prozeßgewinn. Mit der »Jungfrau« sei er auf ganz richtigem Wege. Jedoch habe er bei seinem ersten Experiment das Wesentlichste übersehen –: die Jungfrau müsse wirklich jung sein. Nur durch eine junge Liebe könnten sich auch seine Arterien verjüngen, das Seelenleid verschwinden. Freud betone diesen Passus ausdrücklich.

Malepartus seufzt melancholisch.

Hat ihn eine alte Jungfrau mit Porzellangefäßen empfangen, wird eine junge Jungfrau sofort nach der Polizei rufen. Zudem sei er schon als Jüngling krankhaft schüchtern gewesen. Woher solle er jetzt als Seelenkranker die Robustizität nehmen, einem jungen Mädchen so heikle Deflorationsanträge zu machen!

Aber Siegfried beruhigt ihn.

– Er solle sich jetzt sorglos schlafen legen. In seiner Umgebung blühten eine Handvoll garantiert rassereiner, jungfräulicher Knospen, die es sich zur Ehre anrechnen würden, dem berühmten Philosophen bei seiner Seelenleidsheilung behilflich sein zu dürfen. Und so Gott und der Kanzleirat wolle, könne aus der einmaligen Hilfsaktion noch ein spätes Glück ersprießen – vergleichbar dem schönen Seelenbund Goethes mit Ulrike von Levetzow. –

Diese letztere Aussicht bricht alle Bedenken des Kanzleirats. Wo irgendwo er Goethe imitieren kann, begeht er die größten Tollheiten!

*

Während der Schlummernde von einem lieblichen Traum umfangen wird, in dem sich die wiedererstandene Flora zärtlich um seinen psychoanalytischen Komplex bemüht, spinnen sich die Fäden seines Verhängnisses zu immer festerem Gewebe.

*

Siegfried sitzt bei seiner kleinen Freundin Schnups. Instruiert sie über die ihr bevorstehende Aufgabe, dem Kanzleirat bei Verdrängung seiner erotischen Verdrängungen zu helfen. –

Schnups hat das Gesicht eines Magazinengels, das sprühende Temperament einer Platzpatrone, den Unternehmungsgeist eines Fassadenkletterers und die Kesse der echt Berliner Göre. Alles Eigenschaften, die ihr Zusammentreffen mit der etwas angefaulten Kulturstatue Blase zu einem literarischen Ereignis prädestinieren.

Kein Zweifel, daß sie mit dem Plane Siegfrieds begeistert einverstanden ist. Sofort eine Verführungsgeneralprobe mit Siegfried arrangiert, der fluchtartig ihre Kemmenade verläßt.

 

Eine halbe Stunde später ist er mit einigen Merkurfreunden auf dem Wege zu einem Maskenverleihinstitute. Leiht eine Polizeiuniform, zwei Zylinder, einen Vollbart und Handschellen.

Anschließend fährt man in ein kleines Vorstadthotel. Mietet dort ein Zimmer mit zwei Betten und das nebenangelegene. Bestellt ein Sektdiner mit allen Raffinessen. Unterrichtet den Wirt über alles Bevorstehende.

*

Als Siegfried nach Hause zurückkehrt, ist Malepartus – gerade am Kulminationspunkt seines Floratraumes angelangt – erwacht.

Mit heimtückischem Lächeln berichtet Siegfried –; es sei alles vorbereitet. Eine edle Jungfrau sei gewonnen; erschaudere vor dem Gedanken, seine psychoanalytische Geliebte werden zu dürfen. Ein ungestörtes Zimmer sei ebenfalls gemietet. Der Philosoph solle sein gestriges Mißgeschick vergessen. Noch heute steige er als Phönix aus der Seelenleidstabellenasche – sich und der Menschheit zu herrlichem Gewinnst! –

Der Teufel will es, daß der kleine Schnups wirklich Ähnlichkeit mit Blases verflossener Flora hat. Kein Wunder, daß bei ihrer eingehenden Schilderung durch Siegfried des Kanzleirats altes Herz Verjüngungshüpfer tanzt. Er ist wieder der Expedient vom Jahre 1886 und bereitet sich sorgfältigst auf ein Rendez-vous mit der Angebeteten vor. –

Stundenlange Rasur, bis kein Bartkrätzerchen mehr ihren zarten Wangen wehzutun vermag. Abseifung des klassischen Körpers mit dem Badesalz »Sei schön durch Elida«, bis er ambrosische Düfte verströmt. Auswahl einer Cutawayhose mit staubfreiem Gehrock aus Siegfrieds Schrank. Weiße Gamaschen, Zylinder. Und als letztes, diskretestes: ein lila Pyjama. Für die … Er zögert. Flötet mit schämigem Augenaufschlag aus dem Jahre 1886 –: »für die Liebesnacht – – –«

Siegfried trifft ganz seinen Geschmack, als er unterwegs – ein Veilchensträußchen kauft, der Geliebten am Busen zu befestigen.

 

Und nun – halte den Atem an, o Leser!

Ich schildere dir die psychoanalytische Liebestunde eines älteren deutschen Philosophen und einer kessen Berliner Ratte, die ihn gründlich auf den Besen laden will.

 

Ort der Handlung: ein intimes, plüschbemöbeltes Vorzimmerchen mit Ausblick auf zwei mächtige Ehebetten im Nebenzimmer.

Personen der Handlung: Der durch ein ausgiebiges Sektdiner schon etwas angeheiterte Philosoph und Kanzleirat. Ihm gegenüber – gefährlich das Röckchen lüftend – Schnups. Drei dunkle Gestalten – hinter einem Vorhang, ab und zu verstohlen ins Zimmer lugend.

Blase (in der Pose eines sein Herz festhaltenden Liebestenors):

»O Flora.
Wenn ich vor dir stehe –
brennen mir die Adern, hjupp –
Ich möcht dich an mich reißen,
standesamtlich bitten: werde mein!
hjupp – –
Bin ich dir fern,
liegt es auf meinem Herz gleich Quadern,
hjupp –
Halt ein! hjupp –
Sie ist zu schön, um treu zu sein.
hjupp –!
Aus Malepartus Blases Jugendgedichten, Band II:
Verse an die Verzichtete, hjupp –
Willst du mehr davon hören, Geliebte –?«

Schnups (strahlt ihn schwärmerisch an): »Ach – ja!«

Blase: »Dann reiche mir erst deinen Mund zum Kuß, o Muse.
hjupp –
Des Göttertranks bedarf der Dichter,
eh er – hjupp!«
(will sie umfassen)

Schnups (entschlüpft ihm; flötet schüchtern): »O – nein.«

Blase (verliert die Balance; fällt auf den Plüschsessel, umarmt dessen Lehne):

Schnups (knallt sich auf die Chaiselongue. Ihre Beine werden bis zu den Strumpfhaltern sichtbar).

Blase (starrt darauf): »Hjupp –
Eigentlich wollte ich dir jetzt einen wissenschaftlichen
Vortrag halten – über
mein Seelenleid, hjupp!«

Schnups (strahlt ihn wieder schwärmerisch an): »Ach – ja!«

Blase: »Aber das ist doch alles Quatsch! hjupp – Das glaub ich mir doch selber nicht! hjupp –«

Schnups (kreist mit der Fußspitze vor seiner Nase herum): »Ach – nein?«

Blase (kiekst mit dem Finger nach ihren Beinen): »Wenn ich dir so die Beine lang schaue, entdeck ich, daß mir mein ganzes Leben nur eines gefehlt hat, hjupp –: so'ne Beine! hjupp – Das war mein ganzes Seelenleid! hjupp –«
(will ihre Fußspitze erhaschen, um sie zärtlich zu liebkosen. Kippt die Sessellehne vornüber. Klebt – alle Viere gespreizt – am Boden. Philosophiert den Teppich an) »Von wegen Askese, hjupp – Das hab ich ja allen Leuten bloß vorgemacht, damit sie mich für einen Philosophen halten, hjupp – In Wahrheit wünsche ich mir nichts sehnlicher, als daß die Röcke kurz, immer kürzer, bis zu den Strumpfhaltern kurz werden, hjupp. –

Schnups (erfüllt seinen Wunsch):

Blase (hjuppt einige Male sprachlos): »Donnerwetter, mir wird ganz anders! hjupp – Ich glaube, wenn das die Flora damals gemacht hätte, wär ich nicht so'n oller Moralphilister geworden, hjupp –« (stellt sich auf die Beine)
»So. Und jetzt woll'n wir mal mit dem psychoanalytischen Kursus beginnen, hjupp –«

Schnups (fliegt ihm um den Hals): »Ach – ja!«

Blase: »Hjupp –
Nicht so stürmisch, Kleine.
Nicht so stürmisch, hjupp –
Im Vertrauen: ich muß rationell mit meinen männlichen Attributen umgehen, hjupp – Wenn ich sie so en passant verliere, nützt mir der ganze Kursus nischt. hjupp –«

Schnups (schämt sich. Wiegt sich kokett in eine Ecke).

Blase (schaukelt ihr nach. Tatscht an ihr herunter. Erhält einen kräftigen Tritt aus dem Vorhang. Knickt jäh nach vorn. Hjuppt mehreremals schmerzvoll. Schaut sich verwundert um): »Nanu, wo habe ich mich denn da gestoßen? hjupp –
Also Florchen. Ich verschwinde jetzt im Nebenzimmer, hülle mich in ein seidenes Liebesgewand, hjupp – und wenn ich wiederkomme, bist du hier auch 'n bißchen luftiger. hjupp – Dann geht der Kursus los! hjupp –

Schnups (errötet bis zum Nabel): »Ach – ja!«

 

Während sich der Kanzleirat in ein seidenes Liebesgewand hüllt, fragt eine ungeduldige Stimme aus dem Vorhang: »Los?«

Schnups winkt hastig ab. Schämt sich wieder.

 

Der Kanzleirat, in ein etwas zu großes Liebesgewand gehüllt, erscheint in der Tür. Blase: »Nun Flora, gefalle ich dir? hjupp –

Seh ich nicht aus wie ein junger, türkischer Liebesgott? hjupp –«

Schnups (haucht verwirrt): »Ach – ja.«

Blase: »Na, – und du? Willst du nicht meine kleine, türkische Liebesgöttin sein? hjupp – Von wegen Haremsnacht! hjupp –
Also – zieh mal ruhig den Kittel runter. Wenn ich dich im Negligé sehe, ist mein halbes Seelenleid – hjupp –«

Schnups (knaupelt verlegen am Daumen): »Ach – ja!«
(winkt mit den Händchen)

Blase: »Was ist denn noch –? Ach so, umdrehn? hjupp – Mach ich! mach ich! Für ein Mädel im Hemdhöschen sollen mir alle Philosophen mit ihrem Seelenleid den Buckel runterrutschen! hjupp –« (dreht sich gehorsam um. Tanzt einen philosophischen Charleston. Variiert dazu die Melodie: was macht der Meia?)
»Was macht der Blase –?
Er kriegt Ekstase!
hjupp –
Pfeift auf Kulturen!
Sein Seelenleid
tut er bei Flora
keß ver–hu–hu–ren!
hjupp –«
(nähert sich dem Vorhang. Erhält abermals einen kräftigen Tritt. Reibt, hjuppt wieder mehreremals schmerzvoll. Sucht wieder vergeblich nach der Ecke, an der er sich gestoßen hat.)
»Gottverdammich! Hier hat wohl die Luft Kanten –?!«

Da fliegt ihm Floras Kleid vor die Nase.

Wonnetrunken schnüffelt er darin herum. Sein Sexus wird rebellisch, läßt sich wieder nicht halten. Das psychoanalytische Experiment droht wieder für die Katze zu sein. –

 

Im Nu ist er herumgeschnellt.

Bei Floras süßem hemdhöslichen Anblick platzen ihm vollends die Selbstbeherrschungsnähte. Mit Satyraugen und Taubengegurre stürzt er auf sie zu.

Flora kreischt entsetzt auf. Flüchtet in die gegenüberliegende Ecke – zum Vorhang. Blase mit wilden Bocksprüngen ihr nach. Als er sie packen will, bekommt sie einen Schreikrampf.

»Hilfe! Schändung! Polizei! Vergewaltigung! Hilfe!«

– schrillts durchs Haus.

Blase, der ihr den Mund zuhalten will, erhält einen dritten, so derben Tritt in den Hintern, daß er platt auf den Bauch klatscht.

 

Wie auf Kommando stehen im Zimmer: ein Polizeiwachtmeister in Uniform; zwei Zivilkriminelle mit Zylindern, von denen der eine krampfhaft seinen Vollbart zerkaut, um nicht rausplatzen zu müssen.

Wachtmeister: »Wer sind sie?«

Schnups: »Mein Name ist Flora.«

Wachtmeister: »Was tun sie mit diesem Herrn in diesem Hotelzimmer?«

Schnups (weinerlich): »Er wollte mir einen Kursus in Psychoanalyse geben.«

Wachtmeister: »In der Hemdhose?«

Schnups (heult wild auf): »Dabei hat er mich ausgezogen!« Blase (will protestieren).

Wachtmeister: »Schnauze halten!«
(wendet sich bartzwirbelnd zu den Kriminellen) »Der Mensch scheint ein berufsmäßiger Sittlichkeitsverbrecher zu sein.«

Kriminelle (nicken kriminell):

Wachtmeister (packt Blase im Genick): »Ihr Name?«

Blase (durch die vorherige Anschuldigung beleidigt. Sich bewußt, daß sein berühmter Name diese Subalternen zu Boden schmettert): »Kanzleirat und Philosoph a. D. Malepartus Blase, hjupp –«

Die drei Sittenwächter: »Was –?«

Der Vollbart (lispelt, weil er vor Feixen nicht sprechen kann):

»Sü werden von der Süttenpolizei gesucht wegen schwerer Notzucht an einem gewüssen Dünstmädchen Frühda Abendmatt!«

Die drei Sittenwächter: »Ins Zuchthaus mit ihnen!«

 

Malepartus Blase verfärbt sich – wie der Völkerbund, wenn vom Völkerfrieden die Rede ist.

Jäh verfliegt der Rausch, und mit ihm leider auch die erquickende Selbsterkenntnis. Er ist wieder die alte Kulturkrähe. Hoppst kläglich zum Seelenleidsknochen zurück.

– – Verloren! Ehe der Hahn dreimal kräht, klebt sein Bild in allen Verbrecheralben der Welt. – Dahin sein makelloser Ruf! Umsonst sein konstruktives Leben! Vergeblich die jahrzehntelange Arbeit an der allgemeinen Seelenleidsheilung! Kein Mensch wird an den moralischen Wert eines als Sittlichkeitsverbrecher Verurteilten glauben. – Und das Schlimmste: er ist unschuldig! Nur ernste Wissenschaft trieb ihn ins Verhängnis. Aber wie könnte er das der vorschnell urteilenden Welt glaubhaft machen –?!

Er resigniert.

Hat nur noch einen Wunsch –: sein Tagebuch hier zu haben, um die Seelenleidstabelle zu ergänzen.

 

Die Kriminellen schmunzeln.

– Es geht alles nach Wunsch. Der Alte hängt völlig gebrochen im lila Pyjama. Wenn er die Handschellen sieht, wird ihm die Angst in die Gedärme fahren. Er bricht ins Knie, bittet um Schonung, bietet Lösegeld, Kaution.

Bei jedem Tausender rasseln die Ketten lauter. Bei jedem Rasseln erhöht er die Summe, bis eine Mittelmeerreise 1. Klasse für die vier Sittencerberusse herausspringt. Unter gegenseitiger Schweigeverpflichtung läßt man den gerupften alten Hahn abhinken.

 

Das Kettenrasseln beginnt. –

Aber seine Wirkung ist eine völlig unerwartete. –

Der Kanzleirat hat in seinem Leben unsagbar viel Seelenleid heldenhaft ertragen; aber bei dem kleinsten Fingeraufschurf kämpft er mit einer Ohnmacht. Das Entsetzlichste an physischen Schmerzen ist ihm als bravem Staatsbürger: mit der Polizei in irgendwelche Berührung kommen. Das Allerentsetzlichste: im Gefängnis sitzen zu müssen. Die Sprache versagt, um auszudrücken, wie entsetzlich ihm das Zuchthaus ist. Mit pestinfizierten Wänden stellt er sich das vor, aus Skelettknochen der Hingerichteten die Geräte, Menschenfresser mit Kugelpeitschen als Wächter.

Aber entsetzlicher als alles andere Entsetzliche zusammen –: die Ratten! Die Ratten, die einen im Schlafe anknabbern. Die ihm die Sohlen von den Füßen fressen. Die ihn als Liebesnest, Tanzplatz und Klosett benutzen!

Jedes Atom von ihm droht einzeln in Ohnmacht zu fallen.

 

Da rasseln wieder die Ketten.

Blase fühlt sich gepackt, hochgezerrt. Das kalte Eisen überstreift seine Hand wie ein nasser Rattenschwanz. –

Rasend schnellt er hoch. Schlägt sich blindlings Platz. Zur Tür. Die Treppe hinunter – ins Freie, – irgendwohin – irgendwohin – – –

Nur nicht zu den Ratten!

*

Die Kriminellen schauen sich verdutzt an.

– Das hatte keiner erwartet! – Ist der Kanzleirat plötzlich vom Star gestochen, daß er im Pyjama die Straße hinunterrast?! – Schon bleiben die Leute stehen; gaffen ihm nach. Einzelne folgen. Aus dem Ulk kann der größte Schlammassel entstehen, wenn Malepartus nicht sofort angehalten, zurückgeschleppt, zur Besinnung gebracht wird. Und wenn die ganze Mittelmeerreise zum Teufel geht! –

Also im Trab hinter ihm her.

 

Malepartus Blase läuft um sein Leben.

Hinter ihm keuchen Ratten. Dutzende – Hunderte – Tausende Ratten. Keller- Wasser- Zuchthausratten. Pfeifen ihre Kollegen aus allen Löchern. Schnappen nach seinem fliegenden Pyjama. Stürzen sich zähnefletschend auf das ihnen bestimmte Opfer.

Da hört er Haltrufe.

Blick umgewandt –: ein Schutzmannshelm blinkt.

Zu der einen Zwangsvorstellung gesellt sich eine zweite –: Schutzleute.

Hinter den Ratten keuchen Schutzleute. Dutzende – Hunderte – Tausende Schutzleute. Keller- Wasser- Zuchthausschutzleute. Pfeifen ihre Kollegen aus allen Löchern. Schnappen nach seinem fliegenden Pyjama. Stürzen sich zähnefletschend auf das ihnen bestimmte Opfer.

Die Schutzleute treiben die Ratten an; die Ratten die Schutzleute. Alle beide treiben ihn vor sich her; bereit, beim geringsten Nachlassen über ihn herzufallen, ihn zu zertrampeln, zu zerfleischen, in seine Urbestandteile aufzulösen. –

Krampfhaft stellt er sich vor:

Da vor ihm laufe Nurmi. Und wenn er den einholt, fressen die Ratten den Finnen statt seiner auf. Er ist gerettet!

Der Boden bekommt Sprungfedern unter Blases Füßen.

 

Die drei Kriminellen schreien sich die Kehlen heiser. Von Sekunde zu Sekunde vergrößert sich der Abstand. Jetzt biegt der Idiot noch in eine breite Nebenstraße, die schnurstracks ins Stadtzentrum führt. Der Skandal ist fertig. –

In ihrer Verzweiflung greifen sie Kieselsteine auf; versuchen, ihn damit zu Fall zu bringen.

Das Ergebnis ist katastrophal.

Den Kanzleirat beißt die erste Ratte in den Oberschenkel. Er brüllt auf; beginnt, um die Ratten irre zu führen, im Zickzack zu laufen.

 

Der zickzacklaufende Pyjama, die wilden Rufe und Steinwürfe der Verfolger, unter denen sich ein leibhaftiger Schutzmann befindet, erzeugen eine Sensation auf der belebten Straße.

– Da gibts was am Stammtisch zu erzählen! Vielleicht tausend Mark Belohnung zu erhaschen. Bestimmt ein vornehmer Juwelendieb, der auf frischer Tat ertappt wurde, fassadenkletterte, jetzt den Wahnsinnigen simuliert. –

Die ganze Straße setzt sich hinter Malepartus in Bewegung.

In wenigen Augenblicken ist Blases Vision Wirklichkeit. Hinter ihm schreits, keuchts, pfeifts, johlts, trampelts, – als hätten die Ratten und Schutzleute unterwegs jeder ein halb Dutzend Junge geworfen.

 

Blase ist am Ende seiner Kräfte. Er taumelt nur noch.

– Wenn jetzt kein Wunder geschieht – –

Es geschieht!

Blase erkennt die Barockfassade der »Harmonie«. Blitzschnell durchschießt ihn eine Zeitungsnotiz: »Heute Donnerstag Abend Sitzung der Ehrendamen.« –

Hineinflitzen. Aufs Podium springen. Einen Vortrag halten. Ganz wurscht worüber. Hauptsache: keine Ratte, kein Schutzmann wird einen Redner vor Ehrendamen für einen zuchthausreifen Sittlichkeitsverbrecher zu halten wagen.

Einen Haken geschlagen, damit die Ratten und Schutzleute stur übereinanderkollern. Den überraschten Portier umgerannt. Im Harmoniebauch verschwunden.

*

In dem gähnend leeren Riesensaal der »Harmonie« findet gerade ein Vortrag über »Sittliche Erneuerung« statt. Ein pensionierter Lyzeumsprofessor bemüht sich, einigen über ihren Strickstrümpfen eingenickten, altdeutschen Jungfern klarzumachen, daß die Menschheit nur dann auf Erlösung aus ihrer babylonischen Sündhaftigkeit hoffen könne, wenn sie die von ihm übersetzten Gedichte Walther von der Vogelweides lese; und rechnet sich dabei aus, wieviel Zuhörer er hätte, wenn jede Anwesende im Quadrat vertreten wäre, und welchen Lärm diese Quadrate machten, wenn sie so vernehmlich wie ihre Grundzahlen schnarchten.

Da wird die Tür aufgerissen.

Ein schweißgebadeter Mann im Nachtgewande stürzt herein, rast durch den Saal zum Podium, reißt den Professor am Schwalbenschwanz herunter, brüllt ihn an:

»Thema?«

»Sittliche Erneuerung.« – haucht der zurück.

Schon hat ihm der Tolle den Schwenker von den Schultern gezerrt, zieht ihn über. Zerhaut das Wasserglas am Pulte, daß die Jungfern jäh aus dem Schlafe fahren. Beginnt, während sich der Saal im Nu mit aufgeregten, schnaufenden Zuhörern zum Bersten füllt, mit ausladender Geste:

»Meine Damen und Herren!

Wie mein Vorredner soeben mit schlagender Logik nachwies: Sittliche Erneuerung tut not!

Nicht nur im öffentlichen Leben, sondern weit dringender im Privatleben jedes einzelnen. Denn wir alle laufen als Mißprodukte einer moralisch faulen Zeit herum! Und ich frage sie, meine Damen und Herren, wo sitzt der Kern unserer sittlichen Fäulnis –?!«

 

Hier holt er nach der im Schnellzugstempo heruntergerasselten Einleitung zum ersten Mal tief Atem.

– Gott sei Dank! Die Verblüffung ist gelungen. Kein Mensch hält den über sittliche Erneuerung Dozierenden für den eben die Straßen durchrasenden Sittlichkeitsverbrecher. –

Aber schon türmt sich ein neues Hindernis.

– Wie soll er, der mit knapper Not eben dem Zuchthaus entronnen, in dessen Gehirn noch Ratten und Schutzleute um die Wette rennen, jetzt im Moment einen Vortrag über sittliche Erneuerung halten –? Was interessiert ihn das Thema! Was weiß er, wo der Kern unserer sittlichen Fäulnis sitzt! –

 

Im Saale wird es unruhig.

Die Verblüffung droht zu weichen, einer allgemeinen Ahnung der wahren Zusammenhänge Platz zu machen.

Also – weiter, weiter im Text!

In der Hast und Aufregung vergißt er, sich die Kulturtoga umzuhängen. Verhaspelt sich zum zweiten Male an diesem unglücklichen Tage. Läßt aus Versehen wieder die unterbewußten, selbsterkennerischen Gedanken über die Stimmbänder rutschen, wo sie denn ein unerhörtes Konzert intonieren:

»Also – meine Damen und Herren,
wo sitzt der Kern unserer sittlichen Fäulnis –?

In unserer Verlogenheit!

Da plustern wir uns zu wahren moralischen Kolossen auf. Tragen den schnürleibigen Weimarer Kulturrock – und sehnen uns danach, in Hemdsärmeln gehen zu dürfen. Triefen von sittlichen und geistigen Idealen. Schwärmen für christliche Nächstenliebe – und erfinden fortgesetzt neue Giftgase! Überwinden platonisch, buddhistisch, nietzschisch, meinetwegen blasisch das Leben – und treiben krampfhaft Lebensverlängerungsgymnastik! Studieren den blödsinnigsten Quatsch im Brockhauslexikon; behängen uns von oben bis unten mit Bildern, Büchern, Briefmarken und Kakteen, – und vor lauter Bildung kollert uns der einzig vernünftige Gedanke aus dem Schädel, daß das alles überhaupt keine Bildung, sondern leere Statistik ist! Holen uns jede Woche eine neue Lebensphilosophie beim Buchhändler. Sind begeistert! Wittern Welterneuerung daraus – und trotten immer der Nase nach unseren gewohnten Zotteltrott weiter!

Oder wir fertigen schaurige Seelenleidstabellen an. Aber nicht, um uns dadurch leichter vom Seelenleid zu heilen, sondern um durch Einsamkeit, Unverstandenheit, Weltschmerz moralisch hervorzuragen. Siehe, Welt, wie ich an dir leide! Bin ich nicht ein tiefer, ein bewunderungswürdiger Mensch –?! Und mollig in unser eigenes Mitleid gewickelt, durchstöbern wir jeden Misthaufen nach immer neuen Seelenleid!

Oder wir brüsten uns mit lebenslanger Keuschheit, – und sind wir als eingetrocknete Jammergreise einmal sternhagelbesoffen, wetteifern wir mit jedem Ziegenbock an Geilheit! –

Ja, meine Damen und Herren. Unser ganzer moralischer Aufputz ist eine glatte Gemeinheit gegen die Jugend, die uns den Schwindel glaubt, sich mit den Idealatrappen abschindet, bis sie selbst das Schwindeln gelernt hat!!«

 

Erschreckt hält er inne.

Wird sich halb bewußt, daß er soeben die unglaublichsten Dinge gesagt hat. Will einlenken.

Aber da blinkt in der Kopf an Kopf stehenden, lautlosen Menge, die gebannt zu ihm auf starrt, ein Schutzmannshelm.

Vor Angst vergißt er, die Walze umzuwechseln. Läßt die unterbewußte weiter rollen –:

»Sie schauen mich undefinierbar an, meine Damen und Herren. Habe ich nicht recht –?!«

Minutenlanger Beifall, Bravorufe brechen los.

Jeder befürchtet, vom Nachbar als Mucker denunziert zu werden, und applaudiert dem Fortschritt. –

 

Blase durchblitzt der Gedanke, daß er jetzt zum ersten Male in seinem Leben vor der Menschheit steht, zu ihr sprechen darf. Wie hatte er sich diese heißersehnte Minute ausgemalt –? Er – im Kulturrock – fortgesetzt sein Profil den Pressephotographen demonstrierend; von seinem konstruktiven Leben als der Zukunftsform der menschlichen Kultur predigend. Ein moralisches Genie!

Und jetzt –?

Er – im Pyjama, darüber einen viel zu weiten, schäbigen Schwenker gezerrt. Unrasiert. Als Sittlichkeitsverbrecher verfolgt. Sein konstruktives Leben als lächerliche Kulturfarce dem allgemeinen Gelächter preisgebend. Ein demoralisches Genie! –

Aber der entfesselte Strom der Selbsterkenntnis läßt sich nicht mehr aufhalten. Überflutet die entsetzten Staugedanken. Schleudert neue Wahrheiten über die Stimmbänder:

»Klatscht nicht, Menschen!

Jubelt mir nicht zu – und wenn ihr nach Hause kommt, habt ihr alles vergessen. Wenn ihr meine Thesen als wahr erkannt habt, so handelt danach!

Geht nach Hause, zieht den Kulturrock aus. In die Lumpen mit ihm! – Pfeift auf Welterlösung und Nächstenliebe! Erlöst erst einmal euch selber! – Wir sind nicht auf der Welt, um das Leben platonisch, konfusisch oder nietzschisch zu überwinden; sondern um es – jeder nach seinem Gusto – zu leben! Abgeschüttelt den überflüssigen Bildungsballast! Ins Feuer mit den Seelenleidstabellen! Seelenfreudstabellen angefertigt!

Und wenn euch die Liebe in die Glieder springt, – laßt sie springen und springt ihr in die Glieder! –

Was schert es, ob uns Moralphilister als unsittlich verschreien. Ob wir faule Paragraphen übern Haufen werfen, die ganze, staatlich sanktionierte Kulturpresse zum Wackeln bringen!

Haut sie in Stücke!

Und trommelt dazu im Takt: erst Natur – dann Kultur!!«

 

Der Raum erdröhnt vom Beifallsdonner.

Jeder hat sich sein Leben lang mit dem kategorischen Stehkragen Kultur abgewürgt, ihn längst zum Teufel gewünscht. Aber man zwängte sich gewaltsam hinein und ächzte halberstickt, wie wohl es einem dabei sei. – Hier hat einer den Mut, das Felleisen vom Halse zu reißen, in tausend Stücke zu fetzen, den Schillerkragen zu proklamieren.

Bravo! bravo! bravo dem Kühnen! –

Doch Blases Forderung ist zu kühn, als daß sie widerspruchslos hingenommen werden könnte. Es gibt Stehkragenakrobaten. Und weil sie ihren Hals nach der Mode gereckt haben, protestieren sie empört gegen die Kultur des offenen Halses.

Einzelne Rufe durchzischen den Beifallssturm: Anarchist!

Eine Gruppe um die Kriminellen, die entgeistert dem Produkt ihres Ulks gegenüberstehen, schreit wie bessesen: Idiot! Tollwut! Wahnsinniger! –

Aber der Chor der Befreiten schmettert sie im Takt nieder: erst Natur – dann Kultur!

Und noch einmal bricht ein Beifallsorkan los, in dem vorschnelle Fantasie das Brausen einer nahen Revolution wittern könnte.

 

Da drängt sich eine Polizeistreife, geführt von dem Lyzeumsprofessor, durch die dicht gedrängten Reihen. Eine eiserne Hand legt sich auf Malepartus' Schulter.

 

Der versucht noch immer vergeblich, klarzuwerden, wer er nun eigentlich in Wirklichkeit sei: der jetzige, der Kulturanarchist – oder der vorige, der Stehkragenamateur. –

Wie mit der Bandsäge durchratzt es ihn:

»Im Namen des Gesetzes – verhafte ich sie!«

 

Vor seinem Fieberblick kreist ein Schutzmannshelm. Wird von einer fetten Ratte angefressen. Unter dem Helm erscheint ein Gesicht: sein eigenes. Der Helm verschwindet. Malepartus' Kopf bleibt übrig – von einer fetten Ratte angefressen. –

Mit dem Verzweiflungsschrei eines von einer fetten Ratte Angefressenen reißt er sich los; läßt wieder die Anarchistenseele brüllen, was sie will:

»Brüder!

Ich soll verhaftet werden! Hier könnt ihr die gemeine Logik des Gesetzes durchschauen. Solange ich den Kulturschwindel mitmachte, war ich ein angesehener, unbescholtener Liebling des Staates. Jetzt, da ich ihm die Wahrheit über seine faulen Grundlagen sage, soll ich verhaftet werden.

Laßt es nicht zu! Leistet Widerstand! Erzwingt meine Freilassung!«

 

Tausendstimmiges »Freilassen!« fegt die Patrouille vom Podium herunter. Sie wird hinausgeprügelt. Mit ihr die Kriminellen, die »Anarchisten«rufer; alles, was Miene macht, die Stehkragenkultur zu verteidigen.

*

Sobald das Terrain von fremden Elementen gesäubert ist, konstituiert sich spontan eine tausendköpfige anarchistische Partei –: die Blasen. Ein Parteivorstand wird aus den zehn Blasen gebildet, die Urblases Podium am nächsten stehen.

Eine der strümpfestrickenden älteren Jungfern – in Ekstase geraten durch Blases revolutionären Elan – springt aufs Podium, küßt den genialen Gründer. Fordert sämtliche anwesenden Ehrenjungfrauen auf, sich zu einem Blasekränzchen zusammenzuschließen, eine seidene Fahne mit dem Wahrzeichen der Partei – einer großen Schweinsblase auf goldenem Grund – zu sticken.

Ein pfiffiger Schneidermeister benutzt die Konjunktur, propagiert die neue Blasentracht: lila Seidenhose mit schwarzem Schwenkerrock; und empfiehlt sich gleichzeitig als leistungsfähigste Firma.

Beide Anträge finden begeisterte Zustimmung.

Ein dritter Antrag fordert auf, geschlossen durch die Stadt zu marschieren, sich jeder Verhaftung des Meisters gewaltsam zu widersetzen. Morgen Abend hier wieder zusammenzukommen, neue Kultur – Revolten zu entfesseln.

 

Der völlig in Somnambulie verfallene Meister Malepartus wird auf Schultern gehoben, im Triumph durch den Saal getragen, unter dem periodisch dröhnenden Kampfruf: erst Natur – dann Kultur! – zur Tür hinausgeleitet.

Draußen wird der Kultur-Revolte ein jähes Ende bereitet.

Eine Sipoabteilung hat den Eingang umstellt. Fordert die Versammlung mit Gummiknüppeln auf, sich sofort aufzulösen.

Getreu ihrem Wahlspruch: erst Natur – dann Kultur! – geben die Blasen erst ihrem Naturtrieb Angst nach, ehe sie der Kulturthese »Schutz unserem Gründer!« gehorchen. Zerplatzen in alle Winde.

Einsam und verlassen döst die Urblase auf dem Platz. Wird arretiert.

*

Psychokatalyse

Kanzleirat, Philosoph, Kulturrevolutionär a. D. Malepartus Blase sitzt in der Zelle und ergänzt seine Seelenleidstabelle. Aus dieser Tatsache wird man ersehen, daß er sein seelisches Gleichgewicht, den Kulturrock und den obligatorischen ethischen Stehkragen wiedergefunden hat. Nur kreuzschlagend vermag er an das Geschehene als an ein Daimonion zurückzudenken. Wäre er nicht Atheist, würde er von teuflischen Einflüssen flüstern.

Seite um Seite füllt sich mit Seelenleid, und noch immer kein Ende. Man muß schon Seelenathlet sein, um das alles ertragen zu können, ohne zusammenzubrechen.

Malepartus Blase ist es.

Er hat einen Trick erfunden, die schlimmsten Seelenleidslasten ohne besondere Anstrengung zu stemmen –: Leid reift. Leid erzeugt Philosophen. Leid ist geradezu notwendig zur Welterkenntnis. Also –: je mehr Seelenleid, ein desto größerer Philosoph. Malepartus mit seiner ellenlangen Seelenleidstabelle überragt bereits alle Philosophen des Abendlandes um ein Beträchtliches.

Nur einmal mischt sich in diese philosophische Leidsheiterkeit ein bitterer Tropfen, der durch nichts wegzuphilosophieren ist –: seine Delikte. Versuch zur Notzucht. Aufforderung zum Aufruhr. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Das gibt addiert einige Jahre Zuchthaus. Und daß Zuchthaus philosophisch reift, hat noch kein Weiser behauptet. –

Aber auch hier richtet er sich am klassischen Beispiel des Sokrates auf, der ein stolzes Gefängnis einer unwürdigen Freiheit vorzog; und beschließt, die Zuchthauszelle als Studierstube zu betrachten, um darin endlich seine »Aphorismen zur konstruktiven Weisheit« niederzuschreiben. –

Unsere Lebensbeschreibung könnte demnach hier mit einem Hinweis auf die im gleichen Verlage erschienenen Werke von Malepartus Blase enden.

 

Aber da geschieht das Verhängnisvolle!

Eine Ratte läuft über Malepartus' Seelenleidstabelle. –

Was ist eine Ratte dem Durchschnittsmenschen –?

Ein volkswirtschaftlicher Gegenstand zur Aufrechterhaltung der Rattengiftfabrikation. Bei Nervosität ein Schauer Ekel über den Rücken. Den allermeisten ein unbekanntes zoologisches Wesen aus den Kammerjägerillustrationen der Zeitschriften.

Was ist eine Ratte im Zuchthausleben eines verbannten Philosophen –?

Tags ein ekelerregendes, überall drohendes Gewürm, das einem über die Seelenleidstabelle laufen, ins Essen springen, auf das man fortgesetzt treten kann.

Nachts –?

Eine grauenhafte Vision schüttelt unsern Philosophen. Dumpfe Schauerlaute entröcheln seinem Munde, blasen die Studierkerze aus.

 

In der Dunkelheit wachsen alle Gespenster.

Schon pfeifen in den Löchern die Rattenkönige zum Nachtfraß.

– – – – –

Malepartus will nach dem Lichtschalter tappen. Greift die eiserne Bettlehne. Eiskalt rieselt es ihm durchs Mark –: nasser Rattenschwanz.

Er zuckt zurück. Verrückt dabei die Bettstelle. Sie quietscht –: hungriger Rattenschrei.

Entsetzt flüchtend, stößt er den Tisch um. Die noch heiße Kerze rollt herab, überstreift seine Hand –: Rattenbauch.

Überall huscht es, scharrt, nagt, springt ihn an. Überall tritt er auf weiche, zischende Rattenleiber. –

Mit wilden Känguruhsprüngen sucht er sich von den seine Füße anfressenden Raubtieren zu retten, möglichst den Boden nicht zu berühren. Stößt dabei fortgesetzt den Schädel gegen die Betondecke. Schlägt sich eine Beule neben die andere in den Verstand.

Mehreremals verliert er die Balanze, muß Halt fassen, berührt die kalten Steinwände. Halluziniert erschaudernd –: jetzt sind die Gefräßigen schon an ihm hochgeklettert, hungern nach den Weichteilen im Gesicht.

Fährt sich mit der Hand über die Gesichtsornamente, ob sie noch vollzählig vorhanden. Hält im Fieber seine angstnassen Finger für feuchte Rattenschwänze, die gierig den Leckerbissen beschnüffeln. Haut sich mit geballten Fäusten blindlings in die Visage, die Biester zu verscheuchen. Verstaucht sich das Nasenbein.

Ha – schon fließt Blut!

Wenige Augenblicke, – und er ist eine einzige offene Wunde, von tausend scharfen Rattenzähnen in Fetzen gerissen!

In der grenzenlosen Angst schreit er, was die Kehle hergibt. Rast mit Hürdensprüngen in der Zelle herum. Senst mit den Fäusten im Kreise um sich. Erwischt die Bettdecke. Fegt mit ihr an Wand und Boden entlang. Ruft schluchzend die Menschheit an –: es nicht zu dulden, daß ein Philosoph hier von gemeinen Ratten buchstäblich zerfleischt werde. Das sei schlimmer als Hunger-, Feuer- und Wassertod zusammen! Verflucht die Naturgeschichte, daß sie Ratten erzeugt; die Kulturgeschichte, daß sie Philosophen geschaffen; sich selbst, daß er sich jemals mit Welterlösung befaßt hat.

 

Verwundert äugt die einzige Ratte, die in der Zelle haust, aus ihrem sicheren Loch auf den Tollen.

– So ein Mensch ist ihr noch nicht vorgekommen! und da behaupten sie immer, die Menschen seien vernünftigere Geschöpfe als die Ratten! –

Kopfschüttelnd zieht sie sich in ihr Schlafgemach zurück. Schnarcht friedlich ein, während Malepartus Blase draußen an Rattenangst zugrunde geht.

 

Ins Bettuch verfitzt, zu Boden gekollert, jede Berührung mit jedem Gegenstand als Rattenangriff empfindend, kämpft er – aus tausend Wunden blutend – heldenmütig bis zum Morgen gegen die unsichtbaren Geister einer riesigen Rattenarmee.

Da erbarmt sich seiner die Nemesis. –

Eingedenk, daß von seinem in Rattenwahnsinn zerstörten Gehirn sowieso nichts mehr für die menschliche Kultur zu erhoffen, zielt sie mit dem scharfkantigen Bettpfosten nach seiner Schläfe.

Der Hieb trifft.

Malepartus Blase hört die Ouvertüre zu »Tannhäuser« – von Engelsposaunen geblasen – und tritt in den Wartburgsaal der Walhalla.

*

Das Erste, was er seinen Ahnen erzählt, ist die Tragödie seines Rattenunterganges. Ein ganzes Heer Ratten hätten, gerade als sie vor der Veröffentlichung standen, seine sämtlichen Werke bis auf den letzten Buchstaben aufgefressen. Aus Gram über den unersetzlichen Kulturverlust habe er einen mittelhochdeutschen Harakiri verübt.

Die Urururblase, Stammvater aller Gripse, klopft ihm daraufhin anerkennend auf die Schulter und verleiht ihm einen Ehrensitz neben Grips I.

*

Niemand wird sich verwundern, wenn ich der Vollständigkeit halber vermelde, daß sich am Tage nach der Revolte kein Mensch zur Fortsetzung der Kulturumblaserei vor der »Harmonie« versammelte.

Nur die ekstatische, ältere Jungfrau – mit dem schönen Namen Justitia – stand und wartete geduldig bis zum Morgen.

Darauf begab sie sich zum Polizeipräsidium und erfuhr, daß Blase in der vorigen Nacht seinen Geist ausgehaucht hatte. –

Sofort die richtigen Zusammenhänge ahnend, begann sie mit altjüngferlicher Zähigkeit einen Prozeß gegen die Justiz wegen gewaltsamer Abtötung unliebsamer Wahrheiten, der noch heute läuft.

Ob sie ihn wohl gewinnt –?

Aber meine Damen und Herren. Hat schon einmal Justitia einen Prozeß gegen die Justiz gewonnen –?!

*


 << zurück