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10.
Der große Bruch.

Leonhard setzte nach Betrachtung und Erklärung des ornithologischen Theiles der Naturaliensammlung, in welchem er am besten bewandert war und in der That gute Kenntnisse besaß, seine Unterweisung fort. Die ausländischen Vögel waren zwar auch vertreten, doch nicht in so überwiegender Anzahl, und zum Theil in einem Zustande der Erhaltung, der eben kein Zustand der Erhaltung war. Am besten waren noch die Colibris, einige Paradießvögel und einige Papageien erhalten, minder schön stellten sich ein Huhn mit zwei Köpfen, und ein anderes mit vier Beinen dar, so wie ein stattlicher Haushahn mit einem Hühnerschwanze, neben denen ein Kästchen mit angeblichen Hahneneiern stand, neben denen deren Frucht, ein leibhafter Basilisk. Dergleichen gehörte im vorigen Jahrhundert noch eben so unerläßlich in ein berühmtes Naturalienkabinet, wie heutzutage ein Ichtyhosaurus. »Aber eine noch ganz andere Merkwürdigkeit findet sich hier« – sprach Leonhard weiter zu dem Knaben: »hier siehst Du in Spiritus einen leibhaften kleinen jungen Hund, welcher in einem Hühnerei entstanden und ausgebrütet worden ist. Daneben steht das Huhn, welches das Ei gelegt hat. Schade, daß der kleine Dächsel nicht am Leben geblieben ist. Das Dokument, welches die Wahrheit dieser Thatsache bestätigt, liegt dabei, der Fall hat sich in Magdeburg zugetragen.«

Es war eine völlige Traum- und Zaubersphäre, in welcher Leonhard den Sohn des botanischen Gärtners einführte, und dieser gab sich willig den mannigfachen und seltsamen Eindrücken hin, welche alle diese Gebilde auf sein empfängliches Gemüth machten. Daher verfehlte auch ein sogenannter Rattenkönig, der aus vierzehn mit den Schwänzen unlösbar in einander geschlungenen jungen Ratten bestand, so wenig seine Wirkung, als ein angebliches Exemplar von den fabelhaften Altdorfer Mäusen, die aus faulem Holze entstanden sein sollten. Muscheln und Schnecken, Meersterne und Seeigel waren in Ueberfülle vorhanden; und den Knaben belustigten viele Figuren, welche völlig aus kleinen Muscheln zusammengesetzt waren, eine holländische Mosaik, die häufig an phantastisch-tolle Laune grenzte. Perlenmutter und Iris-Schaalen gab es in allen Größen zu sehen, auch sonstige monstrose Gebilde und innere wie äußere Abnormitäten, welche meistens eine Geschichte hatten. Als vorzüglichste derselben zeigte Leonhard dem Knaben den Schädel eines Holländers, und machte darauf aufmerksam, daß dieser Schädel von außergewöhnlicher Größe sei. Die Hirnschaale ließ sich abheben und zeigte in ihrer inneren Höhlung deutlich das plastische Bild eines Hahnes.

Leonhard vermied, auf die Geschichte dieses besonders merkwürdigen Stückes der Sammlung näher einzugehen, und bemerkte nur im Allgemeinen: »Der vormalige Besitzer dieses Schädels, wenn ich so sagen und man den Menschen als Eigenthümer seines Kopfes rechtlich betrachten darf, hieß Herr Antonius von Frankenstein, lebte und starb hier zu Helmstädt, und wurde hier anatomirt.«

Noch gab es ganz andere Wunderdinge zu betrachten; Kämme von Elfenbein, von uralter Arbeit; eines desselben sollte sich die Jungfrau Maria bedient haben, und derselbe aus dem Kirchenschatze des benachbarten Marienstiftes durch Bestechung und das Opfer einer großen Geldsumme in diese Sammlung gekommen sein.

»Diese Dornen sind aus Christi Dornenkrone, sie entstammen einem Reliquienschreine im Sanct Ludgerikloster.«

Fast nahete das Ende der dem Knaben vergönnten Zeit, und er hatte noch nichts gesehen von der Gemäldesammlung; dem Kupferstichkabinet, der überreichen Bibliothek, obschon einige Zimmer des geräumigen Hauses durchwandelt waren, dessen ganzes mittleres Stockwerk die Sammlung füllte, nächstdem daß auch noch im unteren Stock, im Arbeitszimmer des Professors und in den an dasselbe stoßenden Räumen alles und alles voll lag, hing, lehnte, oder stand. Nur ein Blick konnte noch vergönnt werden in das Zimmer der mathematischen und physikalischen Instrumente, das völlig der Werkstätte eines Magus glich, und mit all seinen Rädern, Röhren, Hebeln, Kurbeln, Ketten, Flaschenzügen einestheils an Folterkammern, anderntheils mit seinen Glasgeräthen, Glocken, Phiolen, Kolben, Glaskugeln und dergleichen an ein chemisches Laboratorium erinnerte.

Da standen oder lagen in der Mehrzahl Electrisirmaschinen und Luftpumpen mit allem Zubehör von Leidenschen Flaschen, Electrophoren, Conductoren, Empolen und den Guerickeschen Kugeln in verschiedenen Größen; metallene Heronsbrunnen, gläserne Säulen mit Cartesianischen Teufelchen, Aeolipilen, Windbüchsen, Barometer und Anemonoscope, letztere auch eine Erfindung Otto's von Guericke. Modelle verschiedener Taucherglocken waren eben so wol vorhanden und ausgestellt, als solche von Luftschiffen. Hohl- und Brennspiegel, überhaupt alle und jede optischen Geräthe waren vertreten – und noch so manches andere, aber die Mittagsstunde schlug und der Knabe mußte enteilen, schon auf die Gefahr hin, Schelte wegen zu spätem Kommen zu empfangen, wie gerne er auch auf das Mittagsessen an diesen ihm so günstigen Tage verzichtet hätte. Gleichwohl brachte er noch seine hastige Frage an Leonhard: »Wo ist das Bild mit Amor und Venus, das der Herr Professor damals im botanischen Collegium erwähnte? Das, dessen Distichon anfängt: Cum puero Venerem.« –

Willig öffnete Leonhard ein anderes Zimmer, in welchem eine große Anzahl Bilder die Wände bedeckte, und zeigte das zu sehen gewünschte Gemälde, auf welchem Aphrodite dem Meere entsteigend, dargestellt war, welches aber, trotz seiner Schönheit, dem Sinne des Knaben nicht zuzusagen schien, daher sein Blick nach flüchtiger Betrachtung sich auf ein neben jenem hängendes Bild lenkte, vor dem er freudig ausrief: »Ha, Amor und Psyche, die schöne Mythe!« – Mit festem Blicke die holden Göttergestalten sich tief einprägend, verweilte Christian nur eine volle Minute vor diesem Bilde, und enteilte dann, Leonhard dankend, mit geflügeltem Schritte. Alles Merkwürdige und alles Wunderliche, was der Knabe geschaut, trat schnell in den Hintergrund, aber in leuchtender Klarheit standen die holdseligen Gestalten von Amor und Psyche tief und lebendig eingeprägt vor seiner Seele. –

Leonhard verschloß sorglich alle Räume, die er mit dem Knaben betreten hatte, aß mit seinen alten Aeltern und den jüngern Geschwistern zu Mittag, zeigte sich beruhigt und freundlich, und es leuchtete aus seinen Augen jener Strahl zuversichtlicher Hoffnung, die ein Jünglingsherz erfüllt, in welchem der Drang lebt, sich selbst etwas in der Welt zu versuchen, und das frohe Bewußtsein, demnächst aus einer beengenden Sphäre in eine erweiterte und freiere zu treten. Der Soldatenstand, dem Leonhard aus freiem Willen sich zu widmen gedachte, verhieß nun allerdings von Freiheit kein sonderliches Maaß, aber daran dachte Leonhard nicht, daß er ein Band zerriß, um dafür in die Kette der starrsten Subordination sich freiwillig schlagen zu lassen. Vergebens erschöpfte sich noch einmal das alte Ehepaar in den treuesten Warnungen, Gottfried bestand auf seinem Sinne, ordnete noch mancherlei an, gab manche Aufträge, vertheilte an die jüngeren Geschwister allerlei kleine Habseligkeiten, die er nicht mit sich nehmen konnte, und des Aufhebens nicht werth hielt, Naturalien, Zeichnungen, Bilder, Schnitzeleien, und sonstige Erzeugnisse einer genialen Geschicklichkeit, die Gottfried eigen war, und sagte, indem er vom Tische aufstand: »Ich wünsche euch Allen das beste Wohlergehen, hoffe auch nicht auf immer zu scheiden, und denke: wir sehen uns wieder. Wir wollen daher auch nicht groß Abschied nehmen. Denkt, ich mache meine gewöhnliche Harzreise, und bleibe nur ein wenig länger aus, wie sonst.«

Den Rest des Nachmittags verbrachte Leonhard in der eigenthümlichen Spannung und Unruhe des Gemüthes, die jeden befällt, der sich zu einem langen Scheiden anschickt, der alles gepackt und geordnet hat, nun keinerlei Geschäft mehr beginnen mag, aber auch zu nichts weniger, als zu beschaulicher Ruhe gestimmt ist. Leonhard wäre am wohlsten gewesen, sogleich zu gehen, zumal die schönsten Septembertage mächtig in die Freiheit der Natur lockten, aber er wollte die Passiflore des Abschiedkusses seiner geliebten Sophie doch noch pflücken.

Endlich schlugen die Glocken der Thürme Helmstädts halb sechs Uhr und Leonhard eilte nach dem botanischen Garten, süßschmerzlicher Gefühle voll, und dabei doch zugleich von einem ahnungsvollen Bangen bedrückt, das er seinem Abschiedweh in Rechnung brachte. Leonhards häufiges Erscheinen im botanischen Garten fiel niemand und zu keiner Stunde auf, denn er mußte sehr oft für seinen Pathen Pflanzen und Blumen verschiedener Art nach Hause holen, und der academische Gärtner hatte ihm die Vollmacht ertheilt, da derselbe die Ueberzeugung hatte, daß jeder Mißbrauch vergönnter Erlaubniß fern blieb, selbst an den verschiedenen Standorten ohne vorherige jedesmalige Meldung und Anfrage das nöthige an blühenden Exemplaren abzuschneiden. Heute suchte Leonhard nur eine Blume, und – suchte sie vergebens. Das Rondel war leer – auf der Bank war ein Papier mit einer Stecknadel befestigt, und bewegte sich im Fächeln der Abendluft. Leonhard erfaßte dasselbe. Mit Bleistift standen darauf die flüchtigen Worte geschrieben:

Lebe wohl! Ich muß von hinnen – Wiedersehen! Ewige Liebe!

Als Unterschrift war ein Herz gezeichnet, und in das Herz ein S.

Leonhard starrte das Blatt an, und wußte sich's kaum zu deuten. Da ward im Laubengang hastiger Schritt eines Nahenden vernommen, Christian war es, der alsbald mit den Worten grüßte: »Ach, guten Abend, Herr Leonhard! Da sind Sie ja! Das Bäschen hat mir noch viele schöne Empfehlungen an Sie aufgetragen. Sie sollten bisweilen an sie denken, sagte Sophiechen.«

»Wie, Christian? Sophie ist schon abgereist?« fragte Leonhard auf das schmerzlichste bewegt, und zitterte leise.

»Wie ich heute nach Hause kam,« begann Christian unaufgefordert zu erzählen: »stand unser Gartenrollwägelein vor der Thüre, über welches der alte Jacob die Plane aufspannte, und auf dem er den Sitz festschnallte. Der Vater war übel genug gelaunt, und schalt mich wegen meines langen Außenbleibens, Sophiechen hatte geweint und weinte von neuem als sie mich sah, und gewahrte, daß auch mir trübes widerfuhr. Es sollte sogleich gegessen werden, ich hatte aber keinen Hunger, und die andern hatten, wie mir schien, auch keinen; Sophiechens Gepäck war schon in der unteren Stube, in der wir aßen, draußen führte ein Gartenknecht die Pferde am Fenster vorbei, und Jacob spannte an. Ich fragte, ob ich nicht wenigstens ein kleines Stückchen mitfahren dürfe, und erhielt nur mit Mühe diese Erlaubniß. Sophiechen nahm unter vielen Thränen vom Vater Abschied, und schluchzte noch lange und gab mir lange keine Antwort, als ich fragte, warum sie so plötzlich ihren Entschluß, morgen früh abzureisen, geändert habe, und heute fahre. Endlich sprach sie: Der Vetter, Dein Vater, lieber Christian, will es so; das Geschirr muß morgen bei guter Zeit zurück sein, weil es gebraucht wird.«

»Nach einer Weile sagte Sophiechen: Heute Abend gegen sechs Uhr wird der junge Herr Leonhard kommen, er wird nach dem Rondel gehen, mir Lebewohl sagen wollen – da sage ihm – es thue mir sehr leid, keinen Abschied von ihm haben nehmen zu können, ich lasse ihn noch recht herzlich grüßen. Er solle mich nicht vergessen, solle bisweilen an mich denken. – Und wenn er fragt, weshalb ich so plötzlich aufbrechen mußte, so sage ihm, ich vermuthe, daß daran niemand Schuld sei, als sein Herr Pathe, denn mein Herr Vetter hat heute Vormittag vom Herrn Professor ein Paar Zeilen empfangen, die haben den Vetter böse gemacht, wie ich glaube – sagte Sophiechen – und da hat er gesagt, es sei besser, ich reise lieber heute als morgen ab. – Ich fuhr mit bis nahe an Warbergen, und lief dann eilend zurück.« –

Leonhard hörte dumpf und stumm und mit gemarterter Seele diesen Bericht des Knaben an, dann faßte er dessen Hand und sprach ernst: »Lebe wohl, guter Christian! Gott erhalte Dich gesund, gut und fleißig. Sage auch Deinem Vater meinen Empfehl, und ich ließe ihm wünschen, recht wohl zu leben!«

»Wollen Sie denn auch gleich fort? Haben Sie auch solche Eile?« fragte der Knabe bekümmert, und Leonhard antwortete aus gepreßter Brust: »Ja, Christian! ja – lebe wohl!« –

»Auch das noch, auch noch um die letzte, schmerzliche Süßigkeit des Abschiedkusses bestohlen!« knirrschte Leonhard, indem er dem Garten enteilte. »Nun denn – bin ich nicht reisefertig, habe ich nicht Geld in der Tasche und einen guten Paß? Koste es was es wolle, werde daraus was da wolle, ich will zeigen, daß andere Leute nicht allein einen Kopf haben!«

Mit raschen Schritten ging Leonhard nach dem Hause des ersten Pferdeverleihers der Universitätsstadt, eilte, nachdem er sich ein gutes Pferd gemiethet, nach seiner Wohnung, raffte rasch alles nöthige zusammen, warf die Jagdflinte über den Rücken, griff nach einer Reitpeitsche, schnallte Sporen an, und verließ sogleich sporenstreichs das Haus, ohne sich länger, als zu einem flüchtigen Händedruck des alten Ehepaares Zeit zu lassen, und dem kleinen Lottchen, der unschuldigen Botin eines Uriasbriefes, einen Kuß zu geben – die anderen Kinder waren abwesend und schritt jenem Hause wieder zu, aus dem schon ein Diener einen gesattelten Schimmel führte. Mitten in der Straße saß Leonhard auf, ritt im gewöhnlichen Schritt nach dem Thore, setzte nach einer Weile auf der Straße nach Halberstadt zu in raschem Trab ein, unterbrach diesen, auf Wiesen hinjagend, mit gestrecktem Galopp, mäßigte dann zu passender Zeit den Schritt des Rosses, klopfte es an den Hals, und sagte: »Es thut mir leid, guter Kerl, aber ich kann Dir nicht helfen, armer Schimmel, warum bist Du ein Gaul, ein unglückseliger Pferdephilistergaul geworden?« – »Ei, ei Herr Pathe – so heimtückisch – nun – Sie sollen nicht vergebens mich reiten gelehrt haben, ich denke Ihnen Ehre zu machen!«

 


 

Trocken waren die Wege, eben die Flur, es ritt sich gut durch den allmählig niedersinkenden Abend. Die Strahlen der untergehenden Sonne fanden nur einen einzigen Höhenpunkt, den sie vergolden konnten, es war der Hügelberg Hiese, der sich über dem Amtsorte Jerxheim erhob. Jerxheim war die kleinere Wegehälfte zwischen Helmstädt und Halberstadt, allein Jacob mußte dort anhalten, um seine Pferde rasten, sie etwas fressen zu lassen, und sie zu tränken, denn es folgte nun eine gar öde, einsame und unheimliche Wegstrecke, und erst in Halberstadts Nähe kamen wieder bedeutendere Ortschaften.

Gegen vier Uhr Nachmittags war Jacob, der seine Pferde niemals übertrieb, mit Sophie wohlbehalten in Jerxheim eingetroffen, hatte ein wenig abgespannt, ein Fütterchen gegeben, sich gelabt, so gut ers konnte, und das liebe Mädchen, seine Schutzbefohlene, sich selbst, ihren trüben und schmerzlichen Gedanken und der tödtlichen Langeweile überlassen, die das Gefühl erregt, längere oder kürzere Zeit in einem ländlichen Gasthause und an einem Orte verweilen zu müssen, der nicht das mindeste anziehende bietet, und selbst die leiblichen Erquickungen so schlecht, wie nur immer möglich. Mit Grauen sah Sophie dem Einbruche der Nacht schon jetzt entgegen, und einer lange dauernden trostlosen Fahrt, denn Jacob hatte bereits voraus gesagt, daß im großen Bruch, dem man nun nahe war, die Wege sehr schlecht wären, und schwerlich vor neun, ja halb zehn Uhr Halberstadt zu erreichen sein werde. Es floß noch manche stille Zähre aus des Mädchens schönen Augen, die Trennung that Sophien gar zu weh; sie blickte auf viele heitere und schöne Stunden zurück, und auch jener Abend, mit ihrem Oheim im Hause des Professors zugebracht, gehörte zu den Glanzpunkten in ihrer Erinnerung, von denen sie in der Heimath viel zu erzählen gedachte. Wie viel des Herrlichen hatte sie da gesehen und gehört, wovon sich in ihrem ländlichen Heimathorte Niemand etwas träumen ließ, denn damals war der jetzt königlich preußische Amtsflecken Benshausen nichts mehr und nichts weniger, als ein Thüringer Walddorf, durch das der Thalbach in großer Gemüthlichkeit ungefaßt mitten hindurch seinen Weg nahm, vor dessen Bauern- und Fuhrmannshäusern die Düngerstätten bedeutenden Rang und Raum in Anspruch nahmen, und dem nächst dem Fuhrwesen und aus diesem letzteren emporblühenden Weinhandel nur noch unerheblicher Feldbau und einiger Betrieb von Hammerwerken seine Nahrungszweige lieferten – während er jetzt einen der reinlichsten und heitersten Orte bildet, viele städtische Häuser zählt, durch ihn eine belebte Hochstraße führt, eine Posthalterei und mehrere Gasthäuser daselbst sich befinden, denn die Fortschritte, welche im Laufe des letztverflossenen Viertel-Jahrhunderts Ort- und Landesverschönerung gemacht haben, sind ganz außerordentlich. –

Es war schon fünf Uhr vorüber, als das Rollwägelein, unter dessen Plane Sophie auf schwankendem Sitze geschaukelt wurde, und an diesem Schaukeln merken konnte, daß der Weg schlechter wurde – aus Jerxheim abfuhr. Die Sonne hing am Westhimmel wie eine matte Scheibe, denn der Tag war warm gewesen, der Abend aber wurde zeitig kühl, und aus dem großen Bruch stieg Nebel in Fülle auf. Vom Dorfe Amtshessen bis gen Oschersleben oder noch weiter, von der Ilse im Westen bis zur Bode im Osten erstreckte sich in Stundenbreite und in einer langen Ausdehnung von vier deutschen Meilen das Moor- und Sumpfgebiet des großen Bruchs, durch welches der stille trübe Jerebach so leise und melancholisch hindurchzog, daß kein Beschauer desselben zu sagen vermochte, ob er ost- oder westwärts rinne. Er rinnt aber ostwärts und fällt bei Oschersleben in die Bode.

Wie es im Jahre 1790 und lange nachher mit den deutschen Straßen beschaffen war, werden sich bejahrte Leser noch gut zu erinnern wissen; da von Helmstädt nach Halberstadt noch keine Hauptstraße führte, so war eben jeder Weg von Ort zu Ort ein Feldweg, auf dem sich bei trockenem Wetter leidlich gut und rasch fortkommen ließ, und auf dem man bei schlechtem Wetter und wenn es geregnet hatte, nur äußerst langsam und beschwerlich von der Stelle kam, besonders auf Wegestrecken, welche durch Moorgegenden und über Moräste führten. Ein Glück noch für den Wagenlenker, wenn er gut wegekundig war, denn es kreuzten sich die Wege und Furthen mannichfach in solchen Strecken, an Wegweiser war oft nicht zu denken, hie und da ein alter Grenzpfahl, oder ein Betstock aus katholischer Zeit, ein Weidenstock, oder auch ein Steinkreuz zur schaurigen Erinnerung an eine an dieser Stelle verübte Mordthat, das waren die Gegenstände, nach denen der topographische Sinn eines Kutschers sich richten mußte. Jacob kannte den Weg indeß sehr gut und war denselben oft gefahren; gleichwol war ihm nicht lieb, daß der Nebel über dem großen Bruch immer dichter wurde. Die Sonnenscheibe wurde erst rosenroth, dann blutroth, dann braun, und dann war sie ganz weg, und der Blick Jacob's reichte kaum drei Schritte über die Länge seiner Pferde hinaus, welche jetzt nur Schritt für Schritt gingen, denn der Weg war voll Schmutz und Wasserrinnen und der weiche Boden des Moorgrundes hing sich hemmend an die Räder. Diese Wegstrecke war furchtbar öde, es begegnete keine menschliche Seele; bisweilen ragten dunkle Gestalten im Nebel, die lange Arme ausbreiteten, Erlkönigen mit Familie gleich, und entschwanden wieder dem Blick – alte Weiden und Rüstern. Im Binsengeröhrig schnatterten, dem folgenden Tage gutes Wetter verkündend, muntere Frösche, die sich ungemein glücklich und behaglich fühlten, und in einem Freistaate zu leben träumten, bis ihr langbeiniger König, der Storch, gestelzt kam, und einen der quakenden Republikaner nach dem andern aufgabelte und ganz wohlgemuth verschlang.

Die Aufregung des Tages, die Einsamkeit und das einförmig ermüdende der langsamen Fahrt hatten Sophie abgespannt, sie saß gegen die Abendkühle warm in ihren Mantel gehüllt, und war sanft eingeschlafen. Jacob nickte auch von Zeit zu Zeit ein wenig, denn er hatte in Jerxheim sich mächtiglich gegen die häßlichen Nebel des großen Bruches in Schnapps gestärkt, und war kein Jüngling mehr. Von einem Ruck jählings erwachend, machte Jacob die unliebe Entdeckung, daß ihm im Schlummer die Peitsche entfallen war, ein Werkzeug, nirgend nöthiger als auf solchem Wege. Was nun thun? Ein Blick in den Wagen belehrte Jacob, daß Sophie schlief. Sollte er sie wecken, ihr die Zügel so lange zu halten geben, bis er die Peitsche gefunden? Denn die Peitsche mußte er auf alle Fälle wieder haben. Oder sollte er das Geschirr ruhig halten, und Sophie schlummern lassen? Garten- und Baugeschirrpferde pflegen insgemein lammfromm zu sein, nie ein Uebriges zu thun, nie durchzugehen, oder davon zu laufen, und wohin hätten sie denn hier laufen sollen, da sie ja nicht sehen konnten, denn jetzt war der Nebel bereits so dicht, daß Jacob selbst die Köpfe des Gespanns von seinem Kutschersitze aus nur in matten Umrissen zu erblicken vermochte, freilich zugleich eine trostlose Aussicht auf das Wiederfinden der verlorenen Peitsche.

Das Wägelein stand, Sophie schlief, die Pferde verschnauften, und hingen die Köpfe, Jacob verschwand in dem Nebel, wieder in der zurückgelegten nördlichen Richtung. –

Als Leonhard nach einem scharfen Ritte von anderthalb Stunden Jerxheim, und den dortigen Krug erreichte, war es bereits halb acht Uhr, und die Abenddämmerung überhüllte schon die Fluren im Bunde mit dem Nebel, der wie eine Wand über dem nicht mehr fernen Bruche stand. Leonhard trank hastig ein Glas Rum, ließ in Eile seinem Klepper ein Stück altes Schwarzbrod mit Branntwein getränkt, darreichen – und dann jagte er dem Bruch entgegen, sprengte beim Dörschen Gevensleven über eine Knüppelbrücke, welche die Jere überspannte, und gewann den Weg, den Jacob eingeschlagen hatte, und den man mit dem Namen eines Dammes beehrte.

Jacob rannte, den Blick stets suchend an den Boden geheftet, rückwärts, und murmelte Flüche über seinen Verlust zur allerungünstigsten Zeit, über des Krugwirthes Schnapps, der ihn schläfrig gemacht, über die ganze dumme Fahrerei, wie er die Reise nannte, die nur aus Eigensinn zu so später Zeit am Nachmittage anbefohlen worden sei, und gewahrte nicht, daß ein schäbiger Wandergesell so eben hinter einer hohlen Weide hervortrat, der auch in der Schenker Jerxheim gerastet, mit Jacob ihn ausfragend sich unterhalten hatte, und dann eine Weile vor ihm aufgebrochen und desselben Weges gezogen war. Dieser Wanderer war ein Mann von weniger als Mittelgröße, aber von mittleren Jahren, trug ein soldatisches Schnurrbärtchen, eine Mütze von Seeotterfell, einen Rock von Beidermann, ein schlappes Ränzel, zerrissene Stiefeln und in der einen Hand einen ungeheuer knotigen Wachholderstock, in der andern Hand aber eine etwas frisch beschmutzte, sonst nagelneue Peitsche.

 


 


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