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»Wollen wir jetzt einen Spaziergang machen, denn nun hat der Regen aufgehört?!«

Es war an einem der letzten Tage im August; der Storch war gen Süden gesegelt, und die Schwäne fingen an, Reisefieber zu bekommen, wir hatten eine ganze Zeit lang in diesem Jahr beständiges, warmes Wetter gehabt; viele Landleute hatten ihre Ernte schon eingebracht und ringsumher lagen die Stoppelfelder und schimmerten in der Sonne, jedes mit seiner eigentümlichen Farbennüance – am schönsten doch die graulila Roggenstopoeln und die dunkelgelben Weizenstoppeln.

»Nichts in der Welt hat einen so warmen Ton, wie Weizenstoppeln,« sagte der Hauptmann, als wir das Feld durchquerten, um nach dem Lundinger Moor hinabzukommen, »und keine Zeit ist so erfreulich, wie der Herbst, – Sehen Sie, da fährt Nielsen das letzte Fuder ein! Ja, der kann wohl lachen, er ist immer im Voraus. – Und dann ist es so verteufelt bequem, sich draußen herumzutreiben, wenn das Korn vom Felde ist – alle Entfernungen werden ja viel kürzer! Und es ist angenehm, wenn man so geht und dann denkt, daß es jetzt nicht lange währt, bis die eigentliche Jagdzeit beginnt! – Der alte Pastor Toft, den Sie ja auch gekannt haben – er war ein Ehrenmann, ein Geistlicher von der alten Schule – der wünschte immer, daß er in der Adventszeit heimgehen möge – in der Zeit der Erwartung, der Hoffnung – aber ich, der ich ein Weltkind bin, ich könnte mich versucht fühlen zu wünschen, daß ich in meiner Adventszeit heimgehen könnte: gerade ehe die Hühnerjagd eröffnet wird! – Nun, das ist ja nicht so gottlos gemeint, wie es klingt! – Wir bekommen übrigens in diesem Jahre einen frühen Herbst, das sollen Sie sehen,« fügte er nach einem Augenblick des Schweigens hinzu. »Die Vogelbeeren sind schon gelb, und die Brombeeren sind ganz rot – sehen Sie, wie sie dort am Zaun glitzern! – und gestern habe ich im Veilbyer Holz gesehen, daß die Nüsse schon anfangen, braun zu werden – da sind so viele, wie nie zuvor, und die Dolden sind so groß, als wären sie Trauben! – Ja, wir bekommen einen frühen Herbst!«

Unten im Lundinger Moor schossen wir jeder fünf oder sechs Bekassinen – alles doppelte, nicht eine von den ganz großen – und da offenbar nichts anderes Lebendes mehr im Moor war, als eine verirrte Schwalbenschnepfe, die regelmäßig hundert Schritt vor dem Hund aufstand, so legten wir uns in das weiche Gras nieder, den Rücken gegen eine Torfmiete, und verschnauften ein wenig.

»Nein, die ganz großen Bekassinen, die sind fast ausgestorben,« sagte der Hauptmann, »und die doppelten werden ihnen wohl bald nachfolgen, wir drainieren und dämmen schließlich das ganze Land ein, sodaß Laaland und Falster damit enden, auf dem Trocknen zu liegen; jetzt gibt es bald kein ehrliches Moor mehr, und wo sollen die Langschnäbel dann ihr Leben fristen! – Es ist ja auch ein Jammer um das Moor selbst! Gibt es etwas Großartigeres als ein Moor! – Lauschen Sie dem murmelnden Röhrichtwald, der immer ein Geheimnis zu haben scheint, das er dem Abendwinde anvertrauen muß, und sehen Sie sich die Rohrkolben an, die gerade vor den feinen Wasserviolen und den grauen Porschbüschen stehen! Können Sie hören, wie das Heidekraut mit den großen rosa Blüten den Herbst einläutet, und haben Sie sich wohl einmal recht das blanke schwarze Wasser da draußen mit den halb umgebogenen Wasserrosen-Blättern angesehen? – Sehen Sie, da sprang ein Hecht! – Nein, das war wohl doch nur ein Frosch, der ins Wasser hüpfte! – Und dann hat das Moor seine eigene düstere Poesie! Hinterlistig ist es mit seinen überwucherten stellen und dem schwankenden Boden, aber es bewahrt getreulich alles, was ihm anvertraut wird – es ist ja ein großes Museum! Die Hörner des Auerochsen und die Geweihe des Edelhirsches kann man da aufbewahrt finden, und zuweilen Dinge, die noch besser sind: goldene Kleinodien und verrostete Schwerter aus der Heidenzeit, – Erinnern Sie mich daran, daß ich Ihnen gelegentlich, vielleicht heute abend, von Mads Lune und dem Schatz im Erlenteich erzähle – das ist eine von meinen besten Geschichten! – Nein, wie doch die Sonne sengt! Aber ich habe die Schnapsflasche und auch das Bierfaß in die Quelle hineingelegt, ehe wir von Hause fortgingen, folglich werden sie beide schön kühl sein, wie denken Sie über einen kalten Schnaps zu gekochtem Barsch! – gekochter Barsch mit Petersiliensauce, Mensch, das ist was Gutes! – wie? Sie machen sich nichts aus Barsch? Ja, das ist am schlimmsten für Sie selbst, denn was anderes gibt's heute nicht!«

Und dann sah der Hauptmann mit einem vergnüglichen Lächeln zu dem blauen Himmel empor und dachte wahrscheinlich abwechselnd an die im Moor vergrabenen Schätze und an den kalten Schnaps.

Wir lagen gut – zu gut – aber nach Hause mußten wir ja, und da wir den Entenstrich an der großen Mergelkuhle auf dem Hjortholmer Frohnacker mitnehmen wollten, mußten wir gegen sieben Uhr aufbrechen und quer über die Äcker gehen.

Infolgedessen kamen wir an dem Wier-Hügel vorüber. Das Gras darauf war fast vollständig von der Sonne weggesengt, aber an der Südseite ragte eine mächtige Königskerze auf; die sah so schön aus, daß der Hauptmann natürlich oben auf den Hügel hinauf mußte, um die Aussicht zu genießen, obwohl wir eigentlich gar keine Zeit hatten.

»Ja, wer hier nun wohl in diesem Hügel liegt,« sagte er, »vielleicht ein König! Und was der alte Wiking wohl mit ins Grab genommen haben mag, das zu wissen, verlohnte sich schon!

Wo Königskerzen blühn aus dem Hünengrab,
Grub eine Krone aus rotestem Gold man hinab,
Und wo Zauberkraut zwischen Porsch steht in sumpfiger Erd,
Da sind vier Ellen hinab bis zum rostigen Schwert.

– ja, so ungefähr pflegte Paul Tonning zu sagen – aber er drückte sich freilich nicht in Versen aus. Erinnern Sie mich heute abend, wenn wir gegessen haben, daran, daß ich Ihnen erzähle –«

»Ja, Sie wollten mir von dem Schatz im Erlenteich erzählen,« unterbrach ich ihn, »daran werde ich Sie schon erinnern.«

»Den Schatz können Sie ein anderes Mal bekommen,« antwortete er, »Nein, erinnern Sie mich lieber an die alleinstehende Pappel, dann kommt die Geschichte schon von selbst!«

Und damit stieg der Hauptmann den Hügel hinab, und ich folgte ihm.


Der Weg am Wald entlang war strahlend schön.

Die Abendsonne vergoldete das Laub, das hier am Rande schon stark braun war, und zwischen die Bäume fielen die letzten, starken Strahlen, trafen einen Stamm oder verschwanden ganz im Dickicht.

Plötzlich regte sich ein schwacher Luftzug, die Baumwipfel zitterten, einzelne dürre Blätter fielen rasselnd zur Erde, und dann wurde alles wieder still.

»Spürten Sie das kalte Erschauern, das durch den Wald ging?« fragte der Hauptmann. »Den Wald überkamen wohl Laubfallgedanken, und die kommen mir auch! – Es war eigentlich gar nicht wahr, was ich vorhin sagte: daß ich mich so auf den Herbst freute. Das habe ich früher getan, und wenn die Jagdzeit da ist, meine ich, natürlich in diesem Jahre auch, daß ich erst so recht lebe – aber trotzdem: der Frühling, der lichte, der verheißende, das ist doch die eigentliche Adventszeit der Natur, und das ist nach und nach meine beste Zeit geworden – daran kann ich merken, daß ich alt werde. Im Herbst träume ich jetzt Winterträume – das tat ich früher nie! Aber man weiß ja auch nicht, wann einem der liebe Gott den Platz zum letzten Treiben anweist – nein, das weiß man nicht! Und ich glaube, es ist leichter zu sterben, wenn man noch jung ist – auf eine Weise natürlich. Ich will gar nicht davon reden, an der Spitze seiner Kompagnie zu fallen – ein schöner Blattschuß, während die Musik spielt und die Gewehre knallen – dazu gehört ja kein Mut! Aber den Strohtod zu sterben – und allein – nicht wahr, das kann vielleicht wunderlich genug sein. – Ja, wenn dann doch nur eine von den Frauen, die man ja von Herzen lieb gehabt hat, bei einem sitzen und einem die Hand halten und ein Gebet zu Gott für einen beten wollte – das glaube ich, könnte einem über das letzte hinweghelfen; denn in dem Glauben der Katholiken an ihre Heiligen – oder vielmehr an ihre Heiliginnen – da ist etwas, was ich so gut verstehe. Die Fürbitte einer edlen Frau, die hat Macht, das können Sie mir glauben, denn wenn eine Frau für einen Mann beten will, so muß doch etwas an ihm sein – die Frauen sind viel, viel besser als wir! Nun, wenn die Zeit kommt, wo der liebe Gott einen abruft, wird er einem wohl auch den Mut geben, der dazu gehört – nicht wahr? Wenigstens hoffe ich das!«


Die Mergelkuhle erreichten wir gerade zu rechter Zeit – in dem Augenblick, als der erste Stern am Himmel erschien, – und da lagen wir hinter einem Garbenhaufen und warteten auf den Entenstrich.

In solchen Augenblicken entgeht der Aufmerksamkeit nichts; man sieht alles und hört alles, es ist, als ob die Sinne, doppelt scharf wären.

Jetzt wird oben in der Mühle Licht angezündet – in der Gesindestube, aber es bewegt sich langsam durch das ganze Erdgeschoß und langt endlich oben im Giebelzimmer an. Weit, weit nach Osten zu rasselt ein Wagen – das wird auf dem Igumer Weg sein. In den Gerstenstoppeln lockt das Rebhuhn, eine wehmütige Handharmonika klingt jenseits des Baches und – endlich, da sind die ersten Enten!

Man hört sie, sie ziehen vom Strand herauf – ein einzelner Ruf, ein Laut, wie ein fernschwirrender Pfeil, der die Luft zerschneidet und schnell näherkommt, und dann – lange, ehe man es für möglich halten sollte – ist das Paar oder das Schof über unserem Kopfe – im selben Augenblick aber wieder in die Dunkelheit hinein verschwunden, wie fliehende Schatten.

Ringsumher schwirrt es in der Luft, das Naturkonzert wird vielstimmig und vielgestimmt – es ist allmählich unmöglich, einen einzelnen Laut aufzufassen.

Da kommt ein Zug Krickenten gesaust, als seien es pfeifende Büchsenkugeln; sie nehmen den Kurs gerade auf uns zu – nein, setzt biegen sie ab, und fort sind sie.

Da kommt ein paar besonnenerer Stockenten; sie mäßigen ihren Flug, schweben gleitend herab und lassen sich auf das Wasser nieder; man hört das plätschern, aber wie sehr man sich auch anstrengt, sehen kann man sie nicht: sie liegen schon versteckt zwischen den schirmenden Zweigen der Weide, die über dem Graben hängen.

Der Schutz knallt, der Blitz zuckt auf, aber nur hin und wieder hört man einen schweren Fall in die Stoppeln, und dann geht Diana dem Laut nach und bringt ihrem Herrn eine geflügelte Stockente.

Eine kleine Viertelstunde, dann ist der Entenstrich vorüber, und wir gehen nach Hause.

Waldwärters Marie hat die Barsche gekocht und Petersiliensauce dazu bereitet, Schnaps und Bier sind gleich quellkalt. Als wir aber, den Schnaps getrunken haben und das Bier einschenken wollen, kommt dem Hauptmann ein Gedanke.

»Ich habe ja noch eine Flasche von dem alten Rheinwein, den mir der Graf auf Skovsgaard zu meinem letzten Geburtstag schickte,« sagt er; »der kann keine bessere Verwendung finden, als zu den Barschen getrunken zu werden, und er hat die richtige Temperatur, denn Rheinwein soll nie mehr als Kellerkälte haben, das pflegte Kandidat Matthiesen immer zu sagen!«

Und wir essen die Fische – ich muß zugeben, daß sie tadellos schmecken – wir trinken den Wein, und als abgedeckt ist und wir »Rauch in den Mund« bekommen haben, wie der Hauptmann es zu nennen pflegt, sage ich:

»Dann war da ia die Geschichte von dem Schatz im Erlenteich.«

»Nein, die war da nicht!« erwidert er.

»Aber Sie sagen doch selbst, daß die eine von Ihren allerbesten Geschichten ist!«

»Das ist sie, aber die können Sie immer noch hören. – Nein, heute abend will ich die von der alleinstehenden Pappel erzählen.«

Jetzt sollen Sie einmal hören!


In meiner Jugend lebte ich nach meines Vaters Tode einige Jahre bei einem Bruder meiner Mutter, ein paar Meilen südlich von Viborg.

Ich entbehrte freilich im Anfang das Meer und den Buchenwald, mit denen ich aufgewachsen war, aber dafür bekam ich hier etwas, das ich vorher nicht gekannt hatte: die Heide.

Das Gut meines Oheims lag an der Grenze zwischen Heide und Ackerland, und noch heutigen Tages, wenn ich zurückdenke, ist es mir, als gäbe es keine schönere Gegend in der Welt. Die Heide, die hügelige Heide, mit Hünengräbern, Mooren, Teichen und Bächen, mit grünen Wiesen, die wie Oasen in der schwarzen Wüste stehen, und mit melancholischen, jungfräulichen Heideseen, an die man nicht glaubt, ehe man sie oben von den heidebewachsenen Hügeln zu seinen Füßen liegen steht – ja, ich gewann die Heide lieb, und ich betrachte sie im Grunde noch immer als das verlorene Paradies meiner Kindheit.

Da draußen – in der Lögumer Kirche – wurde ich konfirmiert, und dahin ging ich also auch zum Einsegnungsunterricht.

Es war ein langer Weg – ungefähr eine halbe Meile – aber die eine Viertelmeile ging an der »Priestermauer« entlang.

Die »Priestermauer« war eine hohe Umzäunung aus Steinen, die der Edelmann auf einem längst parzellierten Meierhof seinerzeit von den Frohnbauern hatte errichten lassen, und daran entlang hatte sich allmählich ein Weg von der Filialkirche bis nach Lögum gebildet – daher der Name.

In gerader Linie nach Aorten zu erstreckte sich die Mauer, die aus großen Feldsteinen errichtet war; ich entsinne mich noch ganz genau, daß ich damals fand, diese Steine hätten alle Gesichter – einige barsche, einige freundliche, wenn man sich nur die Zeit ließ, sie genau anzusehen. Und zwischen den Steinen wuchs der gelbblühende Mauerpfeffer und am Fuße der Mauer standen die prachtvollsten Adlerfarne, wo die wachsen, wissen Sie wohl, haben einstmals Bäume gestanden, und die Sage berichtet auch von ehemaligen Wäldern. Der alte Reiter Thrän hatte von seinem Großvater gehört, daß sein Vater sich eines Abends in einem Eichendickicht verirrt hatte, da wo jetzt nur noch Heidekraut und verkrüppeltes Unterholz steht, und die schweren Balken, die die Decke der Lögumer Kirche trugen, sollten hier in der Gegend gefällt sein. Dergleichen Sagen – Waldsagen – hat man ja überall auf der Heide.

»Die alleinstehende Pappel«, wie alle sie nannten, stand am Ende der Priestermauer, da, wo diese in rechtem Winkel mit einer anderen, aber kleineren Mauer zusammenstieß, sie stand also in einer »Dreifelderscheide«, wie man in alten Zeiten zu sagen pflegte.

Die Pappel kannte die ganze Gegend, nicht nur, weil sie im meilenweiten Umkreis der einzige große Baum war, sondern auch weil sie sozusagen eine Art »Seezeichen« zu Land war. Nach ihr steuerte man zur Winterszeit, wenn der Schnee die Heidespur verweht und Hecken und Scheiden ausgelöscht hatte, und nach ihr richtete man sich an dunklen Abenden, wo man mit genauer Not ihre Krone unterscheiden konnte.

Sie war uralt – »älter als sich die ältesten Leute erinnern« – mit einem dicken, gefurchten Stamm, der sich vier bis fünf Ellen über der Erde in zwei mächtige Zweige teilte, von denen der westliche natürlich der kleinere war.

Und dann war das Vergnügliche bei dieser alleinstehenden Pappel, daß man, wenn man von Süden her an der Priestermauer entlang gegangen kam, plötzlich die Spitze des Lögumer Kirchturmes gerade mitten zwischen den beiden Zweigen auftauchen sah, und allmählich, wenn man weiter kam, stand der ganze Turm da, und schließlich lag die Lögumer Kirche wie eine Silhouette in der Gabel.

Das war etwas, woran Paul Tonning und ich jedes Mal, wenn wir zum Pfarrer gingen – zweimal in der Woche – unsere Freude hatten, und jedes Mal war es uns gleich neu und gleich interessant.

Paul Tonning war der Sohn des »alten Tonning« auf dem Hügelhof. Das war ein verhältnismäßig großer aus Granitsteinen aufgebauter Bauernhof, der östlich von der Mauer lag, und es war das einsamste Gehöft, das man sich denken konnte – man hatte von dort wohl eine halbe Meile bis zum nächsten Nachbar und anderthalb Meilen bis zum Ulkenborger Krug.

Paul und ich wurden Freunde – er war der einzige Altersgenosse, den ich dort in der Gegend hatte – und wer von uns zuerst zu der ein für allemal verabredeten Stelle an der Priestermauer kam, wartete getreulich auf den andern.

Paul war in vielen Beziehungen ein wunderlicher und ein begabter Junge. –

Ihm waren zufällig Thieles Volkssagen in die Hände gefallen, und das Buch ward gewissermaßen seine Bibel, obgleich er ja allmählich auch alle anderen Bücher ähnlicher Art las, deren er habhaft werden konnte. Er wußte es auswendig, aber namentlich alles, was darin von versunkenen Burgen und vergrabenen Schätzen, von Kobolden und Moorsagen stand, das hatte für ihn das größte Interesse. Stundenlang konnte er davon erzählen, was er gelesen hatte, und unbewußt dichtete er die Sagen um und lokalisierte sie, so daß er wohl nicht weit davon entfernt war zu glauben, daß die Gegend, in der er geboren war, der Schauplatz von mindestens der Hälfte der dänischen Sagengeschichte gewesen sei.

Mir war es auf alle Fälle ein wahres Vergnügen, auf dem Weg zum Pfarrer und wieder zurück von all dem zu hören, was er ausfindig gemacht hatte. In dem Hünengrab mußte ein großer Häuptling liegen – in der Regel meinte er damit den Ufer Hügel, ein großes Hünengrab ganz in der Nähe des Gehöfts – und es sei ja sehr wohl möglich, daß gleichzeitig mit ihm ein großer Goldschatz dort vergraben wäre, denn auf dem Gipfel des Hünengrabes blühte immer eine Königskerze. Unten im schwarzen Moor war einmal eine mumienartige Leiche aus der Heidenzeit, in eine Tierhaut eingehüllt, gefunden – das mußte sicher Königin Gunild gewesen sein – und da der Lögumer See – ein kleiner Heidesee, nicht weit von dort entfernt – am Ufer am tiefsten war und in der Mitte seichtes Wasser hatte, so unterlag es ja keinem Zweifel, daß da draußen einmal eine Burg gelegen hatte, eine Burg, die entweder unter Königin Margrethe abgebrannt oder als Strafe für das gottlose Leben des Burgherrn in die Tiefe versunken war.

Ob man Paul eigentlich im gewöhnlichen Sinn abergläubisch nennen konnte, weiß ich nicht; er glaubte doch wohl kaum an unterirdische Geister so, wie er an den lieben Gott glaubte, aber es gewährte ihm trotzdem eine eigenartige Befriedigung, sich vorzustellen, daß der Königsschatz im Ufer Hügel von den kleinen Erdgeistern bewacht werde, und in einem Punkt begegnete er sich mit ihnen in vollster Sympathie: er war ebenso ängstlich bei Gewitter wie die Erdgeister es sein sollen.

Der Pfarrer in Lögum – der alte Pastor Tost, den ich schon früher erwähnt habe – war auf Pauls Interesse für Lektüre aufmerksam geworden, und da der Pastor zu den guten, altmodischen Pfarrern gehörte, die immer nach Genies unter den Bauernkindern spähten, so sprach er mit Pauls Vater darüber, daß er doch den Sohn studieren lassen solle. Paul selbst wollte nichts lieber als das, aber der alte Tonning war taub für diesen Vorschlag. – »Der schwarze Mann in Lögum hat nichts über mich und die Meinen zu sagen,« erklärte er, und Paul sollte werden, was sein Vater war, »ein Bauer und eines Bauern Sohn.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob es wohl ein Glück für Paul gewesen sein würde, wenn der Rat des Pfarrers befolgt wäre und er studiert hätte, – wäre er Gelehrter geworden oder wäre er Dichter geworden? Ich glaube es nicht; sein Kopf hätte es nicht ausgehalten. Er konnte Jahr für Jahr und Tag aus Tag ein dasselbe wieder und wieder lesen, aber der Zeitpunkt kam sehr früh, wo er nichts neues mehr lesen wollte: sein Vorstellungskreis war abgeschlossen. Nein, er wäre unglücklich geworden, wenn er studiert hätte! Ich bin nun übrigens des Glaubens, daß jeder Mensch hier in der Welt in Wirklichkeit auf den Platz kommt, wohin er paßt. – Hätte ich mich wohl zum Studieren geeignet, wie es der Wunsch meines Oheims war? Nein! und wäre der Krieg nicht gekommen, und wäre ich nicht als Freiwilliger mitgegangen, was wäre dann wohl ans mir geworden? Nichts! Aber der Krieg kam, und nun habe ich doch als Hauptmann geendet!

Aber wenn ich darin dem alten Tonning Recht geben muß, daß er seinen Sohn nicht studieren lassen wollte, so muß ich mich auf der anderen Seite dagegen verwahren, daß ich irgend welche Sympathie für ihn gehabt hätte – im Gegenteil!

Er war sehr unbeliebt in der ganzen Umgegend, und mit Recht. Tüchtig auf seine Weise war er, aber hartherzig und ungewöhnlich geizig. Er war Witwer und Paul war sein einziges Rind, aber dessenungeachtet konnte er sich kaum dazu entschließen, ihm das Nötigste zu geben, so daß der Sohn einfacher gehalten und schlechter gekleidet war, als irgend ein Häuslerkind. Daraus machte sich Paul indessen nichts, wenn er nur Erlaubnis hatte, in seiner freien Zeit sein eigenes Traumleben zu führen, mit vergrabenen Königskronen und im Moor versunkenen Schätzen, und mich genierte des alten Mannes Mangel an Gastfreundschaft nicht; wenn ich hin und wieder einmal nach dem Hügelhof kam, duldete er mich doch, fand sich darin, daß ich ein Stück Brot mit sehr dünn gestrichener Butter und Käse bekam, und ließ mich auf seine Bekassinen und Hühner vorbeischießen – er selbst war kein Jäger, ebensowenig wie Paul. –

Und dann kam der Krieg und fünf Jahre lang sah ich nichts vom Hügelhof, aber im Jahre 53 kam ich wieder in die Gegend – das war gleich nachdem ich die wunderliche Nacht bei dem Kapitän in Kjärvig verbracht hatte – und dann suchte ich Paul natürlich sofort auf.

Er war zu Anfang gleichsam ein wenig scheu mir gegenüber und wußte nicht recht, ob er du oder »Herr Leutnant« zu mir sagen sollte, aber das gab sich schnell, und wir verkehrten bald mit einander, wie alte Freunde aus der Kindheit zu tun pflegen.

Auf dem Hügelhof hatte sich etwas Großes zugetragen, während ich fort gewesen war, es war noch jemand ins Haus gekommen.

Paul erzählte mir selbst, wie das zugegangen war.

An einem Sommermorgen, gleich nach Sonnenaufgang war er auf den Aser Hügel gegangen und hatte dort wahrscheinlich wie gewöhnlich gestanden und darüber nachgegrübelt, was der Hügel wohl in seinem Schoß bergen möge, als er plötzlich an der Ostseite etwas wie Jammern hörte, dort, wo ein verwehter Dornenbusch im Heidekraut stand. Und als er dann dem Laut nachgegangen war, gewahrte er unter dem Busch ein schwarzäugiges, zappelndes, kleines Mädchen von ein paar Jahren, das streckte weinend die winzig kleinen Ärmchen nach ihm aus. Es war, sagte er, leibhaftig, als habe ein Kind der Erdgeister Erlaubnis erhalten, in der hellen Nacht unter offenem Himmel zu spielen, sei aber von der Sonne überrascht und konnte nun nicht wieder in den Hügel hinein.

Paul trug das kleine Mädchen nach Haus und hatte natürlich ein unbestimmtes Gefühl, daß sein liebes Hünengrab ihm gleichsam einen lebenden Schatz anvertraut habe, und wie es nun auch gegangen sein mochte, er erreichte wirklich von dem Vater, daß das Kind auf dem Hügelhof bleiben durfte. Die Kleine wurde getauft und erhielt in der Taufe den Namen Karen, aber woher sie gekommen war, das wurde nie aufgeklärt. Eine Zigeunerbande war am Tage vorher in der Gegend gesehen worden, und zu denen gehörte sie wohl, sie ließen aber nie wieder von sich hören, und so blieb sie denn auf dem Hügelhof.

Karen war Pauls Ein und Alles. So lange sie klein war, pflegte er sie wie die zärtlichste Mutter, und als sie heranwuchs, unterrichtete er sie, erzählte ihr, was er selbst wußte und sorgte in jeder Weise für sie.

Ich kam in der Regel jedes zweite Jahr nach dem Hügelhof und blieb dort ein paar Tage – in Parenthese bemerkt: ich bleibe niemals irgendwo so lange, daß die Leute Zeit haben, meiner überdrüssig zu werden. Paul wußte immer ganz genau, wo die Rebhühner und der Birkhahn lagen, und dann zogen wir zusammen aus, er seinen Eichenknüppel in der Hand, ich mit meiner Flinte.

Mit jedem Jahr war Karen schöner und schöner geworden – schließlich war sie geradezu eine Schönheit, mit strahlendem Blick unter den langen, schwarzen Wimpern und von einer Gestalt, die einem Bildhauer als Modell hätte dienen können. Es war ein Genuß, sie nur gehen zu sehen: mit leichtem, wiegendem Gang schritt sie über Pfade und Grasflächen dahin – die kleinen Füße gingen wie Trommelstöcke, und es hätte einen wirklich nicht verwundert, wenn sie plötzlich die Holzschuhe weggeworfen hätte, und, die Hände in die Seite gestemmt, in einem Tanze dahingeschwebt wäre, den niemand dort in der Gegend kannte. Es lag nun freilich keine Gefahr vor, daß sie das tun würde, denn Karen war die stillste, frommste Seele, die ich jemals gekannt habe. Tief religiös, sanft den Menschen gegenüber und gut gegen Tiere.

Und dann war sie außerdem so tüchtig im Hause wie sonst niemand, früh auf und spät zu Bett, niemals müßig. Selbst der alte Tonning, der immer geiziger wurde, und zuweilen halblaut häßliche Worte darüber fallen ließ, daß »die fremde Betteldirne ihn aus dem Hause herausäße«, selbst er mußte einräumen, daß sie »ungewöhnlich geschickt mit den Händen sei«, und das ist sicher, sie war ihm Goldes wert, denn sie arbeitete ohne Lohn und immer mit einem freundlichen Lächeln.

Über das Verhältnis zwischen Paul und Karen konnte man bald nicht im Zweifel sein. Sie las ihm jeden Wunsch aus den Augen ab und folgte ihm, wo er ging und stand, draußen und drinnen, mit einem sehenden, liebevollen Blick, und er – er bewunderte und vergötterte sie stumm.

So lange der Alte lebte, konnte Paul natürlich nicht daran denken, sich mit einem armen Findelkind zu verheiraten, und so wartete er denn – wartete in Zucht und Ehren – ich bin sicher, daß nie ein eigentliches Liebeswort, geschweige denn ein Kuß zwischen ihnen gewechselt ist – nun, ich bin ja selbst nie ein Heiliger gewesen, aber ich bewundere aufrichtigen Herzens den, der es sein kann.

Paul lebte als Knecht auf dem Hof des Vaters, als Knecht, weder mehr noch weniger. Der alte Tonning vertraute ihm nicht einmal den Verkauf eines Stück Viehes an, nein, er ging selbst auf den Markt, wenn Vieh verkauft werden sollte, und brachte das Geld in der Viborger Sparkasse unter. Es konnte garnicht die Rede davon sein, daß jemand anders als er selbst das besorgte, wenn die Ernte beendet oder das Vieh verkauft war. Da war nur Raum für einen Willen auf dem Hof, und das war der Wille des Vaters, und er und der Sohn wechselten wohl kaum zehn Worte im Laufe des Tages. Dann kam indessen die Zeit, wo der Alte schwächer und gebrechlicher wurde, wie ein bemooster Erlenzaun, und selbst nicht mehr nach Viborg fahren konnte, und dann wurde er allmählich ganz sonderbar oder »rappelig«, wie die Leute es nannten; gönnte sich kaum die nötigste Nahrung und sprach davon, daß er schließlich noch der Gemeinde zur Last fallen würde.

Oft sah man ihn jetzt auch an der Priestermauer entlang, gehen und mit seinem Stock zwischen den Steinen herumstochern, und die Leute sagten, daß er das Geld, statt es auf die Viborger Sparkasse zu tragen, in die Mauer vergraben hätte, was aber schlimmer war, man behauptete schließlich allgemein, er habe vergessen, wo er es versteckt habe, und das sei es, was ihn rappelig mache. Eins steht fest – ich habe es selbst unzählige Male gesehen, daß er Tag aus Tag ein an der Priestermauer entlanghumpelte und versuchte, bald an dem einen Stein, bald an dem andern zu rütteln, und doppelt unheimlich wurde es, als er schließlich immer zur Abendzeit hinaus wollte, namentlich im Herbst und im Winter – und dann mit einer brennenden Laterne in der Hand an der Mauer auf- und niederging – schon aus weiter Entfernung sah man den flackernden, trüben Schein.

Und dann starb er endlich, und obwohl er einen schönen Batzen in der Viborger Sparkasse hinterließ, war es doch nicht so viel, wie man erwartet hatte, und das gab ganz natürlich Veranlassung zu dem Glauben, daß er, wenn auch nicht einen Schatz, so doch eine runde Summe, in die Mauer versteckt habe; dieses Gerücht breitete sich mehr und mehr aus, und natürlich gab es auch Leute, die zu erzählen wußten, daß man an dunklen Herbstabenden seinen Geist mit der Laterne und dem Stock an der Priestermauer spuken sähe.

Ein Jahr nach seinem Tode feierten Paul und Karen Hochzeit – er war zwischen vierzig und fünfzig, sie war in den Zwanzigern.

Das Glück kehrte in den Hügelhof ein – aber es war zu spät gekommen. Paul war zu lange Knecht gewesen, um sich so recht als freier Mann fühlen und den Rücken gerade halten zu können. Er trug sie indessen, wie man zu sagen pflegt, auf Händen, und sie war demütig dankbar, als seine Frau auf dem Hof zu herrschen, auf den sie als Findelkind gekommen war, aber wenn ich sie zusammen über das Feld gehen sah, in der Regel Hand in Hand, konnte ich mich doch nicht des Gedankens erwehren, daß der Alte nur so lange gelebt habe, weil er den Jungen das Herzblut ausgesogen hatte.

Für andere war es indessen gut auf dem Hügelhof zu sein; kein Armer ging ohne Unterstützung fort, und wenn ich dahin kam, war es wie ein Fest! Kücken und Enten mußten ihr Leben lassen, und Karen braute ein Märzbier – mit gelbem, fettem Schaum, – wie ich es nie besser getrunken habe, und von dem immer ein paar Flaschen für die Rebhühnerzeit aufgehoben wurden.

Kinder bekamen sie nicht, und das war ja ein Kummer, namentlich für Karen, obwohl sie sich so weit wie möglich nichts davon merken ließ – aber Wohlstand war auf dem Hügelhof, im Verhältnis zu der Gegend natürlich, und Paul war auch auf seine weise froh und zufrieden.

Aber dann in einem Herbst hatte ich gleichsam ein Gefühl, daß nicht alles so war, wie es gewesen war, und wie es sein sollte.

Paul war bedeutend gealtert, fand ich, noch mehr zusammengesunken und noch gebeugter in seinem Gang als früher – man mußte an den Vater denken, wenn man ihn sah.

Und dann waren da ein paar Kleinigkeiten, die mir auffielen.

Erstens war in diesem Jahre kein Märzbier gebraut. Sie können das ja gern eine Kleinigkeit nennen, aber ich konnte doch nicht lassen, darüber nachzudenken. Karen kam, sanft und milde wie immer, mit vielen Entschuldigungen, weil sie mir nur gewöhnliches Bier vorsetzen könne, aber Paul murmelte etwas davon, daß zu viel Malz und Hopfen zu dem Märzbier gebraucht würde; das könne man ja doch entbehren, und gespart werden müsse ja.

Nun, ich sagte ja nichts weiter dazu, aber dann eines Abends kam eine Frau und bat, einige Worte mit Karen sprechen zu dürfen, und Karen ging hinaus; und als sie nach einer Weile wieder hereinkam, fragte Paul, was da gewesen sei. – »Ach, es war nur Marie aus dem Moorhaus,« erwiderte Karen, sie sei dagewesen und habe um etwas Milch gebeten. – »Hast du ihr Vollmilch gegeben?« fragte Paul dann. – »Ja, natürlich,« antwortete Karen. – »Na, – Magermilch hätt's auch wohl getan,« wandte Paul ein. Aber nun stieg Karen das Blut zu Kopf und sie versetzte mit einer Heftigkeit, wie ich sie früher nie bei ihr bemerkt hatte: »Die Mich war für ihr Kind, Paul! Gönnst du nicht einmal mehr armer Leute Kindern einen Pott Vollmilch!« – »Ach ja – ach ja, immerhin,« erwiderte Paul bedächtig, und dann wurde nicht mehr über die Sache geredet.

Aber mir war das Ganze doch höchst wunderlich, und noch wunderlicher ward es mir an einem der folgenden Abende, als Paul ohne weitere äußere Veranlassung anfing, von dem Vater zu reden: daß er weniger hinterlassen habe, als man hätte erwarten können, und daß es doch wohl seine Richtigkeit damit habe, was die Leute sagten, daß er sein Geld in der Priestermauer versteckt habe.

»Ach Unsinn,« sagte ich, »das ist nur so ein Gerede der Leute!«

»Ja, und was sollten wir wohl mit mehr Geld,« meinte Karen, »wir haben ja doch genug.«

»Ach ja, immerhin,« erwiderte Paul zögernd, » genug, daß ist nun freilich ein großes Wort – wer hat überhaupt genug?«

Dann saß er da und wiegte sich auf dem Stuhl hin und her und kam schließlich damit heraus, daß der Alte, als er in den letzten Zügen lag, davon gemurmelt habe, daß da »was Aufgeschriebenes« sei, und dieses Aufgeschriebene, meinte Paul, müsse wohl eine Bezeichnung sein, wo das Geld versteckt sei. – »Könnte man das Aufgeschriebene bloß finden,« sagte er, »dann wäre man gut heraus, aber ich habe gesucht und gesucht und bin noch ebenso weit. – Es ist doch wirklich ärgerlich, zu denken, daß vielleicht ein ganzer Reichtum daliegt und auf einen wartet – ohne daß man dazu gelangen kann,«

»Ja, was wolltest du eigentlich tun, wenn du das Geld bekämest?« fragte ich.

»Ach, man könnte ja die Scheune umbauen,« lautete die Antwort, »die hat es groß nötig.«

»Aber das tätest du ja doch nicht,« wandte ich ein.

»Ach, nein, vielleicht nicht, aber dann hätte man doch das Geld!«

Im Jahre darauf hatte ich eigentlich die Absicht, den Hügelhof von meinem Jagdplan zu streichen, weil ich halb und halb Hjelmsted versprochen hatte, nach Svendsö zu kommen, und Svendsö lag ja in einer ganz anderen Gegend des Landes; aber dann erhielt ich einen Brief von Karen, worin sie schrieb, daß ich doch auf alle Fälle kommen müsse, denn mit Paul sei es ganz schlimm. Und dann ritt ich natürlich dahin.

Ich war zuerst ein paar Tage in Audinghof und war ein paar Stunden später von dort fortgekommen, als ich beabsichtigt hatte, so daß ich erst gegen Abend Bulbro erreichte. Es war schon ganz dunkel, als ich an der Priestermauer entlang nach dem Hügelhof hinaufritt.

Ich saß in Gedanken versunken da und überließ das Pferd sich selbst, als es plötzlich mit einem Ruck stillstand, die Ohren zurücklegte und vor Angst schnob.

Ich gab ihm die Schenkel, so daß es zusammenfuhr, aber es zitterte nur am ganzen Körper und rührte sich nicht vom Fleck.

Ich sah geradeaus, und ich sah nach allen Seiten, da war nichts zu entdecken.

Es ist nun so ungefähr das Unheimlichste, was ich kenne, wenn ein Pferd nicht im Dunkeln weiter will, und man selbst nicht sehen kann, was es ängstlich macht. Denn daß es etwas sieht oder wittert, das weiß man ja.

Plötzlich gewahrte ich jedoch einen schwachen, flackernden Schein, wie von einer Laterne, die sich langsam vorwärts bewegte, immer auf und ab – und gleichzeitig vernahm ich ein merkwürdiges Geräusch, als wenn ein leichter Schlag gegen die Steine der Mauer geschlagen würde.

Jetzt kam das Licht näher – das Pferd war nicht zu halten, es wollte umkehren – und aus der Dunkelheit heraus glitt eine Gestalt, die ich kennen sollte, ducknackig und gebeugt, eine Laterne in der Hand. Ich wollte meinen eigenen Augen nicht trauen – das war ja unmöglich – aber es war der alte Tonning, der da spukte und nach der Stelle suchte, wo er das Geld versteckt hatte!

Ich will mich nicht gern besser oder mutiger machen, als ich bin – ich war kurz davor, umzuwenden. Aber im selben Augenblick erhob die Gestalt den Kopf, das Licht der Laterne fiel auf das Gesicht des Wandernden, und ich sah nun, daß es nicht der Alte war, sondern Paul, den ich da vor mir hatte.

»Was in Himmels Namen tust du hier!« rief ich noch ganz benommen aus.

»Ach, ich mache nur so einen kleinen Gang,« lautete die Antwort. »Übrigens herzlich willkommen – dann wollen wir man sehen, daß wir nach Haus kommen!«

Am nächsten Tag nahm mich Karen bei Seite. Paul sei ganz, ganz sonderbar geworden, sagte sie, sie sei oft bange um seinen Verstand.

Er gönne es sich kaum, sich satt zu essen, und er denke an nichts weiter als an das Geld, das der Vater in der Mauer versteckt haben solle; danach suche er früh und spät, und er rede von nichts als von dem Aufgeschriebenen, das darüber berichten sollte, wo der Versteck sei.

Dann, am nächsten Tag, als wir draußen auf dem Jagdrevier waren, – er wie gewöhnlich mit seinem Eichenknüppel, ich mit der Flinte – sprach er wieder ganz vernünftig und erwähnte kein Wort von dem verborgenen Schatz, aber es lag doch während der ganzen Zeit etwas Gedrücktes, etwas Verschlossenes über ihm.

Wir mußten doch schon mehrere Stunden früher, als wir beabsichtigt hatten, nach Hause eilen, denn von Süden her zog ein Gewitter herauf, und Paul hatte noch die ganze Angst seiner Kindheit vor dem Gewitter.

Es ward ein Unwetter von der Art, wie man es oft in der Heide erlebt, wo ein Gewitter nur fortzieht, um gleich darauf von einem andern abgelöst zu werden, und wo es im Grunde ununterbrochen ganze Tage oder Nächte blitzen kann, bald über unserem Kopf, bald weit hinten am Horizont.

Paul war bange wie ein Kind. – »Wenn es nun hier auf dem Hof einschlägt!« rief er mehrmals aus. »Dann ist es Gottes Wille!« erwiderte Karen, »Ich bin heute abend so bange!« sagte er plötzlich, »Dann schlage die Bibel deines Vaters auf und lies dich zur Ruhe!« erwiderte Karen.

Und Paul erhob sich, ging in das Zimmer des Vaters, das noch unberührt seit seinem Tode dastand, und kam nach einer Weile mit einer verstaubten, messingbeschlagenen Bibel zurück, die er öffnete und aufs Geratewohl aufschlug.

Aber da, da wo er aufschlug, lag ein Zettel – ein abgerissenes Stück von einer Tabakdüte – und darauf stand etwas geschrieben – er und ich entdeckten es zur selben Zeit.

»Mein Gott, das ist ja Vaters Handschrift,« sagte Paul.

»Was steht denn da?« fragte ich.

Paul war leichenblaß geworden, seine Hand zitterte, als er mir den Zettel reichte.

Mit deutlicher, aber ungeübter Hand stand da:

»Die Turmspitze in der Gabel; feines Korn.«

Ich muß gestehen, daß es mir eiskalt über den Rücken hinunterlief – es war also doch wahr mit dem versteckten Geld, und »das Aufgeschriebene« war wirklich da!

»Ach Gott, ach Gott,« stöhnte Paul, »und da ist man noch ebenso weit, was ist die »Gabel«?«

»Die Gabel,« erwiderte ich, das ist selbstredend die Gabel der alleinstehenden Pappel, und an der Stelle in der Priestermauer, wo man die Lögumer Kirchturmspitze gerade zwischen den Zweigen sehen kann, da hat der Alte das Geld versteckt – das ist ja ganz klar!«

Ich glaube, Paul hätte mir für diese Erklärung um den Hals fallen können, obwohl für den, der in der Gegend bekannt war, ja nicht viel Scharfsinn dazu gehörte. Aber er begnügte sich damit, mir die Hand zu drücken, dann stand er auf und rief

»Ich will hinaus! Ich will mein Erbe haben!« Im selben Augenblick flammte ein Blitz auf, der greller war, als irgend einer der vorhergehenden, und einen Augenblick später ertönte ein Donnerknall, prasselnd und krachend, als werde ein Felsen gespalten.

»In Jesu Namen!« – sagte Karen und hielt sich unwillkürlich die Augen zu. »Das hat eingeschlagen!«

Der Regen ward jetzt zu einem förmlichen Wolkenbruch, ein Blitz folgte dem andern – es konnte ebensowenig davon die Rede sein, in die Nacht hinauszugehen, als sich zu Bett zu legen.

Am nächsten Morgen stellte es sich heraus, daß der Blitz in die alleinstehende Pappel eingeschlagen hatte. Der Strahl war gerade zwischen den beiden Zweigen niedergefahren; in zwei Teile zerspalten lag der alte Baum da, das »Seezeichen« war nicht mehr, und niemand konnte mehr die Turmspitze der Lögumer Kirche in der »Gabel« sehen – weder als »feines Korn« noch als »gestrichenes«.

Paul nahm den Blitz als Gottesgericht hin! er sollte also das versteckte Geld nicht finden, er sollte verzichten.

Und von nun an kam Friede über Pauls Gemüt, und er lebte still und glücklich mit seiner Karen. – Jetzt sind die beiden tot, und ich kenne die entfernten verwandten nicht, die den Hof geerbt haben.

– Ja, das ist die Erzählung von der »alleinstehenden Pappel« – Ein andermal sollen Sie die Geschichte hören, wie diese Pappel »spukte« und mir auf den rechten Weg half – jetzt ist es zu spät geworden, um mehr zu erzählen.


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