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Wie und wo ich die Bekanntschaft von Hauptmann Riis machte, ist ja im Grunde gleichgültig, im übrigen geschah es auf einer Treibjagd im Terper Walde.

Daß ich ihn schon früher dem Namen nach kannte, versteht sich von selbst – wer in Jütland kennt nicht den Hauptmann aus dem Hjortholmer Wald? Jeder Jüte – wenigstens jeder Ostjüte – wußte, daß er mit achtzehn Jahren, im Jahr 48 freiwillig mitgegangen war, sich zum Leutnant heraufgedient hatte, nach der Schlacht bei Fredericia dekoriert worden war, und als Hauptmann den Krieg von 64 mitgemacht hatte. Und dann wußte außerdem jeder, daß er ein Waidmann von Gottes Gnaden war, und ein willkommener Gast, wo er sich zeigte.


Mein erster Eindruck von dem Hauptmann entsprach ganz dem, was ich von ihm gehört hatte: eine Hünengestalt war er, mit hoher Stirn, gebogener Nase und einem mächtigen, blonden Schnurrbart; sanfte, klare Augen hatte er, und Lebensfreude strahlte von ihm aus.

Er erinnerte im Grunde an einen der mannhaften dänischen Ritter aus der Renaissancezeit, an einen von denen, die in der Zeit der Fehde immer voran waren, und in Friedenstagen Hirsch und Hindin daheim in den Wäldern jagten, um schließlich oben auf dem Epithaphium über dem Familienbegräbnis knieend zwischen mehreren Frauen und vielen Kindern zu enden. Verheiratet gewesen war der Hauptmann nun freilich niemals, und seine Stammtafel war höchst bürgerlich: Der Vater war Förster gewesen und der Großvater Unterförster – »natürlich« in Jütland, wie er selbst zu sagen pflegte.

Von seiner Kraft wußte man Sagen zu erzählen.

Einmal hatte er zusammen mit dem Jäger aus Skovsgaard friedlich im Vadumer Krug gesessen, als plötzlich vier angetrunkene Individuen auftauchten, ausschließlich um Händel anzufangen. Gutmütig bis zum äußersten, wie der Hauptmann war, hatte er erst versucht, den Unruhstiftern Vernunft zuzureden. Aber es half nichts; sie gingen ihm und dem Jäger zu Leibe, und der Hauptmann hatte dann den ersten von ihnen genommen und niedergeschlagen; er fiel hart, denn er blieb vorläufig liegen. Als der Hauptmann das sah, wandte er sich bedenklich an den Jäger und sagte: »Besorgen Sie die Sache lieber allein, ich bin wohl zu stark!« Aber die dreie hatten schon Reißaus genommen, so daß der Jäger diesen Tag nichts mehr zu tun bekam.

Ein anderes Mal, in seinen besten Zeiten, war ein Einspänner-Fuhrwerk auf der Viborger Chaussee durchgegangen und sauste direkt auf ihn los, während er vor dem Ulkenborger Krug stand. – »Aber die Sache lief ganz gut ab,« hieß es, »denn das Pferd stürzte ja freilich, aber der Wagen nahm keinen weiteren Schaden, als daß die Deichsein durchbrachen,« – stark muß der Hauptmann ja gewesen sein!


An dem Tage im Terper Walde wurde ich zu der Jagd in Stenkilde für den folgenden Tag eingeladen, und als der Hauptmann hörte, daß ich in Zweifel war, ob ich der Einladung Folge leisten könne, da der Weg nach Stenkilde vom Lyngeter Krug, wo ich im Quartier lag, zu weit war, so bat er mich gleich mit liebenswürdiger Gastfreundschaft, fürlieb zu nehmen und bei ihm zu übernachten.

Ich nahm die Einladung mit Dank an, und das war also das erste Mal, daß ich im Waldhäuschen schlief, aber es blieb nicht das letzte, denn allmählich bildete es sich zu einer festen Regel aus, daß ich mehrmals im Jahr zu dem Hauptmann hinüberkam. Wir gingen zusammen auf Jagd und wir plauderten miteinander, und trotz des Altersunterschieds – er mochte wohl zwanzig Jahre älter sein, als ich – kann ich wohl sagen, daß wir nicht nur gute Kameraden, sondern auch gute Freunde wurden.


Das »Waldhäuschen« lag mitten im Hjortholmer Wald, und hier hatte der Hauptmann ganz allein gewohnt, seit er bald nach dem letzten Krieg seinen Abschied erhielt. Eine benachbarte Frau, Waldhüters Marie, kam jeden Morgen und machte bei ihm rein und wusch für ihn, sonst besorgte er sich alles allein: er bürstete seine Kleider und schmierte seine Stiefel, machte Feuer an und bereitete das Essen. – »Ich lebe beständig auf Feldfuß,« sagte er, »leider habe ich keine Manöver-Zulage mehr!«

Und die hätte der Hauptmann wohl gebrauchen können, denn er hatte außer seiner Pension nur eine kleine Leibrente und freie Wohnung. Trotzdem kam er bei seinen bescheidenen Ansprüchen an das Leben gut aus, und konnte sogar mit geringen Mitteln eine auf ihre Weise unbegrenzte Gastfreundschaft entfalten. Immer war man willkommen bei ihm, und während er im täglichen Leben sozusagen nur Wasser trank, das er aus der kalten Quelle draußen vor dem Haus schöpfte, so fand er, wenn er Gäste hatte, immer irgend eine bestaubte Flasche, die er von einem seiner vielen Freunde geschenkt bekommen hatte. Im voraus schwelgte er dann in dem Bukett und dem Spiel des Lichts im Wein, freute sich, wenn der Gast es verstand, das Geschenk zu würdigen, konnte aber förmlich trauern, wenn dieser gedankenlos den edlen Traubensaft heruntergoß, als sei es Dünnbier gewesen.


Ich habe nie ein Haus gekannt, das gemütlicher gewesen wäre als das Waldhäuschen.

Klein und strohgedeckt war es, baufällig auch. Aber der eine Giebel war mit Epheu überwuchert, der andere mit wildem Wein, und im Sommer ragte eine Reihe prächtiger Stockrosen vor der »Fassade« auf.

Ein kleiner, winzig kleiner Garten gehörte zu dem Haus, und darin war das Hervorragendste eine große Blutbuche, die an Sommertagen mit ihrem hellen Johannislaub auf dem dunkeln Hintergrund einen selten schönen und festlichen Eindruck machte, und von der der Hauptmann behauptete, daß es der schönste Baum in der Welt sei.

Unmittelbar an den Garten stieß der Wald, der ihn gleichsam umschloß, und am Rand des Waldes stand die hohle, kronenlose Eiche, in der jedes Jahr eine Schar junger Eulen ausgebrütet wurden – die zählte der Hauptmann zu seinen Haustieren.

An Haustieren waren da im übrigen sein Pferd, sein Hund, eine Katze, Hühner und Tauben, die er natürlich alle zusammen selbst versorgte.

In der Zeit, als ich ihn kannte, fuhr er mehr, als daß er ritt, aber in seinen jüngeren Tagen war er ein leidenschaftlicher Reiter gewesen, der, die Flinte und die Jagdtasche über der Schulter und einen Mantelsack hinten aufgeschnallt, halb Jütland abgesucht und die Rittergüter »beschossen« hatte. Das war in jenen Zeiten, wo er oft wochenlang von Haus fort war und selbst niemals wußte, wann er zurückkommen würde; aber als er älter wurde, fuhr er, wie gesagt, mehr, als daß er ritt, und war selten länger als ein paar Tage zur Zeit fort.

Seine Hunde – ich habe nach und nach drei Generationen von ihnen gekannt – waren ihm geradezu Kameraden und persönliche Freunde. Er war fest davon überzeugt, daß sie nicht nur alles verstanden, was er sagte, sondern auch wußten, was er dachte, und wenn auch das letztere eine leichte Übertreibung sein dürfte, so steht das doch fest, daß ich nie intelligentere und liebenswürdigere Tiere getroffen habe.

Warum er eigentlich Hühner und Tauben hielt, habe ich niemals verstehen können. Er konnte es nämlich nicht übers Herz bringen, eins davon zu schlachten, und wenn sie nicht freiwillig an Altersschwäche starben, bekam Waldhüters Marie deswegen Ordre, während er selbst fort war, die elendesten Exemplare umzubringen, und die wanderten dann in Waldhüters schwarzen Kochtopf.


Drinnen im Waldhäuschen, in den kleinen, winzig kleinen Stuben, war alles wie geleckt, aber äußerst einfach. Im »Wohnzimmer« stand die alte Schatulle des Hauptmanns, ein Sofa, das die Hunde in der Regel gepachtet hatten, ein Tisch, auf dem »Mynsters Betrachtungen« immer aufgeschlagen lagen, und einige Stühle. An der einen Wand hingen sein Säbel, seine Pistole, seine Doppelflinte und seine Büchse, an der anderen Wand gerade gegenüber, eine Guitarre, ein Paar lithographierte Schlachtenbilder aus dem ersten Krieg und ein Porträt von General Schleppegrell, das letztere immer mit einem Kranz von Anemonen oder Imortellen.

Die Eßstube wurde auch »Bibliothek« genannt, denn hier war die Wand mit lauter gedruckten Versen tapeziert, Ausschnitte aus Gedichtsammlungen, Liederbüchern und Zeitungen, altes und neues bunt durcheinander. – »Poesie muß man um sich haben,« erklärte der Hauptmann, »und wenn einmal mein Auge auf die Wand fällt, dann begegnet es diesem oder jenem, woran ich Freude habe – hier redet die Blüte dänischer Dichtung!«


Niemals ward dem Hauptmann die Zeit lang, trotz der Einsamkeit, in der er in der Regel lebte. Er hatte genug damit zu tun, für die Tiere, für das Haus und den Garten zu sorgen; er tischlerte und malte, er machte Perikum- und Walnußbittern, und im Herbst war er ein eifriger Nußpflücker. – »Ich sammle Wintervorrat wie das Eichhörnchen,« sagte er.

Immer war er fröhlich. »Wenn ich mich des Abends niederlege,« pflegte er zu sagen, »dann danke ich dem lieben Gott für den Tag, der vergangen ist – man hat immer etwas, wofür man danken kann – und dann freue ich mich auf den nächsten Morgen – man hat auch immer etwas, worauf man sich freuen kann, nicht wahr?«

Und in bezug auf den Hauptmann war dies wirklich wahr – ich habe nie einen so glücklichen Menschen gekannt. Daß er das war, räumte er auch willig ein, gewöhnlich mit dem ihm eigentümlichen Ausdruck: »Ja, ich kann wohl lachen: ich habe fast immer den Wind im Rücken gehabt.«

Für das größte Glück, das ihm in der Welt beschieden war, hielt er selbst den Umstand, daß er Offizier geworden war. – »Was hätte ich sonst wohl werden sollen,« konnte er ausrufen, »sagen Sie mir das, wenn Sie es können!« – Und dann, daß es ihm vergönnt gewesen war, für sein Land zu kämpfen und an der Schlacht bei Fredericia teilzunehmen. Er sprach verhältnismäßig wenig von seinen Kriegserinnerungen und immer mit einer rührenden Bescheidenheit von dem Anteil, den er selbst an den Begebenheiten genommen hatte, aber es war doch leicht zu merken, daß der dreijährige Krieg seines Lebens Stolz war und blieb. Und das hing ganz natürlich zusammen mit seiner instinktiven, aber innigen Vaterlandsliebe. Die Liebe zu dem Vaterland und die Ehrerbietung vor dem König und seinem Hause waren für ihn ein Teil seiner Religion, und es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß, so wie er ausnahmslos stehen blieb und den Kopf entblößte, wenn der Schlag der Betglocke am Abend von einer Kirche ertönte, wo die Sonne zur Rüste geläutet wurde, er auch an keinem Haus vorüberging, wo der Danebrog wehte, ohne die Hand an die Mütze zu heben. Honneur vor dem lieben Gott, und Honneur vor der Flagge!

Aber wenn er Dänemark über alles in der Welt liebte, so war da doch ein Teil des Landes, den er mit ganz besonderer Liebe umfaßte, nämlich Jütland, – Jütland enthielt für ihn alles, was schön und gut war, und mit Jütland konnte kein anderer Teil des Landes den Vergleich aufnehmen.

So war es denn auch sein voller Ernst, wenn er behauptete, daß nur Jütland wirkliche Hügel, Wiesen und Moore, Bäche und Mühlen habe. – »Haben Sie wohl beachtet,« sagte er einmal, »daß drüben auf den Inseln nur die Bäume Schatten werfen können? Aber hier in Jütland können die Hügel das auch, und haben Sie je etwas Dunkleres gesehen, als den Sommerschatten auf dem Heidehügel – ich nicht!«

Im Grunde war es jedoch nur ein Teil von Jütland, der seinem Herzen so nahe stand. So bildete der Limfjord die nördliche Grenze für seine spezielle Liebe, und Ost- und Mitteljütland kannte er am besten und liebte er am meisten.

»Die Nordsee ist wunderbar,« räumte er ein, »und es ist herrlich, einen Tag lang oder auch zwei zwischen den Dünen zu leben, aber wenn die Leute heutzutage meinen, es sei das Beste in der Welt, einen ganzen, langen Sommer nur Wasser und Sand zu sehen und Sand und Wasser, dann ist das eine Modesache und nichts weiter. Stellen Sie sich vor, den Wald gegen den Sand zu vertauschen, den Wald, wo die Tauben gurren und die Sonne zwischen den Laubhängen spielt – das ist doch unnatürlich! – Und dann die herrlichen Städte, die Jütland besitzt! – wie denken Sie über Viborg? Können Sie sich etwas Stimmungsvolleres denken, als einen Abend bei Asmild-Kloster, wenn der letzte Sonnenschimmer sich über den stillen See legt und die Hügel violett werden – blauviolett! Da hätte man ins Kloster gehen können, ja, ich hätte es fertig gebracht. Ich habe davon gelesen und gehört, daß gewisse Mönche – die mehr weltlichen, versteht sich – von der Mitternachtmesse dispensiert werden konnten, wenn sie auf einen späten Entenstrich gegangen waren, oder einen frühen Morgenbock für die Klosterküche liefern sollten, – so ein Mönch hätte ich gern sein mögen! – Oder was sagen Sie von Aarhus! Jedesmal, wenn ich mit dem Dampfer nach Jütland komme, und nur den St. Clemens Turm auftauchen sehe, habe ich ein Gefühl, als werde ich wieder willkommen geheißen! Und die Bucht – kennen Sie etwas prachtvolleres als die Kalöer Föhrde und die Kalöer Schloßruine! Und der Riiser Wald mit den tiefen Schluchten zwischen dem Eichengestrüpp – solche Schluchten kennt man auf den Inseln gar nicht! Und Marselisborg mit den ausgestorbenen Waldmühlen – wo in aller Welt haben Sie Waldmühlen gesehen –! Nein, ich möchte doch um Jütland gebeten haben –

Hügel und Täler und Bäche mit Mühlen,
Turmlose Kirchen aus grauem Gestein,
Buchten mit Wäldern, die Wellen umspülen,
Rotblühende Heide im Sonnenschein,
Enten im Weiher,
Birkhahn und Reiher –
Jütland – von Dünen zum Buchenhain!

– aber ich bin nun freilich mehr für die Buchenhaine!«

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Hauptmanns, daß er häufig kleine Verse, die er selbst gemacht hatte, in seine tägliche Rede mischte, aber er tat es nur in Umgebungen, wo er sich heimisch fühlte, und am liebsten unter vier Augen.

Anfänglich stutzte man wohl darüber, allmählich aber fand man das aus seinem Mund ganz natürlich und wunderte sich im Gegenteil, wenn in einer längeren Auseinandersetzung nicht ein Reim abfiel. Hin und wieder konnte einer seiner »eigengemachten« Verse, wie er sie selbst nannte, ja vielleicht improvisiert sein, in der Regel aber waren sie sicher vorher gemacht – während er fuhr oder ritt, während er auf dem Anstand im Walde oder auf dem Entenstrich saß – und er hatte offenbar eine so große Auflage davon, daß er nie in Verlegenheit war, einen zu finden, der zu der Situation oder der Stimmung paßte.

Seine Verse niederzuschreiben, fiel ihm jedoch niemals ein, und ich entsinne mich noch, wie entsetzt er war, als ein guter Freund ihn einmal veranlassen wollte, ein Gelegenheitsgedicht zu schreiben. – » Ich und Lieder schreiben!« rief er aus. »Ein ganzes Lied mit Anfang und Schluß und Zusammenhang und dem Ganzen – unmöglich! Ich kann nur Anfänge machen. Und wie sollte ich mich wohl von vornherein für eine und dieselbe Melodie das ganze Lied hindurch bestimmen – ich würde ja in zwanzig verschiedene übergehen, ehe ich noch bis zur Hälfte gelangt wäre!«

Und darin hatte der Hauptmann gewiß Recht. So wie seine Rede und seine Erzählungsart springend waren, hatte es auch damit seine Richtigkeit, daß er selten mehr als den Anfang einer Melodie sang oder summte, um gleich darauf in eine andere überzugehen, Er liebte Musik ungeheuer und klimperte hin und wieder selbst ein wenig auf seiner Guitarre, war jedoch am liebsten Zuhörer – und am allerliebsten, wenn eine Frau sang und spielte.

Die Frauen liebte der Hauptmann ritterlich, ja, ich kann wohl sagen, anbetend. Einer alten, grauhaarigen Freundin, die längst Großmutter war, erwies er dieselbe Huldigung wie in ihren jungen Tagen, aber es läßt sich freilich nicht leugnen, daß so eine Huldigung doch mehr eine Äußerung seiner seltenen Treue war, als seiner Neigung. Der Hauptmann liebte Schönheit und liebte Jugend.

Sah er etwas besonders Hübsches bei einer Frau, so mußte er es sagen, und sein Blick verriet augenblicklich seine Bewunderung: er strahlte vor Freude, wohin er kam, war er deswegen mehr als gern gesehen bei allen Frauen, und noch in seinen älteren Jahren war da manch eine junge Dame, die lieber mit dem alten Hauptmann tanzen wollte, als mit irgend einem andern. Sechzehn- und siebzehnjährige Mädchen, für deren Mütter er geschwärmt hatte, scharten sich um ihn, und er war ihr ritterlicher Vertrauter, dem sie ihre Sorgen und Hoffnungen mitteilten; aber trotz dieser Väterlichkeit bin ich doch nicht ganz sicher, daß nicht von Seiten der Mädchen, ihnen selbst unbewußt, gleichsam ein Körnchen Erotik in ihrem Verhältnis zu dem Hauptmann enthalten sein konnte – er war ein großer Charmeur!


Ursprünglich hatte ja die Jagd den Hauptmann und mich zusammengeführt, und die trieben wir bis zuletzt im Verein, wenn ich im Waldhäuschen auf Besuch war.

Ich habe auch niemals irgend jemand auf meinem Wege getroffen, mit dem zu Felde und in den Wald zu gehen eine solche Freude war, wie mit dem Hauptmann. Jäger war er mit Leib und Seele, die größte Anziehung für ihn bei dem Jägerleben war aber doch die Gelegenheit, die sich ihm bot, sich beständig im Freien zu bewegen und dort zu sehen, was nur der Jäger sieht. Ein schöner Sonnenuntergang und ein stürmischer Herbstabend, der Lauf eines Baches durch grüne Wiesen und ein weißer Winterwald, alles konnte ihn in Stimmung versetzen und ihn zu begeisterten Ausrufen veranlassen. Und ein sowohl schneller als auch sicherer Beobachter war er, auch Einzelheiten gegenüber. Er entdeckte sofort eine seltene Pflanze weit da draußen zwischen den Hügeln am Moor, er kannte jeden Vogel im Wald an der Stimme, und es war ihm immer eine besondere Freude, später mit erstaunlicher Frische davon zu erzählen, was er gesehen hatte, und seine Betrachtungen über den großen Haushalt der Natur anzustellen.

So erinnere ich mich, wie er einmal ganz außerordentlich erfüllt war von einem paar Kuckuckseiern, die er im Sommer gefunden hatte. Das eine stammte aus einem Zaunkönignest, das andere aus einem Bachstelzennest, und jedes von ihnen hatte in bezug auf Grundfarbe und Zeichnung vollständig den Eiern des Zaunkönigs beziehungsweise der Bachstelze geglichen. – »Wie geht das nur einmal zu?« sagte er, »Denkt der Kuckuck darüber nach, während er seine Eier legt, und ist die Farbe und die Zeichnung eine Folge des Nachdenkens? – Können Sie mir das sagen? – nein! Oder kann mir ein anderer das sagen? – nein! Überhaupt: wir haben während der letzten hundert Jahre eine unendliche Menge von Erfahrungen und Beobachtungen gemacht, und einen Teil davon haben wir auf beste Weise praktisch ausgenutzt, wissen wir aber im Grunde jetzt mehr als vor tausend Jahren? – nein! wir wissen eine Menge »daß«, aber kein »warum«. Der liebe Gott läßt sich nicht so in die Karten gucken!«

Und wie die Jagd dem Hauptmann, durch das Leben in der freien Luft, das sie mit sich führte, ein Jugendquell war, so war es auch die Jagd, die ihn beständig mit Menschen in Berührung brachte und seinen großen Freundeskreis stets ergänzte, während die alten Bekannten nach und nach wegfielen und zu der »großen Armee« versammelt wurden.

»Ich tue ja nichts,« pflegte er zu sagen, »nichts außer auf Jagd und auf Besuch gehen. Aber glauben Sie nicht auch, daß da jemand sein muß, der nichts tut, jemand, der »Zeit hat« – und Zeit haben heutzutage so wenige – Zeit, Gäste zu sein! In alten Tagen kam hin und wieder ein wandernder Harfenspieler auf die Burg, und er ward immer gut aufgenommen, denn er brachte Neuigkeiten mit, und er sang alte Lieder zu dem Laut der Saiten. So ein vagabundierender Ritter bin ich gewesen, auch ich bin immer gastfrei von guten Menschen empfangen worden – ganz unverschuldet – aber die Menschen sind auch besser – viel besser – als es in der Regel heißt – jedenfalls hier in Jütland!«

Es war wiederum so charakteristisch für den Hauptmann, daß er überall »gute Menschen« fand, wo er auch war, aber das kam ganz einfach daher, daß er nicht nur die Menschen liebte, sondern auch eine ganz seltene Fähigkeit besaß, immer das Gute zu entdecken, und das Schöne an ihnen im Großen wie im Kleinen zu sehen.

Fast immer war derjenige, von dem er gerade sprach, ein »prächtiger Kerl«, eine »brillante Frau« – er sparte weder an Adjektiven im allgemeinen noch an Superlativen – und die Leute konnten seinetwegen Anschauungen haben, welche sie wollten, das focht ihn nichts an; er war tolerant geboren und verständnisvoll geboren. Das Einzige in der Welt, was er nicht verstand, war Rohheit, und nur, wenn das, was ihm selbst heilig war, geradezu verhöhnt oder verspottet wurde, konnte er in Harnisch geraten, und dann nahm er kein Blatt vor den Mund.

Aber wenn ich ihn oft in starken Worten den einen oder den anderen lobpreisen hörte, von denen die wenigsten wohl am Ende Gutes gesprochen haben würden, so mußte ich daran denken, wie oft man diesen oder jenen rühmt, weil er einen ungewöhnlich »scharfen Blick« hat, und damit doch nur meint, daß es dem Betreffenden leicht wird, Fehler zu finden, und leicht wird, zu sehen, was häßlich ist. Und dann fand ich eigentlich, daß der Blick des Hauptmannes im Grunde reichlich so scharf war, wie der der meisten, und ich war nicht weit davon entfernt, ihn darum zu beneiden.


Wenn wir nach beendeter Jagd ins Waldhäuschen zurückkehrten, machte es sich ganz von selbst, daß der Hauptmann das Wort führte. Es war im Laufe des Tages irgend etwas passiert, was ihn an die Vergangenheit erinnerte, an etwas, was er erlebt hatte, und es machte ihm ebensoviel Spaß, zu erzählen, wie es mir Spaß machte, Zuhörer zu sein.

Eines Abends sagte ich zu ihm, er solle doch seine Erinnerungen niederschreiben, sie würden auch wohl andere interessieren als mich.

Davon wollte er indessen nichts hören.

»Sollte ich Bücher schreiben,« rief er aus, »davor bewahre mich der liebe Gott! Ich kann erzählen, aber schreiben, nein – es ist mir seinerzeit schon schwer genug geworden, meine Berichte zusammenzusetzen! Und wenn ich schreiben sollte, so wie ich spreche, wie würde das wohl aussehen, was meinen Sie? Haben Sie denn nicht entdeckt, daß ich hauptsächlich in Parenthesen und Apropos rede? Es würde mir mit meinen Schreibereien akkurat so ergehen, wie mit verschiedenen geschichtlichen Werken und mit den Zeugnisbüchern der Schuljungen: die »Anmerkungen« würden das Artigste werden! – Aber ich könnte wohl Sie und ein paar andere mit Motiven versehen, so daß sowohl Geschichten mit Handlung als mit Ereignissen daraus würden, – das ist heutzutage so selten! – denn etwas erlebt habe ich, und meine Augen habe ich auch gebraucht!


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