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Die Macht des Gebetes


Eine Erzählung.

»Viel vermag das Gebet des Gerechten,
wenn es anhaltend ist.«
Jacob 5, 16.

Die letzte Nacht des alten Jahres war hereingebrochen. In dem niedlichen Städtchen S* waren alle Häuser und Gassen gereinigt, um die erste Stunde des neuen Jahres freundlich aufnehmen zu können.

Aus tausend Fenstern schimmerten brillantene Luster, daß die Straßen so helle wiederschienen, wie von den Strahlen des Tageslichtes. Equipagen rollten von Haus zu Haus. Musik und Champagnergläser tönten aus allen Sälen. Freudengeschrei und Glückwünsche rauschten von den höchsten Herrschaften herab bis in die ungewöhnlich hell erleuchtete Kammer des Portiers, der sich bei solcher Gelegenheit auch gütlich thun wollte. Kanonen donnerten vom Walle her. Trompeten tönten vom Thurme. Und auf dem nahen Berge flogen Raketen, wie Feuerschnüre.

Am prächtigsten war das Haus des Bürgermeisters der Stadt beleuchtet. Denn er galt allgemein als der Reichste und Wohlhabendste auf zwanzig Meilen. Der alte Herr sparte bei solchen Gelegenheiten keinen Aufwand, er mochte gelten, was er wollte. Denn er fand dabei unter seinen Gästen dunkle Seelen genug, die seinem falschen Ehrgeize auf alle mögliche Weise zu schmeicheln wußten.

Die mannigfaltigsten Leckerbissen, die den Geschmack reizen konnten, die edelsten Getränke aus Tokay und Malaga, aus Bordeaux und Champagne belagerten die mit ausländischen, für schweres Gold gekauften Blumen geschmückte Tafel. –

Freudig und jubelnd tranken die Gäste aus goldverbrämten Crystallgläsern dem letzten zwölfmaligen Schlage des alten Jahres und der ersten Minute des neuen entgegen. Der Bürgermeister schien sich ganz verloren zu haben in der Freude über den Besitz so vieler hohen Freunde. Er trank und trank – bis der Geist des Weines, wie ein Nebel, um seine Schläfen flatterte, und ihn endlich dreist auf's Sopha niederwarf. –

Nun war das neue Jahr eingegangen. Satt des Schmausens und Glückwünschens fuhren die Herrschaften nach Hause. Die Beleuchtung der Paläste verschwand. Die Säle wurden allmählig leer – die Strassen ruhig. Nur hie und da saßen noch Zecher beisammen, die das neue Jahr so toll und voll beginnen wollten, wie sie schon manches alte geendet. –


Aber siehe! Am Ende der Stadt flimmerte in einer ärmlichen, an die Mauer angebauten Hütte noch ein Lichtlein.

Der Nachtwächter, der vorüberging, warf einen traurigen Blick hinein – und sagte zu sich: »Da helfe der Himmel, wenn die Menschen nicht mehr helfen wollen. Droben an der Hauptstrasse in des Bürgermeisters Haus wird gezecht und gejubelt. Hartherziger Mann – und hier schmachten die, so dir am nächsten gehen sollen. Das ist nicht recht, gewiß, es ist nicht recht – so wahr die Sterne am Himmel funkeln, es ist nicht recht! – Und das Gericht Gottes? – Armer Bürgermeister, mir schaudert für dich, wenn ich an das Gericht Gottes denke! Ich denke es mir so, wie die heutige Nacht – so schauerlich und doch schön – jetzt wird das Erdbeben beginnen – die Sterne werden vom Himmel fallen – und an einem Neujahrsmorgen wird das Gericht gehalten. Dann hat das Zechen ein Ende! Denkst du wohl auch daran, Bürgermeister? Und wenn dir dann die Armen da d'rinnen in der Hütte, die du hier verschmachten ließest, jenseits begegnen? – Still, still! – Wie schauerlich fährt's mir durch alle Glieder! – Warum denk' ich aber auch an den Bürgermeister? Hat nicht ein Jeder mit sich selbst zu thun? – Herr, sei du mir gnädig im Gerichte!«

So sprach der brave alte Mann mit sich selbst, und rief mit ehrwürdiger, feierlicher Stimme, gerade an der Hütte vorüber, seinen frommen Stundenruf:

»Gelobt sei Jesus Christ,
Der unser Wächter ist. –
Lobet ihn allezeit
Von nun an bis in Ewigkeit!
Gute Nacht! Gute Nacht!« –


Allein das war keine gute Nacht für die Leute im Hüttchen. Das Lichtlein – ach, du mein Gott! – es war ein Sterbelicht! –

Anna, die fromme, treue, sorgfältige Gattin, Anna, das Bild der lieblichsten, zärtlichsten Mutter, Anna, die folgsamste, kindlichste Tochter – saß todtenbleich und weinend am Sterbebette ihres geliebten Gatten.

Innerer Gram und das rastlose Mühen, den lieben Seinigen so viel Brod zu verschaffen, daß sie den Hunger kärglich stillen könnten, hatten den jungen Mann schon vor einem halben Jahre auf das Krankenlager geworfen. Wegen Mangel an ärztlicher Hilfe und kräftiger Nahrung verschlimmerte sich die Krankheit mit jedem Tage – und ging in ein Schleichfieber über. Diese Nacht schien seine letzte zu sein. –

Wem ein menschliches Gefühl im Herzen schlägt, der kann sich den Schmerz der armen Anna lebendig vorstellen. D'rinnen im Bette der sterbende Gatte – weinend an ihren Schooß gelehnt ihr einziges liebes Knäblein von sechs Jahren – neben ihr in den Ueberresten eines alten Lehnstuhles ihr siebenzigjähriger, blinder Vater. – Ach! welch' ein schrecklicher Anfang des neuen Jahres! –

Theobald – so hieß der fromme Sterbende – richtete sich mit seiner letzten Kraft im Bette auf, und sah nach der alten Wanduhr, wie der Zeiger stehe. Und da er mit aller Anstrengung eines matten Auges eben erkennen konnte, daß bald die erste Stunde des neuen Jahres vorüber, bildete sich auf seinen Lippen ein wehmüthiges Lächeln. Dann sprach er mit zitternder Stimme: »Ich werde die Sonne des neuen Jahres nicht mehr aufgehen sehen! – Gottes allweiser Vorsicht gefällt es, mich aus diesem Elende abzurufen, meinen Kummer, mein armseliges Leben zu enden! Weinet nicht zu sehr um mich, ihr Lieben! – Denkt, daß es mir dort in der himmlischen Heimath unendlich besser ergehen wird, als ich es mir auf Erde je wünschen konnte! Vergönnet mir jene Seligkeit! Und wenn ich nun bald erlöset bin, will ich den lieben Gott bitten, daß er euch in Kurzem auch dahin abrufe, um uns auf ewig zu vereinigen. Ja, daß er euch recht bald abrufe aus diesem Elende, aus dieser Dürftigkeit! Denn nur der Gedanke, daß ich euch so hilflos und arm zurücklasse, könnte mir das Sterben schwer machen. Doch, wenn ich erwäge, daß wir unsere Pflichten stets treulich erfüllten, daß wir an unserer Armuth, an unserm Jammer nicht selbst die Schuld tragen – so kann ich getrost und mit dem zuversichtlichen Gedanken entschlummern, Gott werde auch fürderhin für euch sorgen.« –

»Und nun komm, liebes, treues Weib, gute Anna! Komm, Heinrich, mein einziger Sohn! Und ihr, alter Konrad, armer, blinder Vater meiner Anna, kommt, knieet nieder an meinem Bette, und laßt euch noch einmal segnen, bevor ich sterbe. Ich will für euch bitten! Betet auch ihr für mich! Haltet an im Gebete!« –

Schluchzend führte Anna ihren blinden Vater und ihr Söhnlein zum Bette des Sterbenden. Sie knieten nieder, und – er segnete sie. –

Und ehe die Sonne des neuen Jahres heraufgestiegen war, lag er blaß und entseelt, doch mit der ruhigen Miene eines Frommverstorbenen auf seinem Leichenlager. –


So laut und lärmvoll der erste Tag des neuen Jahres auf den Strassen und in den öffentlichen Lusthäusern der Stadt gefeiert wurde – so wehemüthig und traurig vergingen die Stunden in der armen Hütte an der Stadtmauer. Und die tiefe Stille, die darinnen herrschte, schien den Vorübergehenden zu sagen: »Hier harret eine menschliche Hülle des Augenblick's, da man sie der letzten Ruhe unter der Erde anheimgibt!« –

Der verstorbene Theobald war der einzige Sohn des reichen, angesehenen Bürgermeisters der Stadt, der gestern so viele Gäste in seinem beleuchteten Palaste üppig bewirthete. Er hatte die sittsame und bescheidene, aber arme und ungekannte Anna zur Gattin genommen. Und darum hatte ihn der Vater enterbt und verstossen.

Theobald aber ertrug diese Schmach mit männlicher Geduld und Gelassenheit – und betete dennoch mit Gattin und Kind an jedem Morgen und an jedem Abende – hinauf zum Himmel um Heil und Wohl für seinen Vater. –

Und wenn er es oft gewagt hatte, bei der Abenddämmerung in das Haus des Bürgermeisters zu schleichen, da ihn die Noth am fürchterlichsten drückte – und wenn er auf den Knieen in dessen Zimmer gekrochen war, um für sich und die Seinigen zu flehen – und wenn ihm der Harte den Rücken gewiesen, und mit abgewandter Miene ihn hinausgestoßen hatte – da betete er dennoch, wenn er nach Hause kam, mit der weinenden Gattin und mit dem hungernden Kinde – hinauf zum Himmel um Heil und Wohl für seinen Vater. –


Der Abend des ersten Tages vom neuen Jahre zog sich allmählig hin über die Stadt – und der Geistliche, der Theobalds Leiche zur Erde segnen sollte, trat mit den vier schwarzen Trägern und mit einigen armen Bekannten des Verstorbenen in die Hütte des größten Jammers. –

Da der kalte Wintermond über das Stadtthor heraufkam, wanderte der Trauerzug hinaus in's Freie den einsamen Gang nach dem Friedhofe.

Heinrich führte den blinden Konrad nach der Bahre her, und hinter diesen jammerte die unglückliche Anna, von zwei alten Trauerweibern geführt. – Die Gebete des Priesters und das Schluchzen der Verlassenen tönten gar schauerlich in das klägliche Geläute des Friedhofglöckleins bei dem letzten Dämmerungsscheine der traurigen Winterlandschaft.

Die Leiche war in die Erde gesenkt, und der Todtengräber hatte das Grab wieder geschlossen. Der Priester war mit seinen Grabgebeten zu Ende, und wanderte mit den Wenigen vom Zuge und mit den Trägern in die Stadt zurück.

Da lag noch in der schaurigen Winterkälte die unglückliche Anna mit ihrem blinden Vater am frischen Grabe ihres verstorbenen Mannes, und wußte nicht, was sie jetzt beginnen sollte. – Aber der kleine Heinrich kniete über den gefrornen Erdschollen, erhob die von Kälte erstarrten Händlein, und sprach mit kindlicher nachdrucksvoller Stimme:

»Bete nur in frommen Weisen!
      Fleh' zum Herrn in deiner Angst!
Gnädig will er sich erweisen,
      So du brünstig sein verlangst!«

Gott wollte, daß zu eben der Zeit der Weg den Bürgermeister der Stadt über den Friedhof führte. Er sah den Knaben die Hände falten, und hörte ihn beten. – Ein Strahl der Rührung fuhr mit einem Male durch sein hartes Herz. Er trat hinzu, und fragte: »Wem gehört der betende Knabe?« –

»Er ist,« erwiederte zitternd der blinde Konrad, »er ist das Kind von dem Sohne des Bürgermeisters der Stadt!« –

»Wie?« fuhr der Bürgermeister erschüttert zusammen, »Und wo ist der Sohn?« –

»Der ruht da darinnen!« sagte der Blinde weinend: »Gott hat seinen Jammer geendet!« – –

»O mein Sohn! mein Sohn!« rief der Bürgermeister, und sank auf Theobalds Grab, »O was hab' ich gethan! Was hab' ich gethan! – Dieß ist dein Knabe! Dieß dein Weib! – Und hier, der blinde Vater deines Weibes! – O Gott! o Gott! Was hab' ich gethan!« –

Im unsäglichsten Schmerze und in der schaurigen Kälte lag der Bürgermeister auf der Graberde seines Sohnes, bis seine Diener, die ihn lange vergebens gesucht hatten, endlich herbeikamen, und ihn nach Hause führten.

»O kommt!« rief er, und faßte zugleich die weinende Anna, und den blinden Konrad, und den betenden Heinrich an den Armen, »Kommt mit mir! Alles, was ich habe, soll euer sein! Und weil ich ihm, der nun hier unten schlummert, nichts mehr thun kann, so will ich für euch väterlich sorgen. Das kindliche Gebet des Knaben hat mich gerührt – und mein Herz ist weich geworden. Unendlich groß ist die Macht des Gebetes!« –

Und er führte alle Drei in derselben Stunde noch in sein Haus ein. –


Der Nachtwächter aber, der den Leichenzug begleitet, und die darauffolgende Grabscene von einer Ecke des Friedhofes aus mit angesehen und gehört hatte – hielt dießmal, da die erste Mitternacht des neuen Jahres von den Thürmen der Stadt tönte – vor des Bürgermeisters Haus, und rief folgenden Stundenruf:

»O glücklich ist derjen'ge Mann,
Den das Gebet noch rühren kann:
Betet und seid auf der Hut,
Daß euch der Böse nicht Schaden thut! –
Gelobt sei Jesus Christ,
Der unser Wächter ist!
Lobet ihn allezeit
Von nun an bis in Ewigkeit!
Gute Nacht! Gute Nacht!«

Und Ruhe und Zufriedenheit kamen von nun an in des Bürgermeisters Gewissen, und in sein Haus.



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