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Mein Freund Fräneli Thaller aus Solothurn erzählte mir vor einem alten Bilde:
»Vom Trödler Hirschl am Hafnersteg habe ich das Bild der kleinen Marquise Blanchefleure gekauft, die mit dem größten Teile des französischen Adels im Jahre 1792 taktlosen Angedenkens ihren reizenden Kaprizenkopf verlor. Hier auf dem Bilde hat sie ihn noch; hat eine hohe Frisur und hohe, drollige erstaunte Augenbrauen; – wie mit Watteaus Pinsel gezogen – und ein belustigt schauendes Gesichtlein. Sie ist reizend und ich sehne mich nach ihr.
Sie wissen noch nichts von der kleinen Marquise Blanchefleure, die in allen Dingen recht hatte? Sie wissen noch nichts von der ridikülen Leidenschaft meines Urgroßvaters, des Schweizers Thaller, dessen Emailbild jetzt unter dem ihren hängt, und nichts von der Taktlosigkeit der Jakobiner, dieser Menschen ohne Geschmack und Grazie! Nicht?
Nun, Marquise Blanchefleure hatte in allen Dingen recht. Sie hatte recht, daß sie als Ducheßlein auf die Welt kam: entfernt savoyisches Blut, also etwas weit hinten in der Rangliste von Versailles, aber doch eine kleine Herzogin, welche dereinst des Königs lächelndsten Marquis erhaschen würde. Sie hatte recht, daß sie ein besseres Wesen war, wie alle übrigen Geschöpfe auf ihres Vaters Schloß, Dorf und Landschaft: Musik- und Tanzlehrer, Verwalter, Bauer, Magd, Esel, Ochs, Knecht und alles, was sein war. Sie hatte recht, von der tiefgedrückten Not leibeigener Bauern zu leben. Denn sie lebte lächelnd und trällernd und alle Welt verneigte sich tief vor ihr, ihrem Glanz und ihrer Schönheit. Wie wenn der Wind über Kornfelder geht, so neigten sich große Versammlungen voll Menschen vor ihr: compliments en mille. Und sie hatte recht, den Marquis Massimel de la Réole de Courtroy zu heiraten, über dessen Beschränktheit der Hof so sehr lachte, daß er dem Könige unentbehrlich wurde und bei jedem Lever, zur Erzeugung guter Morgenlaune, aufwarten mußte. Liebhaber wußte sie genug, aber Männer, welche so reich waren, sich eine Blanchefleure mit allen ihren Wünschen und Launen zu gönnen, davon gab es sehr wenige. So kam sie an den Hof und auch da behielt sie, wie gewohnt, sogar vor dem Könige recht.
Ihre lächelnde Kommandogewalt zeigt am schönsten folgender Fall:
Man weiß, daß es in der französischen Armee verboten war, bei Todesstrafe! – in Schweizer Regimentern den Kuhreihen zu blasen oder zu singen; weil dann die ungeschickten Kinder der deutschen Alpen herdenweise davonliefen oder vor Heimweh starben.
Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trau'ren an …
Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt ich hinüber schwimmen, –
Das ging nicht an.
Und mein Urgroßvater Primus Thaller hatte den Kuhreihen mitten in Paris gesungen! Auf dem Hofe der Schweizer Kaserne war er gestanden, im gelben Sand, auf dem die Abendsonne glühte und die Soldaten sich zum Ausgang in die Stadt rüsteten. Zugegangen war das auf solche Weise: Er hatte von seinem, um sechs Jahre jüngeren Bruder Quintus, Tambour beim Regiment »Prince d'Orleans«, einen Brief aus Amerika erhalten, den Brief eines achtzehnjährigen Jungen, der von Lafayette, Washington, Freiheit, Bürgertrotz und Bürgerstolz schrieb, so schön und dumm und heilig, wie das überhaupt nur ein achtzehnjähriger Junge zustande bringt. Der junge Quintus schrieb, daß die Regimenter der Lilie heimkehren würden; über ihren Häuptern aber würden unsichtbar feurige Zungen mitfahren, welche in Frankreich mit riesigem Loderbrande emporflammen müßten; große Flammenzungen, große Worte:
Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!
Große Worte? Freiheit, Gleichheit? – Da gedachte mein armer, sehnsüchtiger Großvater, daß da und dort in seiner Heimat dergleichen schon seit Jahrhunderten ohne große Worte zu Hause war … in Appenzell etwa, von wo er gekommen war, um Ehre und Geld zu verdienen. Und er gedachte, daß man aus Amerika als gewaltig neue Sache die Menschensatzung wie eine Welterstaunlichkeit über das Meer bringen mußte, da sie doch zu Hause lange still und ganz vernünftlich ihr verständiges Blütchen getrieben hatte. Es könnten sie doch nur jene brauchen, denen sie eingewachsen war: stille Leute mit Schranken ringsum. Das große Menschengesetz ist weder Rausch noch großer Jubilo: es ist ein ehrlich kramendes Abwägen; es soll für die unendliche Menge sein, die Fleisch, Brot, Zimmer, Kammer und Küche, ein bißchen Sonne und ein bißchen Grünzeug, aber viel Arbeit braucht, damit die Mordbestie gut und tüchtig schlafe.
Warum diese Genies ihre Gesetze nur immer wieder für Genies machen?
In Appenzell zu Hause hatten sie schon lange das, wovon in Paris erst jetzt scheuheimlich geraunt wurde. Er dachte an seine bedächtigen Onkel, an ihre Kühe und Kälber, an ihre Felder und Alpen. Es ist doch der Menschheit naturangemessenes Paradies, meine liebe Schwyz, hatte der Sergeant gedacht – – – und, ganz in tiefen Gedanken verloren, den Kuhreihen gesungen.
Da war es aus und geschehen.
Denn die amerikanische Kunde hatte viel ärger in den Herzen gehauset, als mein braver Urgroßvater Primus – vorn Ehrlichkeit und hinten Zopf – sich geträumt, und wenn's nicht schlimmere Leute getan hätten, so hätte die Pariser weibliche Dienstbotenschaft allein schon ihre Liebschaft aus der Schweizer Kaserne verdorben. Die Dienstbotenschaft war ein gutes Teil der großen Hefe, durch welche die große Revolution gärte.
Die Disziplin hatte längst schon gelitten. Es waren Landsknechtsnaturen im Regiment und ein Dutzend davon fielen in das sehnsuchtsvolle Piano meines Urgroßvaters mit trotzigen Kräften ein, so daß der Kuhreihen weithin erscholl. Es hatte ihn schon seit Jahrzehnten keiner mehr gesungen und war also auch keiner bestraft worden. Nun aber war er ganz anders erklungen als ehedem. Nicht als der große Reißaus! Nicht als das allmächtige Heimweh! Nein, bloß als Trutzlied auf ein zopfiges Verbot. Sie jubelten und jauchzten den Kuhreihen, sie ahmten das Almhorn durch Nase und Kehle nach und hatten großen Jux: zehn oder zwölfe. Aber obgleich mein Großvater davongeschlichen war, als er sah, daß man ihm die Stimmung verdarb, und obgleich nur ein paar dumme Unterwaldner, Schwyzer und Appenzeller Kühbuben Heimweh davon bekamen und desertierten, – er war doch der erste gewesen und mußte als dreizehnter gelten. Man sperrte ihn ein; nach dem Gesetz war er dem Tode verfallen.
Nun war die Todesstrafe so ziemlich das einzige, was den entferntesten Untertan sogleich und direktement mit dem Könige verband – – ich weiß nicht recht, ob es heute nicht am Ende in euern Monarchien auch so ist?
Der König sollte das seltsame, veraltete, kriegsrechtliche Urteil bestätigen. Er war dick, behäbig und ehrlich und dachte bei einer der nachdenklichen Handlungen, welche zum lever gehörten, ernsthaft über das Schicksal meines Urgroßvaters Primus nach. Als ihm dabei der Marquis Massimel de la Réole de Courtroy glückselig lächelnd nahe kam, fragte er ihn ziemlich einsilbig: Was soll man nun mit diesem Primus machen? Hat eine alte Vieherei ( bêtise) neu zur Mode gebracht …
Der Marquis wußte gar nicht, worum es sich handelte, sagte also geistesschnell: Wollen Sire mir, da es sich um Modesachen handelt, gestatten, meine Frau zu befragen?
Der ganze Hof lachte und Seine bequeme Majestät lächelte; sie hatte Aufschub, daher war es ihr genehm und so wurde das Schicksal meines Urgroßvaters in die reizenden Hände der Marquise Blanchefleure gelegt, welche zur gleichen Zeit an der Morgenhaube Marie Antoinettes nestelten. Das Lever der entzückend leichtfertigen Königin begann eine ganze Stunde später, aber der Marquis wurde als Mann seiner Frau und Bote des Königs sogleich vorgelassen. Er hatte sich inzwischen über den Fall Primus Thaller orientiert und trug ihn den beiden Damen vor.
Madame Blanchefleure klatschte entzückt in die Hände. Ein Schweizer! Wie reizend! Ich erbitte ihn mir von der schönen Majestät Frankreichs, damit er mir auf meinem Gut in La Réole eine Alpe mit scheckigen Kühen herrichtet.
Die Königin lachte und sagte zu.
»Er wird echte Kuhglocken besorgen müssen und einen grauen Tuchrock mit roter Weste, blauen Strümpfen, Schäferhut und himmelblauen Bändern tragen müssen. Im Juni besucht unsere königliche Majestät unser Gut und da wird er uns auf einer reizenden Alpe, die wir inzwischen erbaut haben werden, den fatalen Kuhreihen zu aller Vergnügen vorsingen müssen. Nicht wahr, schöne Majestät?«
Wieder lachte die fröhliche, leichtsinnige Königin, stimmte zu und der König begnadigte meinen Urgroßvater mit aller Gravität, welche zu einer so erfreulichen Angelegenheit von Gerichts wegen gehört.
Dann hatte Herr Primus Audienz bei Madame Blanchefleure, um sich für Leben und Freiheit zu bedanken.
Zum Soldaten hatte er sich unbrauchbar erwiesen, der Verführer aus spießbürgerlicher Sehnsucht; er war ausgestoßen worden und kam schon in appenzellerisch angehauchtem Bürgerkleide mit rundem Hut zu ihr. Madame Blanchefleure hatte vor Neugierde und Aufregung über die Sensation kalte Hände und heiße Wangen bekommen. Als das erbärmlich schlichte, graue Ereignis in Gestalt des armen Jungen eingelassen wurde, stand ihr der Atem still. Sie hatte sich, weiß Gott was für einen Gewaltigen vorgestellt, einen Aufrührer und Verführer des Volkes, dem die Rede in Flammenströmen aus dem Munde fuhr, und nun kam ein Gesetzbuch bürgerlicher Rechte herein: brav, still und ehrlich, ein rechter: Gib mir das, so hast du das.
Ahnt Ihr aber, was ihm Madame Blanchefleure gab?
Als er eintrat und ihr treuherzig sagte: Es war schön von Ihnen, Gnädigste, daß Sie einem wildfremden armen Kerl Ihr gutes Herz zuwandten, da betrachtete sie, indem an seiner Kleidung und Gestalt wenig Erstaunliches war, sein Antlitz: er hatte unsere grauen, scharfen Augen, ein schmales, ehrliches Gesicht, hohe Schläfen, Hagernase, und nur die Jugend vermochte etwas Weichheit über diese unbequeme Catohaftigkeit zu gießen. Vor allem aber hatte er jenes ruhige Zentrum der Welt mitten in sich, welches den rechten Mann nicht einmal mit neun Maß Wein schwanken läßt, – nicht einmal im Verliebtsein, nicht einmal im politischen Kampf gewaltiger Zeiten. Es ist wahr, er stand wie das Symbol der Sicherheit vor ihr auf beiden gespreizten Beinen zugleich. Alte Gewohnheit der Schweizer, vererbt durch vieles Raufen.
Sie aber sah sich dieses unendlich sichere Antlitz an und dachte bei sich: Ich werde ihn dazu bringen, von mir zu sagen: elle me fait troubler.
Das war der Standpunkt, von dem aus sie Männer behandelte.
»Aber hören Sie,« begann sie verwundert. »Sie? Sie haben gesungen? Sie sehen doch ganz anders aus.«
»Ich kann auch nicht singen. Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken.«
»Wie haben Sie dann Ihren ranz de vache singen können?«
»Das war nur so – von innen!«
»Aus Heimweh wohl?«
»Ich hatte nur daran gedacht, daß Appenzell besser sei als Paris.«
»Mein Gott, und Sie wollen fort von hier? Was haben wir Ihnen getan? Es ist kränkend. Wir, wir lieben die Schweizer, sie sind uns wie ein ehrlicher Spiegel, in dem wir uns sehen können, wie wir sind. O bitte, sagen Sie mir eine Grobheit!«
»Ich kann nicht. Ich kenne Sie nicht näher.«
»O, so kennen Sie auch Paris nicht näher. Wie ist das nur möglich, daß man Sie hier nicht geliebt hat? In Paris wird jedermann von irgend jemand geliebt. Sogar die Soldaten haben ihre Mädchen. Wie konnte es geschehen, daß unsere hübschen Kinder und nun gar unsere Frauen bei Ihnen noch nicht für Paris gebeten haben? Sie mußten doch einen Schatz haben? Oder mehrere? Zuviele wohl gar?«
Ach, mein guter Großvater hatte in Paris noch keinen Schatz, trotzdem, daß er Sergeant war. Er hatte sich immer eine mit recht lichtem Angesicht gewünscht und die gab es dort nicht; denn es mußte ein einziger Sonnenschein sein. Die Augen der Pariserinnen sind zwinkernde Sternlein bei Nacht über verstohlenen Gassenwinkeln; sie locken um die Ecke. Mein Urahn Primus ging immer geradeaus.
Das sagte er ihr; freilich in der viel besseren Sprache, die mein ehrlicher Urgroßvater sprach.
»Ja mein Gott,« sagte Blanchefleure, »wie soll man's Ihnen recht machen? Ich hätte es vielleicht versucht, aber ich bin verheiratet.«
Da hob der arme Primus seine verwunderten grauen Augen empor, um sich einmal hinter all den erstaunlichen Dingen, Seide, Straußenfeder, Reifrock und dem vergoldeten Schnörkelstuhl das Frauenzimmer anzusehen, das dahinter steckte und also sprach. Und er schaute tief, ehrlich und ahnungslos in ein zärtliches, leuchtendes Gesichtlein voll ungetrübter Freude an der hübschen Opernszene, die es da hervorgeplaudert hatte.
Er wurde ganz traurig, daß sie schon verheiratet war. Denn sie war wirklich ein einziger Sonnenschein.
»Sagen Sie denn gar nichts?« bat Blanchefleure.
»Krüzigts Herrgöttli,« staunte der arme Primus. »Die hättets just mit mir versuchen wollen?«
Wie? fragte sie belustigt.
Da sprach er wieder französisch. Sie möge keinen Spaß mit einem armen Teufel machen.
»Aber nein,« lachte sie. »Ich habe nur sagen wollen, daß es ein rechtes Unglück mit uns beiden ist. Denken Sie sich, ich habe auch noch keinen Geliebten und bin ganz so verlassen wie Sie.«
»Aber Sie haben doch den lustigen Marquis?«
»An den bin ich verheiratet worden,« weinte sie beinahe, so sehr glaubte sie selbst an ihr Unglück. »Ahnen Sie denn, Sie aus der Schweiz, wo jeder nach dem Herzen wählen kann, was es heißt, als savoyische Prinzessin mühsam, aber genau nach Taxwert losgeschlagen zu werden?«
»Ei, ja;« meinte Primus Thaller. »Bei uns in Appenzell gibt kein Bauer von fünfzig Kühen seine Dirn einem schlechtern. Das ist Notwehr der Familie.«
»Gegen wen denn?«
»Gegens Armwerden.«
»Sie sind wohl sehr arm?«
»Ich wäre sonst nicht zu den Soldaten gelaufen.«
Das war der Augenblick, wo das Marquiselein die Bitte vorbrachte, Herr Primus möge ihr die Stallwirtschaft in La Réole nach Appenzeller Muster einrichten.
Mein Großvater drehte den runden Hut in den Händen und kämpfte den schwersten Kampf seines Lebens. Sein wackeres Schweizergemüt lag ganz und gar in der Frage, wieviel Lohn er bekommen sollte. Zweimal setzte er an, schaute in das Sonnengesichtlein und brachte die Geldfrage, die einzig ehrliche in der Welt, nicht über die Lippen. Rundweg sagte er zu.
Sogar die Schweizer Rechenkunst hatte er in dieser süßen Audienz verlernt.
Er war in einer Viertelstunde verdorben worden, zu Paris, am 1. Mai des Jahres 1789.
Es war ein Glück, daß er niemals nach La Réole kam. Dort wäre eine stille Tragödie über ihn hinweggeschritten, an der niemand Freude gehabt hätte, als Madame Blanchefleure.
Die abscheulich große Revolution verhinderte Madames reizenden kleinen Plan.
Herr Marquis Massimel de la Réole de Courtroy genoß die chevalereske Ehre, daß ihm unmittelbar nach Seiner bequemen Majestät der Kopf abgeschlagen wurde, welcher Umstand ihn trotz aller Zweifel der Spötter das Leben kostete, – womit ein tiefer Beweis für die Gleichheit aller Menschen erbracht war –: und das wollte die Revolution.
Madame Blanchefleure wurde trotz der süßesten Tränen mit hundert Freunden und Freundinnen des goldenen Gnadenbrunnens von Versailles zur Untersuchungshaft in die Keller des Temple eingeschlossen, wo außer unglaublich zahlreicher Adelsgesellschaft das erfolgreichste geistige Frankreich versammelt war: Professoren, Akademiker, Modemaler und entzückende Dichter. Das erlesenste Frankreich. Ein Heer von guter Geburt, von Karriere, gefährlicher Herrschaftskunde, aber auch (wenn die Revolution Augen für so etwas gehabt hätte) eine Versammlung fast sämtlichen in Frankreich zurzeit aufbringbaren Geistes, von Grazie, Lebensart, feiner Liebenswürdigkeit und göttlicher Lebensüberlegenheit.
Es war ein leuchtender Sieg über den Nationalkonvent, wie man sich hier unterhielt und wie man sterben ging. Da war Madame Blanchefleure nun zu Hause wie ein Schmetterling, den man bloß aus kalter Wintersnot ins Gewächshaus gebracht hätte. Sie war der Stolz, die Erhebung und das Entzücken der gesamten Adelswelt, welche hier das Unglaubliche zuwege brachte, mit graziöser Heiterkeit mutig zu sein, – was sonst wenigen gelingt. Der Todesmut verwandelt den gewöhnlichen Menschen immer gleich in eine Tragödienfigur. Jene feinst konstruierten Leute aller Zeiten aber blieben beim geliebten Lustspiel. Sie starben stilgerecht, en rococo, wie sie gelebt.
Und nun mein Urahn Primus Thaller!
Der hatte seit jenem 1. Mai die kleine Blanchefleure mit ihrem besonnten Blumenantlitz nicht vergessen können. Zuerst dachte er, es sei Dankbarkeit und trug ihr Bild in sich herum, wie ein selbstübertäuschter Mönch jenes der Himmelsjungfrau.
Die Revolution fegte mit dem impertinent heiteren Versailles und dem Großadelsbesitz jede Hoffnung hinweg, in La Réole Milchmaier zu werden; aber sie erinnerte sich des guten Bürgers Primus Thaller, der beinahe den Tod durch die königlichen Kriegsartikel erlitten hätte. So wurde er Offizier; Kapitän vom Fleck weg. Er kam in ein Regiment, dessen gesamtes adeliges Korps zerstoben war und in dem an den Offiziersstellen Branntweinschänker, Laufburschen oder sonst welche Gamins, kurz die ganzen talentierten Nichtsnutzigkeiten festsaßen, welche, durch die Revolution emporgewühlt, die großen Siege der Republik erfochten.
Es behagte ihm nicht sehr, aber er verzehrte seine Gage und das gefiel ihm. Immer aber gedachte er: wo mag die kleine Blanchefleure sein?
Da erfuhr er, daß man ihren Herrn Marquis-Gemahl geköpft habe und daß die kleine Witwe im Temple vielleicht gar auf ein ähnliches Ende warte.
Ach, ging da ein Frühlingsausbruch von Freiheiten in seiner Brust empor! Gleich wußte er jetzt, daß er verliebt war. Jetzt ist sie Wittib, jetzt ist sie ärmer als eine Appenzeller Kuhdirn, jetzt kannst du sie heiraten. Diese Logik stieß sich so überraschend in ihm empor, wie ein Maulwurfshaufen in beruhigt summender Wiese.
Sein Bruder vom ehemaligen Regiment Prince d'Orléans hatte Wache im Temple; zu dem lief er hin. »Du Quinteli! Ist bei euch nicht ein junges Frauenzimmer eingesperrt, mit einem geblümten Seidenrock, so breit wie ein Imblikorb, und drei Straußfedern in den Haaren?‹
»Nein,« sagte der Leutnant Quintus, früher Tambour. »So welche haben wir nicht, sie müßte das Röckli am End ausgezogen haben. Wie heißt sie denn?«
Da sagte Primus den Namen und Quintus ärgerte sich. »Dieselbe kenn ich gar wohl«, schimpfte er. »Ein mudelsauberes Frauenzimmer, die mir neulich gesagt hätt', die Amerikaner verstünden nichts von unseren Feinheiten, und wie ich ihr unter das Kinn habe greifen wollen und gemeint habe, wir verstünden doch ein bißchen davon, hat sie gesagt: Der Mensch hat Augen, um sich zu freuen; selbst der Hund hat noch seine Nase, ich sei noch viel weiter dahinter: ein grauslicher Schneck, wenn ich überall nur gleich hintasten müsse, um was Hübsches zu begreifen. Aus Amerika käme nichts Feines.«
Eben wurde ein Herr Vicque d'Azyr in den Temple gebracht. Ganz nachdenklich hatte er sich von den Soldaten bis hierher führen lassen, jetzt hörte er das Gespräch der beiden Brüder und sagte: »Das war richtig und geht noch tiefer. Man kann herzlich diese französische Revolution verachten, aber vor der amerikanischen, vernünftigen Bürgerkälte darf man Angst haben. Ein feiner Instinkt könnte prophezeien, meine Herren: Die Kultur Europas stirbt soeben an der Vernunft der Vereinigten Staaten. Wir werden seit eurer mißglückten Nachahmung eine geistige Kolonie Amerikas sein; nicht viel besser, als Griechenland seit Mummius dem unfeinen Rom gehörte. Unsere Künstler werden wie jene alten nur mehr zerbrochene, sehnsüchtige Flügel regen, aber nichts wird ihnen mehr glücken. Die Amerikaner aber werden mit heiliger Scheu die Ruinen unserer Kultur besuchen, die viel zu fein für sie ist.
Europa war zum letzten Male originell vor dem Mai 1789.«
So sagte er und dann stießen die Soldaten Herrn Vicque d'Azyr vorwärts. »Ich gehe schon ohne Hausknechtwink, meine Freunde,« sagte er mild und verschwand in dem Keller des Temple.
»Was meint der Narr?« fragte Quintus.
Primus grübelte, begriff aber auch nichts Rechtes. Dann bat er den Bruder, ihm Zwiesprach mit der kleinen Bürgerin Witwe Massimel zu verschaffen.
»Du kannst hinuntergehen und sie im Keller besuchen,« lachte Quintus. »Herauslassen darf ich niemand.« Und Primus Thaller stieg zu den Gewölben hinab; die Wachen ließen ihn in den großen, feuchten Saal, in dem sich nur Kröten und Kellerasseln wohl zu fühlen vermocht hätten.
Er aber stand in Staunen gebannt, denn alle Phantasie ward aufs Haupt geschlagen bei dem, was hier geschah.
Eine ganz geheime, leise Musik von Violine, Flöte, Kniegeige und Baß schmeichelte sich an den schimmelfeuchten Wölbungen empor wie ein Kätzlein an seidenen Kleidern. Man spielte auf eingeschmuggelten Instrumenten! Die Violine hatte Herr Miradoux, erster Geiger des königlichen Opernhauses, die Flöte der Vicomte Chantigny, dessen Atem so viel Wunder zaubern konnte wie der Hauch des Westwindes. Mit der Bratsche war der Straßburger Domherr Avenarius verwachsen und den Kontrabaß spielte mit nachdenklicher Grundgriffigkeit der berühmte Abbé Mervioli aus Florenz. Silberne Bestechung vermochte selbst in den Zeiten der Republik goldenen Wohllaut in die Keller des Temple zu bringen.
Mozarts kleine Nachtmusik!!
Sie wirkte Wunder, hier in dämmerndem Dunkel … Die alten Schloßbrunnen quollen und schluchzten in der Fliedernacht, die Paläste standen in alter, reicher Pracht und lauschten gnädig auf den liebenswürdigen Einfall des Salzburger Herrn Musikus. Die alte, stolze Zeit war hier versammelt, neu hervorgezaubert trotz Carmagnole und Marseillaise.
Rundum saßen Herren in Seidenstrümpfen und Damen mit Spitzentüchern, elegant in all der entsetzlichen Notdurft dessen, was man ihnen, den gefangenen Opfern der Volksrache, gelassen hatte. Knie über Knie geschlagen die Herren, graziöse Köpfchen in schlanke Hände gelegt die Damen, eine einzige große Erlauchtheit.
Und darüber hin schmeichelte wie Weihrauchwolken Wolfgang Amadés wundervolle Grazie.
Es kommt gegen das Ende des Allegro eine Stelle ganz unvermittelt, lieblicher als aller bisheriger Fluß süßer Melodie, ganz wider Schule und Hergang, als dächte plötzlich einer der Spieler an ein leises Zofenhändchen, das ihm hinterrücks neckisch zärtelnd über die Wange streichelte. Als diese Stelle kam, hörte Herr Primus hinter sich ein wohlgefällig leises: Ah!
Er drehte sich um – Blanchefleure. Sie hatte ihn erkannt, hob aber sachte die Hand, nicht zu stören. Bald danach war der Satz zu Ende und während die Herren und Damen vom Adel entzückt zu den Spielern traten, reichte Herr Kapitän Thaller der armen, reizend blassen Blanchefleure seine ehrlichen Hände, um ihr seinen Antrag zu machen.
Sie hörte ihn mit hochgezogenen erstaunten Augenbrauen an, als er begann: »Sie sind jetzt Witwe und arm wie eine Appenzeller Kuhdirn, Gott sei Dank.«
»Oh!« zweifelte sie: »Ah?«
»In jetziger Zeit aber sind wir Soldaten alles. Die Revolution glaubt den Offizier zu vernichten und macht ihn zum Herrgott. Unsereins krabbelt es in den Händen, so stark sind wir jetzt! Ich werde Sie also aus dem Höhlenloch herausholen: wie, das werden Quintus und ich schon zuwege bringen.«
»Warten Sie,« sagte Blanchefleure, »da kommt eine Menuett.«
Wirklich begannen die vier Musikanten einen jener reizenden Tänze der eleganten Zeit zu spielen, bei dem man sich mit Augen und Fingerspitzen Dinge sagte, für die sich der plebejisch umschlingende Walzer keinen Rat weiß. Und die ganz leichtsinnigen von den Herren und Damen ordneten sich zum Antritt.
»Es ist vielleicht die letzte Menuett,« entschuldigte Blanchefleure mit reizendem Lächeln; »und ich würde es sehr beklagen, sie nicht getanzt zu haben: – mit Ihnen, Herr Kapitän,« fügte sie herzbezwingend hinzu, als der arme Junge tiefbetrübt zurücktrat, und sie nahm ihn bei der Hand. »Scheuen Sie sich doch nicht,« fuhr sie fort. »Wir haben doch Egalité, Fraternité. Was, Sie glauben auch nicht recht daran? Immerhin; ich tanze gern mit Ihnen.«
Und der süße, schwermütig kokette Tanz des todesnahen Leichtsinns begann. Kein Totentanz war so wie der. So voll leichtfertiger Absage an das Ende. Es war die Melodie der Menuett aus dem Don Giovanni und sie spielte wie diese kurz vor dem ersten Zuschlagen des Schicksals; übermütig frivol und graziös wie diese.
Im Annähern fuhr Primus Thaller mit seiner ehrlich heißen Werbung fort. »Ich habe Sie lieb wie keine andere und Sie sollen meine Frau sein.«
Das neckische Zurückweichen des Tanzes der Koketterie führte Blanchefleure von ihm weg. Ihre Augen lachten, aber sie sagte: »Was Ihnen nicht einfällt. Sie sind geschmacklos, mein Freund.«
Wieder schwemmten sie die weichen Wogen des Tanzrhythmus zu ihm; ihre Hände umschlangen sich. »Mein Geliebter wären Sie vielleicht worden, dort unten in La Réole, wo die Herdenglocken süße, befreite Natur predigen. Ich hatte immer meine Saison der Naturrückkehr.«
Und sie neigte sich zurück und schritt im neckenden Taktschritt davon, während das Herz des armen Primus in Flammen tobte, gebändigt vom Tanzgesetz, von der allgemeinen Grazie, innerlich aber unbändig, als ob die ganze Revolution in ihm gefesselt läge und gefoppt würde. Und wieder kam sie zurück: »Aber Madame Thaller zu werden – mein lieber, ehrlicher Freund aus Appenzell! Was denken Sie? Man könnte Sie küssen für so viel Naivetät! Ach, daß wir nicht mehr in La Réole unsere Komödie haben durften. Welche Bêtise! Nun müssen wir sogar auf den Kuß verzichten! Außer Sie wollten mit einem Handkuß vorlieb nehmen?«
Es kam nun die Stelle in der Menuett, da auf dem Theater der Wehschrei Zerlinens den süßen Leichtsinn zerreißt. Und obwohl die galanten Herren Miradoux, Vicomte Chantigny, Avenarius und Abbé Mervioli die Noten für eine kleine ununterbrochene Rückkehr zu einem fröhlichen Dacapo überarbeitet hatten, gebot doch das Schicksal den Originalsatz. Die Tür wurde aufgerissen und eine arge Branntweinstimme zerriß das Blumengewinde eines kurzen Traumes.
»Ihr da, Bürger und Bürgerinnen! Ruhe im Namen der Republik!«
Der Reigen erstarrte zu Eis, hinhorchten Herren und Damen, denn jene Unterbrechung kannten sie. Es war die alltägliche Verlesung der Namen jener, welche vor Gericht geladen waren, um – recht oft – verurteilt zu werden. Aus dem Temple ging der Weg besonders leicht in die Sackgasse mit dem einzigen Fenster nach der Ewigkeit, dem Loch der Guillotine.
Diesmal wurde auch der Name der kleinen Bürgerin Massimel verlesen. »Hier,« rief sie, aber sie war erbleicht.
»Denken Sie jetzt an meinen Antrag?« fragte Primus Thaller, angstvoll hinter sie tretend.
Die arme, blasse Blanchefleure sah ihn mit ihren erschrockenen Augen an, über denen verwunderte Augenbrauen standen. »Ach Gott, mein Freund,« sagte sie kläglich. »Ihre Republikaner lassen einem nicht einmal sein bißchen Tanzfreude. Dort in der Ecke steht meine kleine Zofe, die sich mit mir einsperren hat lassen. Zénobe! Du darfst mit diesem Herrn weitertanzen. Bitte, entschuldigen Sie mich wegen dieser fatalen Verhinderung und nehmen Sie mit ihr vorlieb; sie ist ein reizendes Kind.
Adieu, mein Freund!«
Und Herr Miradoux, der Unverbesserliche des ancien régime, begann von neuem auf der Geige die Schmeichelweise Mozarts zu streichen, ganz piano …, leise lachend ordneten sich etliche Paare, wie früher. Aber die kleine Zénobe wagte nicht, mit anzutreten. Sie weinte vor Schreck und meinem Großvater war es gar nicht um den Tanz mit der Zofe. Er drehte ihnen allen, schwerblütig fortwandelnd, den Rücken.
Das war die denkwürdige Menuett gewesen, die der bürgerliche Kapitän Primus Thaller in einer Reihe mit einem hochansehnlichen Adel getanzt hatte.
Es war die letzte Menuett des Rokoko gewesen, mitten in ihrer graziösen Süßigkeit zerrissen durch den Ruf des Jakobinertribunals. In eigenartig gemischter Betrübtheit stieg Herr Kapitän Primus wieder in den Tag hinauf und auch die kleine Blanchefleure verließ ihr Gefängnis, um vor Gericht zu treten.
Dessen Barriere glich einem Branntweinschanktisch. Vier oder fünf unordentliche Rohlinge lauerten dort, schmutzig und bösartig wie gesträubte Bauernhunde.
»Bürgerin Blanchefleure Massimel? Witwe?« knurrte sie einer an.
»Da Sie es so wünschen – – –«
»Vom ehemaligen Hofstaat der Bürgerin Antoinette Capet?«
»Wessen? Der Königin, wollen Sie sagen?«
»Ach, so? Notieren Sie das genau, Bürger Pouprac! Königin sagte sie.«
»Ich denke, das genügt schon,« murrte Pouprac gleichmütig. Dann aber sah er boshaft auf. »Warum lächeln Sie, Bürgerin? Sie beleidigen das Gericht damit! Warum lächeln Sie?«
»Mein Gott, wie sehen Sie denn aus!« platzte die arme Blanchefleure tiefrot im ganzen Antlitz hervor. »Wenn man solche Pantalons anhat wie Sie!« Und sie drückte die Hände vors Gesicht und lachte wie ein dummer Backfisch.
Pouprac warf einen Blick auf seine Hosen aus blau-weiß-rotgestreiftem Kattun, auf diese stolze Flagge und Schaustellung seiner republikanischen Gesinnung. Dann sprang er wütend auf seine beiden nationalgetigerten Beine: »Sie sind des Todes schuldig, Bürgerin Massimel,« brüllte er. »Des Todes wegen Beleidigung der französischen Nationalfahne!«
Da zog die kleine Marquise die Hände von ihrem Antlitz und sah ihn an, hohe, erstaunte, drollige Augenbrauen, gerümpfte Nase: »Sie, Sie wollen mich richten! Waschen Sie sich und ziehen Sie Strümpfe an, bevor Sie mich nur bedienen wollen!«
Und sie ging. Sie hatte sich auf das Schafott gelacht.
Mein Großvater hörte nur noch von ihr, wie sie nicht zulassen wollte, daß man ihr die Haare abschneide. »Meinen Sie,« hatte sie den Gerichtsbeamten gefragt, »daß das unbedingt nötig ist? Der Mann auf dem Gerüst kann sie gebrauchen, um das Haupt daran in die Höhe zu heben: – nachher; wie das so eine Ihrer Gewohnheiten sein soll.«
Und als der Sansculotte mit grober Kürze darauf bestand, hatte sie die lieblichen Schultern gezuckt: »Meinetwegen. Ich wußte schon, als Sie kamen, mich zu köpfen, daß Sie keinen ästhetischen Sinn haben. Und ich habe recht behalten.«
Nach diesen letzten, befreit geistigen Worten starb sie aber dennoch als armes, zitterndes Weib.
Sie starben und alle, die um sie hätten weinen können, waren tot oder hatten an das eigene Sterben zu denken. So verstand keine Seele, was mit der schönen Blanchefleure zu Ende gegangen war, die ihr Lebelang recht behalten hatte.
Auch mein armer Großvater hat sie nie verstanden.
Nur ich, nur ich! Ich verstehe sie, der ich ihr Bild erst vom Trödler loskaufen mußte, wie zur Rache des Nachgebornen an der, die durchaus nicht seine Urgroßmutter werden wollte.
Gut, daß sie es nicht wurde. Sie ist dabei jung geblieben, ewig jung und begehrenswert.
Und ich darf sie lieben, wie der ehrliche Primus Thaller sie liebte, nur besser noch: Verständiger, luxuriöser.
Sie hatte in allem recht und ich sehne mich nach ihr …