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In diesen meinen Seelenkämpfen hörte ich – es dämmerte schon – im Korridor des ersten Stockwerkes Frau Gottschalk an eine Thüre pochen und mit banger, leiser Stimme rufen: »Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!« Ich horchte auf und ließ mich zerstreuen, dann ablenken. Die Türe zum Zimmer des Hauptmanns knarrte und ich hörte folgendes: »O, in Uniform?« rief Frau Anna Therese.
»Gott sei Dank ja,« entgegnete der Hauptmann, welcher oben auf den Gang treten mochte. »Ich habe wieder zu tun und das ist besser als zu denken.«
»Hören Sie, Herr Hauptmann,« drängte die Frau. »Der Bernewein redet unten schreckliche Sachen, ich hätte ihm das gar nicht zugetraut! Und in der Stadt soll es losgehen! Und mein Hans sitzt unten dabei und hält mit ihnen. Es soll ein Aufruf von der Stadt gekommen sein – –«
»Was wollen denn diese Wiener,« unterbrach sie der Hauptmann unwillig. »Es sind Unfähige; sie sollen Ruhe halten.«
»Ich bitte Sie, Herr Hauptmann,« bat die Frau, »gehen Sie zu unsern jungen Leuten hinab. Ihre Gegenwart wird sie vor einem unbedachten Wort behüten, das ihnen Gefahr bringen könnte.«
»Ich marschiere morgen,« brummte der Offizier. »Wer wird sie dann zügeln, die jungen Herrn? Aber ich will doch Ihrem Hans zur Vernunft reden, daß seine Wiener nicht zu alten Römern taugen.«
Mir war es gar nicht recht, daß der Hauptmann heute in unsern Kreis kommen sollte, von welchem er sich durch seinen Eintritt in die Armee so weit entfernt hatte. Ich wollte mit ihm und seinen haßerfüllten Ausfällen gegen die ganze Menschheit nichts zu tun haben und blieb im Garten, bis mich die Nachtkühle in's Gastlokal trieb.
Als ich in den großen, beleuchteten Glassaal trat, fand ich darin schon viel erregtes Wirtshausvolk versammelt. Oben am Podium saßen die Freunde in beträchtlich vermehrter Gesellschaft und der Hauptmann stand vor ihnen am Eckpfeiler lehnend, die Arme ineinander geschränkt als wollte er sich in enges Maß fassen; aber was er sprach, zu Gottschalk sprach, war über alles Maß heftig.
Ich erkannte bald, dieser Mann, welchem eine prophetenhafte Wut das Gleichgewicht der Seele umstieß, sprach von den Wienern.
»Diese überlaut lachenden geputzten Frauen,« rief er, »sollten Mütter und Weiber von Helden sein? Stolz auf ihr weichliches Fett, sicher und übermütig im Umgang mit Männern, so daß man die letztern schon aus der Behandlung beurteilen kann, welche sie von ihren Frauen erfahren. Diese Männer! So schwer an Leib wie schwach an Willen und undeutsch in ihrer Gedankenscheu, mit Augen wie trübgewordener Wein; aber ja! Gutherzig! Ja!
Die männliche harte Freiheit begehren sie auch, diese Gutherzigen! Was sie damit anfangen werden! Ein großes Volk war nie gutherzig. O lächerliche Einrichtung: Was sollen diese Wiener drei Stunden von der deutschen Grenze, wo harte Männer stehen sollten!«
Mir wurde bang und schwer bei diesen übertriebenen, ganz maßlosen Worten. Ich sah Hirsch, seinen Feind. Der ging unten bei den Leuten aus dem Volk der Vororte umher, und als ich mich langsam an ihm vorbei zur Estrade hindrängte, hörte ich ihn zu einem vollschlachtigen Gesellen sagen: »Da hören Sie es! Merken Sie, was wir Wiener bei dieser Soldateska gelten?«
»Er wird net lang reden,« sagte der breite Kerl aus der Vorstadt drohend und lehnte sich abwartend schwer zurück.
»Sie, Sie,« drohte Hirsch lächelnd mit dem Finger. »Wollen Sie anbandln? Mit einem Offizier? Sie, Sie, das ist gefährlich; dazu gehört Schneid.«
»Warten's'es ab,« fuhr ihn der feste Mensch stolz und grob an. Hirsch ging weiter und überall grüßte und sprach er Bekannte.
Die Stimme des tollen Hauptmanns aber klang schärfer und stiller wurde es im Saal. Mir preßte es das Herz, es werde Gewalttat setzen, und ich horchte peinlich durchrieselt mit den andern.
»Sieh' dir sie genau an, Hans, deine Mitbürger,« ging die vermessene Rede fort. »Ein altes Rom, ja nur ein Florenz soll hier erstehen? Ich sage dir, sie werden dich zerreißen, wenn du ihnen mit Idealen kommst. Du möchtest ihnen den feurigen Idealismus der Franzosen, das Selbstbewußtsein und die Würde der Engländer aufdrängen, und du sagst, daß sie deren Sitten nachahmen; wie? Gewiß! Sie fühlen instinktiv die Überlegenheit anderer Nationen; aber statt von ihnen zu lernen, äffen sie die äußerlichen Gebräuche und die Phrasen eines Lebens nach, dessen Seele ihnen fremd ist. Lehre die erst die edle Lebensführung, die sie verachten, die feine Grazie des Umgangs. Erinnere die Frauen an ihre edelste Aufgabe, die sie vergessen haben, zurückhaltend auf den blind in den Tag lebenden Mann zu wirken. Ja: anhetzen möchten euch die meisten, um selber ihren zügellosen Genuß dabei zu haben. Schon eure Mädchen sind unbescheiden, ja keck, die Frauen aber würdelos, beide verzogen und unersättlich im Vergnügen. Der Mann ist ein rettungsloser Philister von Jugend an; er pflegt zu sagen: Ich habe nur einmal zu leben! Und doch denkt er niemals über das tiefe Rätsel dieses einzigen Lebens nach. Ein Lustspiel möchte er darin sehen; der weihende Ernst ist ihm unbehaglich, er läuft dem Spektakel nach. Die Kunst duldet er: aus einer Art Scham. Sollte sie aber von ihm leben – sie müßte verschmachten. Dein trefflicher Bürger küßt seinen Frauen und Mädchen die Hand, aber er achtet sie nicht und sie ihn nicht, den sie vermittels des Unedelsten, das in ihnen ist, ganz zum Bedienten zu machen vermögen. Man heiratet, um sich zu bereichern; wird aber eine Ehe aus hitziger Brunst geschlossen, so heißt sie Liebesheirat! Ohne Feinheit, ja wahrhaft gemein geben sie sich dem Ausbruch plebejischer Leidenschaften hin; im Zorne schimpfen sie als ein rechter Pöbel, und selbst die Freude vermag sie nicht zu adeln. In den qualmigen Kirchen ihres angelernten Herrgotts rutschen sie auf den Knien, aber in der geweihten Größe der Natur brüllen sie oder spielen Karten. Niemand erzieht sich selbst, und wie sollte er auch, wenn schon seine Eltern Affen waren, welche sich in seine Unarten verliebten?! Zoten beflecken das Gespräch; der Mann ringt nicht nach Größe und Würde, die Frau nicht nach Reinheit und geistvoller Anmut. Platt fressen und johlen sie durch das Dasein und keiner vermag sich selbst zu beherrschen; aber, ah! Auch ein anderer soll sie nicht beherrschen; ja nicht! – – Was für ein Volk!«
Der Hauptmann, dessen schlimmste Eigenschaften ein trostloser Pessimismus und ein blinder Jähzorn waren, ließ auf solche Weise diesen beiden die Zügel schießen in einer Rede, welche in ihren Vorwürfen mit geringen Änderungen wohl auf alle anderen Großstädter gemünzt hätte werden können, welche aber durch ihre Gehässigkeit als Schimpf empfunden werden, und, so gröblich in die ohnehin schwüle Öffentlichkeit hineingeschleudert, wie Brandfackeln wirken und diese Wiener, welche bis dahin über ihre Stadt nur das Schönste gehört hatten, bis zu siedender Wut beleidigen mußte.
Drohende Worte brodelten aus der Menge auf, leidenschaftliche Gebärden begleiteten die ungeheuerlichen Vorwürfe des Verblendeten. Bevor er endete, ward einen Augenblick unheimliche Stille.
»Dem Kerl,« rief jetzt vernehmlich einer der Bürger, »is der Kamm schön g'wachsen, seit er sei' Affenröckel wieder anzogen hat. – – Stinkt eh no' nach Lavendel, daß ma's bis da herunter schmeckt.«
Das Murren wurde stärker. »Stopft ihm denn kaner sei' Goschen« riefen einige; der Fleischhauer aber, mit welchem Hirsch vordem gesprochen hatte, sprang auf und schrie mit gewaltiger Lunge und blaurot vor Zorn: »Maul halten!!«
Das Murren und Rumoren verstrandete; ein peinlich leises Wispern blieb, als der Hauptmann sich zur Gesellschaft kehrte und drohend fragte: »Wer soll das?«
Einer der ruhigeren Bürger rief, indem er an seinem Tische am andern Ende des Saales sitzen blieb, herüber: »Herr Hauptmann, Sö sollten do' nöt so über Leut' schimpfen, die Ihnen mit ihre Steuern erhalten. Das is' net recht, sag' i'!«
»So ein Bettler,« rief ein anderer. »Jeder Knopf auf seinem Rock is' mit einem vom Volke erworbenem Kreuzer bezahlt; aber je mehr man diese unnütze Soldateska füttert, um so frecher wird sie!« Andere wieder riefen: »Hinaus mit dem Kerl!«
»Komm,« sagte Gottschalk und wollte den Hauptmann mit energischem Ruck aus dem Saale ziehen. Der aber stand leichenblaß und mit wutfunkelnden Augen fest wie ein Prellstein.
Und in Wut und Trotz beging er die schwere Unbesonnenheit, der ganzen Volkmasse eine Beleidigung ins Antlitz zu klatschen, daran jedes Wort ausgespuckte Verachtung war.
»Wer zahlt, wer erhält uns? Ihr? Nein! Ihr würdet uns außer Land treiben, ohne Zehrpfennig, wenn ihr könntet. Ihr müßt uns erhalten, und ein größerer Verstand als der eure muß euch dazu zwingen! Denn regiert müßt ihr Schwächlinge werden, die ihr im Frieden nach uns spuckt und uns die Stiefel ableckt, wenn es Krieg wird und ihr uns braucht!«
Ein wirres Geschrei erhob sich auf diese Worte; Tische krachten, die Männer sprangen von ihren Sitzen, Frauen flüchteten.
»Das sollen wir uns gefallen lassen?!«
Die ganze Masse drängte sich mit geschwungenen Stühlen, mit Bierkrügen auf ihren Beleidiger, und nun geschah etwas, wie ich es sonst nur bei einer Jagd auf Bären oder Tiger für möglich gehalten hätte.
Vor dem Sausen der ersten Bierkrüge, die um ihn flogen, vor dem Gebrüll, vor dem überwältigenden Ausbruch der Volkswut hätte jedem ein lahmer Schreck alle Tatkraft erstarren gemacht. Diesen Tollen aber packte die Erregung wie ein Jubel.
»Ja! Ja!« schrie er, »ich hasse euch, Ihr malkontentes Vieh, ich verachte euch!«
Und zog den Säbel und stürzte jauchzend in die Hölle von Wut, die ihm entgegenbrüllte, hinein.
Aufsprühend im Bogen klirrten die Stücke seines Säbels durch die Luft und die fürchterliche Masse überschlug und bedeckte ihn – – wir standen erstarrt.
Endlich arbeitete sich Gottschalk mit leidenschaftlicher Gewalt in den verbalgten Knäuel hinein. Hier wand sich, zumeist am Boden hin, ein scheußlicher Kampf. Viele Hände krampften sich in sinnloser Wut um den Hals des Freundes, andere schlugen am Boden wahnsinnig schnellend wie Fische am Strand um sich, unfühlend wen sie trafen, und entzündeten erneuten Grimm gegen sich selber. Bernewein folgte Gottschalk in den Tumult. Links und rechts taumelten die Einhauenden unter seinen Stößen auseinander; wir, selber noch schwer beleidigt, wußten nicht, ob wir helfen sollten und schauten nach dem Schanktisch hinüber, wo Frau Anna Therese leichenblaß lehnte und Margarethes Arm umklammert hielt.
Da …: Rupp-rupp-rupp …
Rrrrrrrr
Rupp-rupp-rupp …
Die Scheiben bebten von nahem Trommelschlag.
Es war der Grenadiermarsch.
»Das Militär kommt!« schrie eine im Überschlagen fürchterlich schrillende Stimme; dann ein dröhnender Männerbaß: »Rettet euch – die Grenadiere!«
Wie gesträubtes Haar eines Entsetzten fuhr der tolle Haufe in die Höhe und von neuem rief es – weiß Gott woher –: »Das Haus ist umstellt! …«
Da standen die Wütenden in Leichenstarre.
Hier und da wollten zwar wenige flüchten, sie kehrten aber sinn- und kopflos an offenen Thüren wieder um. Inmitten der Bestürzten erhob sich der Hauptmann, das wachsweiße Antlitz schreckhaft mit Blut beschmiert. Gottschalk und Bernewein halfen ihm, stützten ihn, dessen einer Arm zerbrochen herabschlenkerte. Von der schönen Grenadieruniform schlotterten nur mehr Fetzen um ihn.
»Um meiner Mutter willen, geh' mit mir und verläugne dich!« rief ihm Gottschalk zu.
»Ich war toll,« zitterten die Lippen des verwundeten Offiziers, »mein Krieg ist aus.«
Er ließ sich fortführen; Frau Gottschalk und Grethe kamen schluchzend auf ihn zu, übernahmen ihn, und Gottschalk eilte an die Thür in den Garten zur Treppe hinab. Unten standen Grenadiere.
Mit dem Führer des Zuges, einem Korporal, (in solchen Zeiten!) kam Gottschalk zurück.
»Niedersetzen und harmlos sein!« rief Bernewein, als sie durch den Garten kamen. Und viele taten es, andere ordneten die Tische, die meisten aber standen betreten und ratlos.
»Was wünschen Sie?« fragte Gottschalk den Korporal; der war ein alter Unteroffizier, gewaltig groß, ernst, beinahe finster.
»Unsern Hauptmann; er wohnt hier.«
»Warum? Soll er mit Ihnen gehen?«
»Ja; jeder Offizier wird mit einer Patrouille heimgeleitet; es ist eine Vorsichtsmaßregel; die Zeit ist unruhig. Morgen marschieren wir.«
»Oho! Wohin?«
»Nach Ungarn.« Kurz und trotzig klang das.
»Freund,« sagte Gottschalk langsam, »euer Hauptmann ist sehr schwer erkrankt; der kann nicht mitgehen.«
»Ich muß zu ihm,« entschied der Korporal.
»Warten Sie, Freund; er fiebert und ist ohne Bewußtsein. Ich will hinaufsehen, ob Sie hineindürfen.« Gottschalk ging, wir atmeten schwer; niemand dachte daran, zu entweichen.
»Was fehlt dem Herrn Hauptmann?« fragte der Korporal.
»Nervenfieber, Nervenfieber im höchsten Grad,« beteuerte Hulle. »Erst heute ausgebrochen!«
»Was war das für eine Rauferei, als wir herkamen,« setzte der Korporal seine Fragen fort.
»O!« rief Hirsch, »ein Wettkampf; mehrere Athleten; das macht immer viel Lärm.«
»So, so?« sagte der Korporal mißtrauisch und ging hinaus. Uns stockte der Atem. Wir hörten sein Kommando: »Gewehr bei Fuß!« Zahllose Kolben, wie es uns schien, rasselten auf der Erde.
»Ruht!«
Wir hörten die Grenadiere draußen murmeln.
Der Korporal kam zurück, zwei jüngere Unteroffiziere mit ihm. Sie blieben in der Türe stehen, nun sahen wir uns gefangen. An die vierzig Menschen, zumeist Männer; die Frauen, welche dabei waren, begannen schon zu wehklagen. »Ruhig,« rief Bernewein.
»Ich werde selbst nach dem Herrn Hauptmann sehen,« sagte der Korporal zu seinen zwei Unteroffizieren. »Bleibt hier.« Und er ging.
Nun stieg unsere bange Spannung auf das Höchste. »Ruhig, ruhig,« ertönte die ernste Stimme Berneweins von neuem. »Gottschalk ist oben!«
Den nervös werdenden Hirsch hielt er fest an der Hand, und Hulle pfiff, was sich in der murmelnden Stille seltsam ausnahm. Jeder Ton tat da wehe.
Oben gingen Stimmen; wir horchten, verstanden aber nichts. Endlich, nach bangem Harren kam der Korporal herab – hinter ihm Gottschalk – und der lächelte.
Wir atmeten tief.
»Das sind schlimme Geschichten,« sagte der Korporal zu den Grenadieren. »Der arme Hauptmann liegt zu Bett und kann nicht mit. Wir wollen melden, daß er schwer erkrankt ist.«
»Meine Herren,« trat Gottschalk den fortgehenden Grenadieren in den Weg, »Sie haben für heute Zeit und nichts mehr zu tun?
»Ja; warum?«
»Sehen Sie, Sie sollen morgen früh nach Ungarn; Sie sind Oberösterreicher, Landsleute. Wer weiß, wer von Ihnen zurückkehren wird. Nehmen Sie ein Glas Wein, das wir Ihnen mit einem Herzen voll Liebe als Abschiedstrunk bringen.«
»Es ist verboten,« sagte der Korporal grollend, als die jüngeren Unteroffiziere anhielten, um erwartungsvoll auf ihn zu sehen.
»Die Herren sind aber so lieb und freundlich,« sagte einer.
»Ach was,« mischte sich Hulle ein, »lassen Sie Ihre feschen Jungen zu uns herauf. Das letzte Weinderl in Ihrem lieben alten Wien!« Und er schüttelte dem ernsten Grenadier treuherzig die Hand.
»Eine Viertelstunde also,« entschied der Korporal. »Geh' Hueber, laß die Kameraden herauf.«
In kurzem war der Saal voll bärenstarker Kerls, die ihre Gewehre, ihre großen Czakos zuerst verlegen da und dorthin stellten. Die Frauen halfen ihnen freundlich, und andere neue Gäste kamen neugierig herauf und fragten, was es gebe. Auch ich wandte mich an Gottschalk: »der Hauptmann?« fragte ich ihn.
»Ist ohne Besinnung, konnte nicht reden,« flüsterte Gottschalk mitleidig.
Der Korporal wollte, daß seine Grenadiere ihren Wein in Reih' und Glied stehend in Empfang nähmen, aber das mochte niemand dulden, und ihn selbst nötigten zwei hübsche Vorstädterinnen zum Sitzen. Die Tische wurden aneinander geschoben, der Schankbursch und der Hausknecht trugen Wein über Wein herbei und ein sonderbares Bankett begann. Die Leute, welche erst wohl etwas verlegen waren, weil nun gewiß das vielverbotene Fraternisieren beginnen würde, waren bald warm durch das allgemeine und wirklich tief empfundene Bedauern, daß sie nach Ungarn müßten. Etwas eng war ihnen wohl auch um's Herz im Angesicht des Bürgerkrieges wie die andern sagten. – – Denn so gerne, wie es heute vielleicht geschehen könnte, gingen sie nicht auf Ungarn los.
Damit kam es, daß viele dieser Soldaten in einer Art innern Nervenbrandes rasch und unvorsichtig tranken, um den Frost ihrer peinlich nagenden Stimmung aufzulösen.
»Warum ist euer Korporal so finster,« fragte Gottschalk einen intelligenten Jungen, der schon Witze zu erzählen begann.
»Ernst ist der immer,« hieß es zurück, »aber neulich ist er zum erstenmal in seiner Dienstzeit hart gestraft worden, weil er verbotene Druckschriften gelesen hat.«
»Ah!« rief Gottschalk mit angenehmem Ton. Und die Mädchen, welche es gehört hatten tranken dem schwermütigen Riesen zu.
Der Wein begann laut und fröhlich zu sprechen, in der ganzen Halle summte, lachte, fluchte es und die Stimmung erregte sich.
Da stand Gottschalk urjäh auf … Wir blickten nach ihm, er war bleich, und uns alle durchzuckte der Gedanke: Nun kommt's!
Und er sprach:
»Da ihr fortgeht, um vielleicht nie wieder rückzukehren, möchte ich euch im Namen aller ein liebes Abschiedswort sagen, und dieses Abschiedswort ist: Wir sehen euch mit schweren Herzen fortziehen! Mit doppelt schweren Herzen: Denn einmal lieben wir euch als unsere Landsleute, und dann fürchten wir, man wird euch zwingen, Unrecht zu tun. Denn eure Herzen sind ja doch beim Volke, – bei uns!
Seid ihr uns denn durch diesen Rock wirklich so fremd geworden, wie man sagt?
Wir fühlen, ihr gehört uns, so kann es bei euch nicht anders sein.
Man will, ihr sollt auf erschrockene tieferregte Menschen schießen, obwohl ihr wißt, daß eure Väter, eure Brüder – zum mindesten eure Freunde mitten unter ihnen sind.«
»Auf die Wiener würden wir gar nicht schießen,« brummte der Korporal. »Es soll gegen die Ungarn gehen.«
»Ja!« rief Gottschalk in Bitterkeit aus, »denn das sind Fremde! Die haben keine Liebe in sich, kein Vaterland, keine Sehnsucht?
Wißt ihr denn, was für ein Volk es ist, mit dem man euch bedroht, als wäret ihr Henker!
Ich will euch eine kleine Geschichte erzählen, die sich vor wenigen Tagen zugetragen hat: In Böhmen lagen Husaren. Ihrer zwanzig sind in trauriger Abendstunde in einer Schenke zusammen gesessen, und ein wandernder Hausierer hat ihnen von ihrer Heimat erzählt und wie es im Ungarlande so traurig aussehe.
Da seufzte wohl einer und der andere schwer.
Der Fremde aber erzählte weiter vom Elend des Krieges, wie ihre armen Vaterhäuser als Brandruinen stünden und der Ungar hungere.
Als sie aber erfuhren, der Fremde, der Kroat und Wallach hause im Land und sei dort übermütig Herr, da schrien sie allesamt auf, rannten zu ihren Ställen und sprangen auf die Pferde. Aus den zwanzig waren hundert geworden, die brausten davon, eine Massendesertion, wie man sie noch nie erlebt hatte!
Man verfolgte sie … da fiel ein Drittel von ihnen. Man verstellte ihnen den Weg mit Hinterhalten, aber weinend vor Wut und Herzweh schlugen sie sich Bahn. Zu töten waren sie, zu halten nicht. Als sie an die March kamen, waren noch zwei Dutzend von Hundert geblieben … die andern waren ihnen vorausgeeilt, denn in diesem Lande kämpfen selbst die Toten.
Hinter ihnen die Verfolger!
Da sprengten sie auf abgehetzten Pferden in den Strom hinein und versanken fast alle. – Sieben Überlebende durften den Heimatboden küssen.
Und nun, ihr gute treue deutsche Seelen! Kennt ihr nicht dieses tötliche Weh? Hat es euch nie am Herzen gefressen, als man euch zwang, Soldaten zu werden?
Ihr Welser, denkt an euer armes schwermutvolles Haideland, wo die Lerche am Abend süßtraurig den Frieden über eure müden Stirnen herabsang. Die stillen Hütten rauchen und das Abendgeläute der fernen Kirche bewegt euch kindlich die harten Herzen. Für diese Armut aber nähmet ihr nicht den Lärm und Glanz der ganzen Wienerstadt!
Und ihr aus Steier, und ihr aus Linz und Braunau! Habt ihr die Lieder vergessen, welche euch Enns, Donau und Inn zurauschten? Habt ihr die Lieder vergessen, die euch eure Mutter und euer Mädchen sang? Habt ihr vergessen, wo die Heimat blüht und wo man euch am meisten liebt?
Ach! Soldatenlieder singet ihr, damit ihr jene Stimmen nicht hört …
Heimweh!
Kennt ihr das? Ja?! Sind nun eure Augen feucht? Oh! Schämt euch dieses Reichtums nicht, denn er zeigt wie voll euer Herz an Liebe zur Heimat ist. Ja! Ja! Ihr weint, und wir weinen mit euch und möchten euch hier halten.
Wollt ihr wirklich von uns, die wir euch lieben?«
»Nein! wir gehen nicht,« riefen viele der Männer tief erregt.
Da legte der Korporal (wie Gottschalk das Wort Heimweh) – einsam und bedeutend das Wort Soldatenehre vor seine Kameraden hin.
Ein kurzes Schweigen entstand, Gottschalk aber brach es schnell: »Soldatenehre? O, ihr Getäuschten; ihr wißt ja selbst, was hinter diesem Worte steht: Zum Beginn ein armer gezwungener Rekrut, der aus Verzweiflung jubelt, damit er sein Herz nicht schreien hört.
Und doch laßt ihr euch dann für fremde, stolze, reiche Herrn erschießen, welche euer Blutopfer als selbstverständliche Pflicht finden. – Umgehetzt von harten Vorgesetzten mit harten Worten, das füllt eure Tage und mitleidige arme Dienstboten müssen dem stolzen und doch so hungrigen Jungen schenken, was ihm der Staat nicht gewähren will.
Das ist eure Soldatenehre! Und wer hält sie denn hoch? Eure Offiziere reden euch wohl von ihr, aber sie heißen euch in täglich erneutem Schimpf … Nein! … Mir tut das Herz weh, euch an solche Worte nur zu erinnern. Ihr wißt sie ja selber …
Und der Bürger?
Im Frieden sieht er euch als Polizisten an, und beliebt seid ihr nur aus Mitleid. Nur wenn er euch braucht, freilich! Dann gibt es Jubel, schöne Worte, Wein, Zigarren. Und wie schnell vergeßt ihr Guten da, daß ihr für jene sterben werdet, die euch niemals geachtet haben. Denn sonst? Wo ihr hinkommt, heißt es: o weh und wenn Ihr geht, hinter euch: Gott sei Dank!
Hier aber in dieser Stadt der Wohltat und der Liebe will man euch nicht gehen lassen; hier stehen euch Arme und Herzen offen … darum kommt zu uns … bleibt bei uns!«
»Ja, bleibt, bleibt,« tumultierten die Bürger begeistert und gerührt.
Und Gottschalk rief: »Euch aber wird nach langem Froste der Tauwind wehen, klingend wird die starre Wintersnot des Zwanges von euren Herzen abspringen und ihr Befreite werdet all das haben, nach dem ihr euch bisher umsonst gesehnt habt: Liebe, Ehre und Heimat!!«
Gottschalk hob sein Glas.
Mit donnerndem Jubel schnellten Bürger und Grenadiere von ihren Sitzen empor und fielen sich in die Arme: Eine Familie, eine Begeisterung! Gottschalk hielt dem leichenblassen Korporal seinen Becher entgegen, da nahm auch der den seinen: »Meinetwegen!« sprach er.
»Ich vermag viel, auch über die andern Kameraden, die in der Kaserne sind. Aber! Halten Sie uns Wort! Nur um einer größern Ehre willen verraten wir unsere alte!«
Als die Grenadiere fortzogen, waren es keine Soldaten mehr. Volk, Dirnen, Buben durchfluteten die betrunkenen Reihen, marschierten armumschlungen mitten darin und trugen Czakos, Rüstzeug und Waffen.
Was sich da brüllend fortwälzte war liederlichste Anarchie, und mir schauderte die Seele über einem solchen Triumph des Chaos.
»Du hast schrecklich zerstört!« rief ich, von diesem Schauspiel der Gasse zurückkehrend, Gottschalk an, der allein und bleich auf einem Sessel inmitten wilder Unordnung, im Stanke abscheulicher Wirtshausluft saß. »Nun richte auch wieder auf!«
»Es beginnt,« sagte Gottschalk feierlich. »Komm mit mir. Zwinge dich zur Nachtruhe, denn wir bedürfen morgen großer Kräfte.«
Aber diese ganze Nacht warf mich eine schüttelnde Aufregung von einer Seite auf die andere. Ich machte Licht und blickte nach Gottschalk hinüber; seine Augen waren weit offen und schauten verloren nach meiner Kerzenflamme; er sagte kein Wort, da löschte ich wieder aus und schlug mich ohne Hoffnung auf Schlaf in mein zerwühltes Bett zurück. – – –
Das eine Ende eines Zündfadens war in Brand gesetzt worden, – wohin führte er? – – –
Fernes Gejohl?
Ich fuhr in die Höhe. – – – Tiefe Stille draußen, tiefes Grau im Zimmer – undeutlich sah ich Tisch und Bett. Gottschalk lag, ohne einen Laut zu geben, auf dem Rücken, er war wach wie ich und mochte wohl gegen die Decke starren.
Wenn die Soldaten gefragt werden: wo habt ihr euren Hauptmann? Werden sie uns anklagen, oder werden sie im Rebellentrotz verharren? Wie bald vielleicht dröhnt der Taktschritt einer neuen Patrouille durch die Gasse; entschieden und herrisch. Dann verlangen sie nicht nur ihren Offizier, sie rächen ihn vielleicht auch; – wir durften nicht hierbleiben. Ich sprang aus dem Bette. Es ging gegen fünf Uhr, da zog ich mich an.
»Kein Licht machen,« sagte Gottschalk leise und stand ebenfalls auf. Er fuhr schnell in die Uniform der Studentenlegion, da knarrte draußen die Stiege – wir erstarrten und horchten.
Leise ging es an unserer Türe vorbei, dann öffnete Gottschalk dieselbe behutsam zu einem schmalen Spalt. Frau Anna Therese schlich gegen das Zimmer gegenüber, auf dem Arme hohe Lasten von Leinwand und Binden; hinter ihr her Grethe, welche blaß und übernächtig aussah; sie trug eine Blechschüssel, leise tönten Eisbrocken im Wasser. So huschten sie in jene Tür hinein.
»Der Hauptmann,« sagte Hans in Trauer und Mitleid. Dann schnallte er Säbel und Patrontasche um und griff nach der Muskete.
»Ich habe keine Waffen,« flüsterte ich.
»Dort im Schrank hängen ein gezogener Stutzen und ein Hirschfänger. Der Kugelbeutel und das Pulverhorn liegen in der Lade.«
»Die Pflaster, die Zündhütchen?«
»Am Tintenzeug; – wie du an alles denkst.«
»Es wird was geben.«
»Ich fürchte nein.«
»Ich wette, ja.«
Und mit hoch klopfenden Herzen stiegen wir hinab in den Morgennebel, in verdüsterte Gassen und eilten, tripptap, gegen die Stadt. Da und dort kamen Jungen und Männer hervor, manche in Gruppen, manche allein, alle bewaffnet, eilig, und auch sie alle gegen die Stadt.
Wer hatte sie gerufen, was sollte da geschehen?
Nach langem Eiltrab kamen wir in Gumpendorf an, wo die Grenadiere ihre Kaserne hatten. Der Marschtritt ganzer Massen scholl dort, erregte Stimmen zerbrachen die Heiligkeit des Frühgrauens, und es klirrte in allen Gassen, alles in einer Richtung hin. Wie eine Hand ihre Finger zur Faust ballt, so zog es die Kräfte der Vorstadt gegen ein Zentrum.
In der nächsten Umgebung der Kaserne wurde es noch lauter. Wir hasteten und kamen an: Gruppen von Menschen standen um das offene Tor, die Kaserne war verlassen.
Atemlos fragten wir: »Sind sie ausgezogen?«
»Freilich, aber wie ungern!«
»Sind sie lange fort?«
»Vor einer halben Stunde,« hieß es, »die Herren können sie leicht einholen, sie marschieren langsam genug.«
»Unwillig also?«
»Wenn man nicht rebellisch sagen will,« murrte ein alter Mann.
»Juhe, da setzt's an Tanz!« rief ein junger Bursch, der eben angekommen war und mit uns zugehört hatte. »Schau'n ma', daß mer's einholen!«
Auch wir eilten weiter, in immer lauter erregte Volksmengen hinein. Bald war die ganze Straße ein eiliger Heerzug, welcher rechts um die Stadt ausbog und durch den zweiten Bezirk in der Richtung nach der Taborstraße trappte. Grüße, Fragen, Zurufe schollen uns Studenten nach, alle erregt, alle in grimmiger Freude. Wir überholten Gruppe um Gruppe, und da waren auch die Grenadiere!
Was für ein Aufzug! – – –
Lässige Packung, lässige Tragart, lässiger Marsch. Rundum lautes Volk, einredende Bürger, Dirnen, Studenten; manche mitten in Reih' und Glied, Arm in Arm mit den Soldaten. Die Offiziere schienen verlegen; manchen sah man den grimmen Trotz, anderen die Hilflosigkeit ihrer Lage an. Viel gehöhnt, mußten sie mit versorgtem Säbel die Schmach dulden. Ich hatte solches nie gesehen, nie erwartet, und eine seltsame Mischung von Ekel und Schadenfreude wirbelte in mir.
»Warum denn über den Tabor?« rief es plötzlich in vielfacher Wiederholung aus der Menge.
»Es geht nach Böhmen,« antworteten einige Offiziere.
»Glaubt ihnen nicht, es geht nach Ungarn,« rief ein Mann in verschnürter Litewka.
»Das darf nicht sein,« tobte die Volksmasse dawider. – »Sturmglocken ziehen!«
Und kaum war es gerufen, so wimmerte es auch schon wie durch telegraphischen Kontakt von einem Türmchen in der Ferne, und heulte aus der Nähe drein und grollte von Sankt Johann Nepomuk herüber. Aber immer noch zogen die Soldaten dahin, an die Brücke, über die Brücke.
Da: – – – Ein Stocken, – ein wirres Geschrei. – Kürassiere ritten an und drängten die widerwilligen Heeresmassen gegen die zweite Brücke, Adjutanten ritten hin und her; – abermals stockte der Marsch, denn der Bahnkörper der Nordbahn war zerstört. Die Kommandanten schienen in der Stadt um Maßregeln anfragen zu lassen …
Ein Teil der Grenadiere jenseits, ein kleinerer Teil noch diesseits unter dem Volk, so zögerte das Militär energielos in unerquicklichem Zuwarten bis in den Nachmittag – auf Befehle wartend! Der Volksbrodel aber wuchs wie ein Wetterhimmel an, drängte gegen die Brücke, und machte sich in unheimlicher Weise um die Geschütze zu schaffen.
Und jetzt, urplötzlich, dröhnte ein Schuß auf. – –
Ah!! – – Brach da alles in wilde Wut aus! Niemals noch sah ich ein derartiges Signal zur Raserei.
Studenten, Garden, Proletarier stürzten vorwärts, in der Richtung, wohin der Schuß gefallen war. Mehrere Schüsse folgten, der Wahnsinn schien sich ein einziges großes Tollhaus über aller Menge geschaffen zu haben, denn das wütendste Gefecht knatterte los.
Das Volk entriß der gänzlich verwirrten Bedeckung drei, vier Kanonen, und brach wie aus zerrissenen Schleusen gegen die Brücke vor. Wir folgten, kamen an die Truppe heran, und ein Freudengeschrei begrüßte uns, – Gottschalk stockte in seinem Lauf und ein Freudeleuchten ging über sein ganzes Antlitz – – –: Brüder!!!
Wir waren bis an jene Kompagnie herangekommen, zu welcher Gottschalk gestern gesprochen hatte, und die Männer hatten ihn erkannt.
»Das ist schön, das ist brav!«
Sie umringten ihn mitten im Gefecht und hoben ihn auf ihre Schultern. »Helft uns jetzt im Kampfe!« rief er noch. Da schoben sich als eiserner Keil die Kürassiere zwischen mich und den von den Meuterern erhöhten Gottschalk; ihre Klingen blitzten in rüstigem Einhauen und der Kampf geriet bis zur Siedehitze.
Die erste Kanone brüllte auf.
Das Gewühl überschlug, verschlang sich, – – und von da ab kann ich nicht mehr sagen, wer kämpfte, wo man kämpfte. – – Die Verwirrung war unermeßlich!
Ich sah Offiziere jenseits der Brücke hin- und herreiten, ein General ritt heran, zog den Säbel – – mit jagenden Adern schlug ich die Büchse auf ihn an. Ich weiß nicht einmal, ob der Schuß herausfuhr, so groß war der Lärm. Der General fiel, – – – ob von meiner, ob von anderer, ob von zwanzig Kugeln, wer kann es sagen?
Und wieder Kugeln sausten zurück; an meinem Sturmhut schlug es den Hahnenstoß schwirrend weg, die Federn stoben um mich, und ich stand und lud und schoß in einem traumhaften Fieber.
Es krachte und sauste und heulte, Flüchtlinge kreischten, Vordringende brüllten, um mich herum fielen die Männer, aber verständnislos stand ich und lud und schoß.
Dann knallte es ringsum mehr vereinzelt, ich nahm mit größerer Überlegung meine Leute auf's Korn – – – – endlich winkten mir Männer schreiend zu.
Ich schaute auf, – – es waren Kollegen, Studenten: »Aufhören, aufhören!!«
»Was ist,« fuhr ich wie aus dem Traum. »Wer hat gesiegt?«
»Viktoria! Wir!«
»Gott sei Dank!«
Eigentlich fühlte ich kaum eine Freude; ich war erschreckt über die zügellose Wüstheit empörten Volkes, wie sie auch in mir selber aufgestiegen war, und ein unwilliges Fieber grollte in mir gegen beide kämpfenden Teile: Volk samt Garden – und Militär.
Erst der überlaute Jubel der Kollegen und der Wiener riß mich hin.
Das Militär ging über die Taborbrücken zurück. Ungezählter Pöbel umwimmelte allsogleich die düster blickenden Reihen, aber wie Aasfliegen auf das faulste Fleisch, so surrte das Gesindel mit Weibern und Buben um die meuterischen Grenadiere, drang abermals in ihre Reihen und löste deren Ordnung. Wieder ritt Kavallerie an, und es gelang ihr, einen Teil des Bataillons einzuschließen und wie eine Herde gegen den Bezirk Landstraße zu treiben. Diese Truppen zogen sich in den Auersperggarten. Wir aber mit dem losgelösten Meutererteil rauschten jauchzend in die Stadt ein.
Aber selbst, als ich in Döbling anlangte, um Gottschalk nach beendeten Kämpfen dort zu finden, war ich noch wie von Fieber durchstürmt. Das Schreckliche, in den wenigen Stunden in die Höhe und Breite geschossen wie ein Großfeuer, schien ungeheuerlich und in dem enggewohnten Beinring des Schädels unaufnehmbar. Denn in der Beschränktheit der biedermeierischen Weltanschauung hatte ich denken gelernt, und dazu noch unter Frauenzimmern!
Der Gedanke an die Bedeutung unseres gestrigen Abends, da die letzten treuen Soldaten des Bataillons verführt worden waren, schüttelte mich, und ich sehnte mich herzlich nach einer kaltblütigen Seele, die mir den Höllenzauber mit beruhigenden Worten erklären hätte können, denn mir selber glaubte ich es nicht!
Die Grenadiere waren ja zum allergrößten Teil schon von den Leuten ihrer Nachbarschaft bearbeitet worden. Es gab jedoch ganze Kompagnien Gutgesinnter, und jene des Hauptmanns war die beste gewesen. In solcher Gesinnung hatte der herbe Kommandant seine Unterabteilung in den wenigen Tagen, welche er ihr vorstand, sehr bestärkt, und der Bataillonskommandant durfte es wirklich wagen, einen Zug dieser Getreuen, wie es in unruhigen Zeiten Brauch ist, zur Begleitung des entfernt wohnenden Offiziers zu kommandieren. Der gänzlich unerwartete Abfall dieser Festgebliebenen übte einen vernichtenden Einfluß auf die Moral der Kameraden aus; da erst brach im Bataillon Richter offene, schamlose Anarchie aus – – und der Riesenbrand hatte begonnen!
Als ich in Gottschalks Dorf hinausrannte, der erste, welchem die wildwartenden Bewohner an seiner ganzen Zerfetztheit den Kampf ansahen, da wurde ich augenblicklich wie zum Grunde eines Kraters gemacht, so umschlang und überstürzte mich die erregte Menge um Nachricht, Neuigkeit!
Und da sollte nun ich reden, ich, der ich mir selber so gerne sagen hätte lassen, was geschehen war. Ich stotterte, ich stieß die Worte wie Kieselsteine heraus, aber jedes wurde wie ein Weihnachtsgeschenk angestaunt und bejubelt. So wurde ich unter den Kleinen kleiner, das Behagen des Mitteilens nahm mich ein, die große Gedankenwelt schob sich hoch und ferne wie eine abziehende Wetterwolke fort und ich schwelgte im Stoff, in der großen Neuigkeit, in der Welt, welche sich ohne warum und wohin genießt.
Neue Menschen von allen Altern kamen, und die Greise darunter waren die widerwärtigsten … Alt und neugierig! Ein langes Leben ohne die geringste Weisheit zum Beschlusse desselben! Wie kreischten und kläfften sie: wie alte Wucherer, welche man bestohlen hat!
Endlich lief die vollgesättigte Sippschaft auseinander, um sich nun ihrerseits in andere Ohren zu entladen … und ich schuf mir davoneilend eine ersehnte Einsamkeit zwischen den Hecken an braunen Herbstwiesen, wo die Grillen das Wort Unendlichkeit sangen.
Da jedoch kehrte auch die große Fassungslosigkeit, das Durcheinanderlaufen sehnsüchtiger Wünsche nach großen Anschauungen wieder. Ich versuchte von neuem, den Gang der Gestirne dieses Achtundvierzigerjahres zu verstehen und die Krystallisationslinien in diesem Chaos zu entdecken. Denn wie alle Menschen zu jeder Zeit glaubte ich, wir Wiener alle, und Gottschalk am festesten von uns: Nun wird der dauernde Zustand geschaffen, und die Verhältnisse, welche wir so gewaltig durcheinander schüttelten, werden sich vor unsern begnadeten Augen harmonisch zur Endordnung lagern! – – – Und doch drehen die Kinder ihr Kaleidoskop nicht ungeduldiger, als die menschliche Unruhe an den Staaten schüttelt.
Damals nun fragten alle Stimmen in mir: Welche Welt bildet sich von heute ab?
Mir schwammen die Augen vor lauter Grübelei, und in Gedankentrunkenheit starrte ich nach dem Lichte, welches über den Wiesenhügeln flimmerte. Da stieg jenseits der dunkle Umriß eines schlanken bewehrten Mannes herauf und blieb am Saume des Horizontes stehen.
Von je schaute ich gerne den Gestalten zu, welche auf einer Höhe wandelnd nur den Himmel zum Hintergrunde haben, und so blickte ich aus alter Gewöhnung wiewohl in Gedanken verloren, auch jetzt hin. So geschah es, daß ich den herniedersteigenden Hans Gottschalk erst an seiner Stimme erkannte.
»Auch du bist entrückt,« sprach er mich an. Wir drückten uns in tiefer Bewegung die Hand und gingen mitsammen schweigend weiter, wie wir so oft gegangen waren.
Aber in mir war alles Anfrage, und bald drängte ich heraus: »Hans, was wird daraus werden?«
Er ging eine zeitlang schweigend weiter und sah mild in die klare Ruhe umher, als wollte er die Abendglocken ringsum ausklingen lassen, bis er seiner inneren Harmonie zu tönen gestattete.
»Was werden sollte,« sagte er dann, »will ich dir wohl sagen, wenn die Zeiten gut bleiben. Denn eine neue Welt ordnet sich voll Klarheit in mir, und ich weiß, wie ich anfange und wohin ich es lenke. Aber heute, – – – heute ist Feierabend!«
»Feierabend?« fragte ich vorwurfsvoll. Er aber antwortete mit einem Glücksgefühl, das bis zu mir hinwehte: »Wir leben so wenig. Was uns nicht außerordentlich ist, das leben wir nicht; – im Alltag vegetieren wir nur. Jetzt aber läuten alle Glocken! außen und innen! O! Höre ihnen zu!«
Und er träumte sich an meiner Seite durch die Wiesen und Weingärten fort; – – unbefriedigt mußte ich neben ihm Schritt halten: Ich ein trüber, hochgeschwollener Bach nach dem Gewitter, er ein See in der Abendsonne! – – –
So verschieden war uns dieser Tag.
Als wir aber nach Hause kamen, machte er dennoch nicht Feierabend. Er schrieb Brief über Brief, der ganze Schreibtisch war bald damit bedeckt.
»Lass' mich mitarbeiten,« bat ich.
»Heute kann's nur ich alleine tun,« sagte er, »es sind Bekannte, an die ich berichten muß. Nach und nach aber wirst du mir wohl helfen müssen, denn heute Adressen zu schreiben kann ich dir doch nicht zumuten.«
»Immerhin müßtest du mir Vertrauen damit beweisen, denn die Namen deiner Bekannten würden mir vieles offenbaren,« bat ich.
Gottschalk lächelte: »Das werden sie wirklich. Setz' dich und schreibe:
Kossuth Lajos – Preßburg.«
»Kennst du den,« schrie ich auf.
»Gesehen habe ich ihn nur einmal, als er die Rede vom Balkon der ›Ungarischen Krone‹ hielt. Aber wir korrespondieren. – Ein merkwürdiger Mann!
Ich, als der Jünger, bin mit einem Briefe an ihn getreten, er solle mit uns Deutschen in Oesterreich ein Schutz- und Trutzbündnis eingehen, um – – –«
»Um?« fragte ich in banger Spannung auf eine ungeheure Keckheit.
»Um eine Linie von Republiken durch Europa zu ziehen,« sagte Gottschalk langsam: »An die Schweiz anhängend die großen Freistaaten zwischen Main, Rhein und Donau und die Republik des Alpenbundes, dann die Republik der Erben Attila's.«
»Hans!« rief ich, entsetzt über diesen offenkundigen Hochverrat.
»Dir gefällt vielleicht die Republik nicht ganz?« fragte er ruhig dagegen. »Ja, – – wenn der Erzherzog Johann noch fünfundzwanzig alt wäre, dann würde sich Deutschösterreich von selber um ihn ordnen, wie der trübe Hauch eines Fensters sich zur poetischen Eisblume umdichtet. Aber … vielleicht ist es so besser.«
»Was hat dir Kossuth geantwortet?« fragte ich gespannt.
»Lies da,« sagte Hans und suchte einen Brief hervor, den ich mir zu gut gemerkt habe, um ihn nicht wörtlich wiedergeben zu können.
Er lautete:
»Lieber junger Freund!
Während meiner politischen Laufbahn habe ich, ausgenommen einige außerordentliche Geister von festem Besitz, mit desparaten Plänemachern und bankerotten Gesellen aller Art, vornehmlich aber mit vielen Lumpen zu tun.
Soweit ich meine Leute von Aug' zu Aug' kenne, vermag ich sie sehr gut zu beobachten.
Fremde aber?
Ich würde Ihnen gar nicht geantwortet haben, wenn ich nicht erkannt hätte, daß auch die kleinste Kraft als Sparpfennig in die Kriegskasse der Freiheit gut genug ist. So antwortete ich allen, aus deren Briefen Talent oder Kühnheit spricht.
Jedoch, ich muß Ihrer sicher sein und gebe Ihnen darum eine Schulaufgabe. Sie sind stud. phil.? Ich brauche zu einer Rede Daten, die zu sammeln ich jetzt nicht Zeit habe. Werden Sie doch mein Mitarbeiter und stellen Sie mir, von Karl dem Fünften an, alle Missetaten der Habsburger an dem Willen und Gewissen ihrer Völker zusammen. Sie verstehen: Gegenreformation, Hausmachtkriege auf Kosten der Völker, Nationalitätenwürfelei u. s. w.
Kompromittieren Sie sich rücksichtslos, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen trauen soll und schreiben Sie, wenn diese Ihren jungen Ehrgeiz beschämenden Worte Sie nicht abkühlen, Ihrem ergebenen Freunde …«
Die Unterschrift fehlte.
»Und das schrieb Kossuth?« rief ich. »Er, er ist feig genug, anonym zu schreiben? Wie klein!«
»Geduld,« lächelte Hans, »heute unterschreibt er sich mir schon.«
»Du hast also jenes schwarze Register abgefaßt?«
»Ja. – – – Und ich bin über dieser Arbeit so ganz und gar Protestant und Republikaner geworden, daß ich mich hüten muß, den Fanatiker zu verbergen. – – O, Hager, die Puritaner allein durften einen König stürzen!«
Ich fühlte, daß ich blaß wurde, an so furchtbare Dinge streifte seine Rede.
Daheim bei uns hing das Kaiserbild neben dem Hausaltar. Jede Geburt und jeder Todesfall in dem hohen Kreise war uns ein Familienschicksal, und wenn meine treue schlichte Mutter betete, so waren es ihre Kinder und ihr Kaiser für die sie Glück erbat.
Hatte ich einmal den lieben guten Herrn vorüberfahren sehen, so war mir den Augenblick ein Stück Himmel offen gestanden. Las ich von ihm Menschliches, so schossen mir die Tränen in die Augen, und selbst als ich auf der Hochschule die Umsturzgeister in mich einließ – ach, da ging es seither wie Glockengeläute und Jahrmarktgeschrei in meiner Seele darunter und darüber: Das liebe, treue »Gott erhalte« und das » Allons enfants de la patrie!« – – Biedermaier und Sanskülott!
Schwer quälte mich das Interregnum meiner Seele, und daß ich nach keiner Seite hin ein ganzer Mann sein konnte.
Gottschalk aber ordnete meine Zweifel.
»Nur die erhabenste, selbstloseste Reinheit steht noch über der Krone,« sagte er. »Ohne diese Reinheit des Strebens sind alle Revolutionen widerliches, boshaftes Affenspiel.«
Und im Glauben an seine Sendung wurde ich, als er mir die rote Fahne so dicht vor Augen hielt, schwach. Und statt daß der Sohn der schlichten Bürgersleute schlicht aufgestanden wäre und gesagt hätte: »Ich kann dir in diesem nicht dienen,« preßte ich mit einem Herzen, das wie vor dem Genuß des ersten Weibes bebte, die Worte heraus: »Gut! – Weiter.«
Hans Gottschalk diktierte mir nun Görgei's Adresse und mir war als ob ich an Danton schriebe. »Dem Mörder Zichy's« sagte ich.
»Hager,« entgegnete Gottschalk ernst, »der Mann ist rein! Kossuths Antlitz mag voll Sonnenflecken sein, so leuchtet dieser Mensch aus seinem Gesicht wie ein Erzengel.«
»Kennst du denn ihn?«
»Ja, – durch den Hauptmann. – Ich war fünfzehn Jahre, als Görgei hier in Wien Chemie studierte und durfte oft mit ihm gehen. Was sie da sprachen, bildete zuerst meine zweifelvolle Seele zur Entschlossenheit.«
»Der Hauptmann – – – und Görgei –,« staunte ich. »Die zwei verstanden sich?«
»Damals ja. Sie waren beide jung, und ihre Wege spreizten noch nicht auseinander.«
»Aber du warst doch noch viel, viel jünger als sie.«
»Ich hörte von ihnen auch nur, auf welche Weise sie den Schiller zu lesen und zu nehmen pflegten …
Schreibe weiter: Robert Blum, – Frankfurt.«
»Der Borstwisch,« entfuhr es mir.
»Urteile doch nicht wie ein Weib; er ist gewiß Plebejer innen und außen, aber verrostete Kessel, wie diese heutigen Staatswesen es sind, müssen blank gekratzt werden. – – Ludwig Uhland.«
»Nun wieder der!«
»Er hat eine reine Seele, welche ehrlich deutsch ist, wie Martin Luthers Tischreden.«
Und so schrieb ich Name auf Namen, bis ich müde war. Dann drückte ich dem gefährlichen Freunde die Hand und ging mit seinen vielen Briefen nach der Stadt, wo ich sie noch in dieser Nacht im »roten Igel« einem Kellner geben sollte, den mir Hans bezeichnet hatte.
Daß du ihm kein Trinkgeld gibst, sagte er noch lächelnd. Es ist das unser geheimstes Erkennungszeichen.
Schwer, als ob Ordnung gehalten werden sollte, wurde ich von den Nationalgarden in die Stadt eingelassen, und doch waren die Straßen voll Aufruhr. Der Ruf nach Waffen war stürmisch laut geworden, unruhige Gruppen eilten nach dem Zeughause. Ich rang mich nur mühsam bis zum »roten Igel« durch, wo in dem rauchvernebelten Gastzimmer des ersten Stockwerks zahllose Schlapphüte schwankten, wilde Stimmen durcheinander schrien, Machthaber Audienzen empfingen und den morgigen Tag vorausarbeiteten. Ordonnanzen schossen hin und wieder; hier fand ich meinen Kellner.
Zum erstenmale sah ich etwas von der wunderlichen Prosa in Gottschalks Verbindungen. Ich hatte gedacht, dieser Kellner müsse ein fanatischer Verschwörer sein, der in die dienende Maske das Herz eines Cassius gepreßt hätte, nur um im Mittelpunkte der Unruhe unbemerkt werken zu können, trotzdem er geächtet war.
Aber nein! – Es war ein wirklicher Kellner.
Mit lässiger Geberde, wie sie die Seelengröße niemals hat, empfing er die Briefe und sagte: »Warten Sie!«
Er leckte die Finger mit rundem Schwung, wie man ein Rasiermesser abzieht und hob einen Brief nach dem andern in das Licht der Ganglaterne. »Sie kommen von – –?« fragte er mit halbgeschlossenen Augen.
»Von Herrn Gottschalk,« sagte ich.
»Es ist gut,« sagte er, »ich danke.«
Die Audienz wäre zu Ende gewesen; mir aber ward Angst um die wichtigen Schreiben und ich fragte: »Werden die Briefe auch an die richtige Adresse – – –?«
Er strich mit der flachen Hand meine Einwendung so überlegen entzwei, daß ich verstummte.
»Grüßen Sie nur Herrn Gottschalk schönstens von mir und entschuldigen Sie: Der Herr Notarius, der nach Preßburg will und Briefe mitnimmt, soll zum Schiff und muß zahlen. – – Apropos,« rief er noch, als ich unwillig über einen solchen Bundesbruder nach dem Zeughause forteilen wollte. »Warum ist ihr Freund nicht selber gekommen? Ich habe ihm doch sagen lassen, – –«
»Was haben Sie ihm sagen lassen?«
»Verzeihen Sie: Ihr Name?«
»Johann Hager, Student, Philosophenkorps.«
»Ach so.« Und er wurde vertraulicher. »Sehen Sie, Herr, es soll das Zeughaus gestürmt werden. Etliche übergegangene Grenadiere möchten sich unter Herrn Gottschalks Befehle stellen. Dann ist ein Dankschreiben der Aula an ihn da und etliche von den Herrn Führern wollen ihm morgen ihren Besuch abstatten. Auch Damen haben sich erkundigt. Oh! Die sind überall hinter dem Interessanten her. Ihr Freund ist über Nacht ein berühmter Mann geworden und nur von ihm hängt es ab, – – allerdings auch ein wenig von uns, –«
»Das Zeughaus wird also gestürmt,« unterbrach ich ihn. Und er, mit wahrhaft professorhaftem Kopfneigen: »Wird gestürmt. – Sehen Sie Herrn Gottschalk in dieser Nacht noch?«
»Ich werde ihm sagen, er solle sich beeilen,« antwortete ich und gedachte ihn, bevor ich ging, noch ein wenig zu ärgern. Ich zog einen Zwanziger hervor und hielt ihm den hin. – – – Der Zwanziger glitt in seine Hand und von da in seine Tasche, so schnell und selbstverständlich, als ob er in's Wasser gefallen wäre.
»Danke mein Herr; besuchen Sie uns doch öfter; man kann heutzutage bei uns Karriere machen.«
Ein freier Wagen fuhr vorbei, ich rief den Kutscher an, stieg ein und fuhr nach dem Schottentor.
Diese Kellner! Alle Bewegungen ziehen sie in den Kreis ihrer Geschäfte. Im politischen Gasthaus helfen sie mit an den Staaten modeln, im Künstlercafé machen sie Kritik mit, stützen Premieren, untergraben alte Akademiker, übermitteln Bestellungen. Es ist ein besonders eleganter Großstadttypus, und er wartet noch auf den heitern Dichter, der ihn im Lustspiel verewigt.
Bei der Barrikade am Schottentor gab es große Anstände wegen des Durchlasses, denn da ich im Wagen ankam, war ich den tiefdemokratischen Mobilgarden eine unsympathische Erscheinung. Während ich mich hindurchzureden versuchte, rief mich der Freund an. Man traf sich damals außerordentlich häufig an den wenigen Ausgängen der Stadt.
»Diese Garden,« rief er mir lachend zu: »Die Nationalgarde will alles hinaus und nichts herein lassen, die Mobilgarde alles herein und nichts hinaus. – – Aber das Zeughaus!«
Wir rannten durch die Wipplingerstraße, von wo uns schon zahlreich die Schüsse eines grimmigen Feuergefechtes entgegenknallten. Roter Brandschein fiel über die Hausdächer und zugleich hob mit langsamen, schauerlichen Schlägen die große Glocke von Sankt Stefan zu rufen an. Das hellere Glöcklein der Stiegenkirche kreischte auf, die tieferen Stimmen des Minoritenturms und der Schottenkirche fielen ein und bald tobten über den menschenvollen, tollauten Gassen die Turmzungen der ganzen Stadt, als wäre große Auferstehung!
Man verstand die eigene Rede vor Lärm kaum, und das eilige Blut begann zum berauschenden Saft aufzukochen, als zahlreicher, näher und erschreckender die Schüsse scharfe Risse in das Glockengeläute machten.
In der Nähe des Zeughauses umrollte uns ein Jubelgebrüll. Gottschalk war abermals von einigen seiner Grenadiere erkannt worden. Leute liefen herzu: »Was gibt's? Ach der Gottschalk! Der Gottschalk?« – – – Alle schienen den Namen zu kennen.
»Kann ich da nirgends auf ein Dach kommen,« fragte Gottschalk einen Feuerwehrmann. Der führte ihn; – Grenadiere, Mobilgarden drängten nach –, auch ich –. Bald hatten wir von der schwindelnden Höhe eines Nachbarhauses das Dach des Zeughauses unter uns.
Wir begannen nun Ziegel, Balken, Bodengerät nach dem Dach des Zeughauses zu schleudern, um dasselbe zu zertrümmern und hernach das Holzwerk des Dachstuhls in Brand zu stecken. Es war eine lange Arbeit mit wenig Erfolg und wenig Gefahr. Dann und wann surrte eine Kugel zu uns herauf und schlug in das Gebälk des Daches ein. Männer und Buben liefen ab und zu (denn es hatte sich schnell ein Kontakt mit dem Volke unten gebildet), und brachten Pechkränze, Öl und Werg. Mitten in unserer Tätigkeit trat Gottschalk zurück und rief: »Aber das ist ja abscheulich! Die da unten können sich gar nicht wehren.« – – Niemand hörte auf ihn. Wir beide traten von den Dachluken zurück und sahen beschämt der eifrigen Brandstifterei zu.
»Der Hirsch!« rief Gottschalk aus, – »seht nur den an!«
Der kleine Doktor war auch da! – Aus einem Fenster warf er eifrig Pechkränze, aber alle fielen zu kurz. Seine Augen brannten lüstern, er hörte unsere Rufe gar nicht, bis ich ihn am Arme fortzog. Alle Nerven im ganzen Gesicht und am Leibe zitterten ihm.
»Lass' denen da ihr trauriges Vergnügen,« sagte Gottschalk zu ihm. »Wir wollen in die Front. Komm!«
»Ich bin unbewaffnet!« schrie Freund Hirsch und hielt sich verzweifelt an einem Dachbalken fest. Wir ließen ihn los.
In diesem Augenblick kam ein Student zu uns heraufgestürmt. »Ist kein Mediziner da?«
»Hier,« sagte Gottschalk, und wies auf den kampfgemuten Doktor.
»Ich habe keine Zeit,« schrillte der durch den Lärm.
»Kommen Sie doch, ein schönes Mädchen ist verwundet,« hallte ihm der Student ins Ohr. Da wurde Hirsch so glatt wie ein spazierender Staar und ging augenblicklich mit. »Wo ist sie denn,« frug er. Der Student stieg mit uns zwei stichfinstere Treppen hinab und wies uns in eine Wohnung, welche dick mit trüberhelltem Mörtelstaub erfüllt war.
Die Fenster waren geschlossen, aber mehrere Scheiben lagen zersplittert am Boden. Bald wußten wir, warum.
Bsssrrr – – – kam es an uns vorbei – ein Pfropf Mörtel fiel von der gegenüberliegenden Wand, eine Staubwolke löste sich. Die Kugeln vom Zeughaus schlugen herein.
Ein Mann stand am Fenster und antwortete dem Schuß augenblicklich aus seiner Flinte, so daß der Knall in so engem Raum uns beinahe die Ohren sprengte. Und gleich wieder kam es, wie wenn man eine Hand voll Schotter gegen die Wand geworfen hätte, prasselnd von drüben zurück, die Fenster zersplitterten, der Mörtel rollte und staubte mächtig.
Es war eine Salve gewesen, deren Wirkung wir nur sahen und welche wir gar nicht hörten, denn das Sausen der Kugeln wurde in dem zunehmenden Gekrach unsern Ohren unvernehmlich.
»Dort hinein!« schrie der Student mit aller Anstrengung seiner Lunge. Wir flüchteten in ein rückwärts liegendes Zimmer, wo der anbrechende Tag ein tiefes Grauen verbreitete; da hörten wir die Kugeln draußen wie Regentropfen an die Wand schlagen.
Der fremde Student steckte ein Licht an, – das natürliche genügte noch nicht. An einem Spiegel standen Armleuchter mit vielen Kerzen; er zündete sie alle an, und in einem unheimlich grell strahlenden Raume sahen wir uns um.
Nach einigen Augenblicken der Blendung unterschieden wir den Körper einer alten Frau, welche am Boden lag. – – Das Gesicht starrte wie eine verschmitzte Maske nach der Zimmerdecke, die Augen gekniffen, die Mundwinkel grimassenhaft lächelnd, – sie war tot.
Wütend fuhr Gottschalk den Studenten ob eines solchen Scherzes an, Hirsch flammte vor Erregung. Der Student aber, von dem Anblick selbst erschrocken, sagte: »Aber das war nur eine Verwandte! Dort!« Und er zeigte unter einen Schreibtisch.
Zwei schwarze Augen in einem runden, wachsweißen Gesichtchen starrten uns entgegen. Ein Mädchen saß da wie ein verkrochenes Hündlein und war ein großes Entsetzen.
»Kommen Sie heraus, arme Fiamma,« rief ihr der Student zu. Sie schwieg und blieb starr. Nun faßte er sie zart, beinahe zärtlich am Arm, da schrie sie einen hellen, kurzen Schrecklaut. So kniete denn an des zurücktretenden Fremden Stelle Gottschalk zu ihr hin und streichelte sie, als ob er ein verängstetes Tier beruhigen wollte. Er schmeichelte ihr um Wangen, Kinn und Haare … Sie sah ihn an und ließ sich heraushelfen. Jetzt führten wir sie zu einem Stuhl; an ihrer Schulter war Blut, der ganze, geschmeidige Körper vibrierte, – ich möchte sagen, süß.
Hirsch löste ihr den Spenser, ließ das Hemd herab – sie litt es. Wir aber standen festgezaubert und schauten die unverhoffte Schönheit dieses Körpers, in Sünde verloren an.
»Wasser,« rief uns Hirsch zornig zu. Der fremde Student, in dessen Antlitz nichts als Angst zu lesen stand, war der einzige, welcher sich zu bewegen vermochte. Der gute Junge sprang fort, kam bald wieder, und Hirsch wusch dem zitternden schönen Kinde Schultern und Brust. Ein langer Riß zog sich von der Achsel gegen den Oberarm.
»Nur ein Streifschuß,« lächelte der ehemalige Mediziner zufrieden. »Leinwand!«
Wieder sprang der Fremde zu einem Wäscheschrank, den er aufriß und ihm beide Arme voll weißer Hemden entnahm. Er schien hier zu Hause zu sein. Jetzt, als Fiamma verbunden wurde, sprach er als erstes Wort: »Ungefährlich! Liebe, liebe Fiamma, ungefährlich!«
Hirsch umschlang den lieblichen Arm, welchen Gottschalk in wagrechter Lage halten mußte, mit weichen Binden und murrte: »Braucht ärztliche Pflege; hören Sie? Ich will das aber aus Kollegialität übernehmen.«
Der Morgen wurde immer heller. Und das berückend schöne, halbnackte Mädchen stand im Zwielicht vor uns, zwei Tränen rollten ihr über die Wangen, prallten auf die Brüstlein und schlichen von da mit beunruhigender Langsamkeit weiter in's Versteckte hinab. Leise und reintönig wie eine Viola begann sie zu wimmern – ein liebliches Präludium, auf welches ein bitterliches Kinderweinen losbrach. Dabei kleidete sie sich mechanisch an, sah uns nacheinander trostlos in die Gesichter und weinte, daß es sie schüttelte. Als aber Hirsch ihr beim Ankleiden helfen wollte, wich sie ihm aus und beeilte sich sehr.
»Sie dürfen nicht hierbleiben,« rief ihr Hirsch zu, als sie fertig war.
»Ich weiß, wohin ich sie bringe,« begann nun der junge Mensch, welcher bis dahin so wortkarg gewesen war und nahm ihren Arm.
»Sind Sie denn mit ihr bekannt?« rief Hirsch in einem unangenehm überraschten Ton, der uns wohl allen aus dem Herzen kam. Denn vielleicht hätte jeder gern auf das hilflose schöne Geschöpf ein Anrecht gehabt.
Gottschalk allein ging ruhig nach der Türe. »Kommst du?« fragte er nach mir zurück; da wollte auch ich gehen.
»Bleiben Sie,« rief uns das arme Kind angstvoll nach, »verlassen Sie mich nicht!«
Gottschalk blieb unschlüssig auf der Türschwelle stehen. »Ich sollte kämpfen,« sagte er vorwurfsvoll. Schon tönte draußen das Knattern der Gewehre langsamer und widerwillig. Wir nahmen das Mädchen, welches uns willenlos folgte, in unsere Mitte und traten auf die Treppe hinaus. Auf dem ersten Stiegenabsatz blieb sie stehen. Kaltes, graues Frühlicht ließ uns alle bleich aussehen. »Mich fröstelt,« sagte sie. Ihr Bekannter, der fremde Student flog zurück hinauf, um ein Tuch zu holen. »Warten Sie auf mich,« rief er zu uns zurück. In demselben Augenblick spritzte neuerdings eine Fensterscheibe auseinander und: Patsch, saß wieder eine Kugel an der Mauer. »Schnell fort,« rief der bleichgewordene Hirsch. Wir stiegen mit dem Kinde, das nur vorsichtig die Füßchen aufsetzte und mehrmals in die zarten Fesseln knickte, zwei Treppen hinab. »Halt! Halt!« rief es hinter uns. Gottschalk und ich sahen zurück und blieben stehen, um den Studenten zu erwarten, der uns mit einem großen Tuche nacheilte. Hinter dem Mädchen entfaltete er dasselbe, um es ihr um die Schultern zu legen, – da knirschte abermals ein Fenster, Scherben klirrten, eine Kugel schlug irgendwo nahe bei uns mit hohlem Tone auf und der Student blieb jählings stehen. Er war wachsblaß geworden. – »Fiamma!« schrie er. Sie hörte ihn nicht und hastete an der Seite Hirsch' weiter. – Noch hielt ihr Freund die Arme mit dem Tuche weit ausgebreitet, um sie einzuhüllen. In dieser versteinten Haltung neigte er sich wie ein gefällter Baum vorwärts und stürzte zwischen uns beiden hindurch auf das Tuch, bevor unsere Arme ihn auffangen konnten.
Wir drehten sein Antlitz nach oben. Die schwarzen Augen schauten merkwürdig hell und rund aus dem blassen Antlitz, wie man es bei einem angeschossenen Vogel sehen kann. Er atmete noch ein wenig, – aus seiner Seite quoll Blut, doch blieb er ganz still: nicht ein Seufzer verriet, daß er leide. Wir richteten ihn mit dem Oberleib empor, da sagte er mit schneidend hellen, vereinzelten Worten und einem erst jetzt zu bemerkenden italienischem Jargon:
»Sagt ihr, daß ich sie geliebt habe!«
Dann sank er zurück. Noch blieben seine runden Augen hell, aber sie sahen niemand mehr an. Wir hielten ihn immer noch und blickten uns ergriffen in die Augen. – – – Sanft und beruhigt endete er seine jungen Tage in fremdem Lande, in fremden Armen.
Unten am Tor stand Hirsch mit dem Mädchen. Er wagte sich noch nicht hinaus, obwohl das Schießen nach und nach aufhörte. Als wir sie eingeholt hatten, fragte uns Fiamma gar nicht nach ihrem Studenten und wir waren froh, ihr das Schreckliche verschweigen zu können, denn sie war ohnedies verängstet genug. So gingen wir an ihnen vorbei auf die Gasse hinaus vor das Zeughaus …
Das Schießen hatte aufgehört, erwartungsvolles Murmeln lief durch die zusammengerottete Volksmasse, welche durch berittene Anführer zur Ruhe vermahnt wurde. Soeben knarrten die Tore des lange verteidigten Gebäudes auf – – langsam, langsam geschah es. – – –
Die Besatzung hatte sich ergeben.
»Daran haben wir weniger Verdienst, als die Juden an der Erlösung der Menschheit,« sagte Gottschalk bitter. »Unsere ernste, teure Zeit haben wir bei einem nackten Mädchen vergeudet. Solches darf uns nicht wieder geschehen!«
»Nun müssen wir doch das reizendere von den beiden Abenteuern beenden,« meinte ich etwas zögernd. Gottschalk sah mich kopfschüttelnd an, ging aber doch mit mir zurück.
Der Kampf war gänzlich zu Ende, die Lüfte schwiegen, immer aber noch stand Hirsch mit dem schönen Mädchen, welches der Erschossene Fiamma genannt hatte, im Haustor, vorsichtig wie zwei verliebte, sonntäglich geputzte Leutchen nach einem Platzregen.
»Kommt nur,« rief Gottschalk, »es ist alles zu Ende.« – –
Fast wie eine Trauerbotschaft sagte er das.
Wir gingen nun zu vieren fort. Hirsch hatte dem Mädchen inzwischen abgefragt, daß sie nun in Wien heimatlos geworden sei. Immer noch nachschluchzend erzählte sie uns, daß ihr Vater, der Direktor einer wandernden Schauspielertruppe, sie zu einer Tante gegeben hatte, weil es jetzt im ganzen Lande so unsicher sei.
»Und nun ist es da am ärgsten,« weinte sie laut heraus.
»Nu, nu, es ist doch recht interessant,« lächelte Hirsch. »Sie haben freilich die Freiheit nur bei Wetterschein kennen gelernt. Aber das Schicksal hat Ihnen Freunde geschenkt.«
»Wer wird Ihre tote Verwandte begraben?« fragte Gottschalk ernst.
»Ich weiß niemand,« klagte sie.
»Hat sie keine Verwandten gehabt, – – oder vielleicht sogar Freunde?« fragte er.
»Ich weiß keine,« kam es trostlos zurück.
»Hat sie nie über jemand Lieben gesprochen?« examinierte ich weiter.
»Nein! – Nein!«
Gottschalk lächelte düster: »Keine Verwandten? Hat sie nie über Undank, Vertrauensbruch, böse Nachrede, Falschheit – oder: nun hab' ich es, Erbschleicherei geklagt?«
Das Mädchen zuckte auf: »Ja, ja!« rief sie mit erstaunten Augen: »Der Onkel Körndl! Wie kommen Sie auf so etwas?«
Gottschalk aber fragte in seiner ruhigen, traurigen Weise weiter: »Wer ist der Onkel Körndl?
»Famos,« murmelte Hirsch vergnügt dazwischen.
»Er hat ein Versatzamt in Margarethen und ist ein Wucherer. Zu dem geh' ich nie und nimmer.«
»Nein, nein! Er soll sie nur begraben,« sagte Hirsch mit vergnügter Trockenheit. »Ist Vermögen dageblieben?«
»Die Tante hat nur eine kleine Pension gehabt und war sonst mittellos,« antwortete Fiamma. »Vater hat für mich zahlen müssen.«
»Ah, da werden wir ihn seine Verpflichtung durch die Polizei wissen lassen,« sagte Hirsch, »und ich will ihm zum Überfluß noch schreiben. Aber Sie, Fräulein – – –«
»Fiamma,« ergänzte Gottschalk halblaut.
Sie sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte sie.
»Vom Studenten, der bei Ihnen war.«
»Ach, der italienische Zimmerherr! – – –« Sie fragte gar nicht, wo der geblieben war und wir wollten es ihr noch nicht sagen.
Hirsch brachte nun sein Anerbieten vor: »Hören Sie, Fräulein! Ich werde Ihnen ein hübsches Kämmerchen verschaffen und Sie als Ihr Arzt alle Tage besuchen.«
»Bei wem soll das sein?« fragte das Mädchen mit dem ersten Lächeln, das wir an ihr sahen. Es lag eine kleine Arglist in diesem Lächeln.
»In der ersten Not bei mir,« sagte der junge Journalist verlegen.
»Und Sie sind allein?«
»Ja; aber mein Vater kommt bald.«
»Mutter haben Sie keine?«
»Die ist leider tot.«
»Dann will ich nicht.« Und sie sah Gottschalk mit rührender Frage an:
»So hilflos bin ich nun!«
Da begann Gottschalk stockend: »Ich habe eine liebe, gute Mutter. Ich werde mit ihr wegen Ihnen reden.«
Fiamma sah ihn lange mit seltsamen Augen an, die Blicke der beiden schönen jungen Leute saugten sich ineinander.
»Ich ginge gerne zu Ihnen,« sagte Fiamma nach langer Pause. Gottschalk hatte sich dieses berückende Geschöpf gewonnen. Da begann eine leise jubelnde Hoffnung in mir zu hüpfen, daß Margarethe für mich frei werden könnte.
Doktor Hirschen aber hingen die Backen mißvergnügt herunter. »Ich werde also, wenn Frau Gottschalk Sie wirklich aufnehmen sollte, täglich nach Ihrem Befinden sehen, nicht nur als Ihr Arzt, nein, auch als Freund, auf den Sie zählen können.«
Und er begann, dem Mädchen genau darzutun, wie es in Behandlung seiner Wunde sich halten sollte. Es war eine lange, gelehrte und liebenswürdig sorgsame Auseinandersetzung, und Fiamma ließ sich das alles gerne gefallen. Sie schien wieder ganz beruhigt.
Als wir nach Sievering gelangten, kam uns Frau Gottschalk vor dem Haus entgegen. Sie war in furchtbaren Sorgen gewesen und hatte seit grauer Morgenfrühe von Hansens Dachfenster nach uns ausgeschaut. Nun kam sie uns mit zusammengeschlagenen Händen entgegen: »Kind! Um Gotteswillen!«
»Ich habe müssen, Mutter.«
»Und du warst dabei, wie sie den Latour aufgehängt haben?«
»Den Kriegsminister Latour?« schrie Gottschalk erstarrend. »Was für Schauermärchen erzählt man euch da heraußen! Davon weiß ich nichts!«
»Gott und der heiligen Jungfrau sei Lob und Dank!« rief die Frau, ohne die Frage des Sohnes zu beantworten. »Aber ihr Studenten seid ja immer wie verrückt in euren Ideen: Da weiß man nie, was ihr tut! Du warst aber doch sonst in Gefahr?«
»Ach, leider nein,« sagte Gottschalk und zog Fiamma an der Hand neben sich. Frau Gottschalk sah erstaunt auf das schöne, zigeunerhaft brünette Mädchen. »Ja, was ist denn mit Ihnen, liebes Kind,« fragte sie, als Fiamma ihre Hand erfaßte, um sie zu küssen.
Das arme, verlassene Ding begann von neuem zu weinen und kniete schluchzend an der guten Frau nieder wie an einem Heiligenbild, ohne ihre Hände loszulassen.
»Nun, nun, was hat sie denn?« fragte uns Frau Gottschalk betreten, als das liebe Kind immer noch keine Worte fand.
»Sie ist ganz allein in der großen Stadt zurückgeblieben,« erzählte Gottschalk. »Ihre Tante, bei der sie Schutz finden sollte, ist erschossen worden.«
»Helf uns Gott!«
»Ihr Vater streift im Land in Geschäften umher, und damit ihre Hilflosigkeit nicht mißbraucht wird, bedachte ich, du würdest vielleicht ein gutes Werk an ihr tun …«
»Aber freilich, aber natürlich,« rief die gute Frau eilig: »Grethel! Grethel!«
Die stand schon hinter ihr. »Ja, Mutter,« sagte sie nun.
»Hast du gehört, Grethel? Ganz verlassen ist sie! Nimmst du sie in dein Zimmerl?«
»Es geht recht gut,« sagte Grethe langsam.
»Ihr werdet Freundinnen werden, was? Und das Mäderl hilft uns in der Wirtschaft ein wenig da und ein wenig dort …«
»Ja, ja,« rief Fiamma freudig aufspringend. »Wenn Sie mich als Kellnerin brauchen können – –«
»Überall halt ein bisserl,« sagte Frau Gottschalk gütig, nahm sie bei der Hand und führte sie in ihr Haus. Margarethe, bevor sie sich anschloß, drehte den Kopf herum und sagte mit einem sanften Vorwurf: »Hans, guten Morgen!«
»Guten Morgen,« brach mein Freund hastig und aufgeschreckt heraus.
Auch seine Mutter sah sich noch einmal nach ihm um und bat: »Heute bleibst du aber da; wie? Heute gehst du nicht mehr fort.«
»Heute bleibe ich da; heute gehe ich nicht mehr fort,« wiederholte Hans mit denselben Worten, und neigte zweimal langsam den Kopf. Er war ganz zerstreut.
»Wer wird auch ans Fortgehen denken, wenn ein solcher Gast im Hause ist,« stichelte Hirsch.
Gottschalk sah ihn an und antwortete nicht.
»Ich beglückwünsche dich – –!« fuhr Hirsch fort.
»Lebt wohl,« sagte Gottschalk statt einer Antwort und ging von uns fort in den Garten.
»Mir ist nicht Glück zu wünschen,« hörte ich ihn leise sagen. Er fürchtete eine Liebe.
Da überließ ich ihn dem Dornenpfade seiner einsamen Denkergänge und kehrte zu Hirsch zurück.
»Das ist ein Mädchen,« rief mir der von Fiamma gänzlich Eingenommene zu. »Süß und bezwingend wie ein verliebter Traum!
Hast du sie dir angesehen? Hast du die süßen Glieder – – – Ach weh! – – Warum habe ich den Verband nicht langsamer angelegt!«
»Vor diesem Hause sollst du mir nicht schmutziges Zeug reden,« sagte ich unwillig.
»Ach ja! Das ist ein Wirtshaus, das ist ein Wirtshaus!« schwärmte Hirsch. Er stellte sich vor der rebenbedeckten Front auf. »Wie im Volkslied! Ein blondes Köpfchen und ein schwarzes Köpfchen hinter den Fenstern. – – Ach! Das ist eine Delikatesse! Ick möchte dichten können wie Heine, und Glück haben wie Goethe!«
»Ho–o–o–ppp!« schrie es hinter ihm. Der Doktor sprang beiseite. Ein Wagen fuhr beim Gartentreppchen vor, ein Wagen mit einem Quartett von Schlapphüten und roten Straußfedern.
»Wo ist Herr Gottschalk?« rief einer der Legionsoffiziere.
»Oben im Garten oder im Haus.«
»Danke, liebster Freund,« winkten mir alle viere zu und stiegen aus, wobei jeder einzelne über seinen Säbel stolperte.
Hirsch hatte sich auf die Bank neben der Tür gesetzt. »Sapperment,« sagte er: »Violand, Goldmark, Tausenau und Chaises! Die Olympier! Gottschalk wird eine Größe.« Dann fuhr er sich erschrocken hinters Ohr: »Ai! Ai! Ich vergesse mein Journal! Adieu! Heute Abend komme ich wieder. Laß mir, wenn du nicht da sein solltest, gewißlich Post zurück, was die viere bei Gottschalk wollten. Du bist ja doch da?« Und er stürmte fort, mit einwärts gerichteten Fußspitzen, und bisweilen eigentümlich, vielleicht bocksartig hopsend. – Ich hatte schon an Judenkindern des öfteren bemerken wollen, daß sie anders hüpfen wie die unsern und versenkte mich jetzt in physiologische und psychologische Gedankenwirrnisse, wie wir diese Rasse unserm Herzen und unserem Blute nahe bringen könnten.
Nach einiger Zeit störten mich die vier zurückkommenden Volksgewaltigen. Frau Gottschalk war herbeigeeilt: »Vielleicht ein Glas Wein, meine Herren?« rief sie ihnen nach.
»Danke, heute nicht. Aber wir werden ja öfter kommen,« antwortete der eine liebenswürdig.
Auch mir winkten sie abermals freundlich zu, als die Pferde anzogen: »Adieu, lieber Freund und Bruder!«
»Ich habe die Ehre, meine Herrn,« erhob ich mich.
Vier gewinnende Lächeln, vier winkende Hände, vier hüpfende Räder, eine Wolke von Straßenstaub, – und die Erscheinung mit den roten Federn war verweht.
Gottschalk stand hinter mir.
»Ah, Freund,« rief ich, »deine Zeit ist wirklich gekommen. Du wirst nun ein großer Mann.«
»Latour ist ermordet!« stieß er mir, bleich vor Erregung, entgegen.
»Was? Was?« schrie ich entsetzt. »Der arme Greis von – –! Der alte Kriegsminister? Aber das ist ja scheußlich! Und das haben dir diese lächelnden Herrn mitgeteilt? So ohne Ernst? Ohne Gewissensbisse? Ohne Angst?«
»Die? Die wissen, daß der Reichstag den Mord billigt … und sie haben nur Gewissensbisse, wenn sie Angst haben.«
»Aber das reißt ja den Staat entzwei! Das Militär wird furchtbare Rache nehmen,« brach ich los.
»Eine große Gunst für mich! – – – Denn jetzt beginnt der Orkan, und der wird die Schwätzer wegblasen. Es wird fressender Ernst, und Wien muß in seiner Not nach einem Manne aufschreien!«
»Deshalb sind sie doch nicht zu dir gekommen!«
»Die! Ach Gott nein. Benützen wollen sie mich,« lachte Gottschalk ingrimmig. – – »Sie mußten mich kennen lernen! Und haben mich an ihren Tisch in der ›Ente‹, oder wie das rote Wirtshaus heißt, eingeladen.«
Richtig! Die Journalistenente und der »rote Igel« (was für ein Symbol ironischen Zufalls in den beiden Namen!) sind jetzt Gehirn und Rückenmark von Wien, bedachte ich. Dann fragte ich weiter: »Was haben sie dir sonst angeboten?«
»Viel zu viel und viel zu wirr,« sagte Gottschalk sehr bedeutend. »Eins aber haben sie mir gesagt, was sie gewiß nicht beabsichtigt haben: Sie und ihresgleichen sind nicht die Rechten! Was sage ich? Die Rechten! Es darf nur einer sein!«
»Wirst du es werden?«
»Ich will. – – – Aber ich weiß, daß mit einem solchen Willen hundert im Sande festlaufen oder gar im Schiffbruch zerschmettern und kaum einer landet. – – Höre jedoch die bessere Neuigkeit: Die Arbeiter der umliegenden Vororte haben mich zum Major ihres Mobilgardenbataillons gewählt.«
»Ah! Das ist schön,« rief ich.
»Auch dir haben sie eine Kompagnie zugedacht.«
»Mit Freuden!«
Wohl durfte ich mich freuen. – Die Mobilgarden dieser lieblichen Gelände unterschieden sich sehr von jenen der Fabriksbezirke. Unseren Arbeitern hatte der freie Himmel oder die familienhaft trauliche Werkstätte doch ein anderes Aussehen gegeben, als jenen ihre schwarzen Fabriksäle. Hier waren die Menschen der zufriedenmachenden Natur näher und die Erde läßt nicht so mürrische Flecken im Antlitz zurück, wie der Ruß. Von diesen Kompagnien war ein Teil, besonders gegen das Lumpengesindel der Arbeitsscheuen, das sich anderswo Mobilgarde nannte, still und beinahe kontemplativ zu nennen. Sie hatten einen bäurisch eigensinnigen, aber nicht unreinen Charakter.
Ich mag damit den andern Arbeitern jener und der heutigen Tage nichts Übles nachsagen. Manche hatten damals noch viel vom alten Handwerksburschen; aber schon lag auf der allgemeinen Masse, wenn sie so dahinzog, der mürrische, stumpfe Druck, den wir heute an jedem ersten Mai sehen können. Die Zeitungen dieser Parteien schreiben viel von der imposanten Heerfahrt der Arbeiterbataillone. – – Wem bloßes Quantum imponiert?! – – Mir lag die Wirkung, die Eindringlichkeit eines solchen Aufzuges immer anderswo: Eine furchtbare Anklage in das Antlitz der heutigen Weltordnung, sagen jene Blätter? – Gewiß: Eine erdrückende Anklage! – Aber eine mitleiderregende. O liebste Psyche, wohin haben sie dich getrieben! – Mit jenen im »dröhnenden Schritt« gehst du nicht!
Gefährlich aber, und jedem ernsten Blick ein Abscheu waren jene Massen, welche nicht eigentlich aus Arbeitern bestanden: Die halberwachsene Vagabundenwelt, Menschen von dunklem Erwerb, Zuhälter; solche Gestalten leben als »Mobilgarden« in unserer Erinnerung fort, die wir jene Zeit gesehen. Da waren die ländlichen Garden anders.
Inzwischen fuhr Gottschalk, in ernste Gedanken versenkt, fort: »Wäre ich vor zwei Tagen der gesuchte Gast im roten Igel von heute und Major eines Mobilgardenbataillons gewesen, – es läge nicht mitten in der Stadt der breite Schmutzfleck des Mordes an einem Greis. Ich muß eilen, daß ich zu Kräften komme, sonst sehen wir diese Stadt niemals im Sonnenlichte der großen Ideen!«
Der Briefträger brachte an jenem Nachmittage einen ungewöhnlich großen Poststoß für unsern Freund. »Da ist Arbeit,« rief der. »Komm wir wollen uns an den Tisch unter der Linde setzen. Nur Tinte gehe ich noch holen …«
Aber er ging nicht; er sah, als sei er an den Fleck, aus welchem er stand, hingesegnet, nach der Glasthür. Die Mutter kam uns von dort mit Fiamma und Grethe entgegen. »Hans,« rief sie, »und Sie, Herr Hager! Zeigen Sie doch unserm neuen Gast den Garten und Weinberg mit der Obstwiese. Ihr sollt auch die reifen Winterbirnen abnehmen und Trauben.« Sie kam ganz nahe an uns heran: »Vielleicht, Hans, nimmst du die Grethe und Herr Hager geht mit Fiamma? Ich habe in der Wirtschaft zu tun.« Sie winkte uns zu, ging, und wir gruppierten uns schnell, jedoch anders als sie geraten hatte. Wohl blieb Grethe wartend stehen und wie Fiamma sah sie zu Gottschalk hin. Der sagte: »Es ist euch ja gleichgiltig, Kinder, wie wir gehen,« und nahm Fiamma bei der Hand.
Da schloß sich Grethe so langsam zu mir, daß mir der Hals vor Bangigkeit und Herzensweh zugedrückt wurde.
»Was haben Sie da für viele Briefe,« wandte sich Fiamma neugierig an den Freund.
»Ach ja! Ich müßte sie gleich lesen,« zögerte er.
»Ist ein Liebesbrief darunter?« fragte sie zweifelhaft und leise.
»Ganz gewiß nicht!«
»Dann geben Sie her: Ich werde sie tragen.« Sie stopfte die ganze Post auf den Grund ihres Körbchens, in welches sie Obst zu sammeln hatte, und bald lasteten reif und schwer auf der ganzen politischen Intrigue duftende Äpfel, gelbe Birnen und blau angereimte busige Trauben, – – eine Lust an begehrenswerter Süße.
So gingen wir unter den Bäumen hin, trugen unser Obst in das Gartenhäuschen und gingen dann wieder hinaus, zwei und zwei wie vorher: Die ersten beiden voll bedrückend süßer Ahnung, wir Nachschreitenden voll herbstlicher Wehmut. Margarethe schaute immer und immer den beiden nach, und meine Augen hinwiederum konnten nicht los von ihren lieben, traurigen Zügen, und mir war zum Weinen weh, aber süß zu Mute, daß ich ihren Arm, wenn schon nicht ihre Gedanken halten konnte.
In den Weinlauben entschwanden jene vor uns; ich wollte ihnen, der blonden Lieben an meiner Seite zugute, schnell nachfolgen, aber sie ging langsam und blieb, als ich sie sachte zog, sogar stehen.
»Nein, nein,« sagte sie. »Ich will ihnen nicht zusehen.«
Da setzten wir uns auf eine Bank.
»Er hat sie sich also aus der Stadt geholt,« begann sie leise.
»Er hat sie nicht geholt,« rief ich.
»So hat sie ihn aufgesucht,« setzte sie sanft, aber beharrlich fort.
»Auch das nicht. Wir sind wie durch ein Wunder, oder wie in einem schlechten Roman während des Kampfes in ein Haus gekommen, und fanden sie dort halb irrsinnig neben ihrer toten Tante.«
»Ist das wahr?« rief sie.
»Wie durch ein Wunder?« wiederholte Grete. »Oh,« sagte sie dann, in helle Tränen ausbrechend, »daran erkenne ich, daß ihn mir Gott nicht bestimmt hat!«
Ich legte ihren Kopf an meine Schulter und ließ sie da über ihn weinen, indem ich zuerst beinahe zufrieden das Schüttern dieses süßen, hoffnungslosen Schmerzes empfand. Trösten konnte ich sie nicht. Aber mein eigenes Weh schoß mir in die Augen und so weinte ich als ein rechtes Kind mit ihr, ein jedes über eigenes Herzeleid, bis uns der Abend die brennenden Augen kühlte.
Zur Nacht bildeten wir bei Tisch eine verlegene und stille Gesellschaft.
Nach dem Essen bat Gottschalk: »Fiamma, die Briefe.«
»Die Briefe?« sagte Fiamma. »Die gehören mir.«
»Kind, Kind, es ist kein Spiel,« drängte er schmeichelnd. »Ich muß sie haben.«
»O, Sie schauen dann politisch und drohend aus und da sind Sie gar nicht hübsch.«
»Sie hat recht,« mischte sich Frau Gottschalk ein. »Laß das Zündeln mit dem Feuer; ich stehe viel Angst aus.«
Fiamma spielte mit den Briefen. »Was bekomme ich, wenn ich sie hergebe?«
Gottschalk sprang auf sie zu und sie rangen um die Beute, halb spielend, aber sie atmeten dennoch schwer. Und bald galt das Ringen nicht mehr den Briefen.
Entsetzt schauten die Augen Grethes auf die handgreifliche Sinnlichkeit der umschlungenen Körper, welche wonnig froh waren über den Vorwand, sich aneinander zu schließen. Endlich entriß Gottschalk dem Mädchen dennoch die Briefe. Sie ließen sich los, aber ihre Augen hielten sich noch immer ineinandergeklammert.
Ich sah: Gottschalk schauderte leise und war bemüht, den Dämon abzuschütteln. Er sah mich an und sagte: »Es ist nicht recht von mir. Ich bin nicht mein eigen.« Und riß einen Brief auf, las sich schnell in den neuen Drang der Tatsachen hinein und wechselte so immer erregter Brief auf Brief, bis er an einen kam, der ihn erbleichen machte.
»Was ist denn um Himmels willen schon wieder?« jammerte Frau Anna.
»Hört zu: In der Stefanskirche haben sich Garden der inneren Stadt und der Vorstädte gegenseitig abgeschlachtet. – Bürgerkrieg! –«
»Und Gottesschändung!« hauchte die entsetzte Frau.
»Kommst du, Hager, mit mir?«
Ich schnellte auf: »Ja! Ja!«
»Hans! Hans! Bleib hier,« rief seine Mutter.
»Leb wohl Mutter,« war seine Antwort.
Da fuhr Fiamma empor, als wollte sie mit ihm gehen. Grethe jedoch faßte sie fest an den Händen und Gottschalk sprang an die Treppe, kam mit Waffen, warf mir die meinigen zu … »Hans es schadet mir, Hans ich muß sterben,« drängte die Frau in ihrer Angst.
»Es schadet dem Vaterland, das Vaterland stirbt,« donnerte er sein eigenes Herz nieder und riß mich fort. – – – Aufschrien die Mädchen, denn die verlassene Mutter sank auf die herbeieilenden zurück, vom Herzkrampf erfaßt.
Wir über rasten nach der Stadt. »Daß wir so ferne wohnen!« schrie Gottschalk verzweifelt.
Am Schottentor brach Gottschalk, der mir dreißig Schritte vorauseilte, rücksichtslos durch die anrufenden Wachen, daß die hierüber ergrimmten mich nun nicht mehr durchlassen wollten. »Ein verkappter Schwarzgelber,« schrien sie trotz meiner Legionsuniform. Wir waren getrennt. Ich hastete auf dem Glacis zum Burgthor. Ein Schuß schmetterte mir nach, aber das Dunkel schirmte mich, das Dunkel, welches am Burgtor gäh und fackelrot zerrissen wurde.
Der rasende Pöbel hatte die hohen Kandelaber abgebrochen und das Gas schoß in hoch brennenden Garben aus der Erde.
Ein alter Herr, halb würdig, halb philiströs in seiner Haltung, mochte sich spazierengehend die Errungenschaften der neuen Freiheit besehen wollen. Er kam an die herausfauchenden Flammen, schnitt sich eine Zigarre und wollte sie an dem wilden Brande entzünden. – O Spießbürger!
Es standen allerlei elendverstürmte Kerle umher. Einer von diesen trat herzu; ohne ein Wort zu sagen, griff er nach der Hand des vornehmen Herrn, drehte ihm die Zigarre heraus und steckte sie sich in den Mundwinkel. So blieb er herausfordernd und paffend vor dem Zylinderbourgeois stehen. Gelächter gröhlte ringsum und der bestürzte Alte machte sich still und eilig davon.
Ich hatte genug gesehen. Das war der Geist der Freiheit. In lebhaftem Zorne lief ich fort, um mit Gottschalk von den Machthabern in der Ente blutige Strenge zu fordern.
Beim Kärntnertor wurde ich fast mit Umarmungen von Arbeitern und Weibsbildern eingelassen. An jeder Ecke eine andere Stimmung! Ich eilte nach der Schulerstraße und am Tor der Ente trat mir schon Gottschalk rückkehrend entgegen.
»Gesindel!« sagte er kurz.
»Was gab es?«
Gottschalk sah grimmig zu den erleuchteten Fenstern auf, von denen ein fröhlicher Lärm herunterschallte. – »Ich verlangte Disziplin, Subordination, ein eisernes Regiment. – – ›Aber die Freiheit?‹ schrien alle. ›Die Gunst des souveränen Volkes?‹ Sie meinten, man solle die Leute ein wenig aus voller Lunge Atem schöpfen lassen, damit sie Lust an der neuen Sache bekämen! – – – O Hager, höre mir gut zu! Ein einziger nahm mich beiseite und sagte in einem fremden Jargon: ›Disziplin, särr gut. Wjir njäben beisammen in Kriegsgericht sitzen. Njäher kennen lernen und zusammen'alten, wenn Zeit ist. Meine 'ändedruck, Kamerad! Wjir verstähen uns. Da 'aben meine Karte.‹
Ein Pole also muß der einzige Mann darunter sein! Das tut mir im Herzen weh!«
»Wo hast du die Karte? Wie heißt er?«
Wir besahen das Blatt und schauten uns überrascht an: »General Bém!«
»Und wirst du es mit dem halten?« fragte ich.
»Wenn die große Sache nicht anders gelenkt werden kann, als durch ihn,« sprach Gottschalk langsam. »Mit schwerem Herzen, aber ganz! Und nun, armer Freund: Hier können wir heute nichts mehr retten. Es ist unsere Zeit noch nicht gekommen. Gehst du mit mir über Nacht nach unseren Weingärten zurück?«
Ich sah ein, daß wir hilflos waren, folgte ihm, und wir verließen die Stadt mit grollendem Herzen. – –
Zu Hause öffnete uns Margarethe. Sie sah uns ernst an: »Nun haben wir zwei Kranke,« sagte sie vorwurfsvoll. Gottschalk faßte sie an der Hand: »Die arme, arme Mutter!« brach es aus seinem Herzen voll aufrichtigem Schmerz.
»Kannst du aus Liebe zu ihr deine gefahrvolle Sendung nicht opfern?« fragte Margarethe.
»Gefahrvolle Sendung: Ein schönes und wahres Wort,« sagte Gottschalk in Nachdenken statt einer andern Antwort. »Ich hätte nicht gedacht, daß du so Schönes aussprechen kannst, Grethe. Gewiß: Es ist eine Sendung!«
»Nun muß ich zum Hauptmann,« unterbrach ihn das Mädchen fast unwillig.
»Wo ist die Mutter,« hielt sie Gottschalk zurück.
»Sie schläft, – Gottlob. Hans! Wenn du ihr morgen Beruhigung geben könntest!«
Er schwieg mit herbem Munde und düstern Augen.
»Gut' Nacht,« sagte das Mädchen kurz und ging.
»Halt! Ich sehe mit dir nach dem Hauptmann«, rief ihr Hans nach. Da schritt sie langsamer über die Stiege hinan, leuchtete uns sorgfältig und klinkte geräuschlos die Türe auf. Sie hatte dem Kranken zuliebe Schloß und Angeln geölt.
Der Hauptmann lag, das Angesicht von Verbänden beinahe zur Maske umgewandelt, in tiefem Schlafe.
»Das Wundfieber scheint vorbei«, berichtete Margarethe. Auch war der Doktor recht lieb und brav.
Am Bette saß Fiamma und sah uns warm entgegen.
»Du Gute,« sprach sie Gottschalk mit weicher und bewegter Stimme an, »du wachst?«
Fiamma sagte nichts und lachte ihn an.
»Zwei solche barmherzige Schwestern!« fuhr Gottschalk ganz ernsthaft und mit gründlicher Ehrlichkeit fort: »Es ehrt und es schmückt euch … Und – – ich könnte den Hauptmann beneiden.« Er gab Margarethe die Hand.
Das Mädchen sah ihn beglückt und zweifelnd an, aber sein Blick war nach Fiamma gerichtet, in deren Augen es zornig loderte.
»Gute Nacht,« drückte Gottschalk aus gepreßter Kehle hervor.
Wir gingen auf unsere Stube.
Dort fragte mich Gottschalk: »Kannst du schlafen?«
Mich hatte nun die nächtliche Stille, welche mich mit dem liebsten Mädchen zugleich umfangen hatte, um jeglichen Schlaf gebracht und ich antwortete: »Nein.«
»Auch ich nicht,« gestand er.
Nun saßen wir uns regungslos und gedankenbedrückt gegenüber.
Dann begann ich: »Hans!«
»Was ist?« fuhr er empor.
»Du stehst an einem harten, heroischen Scheidewege. Ein Mädchen, über alle Begriffe gut und treu, liebt dich. Du kannst ein stilles Glück ergreifen und damit auch eine schwere, heilige Pflicht erfüllen: dem Mutterherzen seine Ruhe wieder zu geben.«
»Für Margarethe bin ich nicht bürgerlich genug; in meiner Seele meine ich. Ich würde ihr niemals gänzlich angehören. Sie aber verdient es, daß man sich ihr mit ganzem Herzen und all seinen Kräften und Gedanken schenkt. – – Das nun vermag ich nie.
Und die Mutter,« fuhr er fort. »Ich liebe die Mutter; o, du wirst es mir nie glauben, wie sehr ich sie liebe. Die Kindesliebe, sonst immer nur ein Schlafendes, – – in meinem Herzen brennt sie wie eine scharfe Säure. Aber Freund (entsetze dich nicht!): Ich bin gezwungen, trotz einer aufschreienden Seele zu sagen: Sie ist zu dem Ambos bestimmt, auf dem ich meine Härte erproben muß, wie das Schwert Siegfrieds geprüft wurde.
Bin ich die zärtlich weiche Seele, welche ihr nicht weh zu tun vermag, so zerschellen meine Ideen an ihrem treuen, festen Herzen.
Bin ich aber der Gesandte des neuen Reiches, so muß ich dieses Herz zerspalten können!«
Ich erschrak: »Das ist entsetzlich!«
»Wie alles große Schicksal,« grollte er und biß die Kinnladen aufeinander.
So stand er auf und zog mühsam die schwere Zimmerluft ein. Die Sonne hatte den ganzen Tag auf dem Dache gebrütet. In diesem Bleikammerdruck wurden alle Gedanken noch düsterer.
Recht in dieser Stimmung brach Gottschalk mit den, ihn sehr bezeichnenden Worten los: »Ich darf in mir keine irdische Liebe dulden. Das ist mein Schicksal!«
»Selbst wenn dich Fiamma liebt?«
Er fuhr auf mich zu und faßte mich mit starken Händen am Arm: »Freund! Quäle mich nicht! – Kann ich die Kindesliebe in meinem Herzen zu Asche brennen, so werde ich auch gegen diese erbärmlichen, verruchten, gottvergessenen Sinne hart sein können. – Was? Das glaubst du mir doch!«
»Ich weiß es nicht,« sagte ich zögernd. »Die Liebe zwischen den Geschlechtern ist ja die Grundgewalt dieser Erde.«
»Aber siehst du denn nicht ein, daß ich nur eine Liebe haben darf, kann, muß?« schrie er beinahe.
Ich aber wußte, wie ich ihn besänftigen konnte und begann: »Ich selbst liebe. Unglücklich, wie du einsehen wirst: Margarethe.«
»Ah,« rief er teilnahmsvoll und faßte wieder meine Hände, welche er soeben fortgeschleudert hatte.
Ich fuhr fort. »Diese Liebe geht mit mir in den Kampf und singt dabei … Sie umgibt mich auf der wüsten Walstatt, wo die Toten durch krampfige Harlekinsstellungen das Herz mit Schauder anstecken und läutet trotzdem alle Glocken des Friedens über ihnen. Diese Liebe lächelt über mir im Gebrüll der betrunkenen Menge und sagt: Ich weiß den Ausweg. Sie macht diese Zeiten zum Gedicht und läßt mich nie aus einer tiefen Rührung kommen.
Hans! Es ist vielleicht das letzte Glück, das dich in seinen blauduftigen Wolkenmantel nehmen will! Gib ihm nach und halte die schöne Fiamma fest.«
»Ich kann nicht,« trotzte er dumpf. »Tue ich das eine, so muß ich das andere. Die Mutter zu Tode kränken und dabei naschen? Pfui.«
»Eigentlich hast du recht,« gab ich zögernd zu.
Heute legten wir uns abermals zu einer fiebergestörten, üblen Ruhe nieder.
Anderntags strichen wir schon in aller Frühe nach den umliegenden Bezirken umher, die Stimmungen zu erforschen. Aber nur Aufregung, Kopflosigkeit und Geträtsche, im besten Falle Übermut schlug uns entgegen.
Es berührte Gottschalk schmerzlich, und er grübelte: »Wie anders könnte das werden, wenn sie alle die stillen und entschlossenen Herzen besäßen, wie sie das neue, heilige Reich verlangt. O dieser übermütige Jubel! Heute regiert sie die Freude, morgen die Angst. Es wird schwer sein, aus ihnen Republikaner zu machen, welche im Unglück nicht verzagen.«
In seinem Innern aber traute er sich alles zu.
Wir kehrten nach Hause zurück, um die heutige Post durchzusehen. Da fanden wir den Gastgarten von Neugierigen angefüllt. Die Sonne lachte, die Menschen sangen, und reicher Besuch an Bekannten war gekommen. An einer langen Tafel saßen Freunde und Kollegen. Als sie Hans erblickten, brauste ihm ihr voller Jubelruf entgegen, und aus dem gefüllten Garten wandten sich wie Helianthenblumen, welche alle ihr Antlitz nach der Sonne drehen, zahlreiche Gruppen heller neugierfroher Menschengesichter nach ihm. Auch waren viele der übergetretenen Grenadiere mit ihren neuen Freundschaften herübergeschlendert, und alle wollten sie den feueratmigen Verführer sehen.
Margarethe war da, und Fiamma, und Frau Gottschalk auch – – sie bedienten die Gäste. Die Mutter sah etwas gebeugt, etwas gelblich, etwas müde aus, aber gütig wie immer. Diese Frau hielt sich mehr mit ihrem Pflichtgefühl, als mit ihren schwachen Sehnen aufrecht.
Die Freunde streckten uns freudig durcheinander die Hände entgegen. »Du kannst dir zu deinem Erfolge gratulieren,« sagte Bestereder, der einzige von allen, der nicht aufgesprungen war. Die andern umringten ihn.
»Gratuliere, ja, gratuliere!« nahm Hirsch das Wort auf. »Großartig hast du's gemacht!«
Und Wieninger fiel ihm um den Hals: »Verführer! Herzenszauberer!«
Hulle schlug an sein Glas. »Bring mir kein Lebehoch,« bat Gottschalk.
»Also gut, nichts über dich,« nickte der Freund, als im Garten eine stille, heitere Aufmerksamkeit entstand, denn viele kannten den lustigen Maler.
Und dieser, welcher Reden hielt, wo und wann man wollte, begann: »Bürger, Mordskerle, Spießgesellen!
Da das Leben an allen Dingen Hauptsache und das Wie und Warum Nebensache ist, so will ich mein Glas und meine Rede, ohne euch den Magen mit Politik zu überladen, einzig und allein diesen schönen Tagen widmen. Ich könnte euch auch gar nichts Tragisches erzählen, denn meine Natur wäre dawider. Ich bin der achte von acht Buben meines Vaters, eines genialen Anstreichermeisters, welcher das Dutzend vollgemacht hätte, wenn er nicht nach meiner Zeugung (als der Krone seines Wirkens) am dritten Tage seines Taufrausches vom Gerüst gefallen wäre und den Hals gebrochen hätte. Wie dieser außerordentliche Mann die Erscheinungen des Lebens selbstverständlich hinnahm, beweist, daß er nach den Erinnerungen der einzigen Gymnasialklasse, die sein freier Sinn einstmals ertragen hat, uns Buben mit Primus, Sekundus, Tertius, Quartus heruntertaufte; nur ich heiße Oktavius, weil der Geistliche zu meinem Namen das i dazufälschte, um das lebenslustige Aergernis zu vermindern.
Er konnte nur meinen Namen verfälschen, nicht mein Blut. Schon als Knabe war ich ganz gerührt über meine innere Bravheit, wenn ich erkannte, daß ich mir aus der Schule etwas per Zufall gemerkt hatte. So wurde ich ein Lump, aber Freunde, ich wurde glücklich! Und Geliebteste, besinnt euch, weil die gute Gelegenheit da ist! Die Gelegenheit, uns alle glücklich zu machen.
Brüder! Das ist jetzt eine geniale Zeit, – schauderhaft, aber schön! O, ihr Guten, o Gottschalk! Denkt mir ja nicht über neue Gesetze, über eine neue Ordnung nach! – Wir haben genug damit zu tun gehabt, die alte umzuwerfen.«
Ein schallendes Gelächter folgte diesen Worten, und Hulle fuhr fort:
»Ja: Ich sage es euch. Das jetzt ist der wahre, einzige und echte Narrenstaat. Jeder ist, was er will: Minister, Tambour, Philosoph, – – – es ist eine kapitale Zeit, ja ich möchte sagen: das Menschheitsideal ist erreicht!
Hans Gottschalk! Du schaust ja drein, wie der ältere Bruder der Ehrwürdigkeit? – Was! Ist nicht diese Welt ein famoses Lokal? Wer in diesem, olympischen Zeitalter von Pflichten redet, ist ein perverser Melancholiker!
Nationen? Staaten? Oesterreich? Wie lange noch soll der alte Rattenkönig, an seinen sechzehn Schwänzen verknäult, sehnsüchtig nach sechzehn verschiedenen Seiten krabbeln!?
Chassez, croisez!!!
Was kann uns Gelegeneres kommen, als diese heilige, greuliche, göttliche Zeit? Wir leben in paradiesischer Unschuld. Keiner weiß, was er morgen tun soll, – aber braucht er's zu wissen? Nein! Denn das Morgen macht ja doch mit ihm, was es selber will. Darum genießt den Schaum des Lebens, der euch aus der vorgestern frisch entkorkten großen Champagnerflasche sprudelt. Singt und pfeift den ganzen Tag wie die Lerchvögel und stimmt mit mir in den Ruf ein: Diese heillose, schauderhafte, göttliche Verwirrung, dieses reinste goldene Zeitalter, es lebe hoch! Hoch!«
Und wirklich läuteten die Gläser, stürmte der Jubel von alten und jungen Kindern in lachendem Beifall über diesen unglaublichen Leichtsinn. Hulle wurde von einer toll bacchantischen Schar sozusagen küssend umhergetragen. Am lautesten umkreischten ihn die Weiber, bei denen er kronprinzenhaft beliebt war.
So war Hulle der neue Mittelpunkt der Ehren geworden und Gottschalk saß unbeachtet neben mir.
»Wie sich die Stimmungen dieses Volkes ändern,« sagte er gedankenvoll.
»Antwortest du nicht,« drang ich auf ihn ein. »Willst du, daß er die andern in seine frevelhafte Gleichgiltigkeit gegen den furchtbaren Ernst dieser Tage hineinzieht? Rede auch du! Rede doch!«
»Jetzt nicht,« wehrte er ab. »Es wäre geschmacklos. – Sie sind jetzt lustig. Meine Zeit kommt, wenn ihnen bange wird. – – Und, selbst in Hulles Rede: Hast du die Abgründe darin nicht bemerkt, die er lachend vorwies, wiewohl er sie auch lachend übersprang? O, lass sie nur erst über diese Rede zum Nachdenken gelangen!«
Hirsch kam zu uns. Er hatte die Worte des hellaugigen Malers sorgfältig notiert und hielt sein Taschenbuch noch in Händen.
»Da steht sie,« sagte er triumphierend; und dann zu Hans, wie entschuldigend: »Und das da ist alles über dich und deine Grenadiere. Es kommt in meine Zeitung. Nu?! Du freust dich nicht?«
Gottschalk antwortete: »Ich weiß den Geist noch nicht, in welchem du es darstellen wirst, und ob er nicht doch etwas verschieden ist von jenem, in welchem ich gehandelt habe.«
»Also: Ich werde dir vorlesen.«
»Danke. Ich habe noch viel zu tun,« wehrte mein Freund ab. Hirsch zog eine Weile das Notizbuch zögernd in den Händen hin und her, dann begann er:
»Gottschalk?«
»Nun!«
»Du wirst Kommandant von Mobilgarden. Rekommandier' ihnen doch mein Blatt.«
»Hirsch, das kann ich nicht. Es geht mir in diesem Blatte gar zu viel gegen meine Bedenken.«
»Das hat dir der zerschundene Hauptmann eingeredet,« rief Hirsch mit bösen Augen.
»Er hat mir nichts eingeredet. Ich habe meine Überzeugung, wie du wohl weißt. Mir ist, als hätte ich dich gerade gegen ihn in Schutz genommen.«
»Brauch' ich deinen Schutz?« rief der Abgewiesene aufgeregt. »Wenn nur nicht Zeiten kommen, wo du brauchst den meinen! – Was? E' Volksführer und hat nicht emal sei' Blatt, das arbeitet für ihn! Du werst nix lang machen! – – sag' ich dir!«
»Was kommen wird, kommt,« sagte Gottschalk ernst und ruhig.
»Vielleicht bist du ein anderesmal besser zu sprechen,« spottete Hirsch, der nur in Aufregung sein reines Deutsch fahren ließ, mit scharfem Akzent und ging beleidigt zu den Freunden zurück.
Der Artikel über Gottschalk und seine machtvolle Rede an die Grenadiere erschien nicht. – –
Inzwischen hatte die Lustigkeit der Leute im Garten doch etwas ausgequirlt, und manche traten zu uns. Ein berüchtigt reicher Brauereibesitzer lud uns beide zu Mittag und schüttelte uns lange Zeit die Hände, während er uns von seiner Frau und seinen Töchtern erzählte. Er wolle nur vorauseilen und ein besseres Papperl bestellen, wir müßten ihm jedoch baldigst nachfolgen.
»Gehst du hin?« fragte ich Gottschalk, als der breite Bürger fortgegangen war.
Gottschalk lächelte. »Ich bringe der Mutter ein kleines Opfer. Er liefert unser Bier.«
»Und dann,« rief ich, »denke dir: ein reicher Bürger, und für den Umsturz begeistert! Das muß doch ein Idealist sein! Eine solche Seltenheit will geprüft werden.«
»Das ist wahr,« gab Gottschalk zu, »obwohl sein Gesichtsausdruck nicht viel Grundtiefes ahnen läßt.«
»Dann ist es gewiß seine Familie; ein feuriger Sohn, edle Frauen, die ihn mitreißen,« bedachte ich.
Und wir gingen hin.
Jedoch: Es wurde eine Enttäuschung. – Ich gestehe, ich bin zu wenig Dichter. Denn es fehlt mir die Laune, von jenem Mittagessen ein anschauliches Bild zu geben. Ich habe es, wie alle ähnlichen, heute noch nicht verdaut.
Die Damen hatten keinen Studenten in ihrer ganzen industriellen und kommerziellen Verwandtschaft und Bekanntschaft! Sie wollten uns sprechen hören und gehaben sehen, und Gottschalk sollte die Verführungsrede noch einmal halten. Das tat er nun nicht, und als die erste Neugierde an unsern Personen befriedigt war, begannen sie ihre Bildung zu produzieren. Man weiß ja: Klavierspiel, Gesang, Gedichte. Alles wie immer, alles mit dem schlechten Geschmack des jeweiligen Tages gewählt.
Von der Gegenwart, ihrer Bangigkeit und ihren Zielen war nichts mit ihnen zu reden. Als wir davon begannen, hatten Hausfrau und Töchter im Handumdrehen das Gespräch zum Personalklatsch erniedrigt: Erzherzogin Sophie, der Thronfolger, Chaises und Tausenau in einem Atem!
Hier konnten wir nichts suchen, nichts finden.
Andere der Kollegen, weniger schlicht oder ernst als wir, von der gleichen Mode in solche Häuser gezogen, bedienten sich ganz der Vorteile, welche Tageslaune oder die eigene, liebenswürdig charakterlose Persönlichkeit ihnen boten, und erreichten bei dem Vertrauen ihrer Gastgeber leicht ihre Zwecke, welche im unschuldigsten Fall auf den Beutel des Hausherrn und ebenso häufig auf die verbotene Gunst der Frau oder Tochter desselben abzielten.
Wir aber, besonders der wortherbe Gottschalk, konnten hier nicht sehr gefallen. Wir lobten Küche und Gastgeber nicht eifrig genug, wußten gerade von den pikantesten Neuigkeiten nichts, – – es gab wenig zum Lachen, und wir wurden nach dem Kaffee, zu einer drückenden Nachmittagszeit, in welcher man nach allzureicher Mahlzeit nichts mit sich zu beginnen wußte, um sehr vieles kühler entlassen, als wir empfangen worden waren. – – –
Gottschalk bekam noch viele solcher Einladungen, welche er leider ohne Wahl ausschlug. Er hätte ein Liebling der Gesellschaft, das Schoßkind der Damen werden können, – – er taugte nicht dazu.
»O! Diese Schleppen und Spitzen und Bänder und Stammbücher! O, diese Salons! O, diese Diners mit sieben Gängen und vielerlei Weinen, und diese Medisance und Leichtigkeit in allem, was Nichts ist! O, diese Lebenslumperei!« schrie Gottschalk, als wir nach bedrücktem schweigsamen Gange ins Grüne gekommen waren. »Wie schade um den schönen Tag!«
Und nach einer Weile: »Wie schwül es einem ist! Alle Poren sind verstopft. So zu fressen – pfui!«
Dieser Mensch, welcher gänzlich Geist war, betrachtete das Essen immer als rasch abzuwickelndes Nebengeschäft. Heute war er gezwungen worden, gegen seine Gewohnheit und aus Höflichkeit mehr zu nehmen als ihm behagte: Nun war er geradezu verstört!
»Es ist eine Schande, daß ich so etwas sage,« klagte er. »Aber ich weiß nicht, was wir heute, für den Augenblick wenigstens, beginnen sollen! Ich bin ganz vor den Kopf geschlagen und bin unbrauchbar.«
»Komm in den Schatten,« tröstete ich. »Schlafen wir's aus wie zwei Landstreicher.«
»Es ist vielleicht das beste,« seufzte der geschlagene Freund. Und so suchten wir unsere liebe alte Kastanienallee auf, in welcher jetzt die Blätterhände zahlreich, rascheldürr und braun am Boden umher lagen. Und immer wieder platzten eine, zwei Früchte gegen den harten Straßengrund.
»Hier ist es hübsch, aber wir werden nicht schlafen können,« bemerkte Gottschalk schon ein wenig heiterer. »Der geringste Lufthauch schüttelt einen Platzregen von Kastanien herab, und selbst wenn uns keine auf die Nase fällt, – die sammelnden Kinder würden uns nicht Ruhe lassen.«
Denn mit Säcken und Körben war die graukittliche kleine Armut hinter der schönen, politierten Freifrucht her.
Ich zog ihn weiter fort. Ich wußte eine Stelle, da waren noch vier riesige Linden in die Reihe der Kastanien eingeschaltet, vielleicht noch von einer Allee, welche ein Jahrhundert vor dieser gepflanzt worden war. Dort wuchs ein kurzes, feines Grillengras, und es war für junge Leute behaglich, sich darauf zu wälzen. Wir gingen hin, streckten uns, und bald rauschte mich das Gespräch der Zweige in Schlaf.
Als die Sonne schon tief über den Bergen stand, hatte sich der Wind stärker erhoben. Das Aufbrausen der Bäume und das Prasseln der zahlreich fallenden Kastanien erweckte mich.
Gottschalk saß an einem Ameisenhaufen, – schwermütig.
»Die mühen sich alle bis auf das Aeußerste,« wies er hin, als ich zu ihm trat. »Und ich bemerke keinen König, keine Partei, so viel ich ihnen zusehe. Es ist ihnen von enormer Wichtigkeit, ihren Haufen zu erhalten, zu vergrößern, zu verpflegen; diesen Haufen, welcher uns so kleinlich erscheint! Ein Griff hinein entsetzt sie, während wir lachen. – Wie mag sich unser Staat in den Augen einer Gottheit ausnehmen?«
»Nicht so gerecht wie dieser,« sagte ich, »aber poetischer. Hier hast du die von dir ersehnte Gleichheit, hier arbeitest du, ich, wie alle andern.
Aber höre Gottschalk,« fiel mir ein, »wenn alle gleich sind, wer kann sich dann seiner selbst freuen? – Es ist mir lieb, daß Klügere und Dümmere, Ärmere und Reichere, als ich es bin, auf dieser Welt sind. Wie malerisch gruppiert sich dieser Bestand von Hoch und Nieder! Wie gibt dieser Weltlauf wechselvoll unserer Liebe, wie unserm Haß zu tun! Bei denen aber, da möchte ich nicht leben.«
»Sie sind darin geboren, wie wir in unserem Staate geboren sind,« antwortete Gottschalk. »Jeder tue, was ihm in seinen Verhältnissen recht erscheint. Einen unnatürlichen Zustand würden wir nicht erhalten können; der Unwille des Volkes würde ihn wegblasen. Wann der gerechte Staat uns angemessen sein wird, dann wird er entstehen.«
»Warum arbeitest du dann,« fragte ich, »wenn es noch nicht Zeit ist?«
»So lautet die Frage des Egoisten,« antwortete Gottschalk nachdenklich. »Auch die Gebirge stehen noch, einst aber werden sie als flaches Geröll über die Erde zermahlen sein: so lange werden Wasser und Frost an ihnen nagen. Ich bin vielleicht auch nur ein solcher Wassertropfen in dem Werke der Gleichheit.«
Der Abend wurde goldrot, wir gingen auf weiten Umwegen gegen Hause. »Es ist gut, sich mit Gedanken an seine Bestimmung in der Natur zu verlieren,« sagte Hans. »Das erlöst. Es macht weit und frei, wie dieser beruhigt sterbende Himmel, welcher schöner und größer ist, als am vielbewegten Tage.«
So gingen wir in den Abendwind und die Dämmerung, – – ein wundervolles, naturhineinverlorenes Dahinwandeln, wie man es fast nur zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren tun kann: Beide fast ganz still und nur selten in abgebrochenen Worten die in uns überfließende Weltseele anredend, das Gespräch einer halben Stunde vielleicht so: Wie es rauscht! – – – Schaurig und wohlig! – – – Sieh da: in der südenzugewandten Holzwand die Schmetterlingspuppe, wie herrlich geschützt. – – – Und da bohrt sich ein Käfer in die Erde. Er geht zur Rüste. – – – Es wird unwirtlich auf der Welt. – – – Wie alles nach Hause eilt, wie sich alles mollig macht! – – –
Noch saßen rote Käfer, Holzwespen in den Baumrinden; ja eine Hummel klang sonor vorbei.
Die wissen, wie sie sich einrichten werden, – – wir aber wissen es nicht. – – –
Als wir bei eingedunkeltem Abend vor dem Hausgarten ankamen, blieb Gottschalk stehen, bevor er die Stufen emporstieg. Ein Junge, welcher auf uns gewartet zu haben schien, sprang mit einem Halloh davon. Gottschalk bemerkte ihn gar nicht und sagte: »Wenn ich mich je resignieren und meine wildfliegenden Pläne aufgeben sollte müssen, dann werde ich viel so spazieren gehen wie heute und der Natur in ihre Wirtschaft und Vorratskammer schauen. Das beruhigt.
O Hager! Ich wollte manchmal fast, ich wäre ein Förster und dächte nur an Dohnensteige oder Ahornpflänzchen!«
Die Stimmungen dieses Ausflugs wogten den ganzen Abend in ihm nach wie das sanfte Schaukeln eines Schiffes in dem Menschen, welcher das Land wieder betreten hat.
Das zeigte sich noch.
Als es dunkel geworden war, hörten wir von ferne mit heiterer Landmusik den Taktschritt einer Menschenmenge. Ein hübsch auf- und abhallender Umzug kam durch die ländlichen Gäßchen des Vorortes heran. Gottschalk saß am Fenster des verglasten Lusthauses, welches auf die Straße herabsah und lauschte behaglich auf die wechselnde Akustik, welche von Bäumen, Häusern, Gassen und Durchblicken hervorgebracht wurde. Margarethe hatte ihm ein Glas heurigen Weins gebracht; er nippte, stellte es wieder hin und umfaßte es, träumerisch zurückgelehnt. »Bleib' bei mir, Grethe,« sagte er. »Du bist auch so beruhigend und gütig wie dieser harmonische Abend.«
Margarethe setzte sich zu ihm. »Fiamma ist in den Weintrauben,« begann sie wie entschuldigend, daß sie allein kam.
»Ja. – Ja. – Lass' sie dort. – – Mit den Trauben schwellen, reifen und süß werden. – Wie geht es der Mutter?«
»Besser. Sie war heute fast heiter.«
»Und der Hauptmann?«
»Auch dem geht es gut. Das Fieber ist weg. Er schläft viel, möchte aber schon wieder lesen. Der Doktor sagt, übermorgen darf er beginnen, und der Hauptmann hat sich geduldig gefügt.«
»Ach,« meinte Gottschalk mitleidig. »Gefügt? Da ist er noch sehr schwach. – Und die Mutter war heiter?«
»Ja. – – Aber – – –«
»Aber?«
»Sie sagt immer, sie werde nicht lange mehr leben.«
»Gott im Himmel!« sprang Hans erschrocken empor. »Was arbeitet sie dann? – Heute vormittags habe ich sie mit Gläsern und Krügen unter den Gästen gesehen. Solche Ahnungen und eine solche Unruhe dazu. Kann das gut tun?«
»Soll ich dir alles erzählen?« fragte Margarethe langsam.
»Ich bitte dich! Alles!«
»Nun gut. Die Mutter hat gesagt: Ich fühle, es geht nicht mehr lange mit mir. Es werden schlimme Zeiten kommen, und wenn mein guter Junge allein in der Welt zurückbleibt, so soll er wenigstens seinen Schutz – und Spargroschen haben. Und daß er mir in dieser müßigen Zeit alle Tage hundert Gäste und mehr ins Haus zieht, ist doch ein Gutes an der schrecklichen Politik, und ich will es dankbar benutzen.
So müht sie sich halt,« schloß Grethe, »noch recht viel Geld für dich zu verdienen, bevor sie die Augen zudrückt.«
»Ah!« rief Hans in tiefster Bewegung aus, und auch mir griff dieser seltsam poetische Realismus der Mutterliebe heißrührend an das Herz.
Aber wir konnten kein Wort mehr reden.
Um die Ecke rauschte heranmarschierend die Musik auf, große Trommel und Becken zerdröhnten jedes Gespräch, Fackeln leuchteten in geschlossenen Reihen hinter den Musikanten und warfen zahllos springende Schatten einer großen Menschenmenge über Mauern und Bäume. Ein schönes Bataillon, von vieler Dorfjugend umtrippelt, schritt in festem Takte heran: ein stattlicher Fackelzug.
Die Musik schwenkte ab, das Bataillon stand, machte Front, und mit eins brach das Geschmetter ab. Stille war, – nur Lichter und Schatten tanzten, von den bewegten Flammen umhergeneckt. Zwei Reihen roter, festlicher Gesichter glänzten zu Hans Gottschalk empor, – – überrascht trat er an den Fensterrand, ein Vivat dröhnte – –
Nach dem Kraftrufe ein Stimmengewirr: »Schwanberger! Vorwärts Schwanberger! Du hast zu reden!«
Und ein verlegener Junge wurde vorgeschoben. Ich erkannte sogleich das Urbild unseres Dichters aus der Dachstube, des Buchbindergesellen.
Dieser begann stockend, aber treuherzig im Ton und immer zuversichtlicher:
»Herr Hans Gottschalk! Lieber Herr Kommandant!
Ihr Mobilgardenbataillon hat mich dazu ausersehen, Ihnen zu sagen, daß wir Sie in herzlicher, vertrauender Liebe als Kommandanten begrüßen. Es sind viele bedeutendere und bessere unter uns als ich es bin, aber alle haben gewollt, ich sollte reden, damit Sie aus dem Volk selber hören: es erblickt in Ihnen die Hoffnung und das Herz nicht nur dieser Gegend, sondern einer immer größer werdenden Welt von Sehnsüchtigen, mit welchen Sie eine neue Zeit schaffen werden.
Aus Ihrem Munde sind vor wenigen Tagen Feuerflammen gefahren (er hob seine sprühende Fackel empor), welche ihren Brand bis an die Nordgrenze der Stadt, – nein, viel weiter – bis an die Macht des Kaisers getragen haben. Wir wissen, daß Sie die Glut Ihrer Worte wie die Glut Ihres Herzens nur auf dem Altar des Volkes lodern lassen werden und wir kommen uns Ihnen heute vollzählig vorstellen, um Ihnen zu sagen: wir gehen mit Ihnen durch Feuer und Meer, durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer, wie es im Volksliede heißt. Wir halten zu Ihnen in deutscher Treue!
Führen Sie uns in das Reich Ihrer Ideen, wir werden helfen, es zu einem wirklichen zu machen. Daß dieses gelinge, daß es durch Sie gelinge, darauf unser Lebehoch!«
Schwanberger senkte die Fackel, trat zurück und die Gasse bebte im Jubelruf des Volkes.
Gottschalk antwortete fest und ernst:
»Zu Beginn meinen ehrlichen, frohen Dank für Ehre und Liebe, besonders aber für das Vertrauen, welches Ihr mir erweist.
Es trifft sich als ein Symbol, daß wir uns zum erstenmale in der Glut der Fackeln begrüßen, in dieser Glut, welche Freude und verzehrenden Brand bedeuten kann. So auch ist unsere Zeit: selig und furchtbar; voll Hoffnung, voll Gefahren! Ihr, die ihr mich so glücklich macht, indem ihr mir eure Treue schenkt, euch bitte ich mit der ersten Bitte: berauscht euch nie bis zur Sinnlosigkeit an der Hoffnung, aber erschreckt auch nie vor der Gefahr dieser Zeit, sondern durchschreitet sie fest und bewußt, wie der Landmann seine Felder. Er weiß, wohin sie reifen und nur die Güte der Ernte freilich bleibt bei Gott. Arbeit ist es, welche wir zu leisten haben, heiße Arbeit; aber keine zornige tolle Zerstörung. Dort in der Stadt denken sie nicht an die Würde ihrer Sendung. Ihr aber, ihr Ruhigen hier im Grünen, ihr Pflanzende, ihr Beleber des Erdbodens, ihr werdet euch weder zur Wut noch zur Angst hineinreißen lassen. Nicht wahr?«
»Niemals! Nie!« riefen die Männer.
»Sollte euch aber der wilde Brand dieser Zeit des Zornes dennoch bis zur Sinnlosigkeit zu ergreifen drohen, so sagt euch ein einziges Wort vor, ein Wort, welches zum Worte Arbeit gehört wie der Tau zur Wiese, – ein Wort, in welchem ein ganzes Lied des süßesten Friedens ruht:
Denkt daran, wie ihr einst Feierabend macht!!
Feierabend! So schön, so selig, wie der heutige Tag in sein goldpurpurnes Wolkenbett schlafen ging!
Denkt daran, daß ihr einst vor euren Hütten sitzen werdet, deren Abendrauch über die goldenen Felder des Friedens hinziehen wird über eine neue, von euch befreite Erde, und daß ihr euch und euren Kindern sagen könnt: diese Zeiten haben wir gemacht!«
Hans Gottschalk erhob sein Glas.
»Noch stürmt der junge Wein und ist trübe. Bewacht seine Gährung, damit er nicht das Faß sprengt! Dann habt ihr die redlich verdiente, süß geistige Klarheit in Händen, zum heitern Genuß nach dieser Zeit des Sturmes und des Schaumes, deren Blasen ihr nicht für feste Gestalten halten und deren Windbeuteln ihr kein Ohr schenken sollt.
Daß es so sei, darauf bringe ich euch aus ganzer Seele diesen Wein, dessen Jugend und Unruhe diesen Tagen gleicht, dessen Süße aber wie ihr künftige Kraft und künftigen Geist verspricht.
Gott mit uns, ihr lieben Brüder!«
Auf diese Rede erhob sich ein Stürmen und Jauchzen, wie ich es niemals gehört hatte, noch je wieder hören werde. Diese harten Männer weinten vor Freude, viele warfen ihre Fackeln den Buben zu, stürmten herauf und ergriffen Gottschalk, der nicht mehr Zeit hatte, seinen Wein zu trinken, und trugen ihn auf den Schultern hinab zu den ihren, die ihn mit Jubelgetös empfingen. Die Musiker dachten gar nicht daran, in einen Tusch einzufallen; die große Erregung hatte auch sie ergriffen, sie schrien wie alle andern.
Und so zogen die Garden ihren Hans Gottschalk mit, damit ihm die Menschen der ganzen Umgebung huldigen sollten. Ich sah ihn diesen Abend nicht wieder.
Als ich mich umsah, blickte mir eine seltsame Gruppe entgegen: Die Mutter, Margarethe und Fiamma. Frau Anna Therese weinte vor Freude, Margarethe war bleich vor Ergriffenheit und Fiamma loderte im ganzen Angesicht: »Das ist kein Mensch, das ist ein Heiland,« sagte sie.
»Ach Gott, ach Gott,« schluchzte die Mutter. »Das sagt er alles so schön, daß man's beinahe glauben muß. Lieber Herr Christ! Wenn ihm nur alles zum Glück ausgeht!«
»Frau Gottschalk,« rief ich sie an. »Sie sind eine Mutter, voll von der Gnade des Himmels. Ein solcher Sohn! Ein solches Herz! Solche Gedanken!«
»Nicht wahr, lieber Herr Hager, Sie werden immer acht geben, daß ihm nichts Schlimmes geschieht,« schluchzte mir die Gute, Besorgte entgegen.
»Er ist mein Stern, mein Meister!« versicherte ich.
»Ach! gehen Sie ihm doch auch jetzt nach,« bat sie.
Aber ich hatte gehofft, diesen Abend mit Margarethe allein bleiben zu können und fragte: »Was soll ihm denn heute geschehen können?«
Da antwortete mir die ahnungsvolle Frau: »Ach, bester Herr. Es ist doch immer das Alte. Heute heißt es Hosannah, und morgen oder übermorgen – – –«
Sie erschrack selbst vor ihrem Gedanken, begann zu zittern und neuerlicher Herzkrampf drohte ihr. Schnell brachten die beiden Mädchen sie ins Haus.
Da ging ich allein in die Nacht hinaus, hörte da und dort Musik von dem fernen Triumphzuge, welchen Gottschalk gewiß mit widerstrebender Seele mitmachte, und wandte mich, den letzten Gedanken der Mutter in der beklommenen Brust, nach der Alservorstadt, nach meinem langverlassenen Stübchen, welches mich mit doppelter Bangigkeit umfassen würde, da ich so ungern in dasselbe zurückkehrte.
Als ich so in dieser Nacht, ich glaube, es war jene vom zehnten auf den elften Oktober, gegen die Alservorstadt kam, hörte ich stark und stärker einen Kampflärm von den fernen Bezirken gegen Schönbrunn herüber. Schüsse krachten erst einzeln, dann zahlreicher. In den nächtigen Gassen zerriß die Ruhe und regellos eilten Bewaffnete, einzeln und in Gruppen, in der Richtung über Mariahilf. Eine Sturmglocke schlug an: Nun gilts!
Ich war nur mit dem Säbel und einer Pistole bewaffnet, eilte aber so schnell als ich vermochte nach der Gegend, von welcher der Lärm herüberlief. An jeder Ecke wirrten mir andere Nachrichten entgegen: »Jellachich ist da! – Auersperg greift an!«
Die Kopflosigkeit stieg, je mehr ich der Linie näher kam. Der Mangel an einem verläßlichen Nachrichtendienst, die Lügen, welche jeder Leichtsinnige nach dem Beispiel der damals hierin unglaublich frechen Presse ausheckte und sogleich in die Ohren aller Nachbarn goß, in deren Köpfen sie wie Fliegenschwamm und Taumellolch fortwirkten, erfüllten mich mit Ekel gegen diese tratschvollen Republikaner-Karrikaturen. Ich riß mich durch den Markt, der auf den unruhig beleuchteten Straßen mit Neuigkeiten abgehalten wurde, hindurch, dorthin, wo mir die Schüsse allein Wahrheit sagen sollten.
Schon in Fünfhaus erregte mich die berauschende Nähe des Kampfes. Ein Pelotonfeuer prasselte von Meidling herüber; ich eilte dorthin … Ach, es war dennoch weit, weit. Als ich gegen die Höhen des Gatterholzes kam, rauschte von dort ein Viktoria herunter. Die Schüsse vereinzelten sich, und singend, von wandelnden Lichtern begleitet, stieg in der reifduftigen Nacht eine Schar herunter. – Sie kam näher, – ich erkannte graue Lodenröcke, Schildhahnhüte. – Es waren Steirerschützen, etliche Hundert! »Gott sei Dank!« tönte es mir aus der Schar entgegen: »Der erste Student!«
Ich schwang überglücklich meinen Schlapphut.
»Hager!« rief einer der Vordersten, und all die andern, die mich gar nicht kannten, jubelten ihm nach: »Hager! Hager!«
Einen Augenblick später lagen Bernewein und ich uns in den Armen.
Dem lebhaften Tiroler war die Verwirrung in der Stadt zu nichtig geworden, er zog auf Kundschaft nach Süden, schlug sich durch zahlreiche kaiserliche Truppen und stieß auf die Steirer, von welchen in jenen Oktoberzeiten fast täglich ein schöner Trupp den Wienern als Hilfe zuzog. Die Soldaten haßten diese guten Schützen, welche ihnen ganz anders entgegentraten als die oft fersenschnellen, verweichlichten Großstädter, und sie hatten eine schwere Arbeit, sich durchzukämpfen.
Noch auf den Höhen südlich der Stadt verlegte ihnen Militär vom Regiment Nassau den Weg, und lange plänkelte die kleine, weit vorausgeeilte Avantgarde herum, bis der Haupttrupp nachgekommen war. Die Schützen, welche in der Nacht ihr Pulver nicht verschwendeten, warfen sich in jähem Anlauf gegen die Postenkette, sprengten sie in kurzem, aber verbissenem Kampf und zogen, durch das Gatterholz gegen die heranrückenden Verstärkungen des Feindes gedeckt, jubelnd in die Stadt ihrer Träume ein.
An der Linie schlugen sie redlich müde ein Bivouak auf. Umjauchzt und umstaunt von dem Volk saßen wir fröhlich trinkend am Lagerfeuer, als mich Bernewein nach Gottschalk fragte. Ich gab ihm Bericht und der Freund schüttelte, schon schlaftrunken, den eigensinnigen Kopf. »Er läßt sich von den Mobilgarden feiern? Ob die ihm aushalten? Warum macht er es nicht wie ich und geht zu einer Kerntruppe, in welcher Mark und Rasse steckt? – Ich muß doch mit ihm reden.«
Und in seinen Mantel gewickelt schlief er ein. Da streckte ich mich neben ihn und gab noch eine kurze Weile meiner Nachdenklichkeit Gehör.
Gottschalk wollte, wahrhaft durstig, sein Glas zum Beschluß seiner Rede austrinken. Und als er es ansetzte, ward er fortgerissen. – – – Was wird werden? – – –
Als ich mich in der andern Frühe (die Tage waren gleich schön und leuchtend wie Perlen an einer Schnur) von den Steirern verabschiedete und nur Gottschalks wegen ihre und Berneweins Anträge, unter sie einzutreten, ablehnte, ging ich wieder den Weg nach dem grünen Vororte.
Wie ich so auf überwehter Straße dahinschritt, in einer Stimmung, welche aus Liebe, Freundschaft, Hoffnung und dem Gefühl, in einer großen Zeit zu leben, seltsam gemischt, ein hohes Glücksgefühl hergab, – – in solchen Träumen erschreckte mich der Ruf eines eilig hinter mir Nachschreitenden.
Ich schaute aus. Es war Hirsch. Da ließ ich ihn mich einholen und wurde zufrieden mit ihm; mit Herzlichkeit faßte er mich um den Leib, und ich dachte mir: ein Jude, wenn er nur ein warmes Herz hat, kann doch ein lieber Bruder sein.
»Du gehst auch zu Gottschalk,« fragte er. »Hast du Fiamma in diesen letzten Tagen viel gesehen?«
»Recht viel. Sie blüht wundervoll auf.«
»Aufblüht sie? Ach! Freundchen! Und geht es allen gut? – Was für ein schöner Morgen! Schlagen wir nicht ein frischeres Tempo ein? So: Eins, zwei. Eins, zwei.«
»Ja, Hirscherl, was ist denn mit dir? Du bist ja voll Glückseligkeit?«
Er sprudelte eine ganze Menge Antworten und Fragen zugleich heraus: »O, ich bin so heiter, so heiter, sage ich dir! Ich freue mich, daß ich heute frei habe. Was hast du getan in dieser letzten Zeit? Was macht die liebe, stille, herzige Margarethe? Bist du viel mit ihr und Fiamma spazieren gegangen?«
»Erst neulich waren wir zu viert in den Weingärten,« erzählte ich. »Da hatte Fiamma Gottschalks politische Briefe in einen Korb gestopft und türmte eine solche Last von Äpfeln und Trauben darüber, daß alles Papier nachher vor Süßigkeit aneinander klebte.«
»Ja, Ja! Früchte über die Sorgen. – So mag ihre Art sein. Aber wer ging mit Margarethe: Gottschalk?«
»Nein. Ich doch.«
»O, du? Du gehst gerne mit ihr; wie?«
»Ja. – Freilich.«
»Sie ist auch ein liebes Kind. – Aber da ging also Gottschalk mit Fiamma?«
»Ja.«
»Und – – – Wie waren sie mitsammen?«
»Ach, die sind weit vorausgegangen, sind in den Reben verschwunden und haben gar nicht wieder zurückkommen wollen,« lachte ich.
»Verschwunden! – – Haben gar nicht – –!« wiederholte Hirsch. Ich sah ihn an; er war leichenblaß geworden.
»Freund, aber Freund!« rief ich. Ich erschrak über eine mögliche, haßbringende Verwicklung. – Schon Gottschalk liebte Fiamma. Das sah ich. Mit Leidenschaft, wenngleich wider seinen Willen. Und nun der zweite! Was mußte das geben? Es beklemmte und reizte mich doch wieder.
»Du liebst sie also,« begann ich langsam.
»Ja!« hauchte er.
Wir gingen lange Zeit schweigend weiter, bis sich Hirsch von dem Anfalle einer Leidenschaft, welche ihm das ganze Blut vergiftet hatte, etwas erholte. »Hager,« bat er jetzt. »Sage mir: Lieben sie sich?«
»Vielleicht wäre eine Liebe im Entstehen gewesen,« berichtete ich zögernd. »Aber sei ruhig! Gottschalk hat mir selbst mit seinem ganzen finstern Ernst gesagt, er wolle von ihr nichts wissen.«
»– – hat er dir gesagt!?« riß mir Hirsch das Wort vom Munde weg. »O, das wäre gut, das wäre gut!« Und der arme Freund wurde wieder heiterer, wiewohl seine Aufregung zunahm, je mehr der Ort vor uns in grüne Nähe trat.
»O, mein Freund,« rief er und unterfaßte mich abermals. »Ich leide seit diesen drei Tagen und Nächten mehr als Heinrich Heine in sieben von den schlimmsten Monaten seiner Jugendliebe konnte gelitten haben! – Und dennoch sind meine schlechtesten Stunden die, wenn ich an Fiamma nicht denken kann, und meine besten, wenn ich sie am meisten liebe. Meine Nächte sind wach und meine Gedanken bei ihr. Dann leuchten ihr Hals und ihre Kehle als eine mattweiße Ampel auf einen Fiebernden. Dann sehe ich ihre Arme, schöner und duftender als weißblühende Rosenzweige. Dann werfe ich mich in diese unsagbar schönen Ranken, sie reißen mir das Herz auf, – – – so verblute ich jede Nacht von neuem!
Wenn aber der Tag kommt, treibt es mich zu laufen, sie zu sehen, neuen Fluch mir zu holen für mein Blut! Dann werde ich fast wahnsinnig, wenn der träumerisch runde Milchopal ihres leuchtenden Angesichts zu mir sich wendet. O! O! Und ich mußte ihn einst über nackten Schultern sehen, und nun niemals wieder!
Was ist nun besser? Die trostlose Wirklichkeit? Im Traum besitze ich sie doch! Da halte ich sie um den wunderschönen Nacken, und wie ein Zug wilder, sehnsüchtiger Wandervögel seine Schwingen nach dem seligen Süden schlägt, so rauschen süße, fremde Worte aus meiner Brust zu ihr, zu ihr!«
»Wahrhaftig Hirsch,« sagte ich und blieb stehen. »Es ist ein Gedicht, was du da vorbringst, und ein schönes.«
»Freund, o Freund,« drängte er mich weiter zum Gehen. » Wird es eines sein? Wird dieses lachende und störrische Kinderherz weich und schmiegsam werden? Wird sie wie du staunend ergriffen sein, wenn ich ihr sage, von dem ich selber nicht weiß, woher es kommt?
Sag mir das; du! Sag mir das!«
Der arme, viel zu sinnengeknechtete Mensch zitterte und preßte mir die Hand.
»Ich kann da nichts vorausahnen,« bedachte ich. »Aber ich glaube wohl, daß eine solche Glut wie die deine ein schwaches Geschöpf zu verwirren imstande sein möchte.«
»O, glaubst du? O, sagst du? O, wenn das wäre!«
Für junge Leute ist es immer schön von Liebe zu reden, und fast wünschte ich dem Freunde alles Glück gegen Gottschalk … Auch war ich ihm dankbar, daß er von dem Herzweh unerwiderter Liebe, wie ich es selber fühlte, so schön zu reden wußte. Es erhob mich mit ihm, erregte mir aber auch die Sinne in bisher ungewohnter Weise.
Wir kamen schnell zu Frau Gottschalks schönem Anwesen, in welchem für jeden von uns beiden eine Liebe, durch eine reizvolle Landschaftlichkeit nur noch verklärt, eingeschlossen war. Wie hastig stiegen wir heute zu dem goldlaubigen Garten empor!
Dort im Freien an der letzten Ecke vorn an der Mauer stand ein Tisch unter der schönen großen Linde, welche jetzt wie ein einziger Goldbaum erglänzte, aus welchem wundervoll der rote wilde Wein in langen Guirlanden herabhing. Dort, so recht von den glühenden Herbstfarben überstrahlt, saß in der milden Sonne Hans Gottschalk und las und schrieb Briefe über Briefe: Wiener Berichte nach Frankfurt, nach Paris, nach Warschau, nach Pest und nach Mailand. So weit umher hatte der stille Träumer, für den ich ihn gehalten, seine Ideennetze ausgesponnen. Er nickte uns nur flüchtig zu, und Fiamma, welche neben ihm saß, sah ihn an, legte den Finger auf den Mund und sah ihn wieder an, in Stille und Stolz leuchtend. – – Sie hütete ihren Schatz.
Wir setzten uns schweigend mit an den Tisch und warteten. Hirsch besah sich Fiamma Zug für Zug mit Inbrunst und seine Lippen zitterten; ja, die Zähne schlugen diesem Kinde eines sinnebeherrschten Volkes leise aufeinander.
Fiamma aber sah und hörte nichts, schaute dem gedankengefangenen Freunde zu, und wenn die innerliche Arbeit sich bewegt auf seiner Stirn, seinen Brauen, seinen Lippen zeichnete, so ahmten ihre Züge den Ausdruck nach, – gänzlich unwissend, daß sie es taten. Das Kind glühte in versunkener Zärtlichkeit, und Hirsch sah zu und litt. Ich fühlte das Zittern der Banklehne, an welcher ich neben ihm saß.
Endlich legte Gottschalk die Feder weg, reichte uns die Hand über den Tisch und sagte mit tiefem und weichem Klange: »Guten Morgen!« Seine Augen aber waren bei Fiamma, und so galt auch nur das Wort des Grußes uns; der Tonfall galt ihr.
»Wohl! Es war ein guter Morgen: eine geweihte, gehobene Arbeit,« sagte er zu Fiamma und faltete dabei einen Brief nach dem andern. Endlich sah er auf uns. »Warum bist du gestern fortgegangen, Hager,« fragte er. »Ich kam bald nachdem du Abschied genommen hattest zurück, und wenn nicht die Mutter so schlimm bei Befinden war, so holte ich dich noch ein.
Meine Garden haben auf eigene Rechnung die halbe Nacht in den Weindörfern umhertriumphiert.«
»Ich habe Größeres erlebt,« sagte ich. »Doch davon später. Wie geht es der Mutter heute?«
»Ich habe sie diese Nacht wohl drei Stunden in den Armen gehalten. Sie war zu stark erregt und ich mußte ihr viel gute Worte zureden. Dann aber kam der holde Schlaf – – wiewohl er nur kurz ausgefallen ist. Denn vor einiger Zeit schon ist sie mit Margarethe in den Garten gegangen, um die letzten Vorräte dieses Jahres einzuheimsen. Da kommen sie nun.«
Ich flog Margarethe entgegen, welche einen vollen Korb gelber, dürrer Schoten trug und erhielt einen freundlichen Gruß. Auch Frau Gottschalk sah mir heiterer entgegen als in den letzten Tagen, da ich ihr vielleicht nicht der liebste Gast gewesen sein mochte. Jedoch schien ihre Angst um den Sohn nunmehr überwunden.
Da wir alle um den Tisch saßen, begann Hirsch heiterer, als ich erwartet hatte: »Ich bin gekommen, um nach meiner kleinen Patientin zu sehen. Wie steht die Wunde? Können wir ein Zimmer haben, wo man sie ansehen darf?«
»Nein!« rief Fiamma eilig und mit heißer Röte auf den Wangen; »die ist geheilt! – Da war ein paar Tage ein brauner Schrund darauf und der ist heute morgen abgefallen.«
»Sie – – – aber Sie Indianerin!« rief Hirsch. »Das kommt ja nur bei wilden Völkern vor. Unsereins heilt vierzehn Lage an einem solchen Schaden. Das muß ich sehen. Zeigen Sie doch.«
»O, da ist für den Arzt nichts mehr zu begucken,« sagte sie mit einem Schalk auf den Lippen und sah von neuem Gottschalk an mit dem erschreckend deutlichen Blick: Vielleicht aber für den Geliebten?
Zu vieren verstanden wir diesen beinahe schamlos verliebten Augenblitz. Margarethe, Hirsch, Gottschalk und ich. Und drei von den vieren erbleichten.
Gottschalk war der eine. Er schwieg; – es mochte ihm die Stimme versagen. Hirsch bedeckte das verräterische Gesicht mit der Hand, Margarethe aber stand auf und ging fort. Ich folgte ihr.
Wir schritten schweigsam zwischen den Tischen hindurch, welche schräg an die Stühle gestützt und von Herbstlaub überfallen dastanden und kamen in die Reben. Dort blieb Margarethe stehen und sah nach der Donau hinüber; ihre Brauen waren strenge gefaltet.
»Schamlos,« nickte ich.
»Es wird bei den Theaterleuten, von denen sie herkommt, so zugehen,« sagte Margarethe mit hartem Stimmton. »Für uns ist es besser, da nichts zu besprechen.«
Und kurz entschlossen kehrte sie sich in die Reben, brach da und dort Blätter, welche den Trauben zu viel Schatten gaben, und ich half ihr, schweigend wie ich mußte. Als wir nach nicht gar langer Zeit gegen den Garten zurückschritten, tönte uns ein scharfer Streit entgegen.
»Ihr Sohn ist Ihnen Ruhe schuldig,« rief Hirsch, »umsomehr, als sein Volkstribunat dahier kein gutes Ende nehmen kann.«
»Das sagen Sie,« fuhr Fiamma auf, »Sie, der von dem Streite der Meinungen lebt, Sie, der Sie eine fette Ernte aus diesem Kampfe ziehen?«
»Aber nein,« fuhr sie ruhiger fort, als Hirsch sie erschrocken anstarrte. »Ich will anders sprechen. Also: das sagen Sie, ein Begeisterter, ein Mitkämpfer; Sie, den ich mit der Brandfackel unter den Helden des Zeughauses gesehen habe?«
Hirsch wäre wirklich durch diese schmeichelhaften Worte vollkommen entwaffnet worden, wenn Fiamma nicht im folgenden Dinge ausgesprochen hätte, welche ihm bis in den Kern seiner Eifersucht fressen mußten. Denn sie sagte: »Und wenn Sie, ein bloßer Soldat der Revolution notwendig sind, – um wieviel mehr bedarf das Volk seines Hans Gottschalk, welcher der Diktator dieser Revolution werden soll.«
Da konnte sich der tiefverletzte Doktor nicht mehr fassen: »Der! Der! Der Diktator der Revolution? Der Dorfheros, von welchem man in der Stadt keine Ahnung hat, – und wenn schon! der nur aus Gnade in die Reihe der Straßenkehrer der Freiheit mit aufgenommen würde? Hier in Döbling, in Sievering, in Neustift am Walde mag ja ein Student und Wirtssohn bis zu einer auffallenden Erscheinung gedeihen. Wir in der Stadt lachen darüber.
Den Reichsrat haben wir, die Kasernen, Zeughäuser, das Geld haben wir! Alle Gewalt, allen Erfolg lenken wir. Das hier außen, ist eine Episode, eine überflüssige Episode.
Und selbst wenn Wien belagert werden sollte, so können wir, in unsern Mauern mit allen Mitteln der Verteidigung versehen, paktieren und uns eine hübsche Kapitulation erhandeln. Die offenen Vorstädte aber werden einfach entwaffnet, die Führer ausgeliefert und gehenkt! Dann gehen Sie hin und holen Sie Ihren verkrachten Messias vom Galgen. Adieu!«
Auf sprang der Gereizte und enteilte.
»Jesus, Maria und Josef!« schrie Frau Gottschalk, welche leichenblaß geworden war. Wir rannten zu ihr, um sie zu stützen, denn wir befürchteten einen Anfall.
Aber sie wehrte unsere Hilfe ab. »Hans,« brach sie aus, »du legst deine Stelle als Mobilgardenkommandant nieder. Gleich und gleich, sag' ich dir!«
Wir wollten sie beruhigen, aber diesmal war alles umsonst. Die furchtbar erschreckte Frau war dem Wahnsinn nahe; das Bild, welches der Journalist in so krassen Flecken hingemalt hatte, stand mit entsetzlicher Deutlichkeit vor ihrer Seele. Nichts verschlug, nichts ertrug sie, und als Gottschalk ruhig sagte: »Mutter, es geht nicht,« da trat sie ganz bis vor sein bleiches Antlitz, schlug ihm mit der geballten Hand hinein und schrie: »Sei verflucht!«
Und so schnell brach sie dann in Ohnmacht zusammen, daß wir sie nicht mehr halten konnten und sie vor den zurückgewichenen Sohn lang, starr und schauerlich hinschlug.
Wir hoben sie, wir trugen sie auf einen Rasenfleck, – Margarethe und ich. – – Denn Fiamma stürzte sich laut aufweinend an die Brust des Erstarrten, die schwarzen Locken schlugen um seine Wangen, und sie überflutete das beleidigte Antlitz mit leidenschaftlichen Küssen.
Gottschalk jedoch rang seine Arme um das glühende junge Weib und sog, indem sich ihm Verzweiflung, Schreck und Schmerzen in Leidenschaft umwandelten, die roten, brennenden Küsse mit Gier in sich. – Eine halbe, eine ganze Minute lang.
Es durchfuhr mich wie der Anblick eines zügellosen Knäuels vom Himmel stürzender, satangewordener Engel!
Während wir die erstarrte Frau in Angst und Sorge in das herbe Leben zu bringen eiferten, standen die zwei, eine Gruppe des Verbrechens und der Verzweiflung, neben der Hilflosen und prägten sich die süßen Brand- und Schandmale der Leidenschaft auf Mund und Wangen und Hals.
Als sie nach kurzem Vergessen erschreckend inne hielten und zu der leblosen Frau hineilten, sagte Margarethe zu Fiamma:
»Geh' weg!«
Gottschalk hingegen ließ sie gewähren, als er sich über die Mutter warf.
Fiamma aber stand reglos neben uns und schaute auf Gottschalk.
Frau Anna erwachte endlich, sah den Sohn und tastete nach seiner Hand. »Was war mir denn, Hans?« fragte sie leise. Da wagte er nicht, diese Hand mit denselben Lippen zu berühren, welche der Schuld so sehr zugejubelt hatten. Scheu drängte er seine Stirn, dann, als ob auch sie befleckt sei, sein Herz gegen diese arme, hilflose Hand. Und von neuem hieß es für die Mutter: In's Bett.
Sie sollte es nur einmal noch lebend verlassen.
Als sie eingeschlummert war, ergriff mich Gottschalk an der Hand und riß mich, ohne einen Blick auf Fiamma zu werfen, welche ihm hilflos nachsah, fort.
»Komm'! Und komm' schnell!«
Im Freien gingen wir langsamer. Ein kleiner Bach rieselte in der Nähe. Gottschalk kniete nieder, tauchte die Hände hinein und wusch sich das Gesicht. »Mir war heiß,« sagte er. Kniend rieb er sich in seinem Taschentuche trocken und sagte, indem er über die Schulter heraufsah, zu mir: »Ich habe mich schwer versündigt und ich will sühnen.«
»Du liebst also doch,« antwortete ich in leisem Vorwurf.
»Rasend, Hager! Um so rasender, weil ich es mir verbiete. Aber von heute ab ist eine Wölbung von Quaderstein über meine irdischen Wünsche gebaut!«
»Aber deine Mutter und Margarethe? Willst du die auch niedertreten?«
»Freund, merke wohl,« sagte er und stand auf, »daß ich vor allen mich selbst niedertrete.«
Ich erwiderte nichts mehr. Zum erstenmale graute es mir vor Hans Gottschalk.
Ich fühlte, wenn ich auch nicht deutlich wußte, ob ich ihm absagen oder Freund bleiben sollte, daß ich ihm das zu verkünden hatte.
»Laß mich nachdenken, wie ich mich von heute ab zu dir zu stellen habe,« begann ich. »Deine fanatische Härte erschreckt mich.«
»Das überlege nur.«
»Und da ich, wenn ich dein Freund bleibe, auch deine Feinde zu Feinden annehmen müßte, so sage mir: Wie wirst du es mit Hirsch halten? Er haßt dich und liebt Fiamma.«
»Ich weiß es,« bestätigte Gottschalk. »Der unglückselige Judenromantiker! Aus Eifersucht wollte er mich verkleinern und machte nicht Fiamma, wohl aber die Mutter gänzlich irre an mir.«
»Wie gelangte er zu solch maßloser Heftigkeit,« fragte ich, und Gottschalk erzählte: »Er sagte zu Fiamma, sie möchte zu ihm kommen, er habe ihr ein Heim bei guten Frauen bereitet.
›Ich habe schon hier eines,‹ erwiderte sie.
Er wieder: ›Jedoch können Sie hier doch nicht Kellnerin spielen; das wird Ihrem Vater sehr übel zu vernehmen sein.‹
›An der Seite der Frau Gottschalk ist es eine Ehre zu dienen,‹ war ihre Antwort. Und meine Mutter sagte: ›Ja, ja, Fiamma, bleiben Sie nur bei mir.‹
Da begann er wieder: ›Das Volk wird allerlei reden, wenn es das schöne Mädchen im Hause des Studenten sieht.‹
Es könnte auch über Margarethe reden, warf ich ein. Fiamma aber fuhr in die Höhe mit den Worten: ›Kurz und gut, ich gehe nicht. Hier ist ein herrliches buntes Treiben, da paßt ein Theaterkind wie ich hinein.‹ Von Fiamma abgewiesen, wandte sich der Gereizte an meine Mutter, welche bis dahin gütig schweigend zugehört hatte, und, indem er nur dem Lobe Fiammas über mich widersprechen wollte, hat er mir die kaum beruhigte Frau verhetzt.«
»Er haßt dich von heute ab glühend und wird dir noch mehr schaden,« warnte ich.
»Ich,« entgegnete Gottschalk, »ich hasse ihn nicht. Es tut mir leid um ihn. Denn durch diesen seinen Haß wird er uns verloren gehen. – Mit seinem Journal schon war er auf dem jüdischen Abweg. Schade, schade,« – – seufzte er, in tiefe Gedanken verloren. »Hier wird der Hauptmann recht behalten. Ich hielt den Freund schon für den unsern; sein Abfall tut mir schneidend weh, sage ich dir. Er stand schon so nahe an dem goldenen Tor, das sich auf der Höhe öffnet, und von dem aus man in die Weite blickt. Nun kehrt er auf fast vollendetem Wege um, in das Ghetto der gemeinen Nützlichkeit! Das höchste Glück, die seligste Erkenntnis wird er aus Haß gegen mich von sich stoßen.«
»Welches höchste Glück?« fragte ich.
»Siehst du, Hager,« antwortete der Freund, »ich glaube, es muß eine ungeheure, herrliche Glut sein, in der sich ein Jude zur Größe heranläutert. Wie unvergleichlich, von Sphärenklängen umtönt und zu allen Himmeln entrückt muß er in dem Augenblick sich fühlen, wo ihm das aufgeht, was wir die germanische Seele nennen, was aber selbst von uns die wenigsten haben; jener Augenblick, wo er die Sonnentaufe des heiligen Geistes empfängt. Es ist nur den verklärtesten ihrer Geister, den bewegtesten der Herzen dieses Volkes geglückt, den Durchgang zu erreichen. Darum konnte ich den Hauptmann beinahe hassen, weil er diesen Berufenen, diese sehnsuchtsvolle Seele zurückstieß. O, daß nie eine Zeit kommen dürfte, in der man den Seltenen, welche zu uns wollen, zu uns können, das Herz durch Abweisung trotzig macht, so daß sie verstockt umkehren!«
Die Höhe dieser Auffassung ergriff mich. Ich dachte an den von uns schwärmerisch verehrten Mendelssohn und seine Waldlieder. Wer den zurückgewiesen hätte, bloß weil er Jude war!! Und ich sagte: »Wir bleiben, denke ich, noch zusammen, Hans Gottschalk.«
»Tu', was du nicht lassen kannst,« antwortete dieser schlehherbe Freund. »Ich war allein im Schatten meiner Ideen und mir war wohl dabei. Ich habe euer keinen gesucht und angezogen. Meine ganze Freundschaft bestand in dem Briefwechsel mit ausgezeichneten Männern dieser Zeit. Ihr alle seid zu mir gekommen. Du, Hirsch, Bernewein, Hulle, Wieninger, ja Tausenau, Chaises und die Mobilgarden. – Ich habe niemand gerufen, und mit Gewalt habe ich niemals nach einer Führerschaft greifen wollen. Gibt sie aber Gott mir, der ich sie nicht suchte, und er hat es getan! – dann ist es seine Sendung, und ich werde sie erfüllen!
Darum handle nur, wie du mußt. Geh oder bleib', meine Sendung wird ihren Weg nehmen. Lieb aber, und willkommen bist du mir immer.«
So stolz sprach er zu mir. Und ich überwand meine Eitelkeit der großen Sache zuliebe, weil ich an seine Schickung glaubte und antwortete:
»So lange ich dich für einen viel Größeren halten muß, als ich bin, so lange werde ich bei dir bleiben. Eines aber muß ich dir sagen: Ich habe dich heute schwach gesehen!«
»Es wird das letztemal gewesen sein,« versicherte er ruhig. »Ich bin bereit, daheim den Meinen wieder ins Gesicht zu sehen. Kehren wir um?«
Die Zeiten wurden schwül. Schon am elften Oktober hatte der »Freimütige«, ein radikales Blatt, einbekannt, Jellachich führe 20.000 Mann gegen Wien; schon sei er in Schwechat. Dieser General, Ban von Kroatien, von dem es die ganze Zeit her geheißen hatte, er habe nur etwa 2000 Mann armseliges Diebsgesindel vor den Ungarn auf österreichisches Gebiet gerettet, hatte am 10. Oktober im Lager Auerspergs einen Besuch abgestattet, und die Wiener hatten das ungeheure Jubelgeschrei der Soldaten mit bange klopfenden Herzen vernommen. Nach diesem Besuch zog Auersperg seine Truppen, deren Lager im Schwarzenberggarten vier Tage lang als eine schwere Wolke über der Stadt gedroht hatte, zurück und führte sie dem Banus zu.
Von Norden her wurden Truppenmärsche aus beängstigend vielen Richtungen gemeldet. Magnetisch zog das eiserne Gewitter auf die kopflose Krakehlstadt los.
Ich lief zu Gottschalk und fand ihn tief versunken allein. »Ich weiß alles,« sprach er mir entgegen. »Windischgrätz rückt mit einer Armee auf Wien. In wenigen Tagen sind wir eingeschlossen. – Gottlob! Denn jetzt kommt Wien auf den Probierstein. Es wird ernst.«
»O, hätten wir nur einen eisenharten Mann zum Diktator,« rief ich aus.
»Es ist eine Schande,« sagte Gottschalk. »Da war Braun der Oberkommandant, dann kam, einen Tag lang, Spitzhitl, der einzige Charakter unter der windigen Bande. Der war ihnen unbequem. Mit Katzenmusiken haben sie ihn vertrieben. Jetzt macht der Schwätzer Messenhauser seine Stilübungen mit Proklamen, Protesten, Noten und Repliken. Wo steckt nur Bém? Komm Hager, wir wollen in den demokratischen Klub!«
»Nimm deine Mobilgarden mit,« riet ich. »Sprengen wir das Gesindel. Setze dich selber mit Gewalt zum ersten und einzigen Willen der Stadt ein!«
»Dazu ist die Not noch nicht groß genug und es ist kein Bedürfnis danach im Volk entstanden. Sie haben sich an ihren Göttern noch keinen Ekel geholt; und nur die reife Frucht darf ich schütteln.«
Wir gingen also in den demokratischen Klub, um Verhaltungsbefehle entgegenzunehmen.
Als wir in das Extrazimmer der »Ente« traten, wurden wir vorerst in dem dicken Tabaksschwaden gar nicht bemerkt. Bunte Gruppen saßen an den Tischen, tranken und debattierten, in einer Ecke fochten zwei Polen ein graziöses Fleuretassaut, andere spielten Karten. Gläser klangen, Kellner liefen ab und zu, und nur in einer Ecke stand ein Mann, ein Jude, eifrig redend auf einem Stuhl. Es war Tausenau, der Präsident des Klubs. Ein schwaches Dritteil der Anwesenden hörte ihm lässig zu.
»Wie eine Schulstube, wenn der Lehrer fort ist,« sagte Gottschalk zu mir.
Da, mitten in einem Lärm als ob tausend Gänse durcheinander schrien, entdeckte uns Tausenau, der eben die Glocke schwang, eilte auf uns zu und umarmte Gottschalk. Zugleich bemerkte ich in einer Ecke Hirsch, welcher sich also schon bis hieher durchgearbeitet hatte. Er schaute gespannt nach uns herüber, und ich sah, wie er Chaises, der an ihm vorbeieilte, beim Frackschoß anhielt und ihn auf Gottschalk aufmerksam machte. Dann sprachen beide noch eine zeitlang eifrig miteinander; endlich kam Chaises auf meinen Freund zu, begrüßte ihn, zog Tausenau beiseite und flüsterte mit dem. Tausenau rieb sich vergnügt die Hände, und Hirsch lächelte in seiner Ecke: Höhnisch, wie mir vorkam.
Da viele der Streitenden auf Gottschalk aufmerksam und neugierig geworden waren, vermochte sich Tausenau von seiner Tribüne jetzt leichter Gehör zu verschaffen. Es trat ein Zustand ein, welcher sich der Ruhe näherte.
»Meine Herren!« begann Tausenau. »Über die strittigen Punkte werden wir später ins Gleiche kommen. Erledigen wir vorerst diejenigen, über welche wir uns einig sind. Da haben wir gleich einen, also: Die Ungarn sollen uns zu Hilfe kommen.«
»Sie müssen! Moralische Pflicht! Dringend!« schrie es durcheinander.
»Wir haben nun hier einen Meister der Beredsamkeit, Herrn Gottschalk aus der Döblinger Gegend …«
»Ah! Der?« hieß es schmeichelhaft und Tausenau fuhr fort: »– – der es vermocht hat, einer verblendeten Soldateska die Augen zu öffnen über ihre wahre Pflicht, ihr wahres Heim und ihren wahren Souverain, das Volk!«
»Bravo! Bravo!«
»Ich rede gewiß im Sinne aller, wenn ich beantrage, daß wir eine solche Kraft sich nicht ungenützt in den Vororten verplänkeln lassen und schlage vor, daß dieser junge, feurige und hinreißende Redner der Deputation zugeteilt werde, welche noch heute abgeht, um das magyarische Freiheitsheer zu Hilfe herbeizurufen.«
»Bravo! Ausgezeichnet! Angenommen!« tobten die Volksmänner, welche entzückt waren, sich endlich einmal eines Sinnes zu finden.
»Er ist mit Kossuth persönlich befreundet,« rief Hirsch.
»Aber das trifft sich ja großartig,« jubelten einige der Herrn und eilten mit gratulierend vorgestreckten Händen auf Gottschalk zu.
Der stand bleich und schweigend mit aufeinander gebissenen Lippen. »Ich kann nicht magyarisch,« brach er hervor.
»Das tut nichts, das tut nichts,« schwirrte es um ihn. »Es ist eine ganze Gesandtschaft. Da gibt es mehrere Ungarn von Geburt.«
»Ich bin Kommandant eines Mobilgardenbataillons.«
»Hager übernimmt es dir,« schrie Hirsch.
»In den nächsten Tagen droht ja ohnehin nichts Ernstliches,« drängte Tausenau, »und Sie sind bald wieder zurück. Nur bis Preßburg, bis Parndorf nur und per Schiff!«
Gottschalk sah mich wie zu Stein erstarrt an.
»Erreichst du es,« flüsterte ich ihm zu, »und bringst die Ungarn wirklich, so hast du zehnmal mehr an Wucht des Ansehens gewonnen, als wenn du im Vorort die paar Halbbauern exerzierst. Das bleibt doch wahr!«
»Gottschalk, Hans Gottschalk!« jubelte Hirsch, »wenn du uns die Ungarn bringst, läuten dir alle Glocken von Wien ein Gloria! Du, und nur du vermagst es. Du allein hast das rechte, wilde, hinreißende Rebellenblut, du findest allein das Wort des Aufruhrs, welches den zauderischen General Moga über die Grenze von Ungarn zu treiben vermag. Gottschalk, wenn du das zustande bringst, bitte ich dir auf den Knien meine gestrigen Worte ab!«
Gottschalk sah mich wieder an. »Hältst du mir meine Garden in heißer Pflicht und mit Strenge?« fragte er.
»So gut ich kann; ja!« versprach ich.
»Ich nehme die Sendung an,« sagte Gottschalk laut.
Ein kurzer Applaus begrüßte den Entschluß, dann floß die Tagesordnung über ihn weg auf andere Dinge.
»Heute abends neun Uhr geht das Schiff,« mahnte Tausenau noch.
»Ich werde dort sein,« versicherte Gottschalk und wir gingen. »Ich will fort, damit ich die Mutter nicht mehr leiden sehen muß,« sagte er leise zu mir.
»– – – und Fiamma,« ergänzte ich.
»Und Fiamma vergesse, ja. Kommst du heute nachmittags zu uns? Um sechs nehme ich Abschied, gehe nach Nußdorf und fahre von da im Kahn bis zum Rotenthurmthor, wo das Schiff hält.«
»Ich werde kommen,« versprach ich und trennte mich von ihm, um die Freunde, welche im »Kühfuß« zu Mittag aßen, mit dem Ereignis bekannt zu machen, welches so unerwartet gekommen war, und dessen Ende alles, aber auch nichts sein konnte. Noch mehr aber jagte es mich, die bittere Sorge, welche mir der Anblick des lächerlichen, unwürdigen Klubs in das Herz hatte schießen lassen, an der Kraft Berneweins, an der Sicherheit Bestereders und an der Fröhlichkeit Hulles verbranden zu lassen.
Die Freunde beschlossen, noch vor sechs Uhr zu einem fröhlichen Abschiedsfeste bei Gottschalk einzutreffen. Ich selbst ging schon um vier Uhr hin und traf ihn bei seiner Mutter an. Margarethe ließ mich ein.
Fiamma hatte ihren Dienst bei dem verwundeten Hauptmann und wußte nicht, daß der Freund fortzog.
Gottschalk saß am Bette und die Mutter hielt ihn an der Hand.
»O, du bist gut, du bist lieb,« sagte sie, »daß du deiner alten Mutter auch ein Opfer bringen kannst.«
»Wissen Sie schon,« lächelte sie mir entgegen, »Hans macht eine kleine Donaufahrt. Er muß doch ein wenig aus diesen gefährlichen Verhältnissen kommen; es wird ihn zerstreuen. Gott segne dich, du gutes Kind! Komm nur ja nicht allzubald zurück!«
Sie kramte unter ihrem Polster. »Da hast du,« flüsterte sie und steckte ihm Geld zu, »das reicht schon auf ein vierzehn Tage. Bis dahin ist vielleicht bei uns schon wieder Ordnung und Ruhe. Der Hauptmann sagt, das sei ganz gewiß. Die Wirtschaft geht auch ihren guten Gang, und ich will ganz gewiß wieder gesund werden, weil ich dich nur in Sicherheit weiß. – – Gretel! Gib mir das Weihwasser.«
Sie besprengte und segnete ihn. Er neigte sich schweigend. »Und nun geh, mein guter Bub. Gott und die heilige Jungfrau und alle lieben Heiligen seien mit dir.« Sie zitterte in Tränen, Gottschalk stand auf, ergriff mich hart am Arme und zog mich hinaus. Bis zu seinem letzten Schritte in der Tür sah ihm die Frau voll Liebe nach.
Er hatte sie über den Zweck seiner Reise getäuscht.
»Und nun einen schnellen Schluß,« sagte er. »Margarethe, wo ist meine Tasche?«
»Der Schani hat sie. Schani!« rief Margarethe mit bebender Stimme, und ein bei der Krankheit der Frau neu aufgenommener Kellnerjunge kam mit einer leichten Reisetasche.
»So wenig nimmst du mit?« fragte das Mädchen.
»Ich brauche nicht viel und komme bald wieder.«
»Ja: komm bald wieder,« sagte Margarethe. »Wer weiß, wie du die Mutter findest.«
»Der Hager bleibt bei euch und wohnt in meiner Stube. Er wird mit dir über die Mutter wachen,« schlug Gottschalk vor und das liebe Mädchen reichte mir freundlich die Hand. »Es wird Ihnen an nichts fehlen,« sagte sie zu mir. – »Und nun, Hans, leb' wohl!«
»Leb' wohl,« erwiderte Gottschalk weicher als er sich sonst vermochte und küßte die Errötende auf das blonde Haar.
»Hans!« schrie es über uns auf.
Fiamma stand oben auf der Treppe vor der Tür des Hauptmanns, welche sie mechanisch hinter sich schloß. Regungslos starrte sie den Freund an.
»Leb' wohl, Fiamma,« rief der ihr zu.
»Hans!« rief sie wieder. Sie hatte kein anderes Wort.
Da sagte er in harten Lauten: »Ich reise fort. Vergiß mich! Ich kann Dich nicht brauchen.«
Er wandte sich von ihr ab und war selbst bleich geworden.
So ging er fort, allein und trotzig.
Ich vermochte nicht, ihn zu begleiten.
Oben stand Fiamma und starrte auf den Fleck, wo er gestanden war.
»Kommt mit uns, Fiamma,« bat Margarethe. Aber Fiamma gab ihr keine Antwort.
»Wir decken den Tisch für die Herren Studenten,« drängte Margarethe von neuem. »Bitte, komm uns nach. Zerstreue dich!«
Wieder keine Antwort. Da gingen wir allein in den Garten und oben an der Treppe blieb Fiamma steinstill und bohrte ihre weit aufgerissenen Augen in die Stelle, wo Gottschalk zuletzt gestanden.
Gegen fünf und einhalb kamen die Freunde, in einer Reihe die Gasse heraufsingend. Sie waren verblüfft, Gottschalk nicht mehr zu finden. »Er hätte schon auf uns warten können,« tadelte Bestereder. Aber Hulle meinte: es sei eigentlich leichter und fröhlicher zwischen den Früchten und Trauben zu leben, wenn nicht immer das düstere Catonengesicht des ernsten Studenten über die fröhliche Tafel drohe.
»Er ist ein Mensch, dessen Abschiedsfest man am liebsten in seiner Abwesenheit feiert.«
Wir lachten, obwohl noch immer etwas bedrückt. Das kam von der Schwüle der Ereignisse.
Der Südtiroler Rote, welchen Bernewein geschickt hatte stand auf dem Tisch, und Hulle half Margarethe einschenken.
»Also Gottschalk holt uns die Ungarn,« sagte er. »Das kann ein hübsches Stück Weltgeschichte geben. Was? Riesig spannend! Und wenn vor unsern Mauern das österreichische und das ungarische Militär raufen, daß die zweifarbigen Hadern von den Brüderln fliegen, die vor ein paar Monaten noch eine Armee waren: Das ist doch ein Teufelsspaß!«
»Und ein hochinteressantes Problem,« warf Bestereder ein. »Gleiches Reglement, gleicher Drill, gleiche Waffen, gleich erzogene Offiziere. Das gibt einen Kampf mit gleichen Bedingungen, und da muß es sich endlich beweisen, welche Rasse die bessere ist: Die magyarische oder die germanische!«
Wieninger setzte sich an das Klavier und ließ in geschickter Phantasie die Wacht am Rhein mit dem Rakoczymarsch kämpfen. Hulle pfiff gewagte Terzen und Quinten dazu.
»Und welche Rasse glaubst du, wird siegen,« fragte ich Bestereder. Der antwortete: »Ich halte die Ungarn für hochbegabt, die Deutschen aber für klarköpfiger, die Ungarn für hinreißender im Kampf, die Deutschen für zäher. Da ständen sie also gleich. Aber ich glaube, die Ungarn sind aufopfernder und ihr Vaterland gilt ihnen mehr, als das bei unserem philisterreichen, egoistisch gewordenen Volke der Fall ist, und das besorgt mich.«
»Gottschalk denkt ähnlich wie du,« sagte ich nachdenklich. »Ich glaube, er ging lieber zu den Ungarn als er es merken ließ, weil er bei ihnen zu lernen hofft.«
»Wahr,« sagte Bestereder. »Wir sprachen oft darüber. Aber er hat das verfluchte Mißtrauen des Deutschen in das eigene Volk noch stärker als ich.«
»Was wird nun unsere Rolle sein,« fragte ich.
»Zuschauen und uns freuen,« unterbrach Hulle sein Pfeifen.
Bernewein war, in seinen vaterländischen Wein versunken, bisher still geblieben. »Ich hoffe doch,« sagte er ernst, »wir schlagen tüchtig zu.«
»Gewiß! Aber ja! Wie's kommt,« versicherte Hulle leichtherzig.
»Ich werde euch was sagen,« erhob Bestereder seine Stimme. »Mir ist der ganze Handel noch zu lumpig. Steht der Landsturm auf, erhebt sich also das ganze Volk wie in Ungarn, dann ist es eine große Zeit, die wir erleben. Dann gehe ich mit. Bleibt der lächerliche Krawall aber auf Wien beschränkt, dann ist er nichts als ein Abszeß, vor dem mir eckelt und der gewißlich ausgeschnitten wird.«
»O du grundgescheiter Kopf,« sagte Bernewein traurig. »Erst die chemische Analyse, dann die Begeisterung! – Weil dieser Aufstand vielleicht eine Torheit ist, sollen wir nicht raufen? Als ob Kampf an sich nicht schon ein Glück wäre! Gerade daß so wenige für die Freiheit zu kämpfen vermögen, daß selbst die Studentenlegion auseinander läuft, so daß man die Beharrenden unter die Mobilgarden als Kommandanten verteilt, damit die geringe Zahl der Akademiker nicht bemerkbar wird, das alles gibt doch uns treu Ausharrenden das herrliche Bewußtsein: Wir sind die Seltenen!
Diese Revolution ist vielleicht eine Revolution der Minderheit, aber sie ist eine Revolution der Feuerherzen, der Begeisterten, der Besten. Mit denen falle ich gern, und wenn ich, obschon besiegt, davonkomme, so habe ich den Trost für das ganze Leben: Schön war es doch, und Männer waren wir!«
»Du lebst mit dem Herzen, ich mit dem Kopfe,« sagte Bestereder. »Lassen wir jedem das Seine.«
»Ein Student muß mit dem Herzen leben,« rief Bernewein stürmisch.
»Pardon, ich bin schon Doktor,« lächelte Bestereder.
Es war wie eine schneidende Selbstironie, und ich dachte: Ach! Das ist die große Wunde des deutschen Volkes. Die ideale Jugend bleibt es nicht mehr, wenn sie in Amt und Würden tritt. O ihr Wenigen, die ihr »im Herzen zeitlebens ein Student« geblieben, euch hat es ins Herz getroffen, euch hat es viel schöne Hoffnungen zerstört wie mir, dieses Wort traurigster, weil belohnter Fahnenflucht: Pardon, ich bin Doktor!
Bernewein schwieg. Leise präludierte Wieninger und wir lauschten ihm, zerstreut durch vielgestaltige Gedanken. Zum erstenmal sah ich die hoffnungslose Trübheit der Quelle, an der meine sehnsuchtsvolle Seele sich gesund trinken wollte.
Der Garten füllte sich, da es Abend wurde, mit den bunten Gestalten jener Tage. Einem der Gäste ging die Muskete los. – »Hoppla!« sagte er, und die andern lachten.
»Es liegen zwei Kranke im Hause,« rief ich an den Tisch zu den Lärmenden hinüber.
Auf diese Worte stand ein halb betrunkener Mobilgarde auf und kam auf mich zu. »Sö san der Intermistkommandant?« sagte er mit der vergeblichen Bemühung, hochdeutsch zu sprechen. – »So lange der Herr Gottschalk fort ist? Hören Sö! Es wäre noböl, wenn Sö Ihnerer Kumpanie ein Fassel Bier aufwixen täten. Das is der Brauch so, und den Herrn Gottschalk haben mir nur dispensürt, weil – –«
Er konnte nicht aussprechen. Ein anderer, ein Arbeiter, führte ihn weg. »Scham' dich Schurschl,« rief er ihm zu. »Kämpfen mir denn um Wein oder Bier?«
»Es geht aber besser mit – – – als ohne« – – lallte der andere, als der Kamerad ihn fortführte. Mehr hörten wir nicht.
»Der Tugendbold ist ja selber angeheitert,« rief Hulle lachend, als beide schwankten.
»Bilder aus dem heiligen Volkskriege,« sagte Bestereder gedehnt. Niemand antwortete ihm.
In diesem Augenblicke kam Hirsch und blickte uns der Reihe nach betreten an, da wir so still saßen. »Ist Gottschalk noch da?« fragte er.
»Längst fort.«
»Ah! Das ist gut! Das ist gut!«
Als Hirsch, welcher plötzlich heiter geworden war, am Tische Platz genommen hatte, kam Fiamma, welche wie verwandelt aussah, setzte sich zu uns, und zwar ohne erst anzufragen, an das Ende der Bank neben Hirsch. Der erbleichte vor Aufregung; – ich aber sah sie erstaunt und fragend an.
»Guten Abend,« nickte sie mir freundlich zu. Ihre Stimme klang mit ihrem schönem Altton heiter und ruhig.
Die Anwesenheit des bestrickenden Mädchens erfrischte uns wieder, und wir begannen lebhafter die Ereignisse des nachrichtenvollen Tages zu besprechen. Hirsch wußte das Allerneueste. Er wurde der Mittelpunkt nicht nur des Tisches. Ein immer größerer Kreis von Zuhörern umdrängte uns, die meisten das Weinglas, den Bierkrug in der Hand oder die Serviette um den Hals.
Fiamma fragte ihm immer wieder Neues ab. Sie wollte wissen, wie Messenhauser und Kudlich und Chaises aussahen.
»Der ist heute Abend verschwunden,« sagte Hirsch gedrückt. »Er und Tausenau sollen mehrere Wagen mit Vorräten unterschlagen haben, welche für das Volk bestimmt waren.«
»Der Schuft, der Saujude,« drohten die Männer ringsum. »Wie heißt der Kerl?« fragten andere.
»Chaisés,« sagte Hirsch kleinlaut, indem er den Namen, wie Chaisés es liebte, französisch aussprach.
»Man sagt Schaisses,« verbesserte Hulle, und die Umstehenden lachten. Die drückende Stimmung löste sich langsam.
»Es ist mir ein Weh, daß es ein Jude war,« sagte Hirsch leise zu Fiamma. »Der Schimpf trifft immer uns andere mit; wir bleiben verachtet trotz aller Gesetze.«
Fiamma reichte ihm die Hand. »Sie tun mir so leid,« sagte sie. »Bei unserer Truppe sind auch Juden. Ein Liebhaber ist es und der Heldendarsteller auch. Es sind liebe, nüchterne Leute und plagen den Vater nicht um Kredit und Vorschuß wie die anderen. Ich muß aber nun gehen,« fügte sie bei, als Hirsch ihr näher rückte.
Der kleine Doktor hielt die dargereichte Hand angstvoll fest. »O, bleiben Sie, jetzt, da Sie so gut zu mir sind. Nur so lange, bis ich Ihnen gedankt habe,« rief er und suchte mit den Lippen nach der schmalen, blassen Hand, welche sie ihm entzog.
»Ich weiß schon,« nickte sie freundlich. »Kommen Sie nur öfter, weil die Luft frei ist.« Sie lächelte, aber ihre Mundwinkel verzogen sich, wie bei einem Kinde, welches das Weinen verbeißt. »Ich muß die Wache bei Frau Gottschalk antreten,« sagte sie dann. »Leben Sie wohl.« Und sie lief uns fort.
Hirsch faßte mich um die Mitte. »Hager! Hager!« rief er mir nahe ins Gesicht. »Darf ich hoffen? Glaubst du?«
»Möglich, wohl möglich,« überlegte ich. »Das ist doch ein verzweifeltes Theaterdirnchen.«
»O,« sagte Hirsch. »Es ist Mignon selbst. Goethes Mignon! Eine Gestalt, die mir als Knabe schon alle Sinne entzündet hat. Das knabenhaft schlanke, elfenbeinhäutige Kind: unberührt, aber sinnebebend. O, Hager ich sage dir: In der Stadt, am Lande, bei jedem Zirkus, bei allen Gauklern habe ich in die Fenster und Türen, hinter alle Vorhänge habe ich geschaut und diese Goethesche Mignon gesucht, welche mir wie süßes Gift im Blute lag. Da ist sie nun und hält mich an der Hand und sieht mir heiß in die Augen, daß es mir über den ganzen Leib hinabläuft! O, das ist die Höhe meines Lebens! Das ist das Schönste, Berauschendste, was mir je begegnen wird. Nie mehr widerfährt mir das wieder!«
Ein Teil von seiner Sehnsucht nach schönen Erlebnissen war auch in mir und tönte mit als er sprach. In jedem Menschenleben ist einmal das Glück am konzentriertesten und das Herz am angespanntesten. Ich bedachte, ob ich nicht auch eben jetzt gerade dieser süßen Sonnenhöhe des Glückes nahe war und die Angst erfaßte mich, daß ich es nicht mit allem Bewußtsein kosten und mit allen Freuden feiern konnte. Von diesem Augenblick verließ mich der ernste Schatten Hans Gottschalks. Ich ließ, indem mich meine lebensfreudige Natur mitriß, Gewalt und Größe leichtfröhlich dahinfahren, und ergriff den gefällig lieblichen Augenblick.
Freilich, ich vermochte ihn nicht wie Hulle zu genießen, denn meine Natur war zwiespältig. Ich sehnte und strafte mich bei Nacht und der Morgen lächelte dennoch wieder über dem Müßiggang meiner Seele. Jedoch schon dieser Hauch des Gewaltigen und die bloße Sehnsucht nach Größe adelten mich; der bange Ernst der Zeit warf seltsame Wolkenschauer über das hellgrüne Feld meiner Seligkeiten, und so wurden diese Tage, da Hans Gottschalk in Ungarn weilte, zu den traumhaft süßesten, welche ich jemals lebte, umso lebensstärker, je düsterer der Hintergrund war, auf dem das wehmütig lächelnde Antlitz meines damaligen Glückes gemalt sein sollte.
Ich wohnte bei der Geliebten.
In taublitzender Frühe brachen wir die Früchte des Küchengartens und der sonnige Herbstmittag überleuchtete unsern Tisch, an dem ich mit dem liebsten Mädchen zusammen, recht an eine Familie gemahnend, saß. Das gleiche Leben näherte uns einander und wenn ich ihre Hand ergriff, so erlitt ich keine Zurückweisung mehr.
Kamen die Garden mit Meldungen, und ich rief eine Kompagnie zur Streifung, so hatte sie Angst um mich und lachte mir wie ein blühendes Obstbäumlein entgegen, wenn ich gesund wiederkam. Ganze Tage mußte ich draußen in den Rebgärten und Zäunen bei den Vedetten zubringen. Wenn ich nicht revidierte, lag ich bei der Hauptwache. Um mich ein wechselvolles Lager, Sorgen und Lieder, bunte Gerüchte, – – – in mir ein einziges Lied: Liebe! Liebe!
Zu Mittag brachte mir das liebste Mädchen an solchen Tagen im Körblein Essen und Wein; dann präsentierten ihr die Garden mit freudelachendem Gesicht, oder räumten ihr Trommel, Mantel, Gewehr oder Heuhaufen aus dem Weg, denn der ganze Boden war stets von malerischer Unordnung überstreut.
Die Garden liebten mich, weil ich sie nicht plagte, und Tag für Tag kamen die Freunde zu uns. Hirsch saß Mittags und Abends zu Tische neben Fiamma und half mir jubeln und träumen.
Hulle hatte von der Künstlerlegion Auftrag erhalten, da und dort neue Kollegen für die dünn gewordene Schar zu werben. Er versprach vom 22. Oktober an seinen ständigen Werbetisch bei uns aufzuschlagen. Der Verdienst der guten Frau Gottschalk blühte dabei; sie ließ sich manchmal an das Fenster tragen und sah mit freundlichen Augen auf das Treiben im Garten herunter. Unzählige Gesundheiten wurden ihr gebracht, sie lächelte und sagte: »Wenn nur ein bisserl davon anschlagt, so reicht's auf zehn Jahr'ln.«
Auf die Ungarn hofften wir fest, dem letzten, entscheidenden Kampf sahen wir ohne allzugroße Bangigkeit entgegen. – »Geht's, so geht's,« sagten meine Garden. »Geht's nicht, so büßen es die in der Stadt.«
Die Zeitungen und Messenhausers Plakate wurden eifrig gelesen, die drohenden Anzeichen mit wollustvollem Gruseln bemerkt und besprochen. Der Phäakengeist lebte noch.
In diese Vertrauensseligkeit flogen die Proklamationen des Jellachich und noch mehr des unerwartet rasch herangerückten Windischgrätz wie Brandfackeln.
Ein eiserner Ring zog sich um Wien und zog sich um unsere Herzen. Die Mienen wurden düster. Der Haß und die Verfolgungen, die Suche und Hetze hinter Verrätern und »Schwarzgelben« nahm zu. Unheimliche Gestalten tauchten auf; da und dort ängstete Brandstiftung und Einbruch die besitzenden Bürger. Die Haltung der Arbeiter aber wurde gereizt, ja gewalttätig.
In den Gemütern zeitigte sich die Entzündung.
Von den Ungarn hieß es einmal: »Sie kommen«, dann wieder: »Sie kommen nicht«. Das Auf- und Abschwanken der Hoffnungen vermehrte die Reizbarkeit des Volkes. Einst kam wieder Nachricht, die Ungarn zögen an, Kossuth sei in ihrem Lager und Gottschalk habe im Kriegsrate drei wundervolle Reden gehalten.
Bernewein, welcher bei den Steirern im Prater stand und nur selten mehr zu uns herüberkommen konnte, da sie dort schon täglich Kämpfe gegen die Kroaten hatten, erzählte uns darüber:
Gottschalks erste Rede galt der moralischen Pflicht, den Wienern, welche so viele Truppen von Ungarn abgehalten und auf sich gezogen hätten, ihre Dienste zu vergelten.
Kossuth aber bewies, daß er durch Betreten österreichischen Bodens mit gewaffneter Hand die Freiheit selbst verletzen würde. Nur der Reichsrat dürfe ihm diese Erlaubnis erteilen.
Da mahnte Gottschalk die Ungarn, welche von Pflicht nichts hören wollten, zur Klugheit. Wien müsse stark bleiben; dadurch werde die gegen Ungarn gerichtete kaiserliche Heeresmacht zersplittert und im Rücken beunruhigt.
Kossuth aber variierte in vielbejauchzter Rede Frundsbergs: »Je mehr Feind', je mehr Ehr'!«
Da wandte sich Gottschalk in mächtig anpackenden Worten an die Ritterlichkeit der Magyaren, welche selbst alle Lehren der Klugheit verwerfe, wenn man ihr das Zauberwort des alten Heldentums vorspreche. »Gegen Ihren allgewaltigen Verstand,« soll er Kossuth zugeschleudert haben, »rufe ich Ihr eigenes, feuriges Ungarnherz zum Kampfe auf! Gegen Ihr kluges Verbot wiegle ich als Rebellen die Großmut ungarischer Nation auf!«
Da sei ein Sturm der Begeisterung losgebrochen, wie er einst Maria Theresia in ihrer rührenden Not umrauscht haben soll und Kossuth schlug seine Hand in die Gottschalks.
Wir warteten fieberhaft. Die offenen Vororte waren nicht zu halten, der Linienwall kaum und kaum, – – und schon war das Militär im Prater, in Simmering, am Wienerberg und in Hetzendorf; es zog sich gegen St. Veit und Breitensee.
Von Krems marschierten zahllose Schwärme heran: schon wimmelte es in Korneuburg und Greifenstein, dann in Klosterneuburg von Quartiermachern.
Über Nußdorf und die Straße von Weidling am Bach nach Salmannsdorf gleichzeitig vorbrechend mußten uns Döblinger die Truppen in die Mitte nehmen: – die Ungarn, die Ungarn! sonst waren wir erwürgt!
In dieser Zeit ging ich oftmals zum Hauptmann, welcher sich nunmehr frei im Zimmer bewegen durfte. Er trug einen Arm im Gipsverband und sah schlecht aus. Mehr als der Schmerz seiner Wunden mochte die Schande in ihm wühlen, vom Pöbel mißhandelt worden zu sein. Als ich bei ihm eintrat, empfing er mich dennoch freundlich, beinahe weich. Er reichte mir die unverletzte Hand und sagte: »Man lernt nie aus. Hätte man es denken sollen, daß sich ein reifer Mann am letzten Abend vor dem Abmarsch, welchen er jahrelang ersehnt hat, durch tollen Jähzorn dienstuntauglich macht?«
»Es ist dir erspart geblieben, der Schmach an der Taborbrücke beizuwohnen,« sagte ich. »Die renitenten Kompagnien sahen doch abscheulich aus.«
»Wahr! Wahr!« murmelte er düster. »Ich sehe von meinem Fenster täglich ein paar dieser Grenadiere: zotenhafte, desparate, überlaute Lümmel. Was ist aus diesen herrlichen, ernsten Soldaten geworden! Und du, Hager, machst das hirnverbrannte Spiel noch mit?«
»Es ist nicht hirnverbrannt,« sagte ich. »Wehren wir uns nicht wie die Teufel, so nimmt man uns die schwer errungene Konstitution wieder weg.«
»Was du denkst! Zu rechter Zeit unterhandeln, zu rechter Zeit übergeben, dann kann man euch nichts nehmen. Ist aber Wien eine eroberte Stadt, ist man über Rebellion, vielleicht über erlittene Verluste gereizt, so nimmt man euch eure sieben Seligkeiten mit süßen Freuden weg! Mensch! Weißt du nicht, was ein Fachmann der Volkserhebung, Saint Just, sagte? Die Revolution macht alles nur halb. Eines nur besorgt sie ganz: Ihr eigenes Grab schaufeln!
Sei klug!«
Er wies auf eine Karte welche an der Wand haftete; sie war von einem Wäldchen befahnter Stecknadeln belebt. »Da ist,« lachte er, »Auersperg, da Jellachich, und von hier kommt Windischgrätz und schließt die Klappe. O, sie haben euch, wie die Katze das Mäuslein! Die Offiziere lachen: Ich höre sie bis hieher! Und euren ärgsten Feinden macht ihr mit eurem Widerstand das meiste Vergnügen. Ich rate dir, Freund: Verlaß das angebohrte Schiff. Komm mit mir zu den Truppen, das wird dich vor späterer Verfolgung schützen.«
»Hauptmann, was denkst du von mir,« rief ich empört über solche Zumutung. »Du hast Recht: Ohne Hilfe von außen sind wir verloren. Ein ganzer Mann aber geht mit seiner Idee unter. Ich, fahnenflüchtig?«
»Was für Hilfe von außen erwähnst du da?« fragte der Hauptmann spöttisch. »Landsturm und Bauern? Der eingerottete Egoismus! Sie werden den Stadtleuten den Gefallen tun! Ja! Gemüse und Frucht werden sie euch um zweihundert Prozent teurer verkaufen als bisher.«
»Es ist wahr, das tun sie schon,« sagte ich beklommen.
»Siehst du,« lachte der Hauptmann: »Es ist eine vortreffliche Gelegenheit für sie, eure Revolution. Und die Ungarn? Sie werden sich im allerbesten Falle, wie die Römer an Pyrrhus, durch Niederlagen, welche sie von uns erleiden zu Soldaten erziehen. Denn nur ein Dritteil ihres Heeres besteht aus den alten Truppen des Kaisers. Die nächste Schlacht (er sah auf die Karte) bei Deutsch-Altenburg oder Parndorf oder Schwechat vielleicht, wird für Jellachich ein billiger Sieg sein.« Der Hauptmann blies ein paar Fähnchen mit der ungarischen Trikolore von der Karte weg: »So! Nicht des Rühmens wert.«
Ich sah, er war von allem unterrichtet. Margarethe hatte ihm täglich jede Zeitung gebracht, welche er verlangt hatte, und ich wollte gegen die Resultate eines ernsten Kriegsstudiums nicht mit den Phrasen von der Begeisterung der Freiheitshelden, welche den Drill mehr als ersetze, antworten; sie kamen mir selber lächerlich vor, ich sagte nur: Mag es sein. Ich bleibe bei meiner Sache, bis sie zu Ende ist.«
»Hübsch, aber unnütz,« urteilte der Hauptmann.
»Nicht unnütz für die gute Meinung, die ich über mich behalten muß, wenn ich es überlebe!«
»Vielleicht bist du nach den prophezeiten Ereignissen und nach überraschenden Erfahrungen über den Charakter deiner Wiener ein andermal in weicherer Stimmung,« schloß der Hauptmann das Gespräch.
Ich ging. All das, was er mir gesagt hatte, war richtig; es war Verblendung, das nicht einsehen zu wollen … Aber! Aber! Über mir wehte der herbe, fanatische Geist Gottschalks noch immer zu sehr.
Mit Größe fallen schien mir seliger, als einen halben, ruhmlosen Erfolg erschachern!
Als ich die Treppe hinunter kam, sprang mir ein Grenadier entgegen, griff nach meinem Arm und preßte ihn. »Was hat der Hauptmann gesagt,« keuchte er. »Haben wir Hoffnung, aus der Quetsche zu kommen?«
Hinter dem Gartenhause trat nun auch der lange Grenadierkorporal hervor. Seine düstern Augen wiederholten die Frage des Kameraden. Ich schaute dem letztem in die verzweiflunggezerrten Züge und log ruhig: »Er ist schwer besorgt; die Ungarn machen ihm bange. Es nimmt mit Jellachich kein gutes Ende, hat er gesagt.«
Der Grenadier atmete auf. »Gottsverflucht,« brummte er. »Ja! Der Jellachich kommt uns gerade recht!«
Aber der Korporal sah mich noch immer fragend an, mit Augen wie ein gramvoll verwölkter Himmel. »So gehen Sie doch zu ihm und lassen Sie sich den Stand der Dinge auf der Karte zeigen,« warf ich ihm keck entgegen.
»Ich? – – – Vor ihn treten? – – –,« sagte der Korporal mit einem Tone trostloser Seelenverödung, welcher mir in das Herz schnitt. Die beiden gingen zu ihren Kameraden, welche sich auf der Gasse lärmend und drohend gerottet hatten fort. Deren Verzweiflung schlug bei der, von mir erlogenen Mitteilung in Jauchzen um. Johlend entfernten sie sich nach einer Heurigenschänke.
Ich stand stille und mich wurmte meine Lüge. Aber hätte ich die Wahrheit gesagt, sie hätten mich ermordet. Es waren neun wilde Kerle, welche sich mit dem Korporal die Gunst erbeten hatten, unter Hans Gottschalk zu dienen. Nur ihm gehorchten sie. Seit seiner Entfernung waren die ungezügelten Meineidigen ein Schrecken der Weindörfer geworden. Nur der Korporal, welcher stets verschlossen und von trostloser Düsterkeit, aber voll wilder Kraft war, vermochte sie dermaßen zu bändigen, daß sie nicht bis zum Haß der ganzen Gegend herangediehen. Auch erregte ihr fragwürdiges Schicksal Mitleid und man ahnte wohl, daß sie die innern Stimmen in ihrer Brust gewalttätig überschreien mußten.
Es wurde der einundzwanzigste Oktober.
Hulle hatte, wie er versprochen, seinen Werbetisch in unserem Gasthause aufgeschlagen. Seit Morgen saß Wieninger dort und nahm die wenigen Maler und Schauspieler, welche sich im Orte meldeten, in das Künstlerkorps auf. Bis Mittag hatte er etwa drei oder vier Leute angeworben, da kam Hulle ihn ablösen.
Er marschierte tapfer und fröhlich die Straße herauf und hinter ihm trollte eine Anzahl Weibstrümmer: wunderliche Megären, alle in Waffen, die meisten groß und breit wie Kleiderschränke, mit dröhnenden tiefen Stimmen und bartflaumigen Reibeisengesichtern. Eine hatte eine Zigarre im Mund und rauchte wie ein Misthaufen.
Die paar kleinen hagern Geierweiblein, welche auch dabei waren, ersetzten den Eindruck durch wildes, mißtöniges Kreischen. Ein jubilierendes Volk von Gassenjugend kam in Ballettsprüngen hinterdrein.
»Halb' Bataillon halt! Links Front! Gewehr ab! Bei Fuß!« kommandierte Hulle.
Die Weibsgeschütze rasselten wie eine Bärengarde ihre rüden Tempos herunter.
Wieninger, Hirsch und ich – (Bestereder war seinen geflüchteten vermöglichen Eltern nach Baden gefolgt – und Bernewein kämpfte im Prater) – wir lachten ihm von der Brüstung des Gartens entgegen.
»Oh! Ah!« rief Hirsch. »Wie? Die Stadt sendet schon ihre Frauen?«
»Ja,« bestätigte Hulle fröhlich. »Ein Amazonenkorps. Elf Mann hoch!«
Er sah sich um und zählte. »Sapperment,« sagte er dann. »Jetz' sind's gar dreizehn! Die Zahl und Art tut nichts zur Sache,« fuhr er fort. »Alle Kräfte sind göttlich, wenn sie dem Vaterlande dienen. – Ich habe also einen radikalen Damenklub gegründet. Hoch das deutsche Mädchen!« Die Weiber schwiegen. »Hoch die deutsche Frau!« Die Stachelgarde brach in ein rauhes Hoch aus; und wir stimmten entsetzt und schüchtern ein.
»Es ist richtig,« sagte Hulle; »nur verheiratete Frauen vermögen so mutig gegen den Feind auszurücken – – denn sie kennen die Männer.«
»Deutsche Frauen,« redete er sie an.
Die gerupften Gesichter strahlten ihm stolz entgegen.
»Ich muß hin an den Werbetisch; euch aber gebe ich den gefährlichsten Posten. Bürgerin Schnittlarz übernimmt das Kommando. Auf zur Brauerei!«
Vom Ende des Gewalthaufens trat die Kleinste hervor. Sie war muglig gebaut und schneidig wie ein Foxterrier. Schon ihre Stimme verursachte ein Gefühl, als zöge man einem ein Rasiermesser über das Ohr. Das aufrechte Weiblein stellte sich fix vor ihre säulenhafte Kameradschaft.
»Präsentiert!« rief sie, und die Spatzen flohen beim Klang ihrer Stimme davon. Wieder klirrten die Gewehre. »Bürger Hulle, wir danken dir. Schultert! Rechts um: Halbes Bataillon, Marsch!« Und der fürchterliche Zug schnob davon.
»Hager,« begann Hulle verschmitzt, als sie abmarschiert waren. »Ich hab sie den faden Weibern in deiner Brauerei über den Hals geschickt, von denen du mir erzählt hast, daß sie euch einmal zum Mittagessen eingeladen haben. Sei getrost: du bist gerächt.«
Ich glaubte ihm das mit einer durchdringenden Zuversicht.
»Hulle,« drang Hirsch auf den lustigen Freund ein, welcher befreit aufatmend zu uns emporstieg, »du stehst auf dem Scheitelpunkte deiner Beliebtheit. Jetzt oder nie sollst du heiraten!«
»Wie,« rief Hulle empört. »Und meine Verehrerinnen? Wo bleibt dann meine Popularität! Nein, nein, ich kenne mein Schicksal; es wird gräßlich sein. Kugel trifft mich zwar keine, aber mir droht die Gefahr, dick zu werden. Und mit dem schönen Hulle verscheidet auch wehmütig der Junggesell Hulle. Ach diese wunderbar malerische Zeit! Sie allein vermag mich mit ihren Gefechten, Bränden, Plünderungen, und derlei Zerstreuungen mager zu erhalten.«
Er blätterte in den Musterlisten Wieningers. »Was«, rief er entrüstet, »nur drei haben sich anwerben lassen?«
»Es sind fast gar keine Künstler hier auf dem Lande,« entschuldigte sich der Musiker.
»Wo Wein wächst, sind Künstler,« sagte Hulle mit Zuversicht.
Er warf einige Worte auf ein Papier. »Hager, tu mir den Gefallen,« sagte er dann »und spring in deine Wachstube, hol zwei Trommler und den Kerl, welcher die beste Marktschreierstimme hat. Sie sollen in allen Gassen umziehen und folgendes verlesen:
Bürger!
Oktavius Hulle, der Maler, wendet sich an euch mit dringlicher Bitte! Der heilige Krieg hat so schwere Lücken in die Reihen der Künstlerlegion gerissen, daß dieselbe fortab geschont werden soll, um dem Vaterlande nicht seine größten Söhne zu rauben. Jedoch auch zu ihrer künftigen Bestimmung, der Bewachung der Kunstschätze unserer Stadt, bedarf die heitere, so todesmutige und doch so lebensfreudige Legion ihres vollen Standes.
Auf denn, ihr alle, die ihr als Künstler, wenn schon nicht in den Polizeimatrikeln, so doch in euren Herzen eingeschrieben steht!!
Auf, ihr alle, die ihr wie Maler zu sehen, wie Dichter zu fühlen vermögt!!
Auf, ihr Verkannten, welche man Anstreicher, Gipsgießer, Tapezierer nennt und in deren Herzen mehr künstlerisches Feuer lodert, als in den Professoren einer Akademie!
Auf zum Werbetisch in Frau Gottschalks Gasthaus zum Leuchtturm!
Die Arme eurer Kollegen von Beruf sind euch weit geöffnet!
Da steckt doch wenigstens einmal demokratischer Geist drinnen,« sagte Hulle, als er uns das originelle Schriftstück vorlas.
Wir befolgten seine Anweisung in fröhlichem Gelächter, und es ist unglaublich, was für eine Menge humorvoller Gestalten noch an demselben Tage auftauchte. Mobilgarden ließen sich umschreiben; schwungvolle schlanke Lumpen, an den mageren Hosen die Knie idealistisch durchgebohrt, verkannte Zimmermalergenies mit Ziegenbärten und Gymnasiasten in Sammtröcken drängten sich herzu. Selbst Schwanberger fühlte sich zu dieser Schar gezogen; ich wußte den leicht begeisterten Gesellen von dem Umtritte nur mit dem Hinweis abzuhalten, daß er Gottschalk als Kommandanten verliere. Auch ein dicker Bürger kam; er hatte eine schwere goldene Uhrkette, welche Hulle zufrieden ansah.
»Ihr Name, Herr von – – –«
»Wurzinger,« sagte der Mann mit fester Stimme.
»Ah, ein guter Bürgername! Beruf?«
»Anstreichermeister. Meine Gesellen sein schon alle bei Ihnen.«
»Großartig,« jubelte Hulle. »Sie erhalten die Leutnantsstelle, Herr Wurzinger; Sie und kein anderer. Sie haben nur mich als Hauptmann – nicht über sich, – Herr Wurzinger: neben sich. Es ist mir eine Ehre.«
»O, ganz meinerseits, ganz meinerseits. Kenne Sie schon lange, Herr Hulle. Ja. Bin schon lange so glücklich.«
»Ich wage Ihnen gar kein Handgeld anzutragen,« bemerkte Hulle schüchtern.
»O, das wäre noch! Alles um der Ehre willen. In der Künstlerlegion! Das wird sich mein Konkurrent in Unterdöbling, der Schwalbe, nicht träumen lassen. Ja, Herr Hulle: Den Schwalbe dürfen Sie natürlich nicht aufnehmen.«
»Er ist für mich eine Schwalbe nach Mariä Geburt,« versicherte Hulle, »das heißt, nicht vorhanden.«
»Und ich zahle der Kompagnie einen Eimer Wein,« entschied der vergnügte Wurzinger.
Ein Hurrah erdröhnte. Der Garten füllte sich auffallend.
»Gengen S', Fräul'n Gretherl, ein Eimer Heurigen, ja?« rief Wurzinger meinem heiter zusehenden Mädchen entgegen. Sie nickte und verschwand, um das Verlangte zu schaffen.
»Ach,« sagte Hulle, welcher wußte, daß er schon alle Werbelustigen in der Liste festgehalten, und wischte sich den Schweiß von der Stirn: »Nach dieser Akquisition schließe ich für heute die Werbung. Sie ist der Höhepunkt meiner Errungenschaften, und es wäre geschmacklos, nach ihren Namen, Herr Wurzinger, geringere einzutragen. Aber wo ist denn beiläufig gesagt, der Heurige, von dem die Rede war?«
Wurzinger selbst brachte zwei hohe Gläser und stieß mit Hulle an, welcher den Wein auf seinen Durst goß, als wäre es Wasser.
»Und jetzt, net wahr, Herr Hulle,« bat Wurzinger, »jetzt haltens einen lustigen Schwefel.«
»Ja, einen Schwefel,« baten die neuen Künstler, und die fidel trinkende Schar verteilte sich malerisch an und auf Tischen und Bänken.
Noch gab es ein kleines Zögernis. Einige der Künstler hatten im Gartenhause zahlreiche farbige Papierlaternen gefunden, welche sie nun festlich in die Bäume verteilten. Unter ihrem bunten Licht rückten wir in erhellter Stimmung zusammen und Hulle begann:
»Liebe Brüder in Apollo!
Ich habe euch schon neulich an dieser Stelle gesagt, wie erhaben diese Zeit ist, welche sich vor uns Künstlern als unsere Studienmappe aufblättert. Uns zuliebe verharrt der konstituierende Reichsrat in seiner entzückenden Ratlosigkeit, uns zuliebe ziehen Bier, Wein und Schnaps in triumphierender Steuerlosigkeit durch die Mautschranken Wiens, und uns zuliebe haben sich die Hüter der Ordnung, diese grauslichen Puritaner, aus dem Staub gemacht. O, ich möchte der Teufel sein, nur um einen Polizeizensor holen zu können!
Die Revolution ist also unser Bilderbuch, unser Nährboden und wir Künstler sind die Blüten dieses Bodens. Wohlgemerkt: Veredelte, gefüllte Blüten, die, wie ihr alle wißt, keine Frucht tragen.
Ich will uns Künstler ja nicht gleich mit der Sonne vergleichen, denn sie ist ein fester Stern, während wir, so sehr wir auch oft illuminiert sind, krumme Pfade wandeln, vornehmlich nach zehn Uhr abends.
Ich will uns auch nicht, trotz unserer Freude an dieser blutigen Zeit, mit Herodes vergleichen, denn dieser mordete die Kinder und wir machen welche.
Aber, daß man von uns Blumen verlangt, wir sollten Früchte tragen, – daß man uns Künstlern zumutet, wir sollten zu was nütze sein, – – – das, ihr Brüder in Apollo, ist unverschämter als die Sonne im Juli und grausamer als Herodes!
Hüllen wir uns in den Mantel der Kränkung und geloben wir bittere Fehde den Spießbürgern, die sich von uns bei Nacht nicht wachmusizieren lassen wollen und uns verbieten, daß wir uns an ihren Klingelzügen festhalten, wenn wir nachts unter schweren Kämpfen mit der Göttin der Nüchternheit, welche sich Balance nennt, nach Hause schweben!
Ja! Uns geschieht bitter Unrecht bei Tag und Nacht. Die Gläubiger drohen uns mit Papier, die Ehemänner mit Holz, die Wirtshäuser mit Wasser, die Mädchen mit Feuer und die Aerzte mit Quecksilber.
Unser Geldbeutel hat den Durchfall, unser Kredit Verstopfung, unser Humor wäre für die Katz und wir selber auf dem Hund, wenn diese Zeit nicht wäre. In ihr aber schweben wir hoch über der gemeinen Partei!
Die roten Demokraten heulen, die Schwarzrotgoldnen heilen, die Schwarzgelben und die Rotweißgrünen keilen, wir aber würfeln um diese Erde und teilen.
Dem Gotte aber, welcher uns diese Zeit geschickt hat, eine Zeit, welche allein unser würdig ist, ein begeisterungstrunkenes Evoë!«
Es war eine Nacht, vollgefüllt mit tollen Lustbarkeiten, welche dauerten, solange der Wein anhielt.
Alle sollten wir am nächsten Tage Kopfschmerzen haben, welche die Stimmung noch mehr verdüstern durften als sie ohnehin sein sollte.
Dieser Tag war der 22. Oktober.
An diesem begann schon mit der Frühe ein eiliges Hasten und Flüchten auf der Straße, welche von Klosterneuburg herüberführte. Die von Böhmen und Mähren heranmarschierten Truppen schlugen den ganzen Tag oberhalb Kahlenbergdorf eine Schiffbrücke über die Donau. Die Bauern der dortigen Gegend, auch die Bürger von Korneuburg und Klosterneuburg verhielten sich mäuschenstill dazu und rührten sich nicht. Ein Widerstand wäre auch zwecklos gewesen, denn am selbigen Tage war die Division Ramberg, welche von Tulln aus am rechten Donauufer auf Wien zustrebte, in der alten Babenbergerstadt eingetroffen.
Ramberg trieb seine Vorposten über das Kahlenbergerdörfel bis Nußdorf vor: ein kurzes Geplänkel, und die Mobilgarden dieses Ortes jagten in wilder Flucht über Heiligenstadt nach der Rossau, wo sie Schrecken verbreiteten und die Bewohner dieser Vorstadt, welche sich ohnehin nach der alten Ordnung sehnten, durch wüste Drohungen gegen sich aufbrachten.
Freilich zog die Gefahr auch Hunderte von den kecken Verteidigern der innern Stadt nach der am meisten bedrohten Gegend der heutigen Anlagen der Franz Josefsbahn, welche eine Stätte wilden Kampfes werden sollte.
Selbst Bém wandte sich nach jener Seite mit dem Vorsatze, die überrumpelten Ortschaften dem Militär durch einen nächtlichen Überfall wieder abzunehmen und die Schiffbrücke zu zerstören.
Aber schon griffen die Monarchisten, die damals so sehr verhaßten Schwarzgelben, ermutigt durch die eiserne Konsequenz der militärischen Maßnahmen, überall hemmend in das ohnehin von Pfuscherhänden getriebene Räderwerk der Revolution ein, was ihnen bei der spottschlechten Organisation der Garden und dem Mangel an aller Disziplin leicht genug wurde.
An diesem Tage weckten mich zwei Studienfreunde, welche ihre Eltern in Nußdorf hatten, schon in grauer Frühe mit wilden Gesichtern.
Mit schwerem Haupte fuhr ich empor.
»Wo ist Gottschalk,« schrien sie mich an.
»Bei den Ungarn,« sagte ich verwundert.
»Haha!« brach der eine in hell verzweifelten Hohn aus. »Dort hält er Reden, während er hier bitter notwendig wäre! Das Militär ist in Nußdorf!«
Ich fuhr aus dem Bette und in Kleider und Waffen. Auf der Gasse turbulierten wie sinnlos meine Garden, und die Grenadiere brüllten vor Wut. Hirsch kam schlaftrunken herüber, – Hulle sah mit schwerem Katzenjammer von der Bodentreppe herab; er hatte im Heu geschlafen.
»Ich übergebe für den Vormittag das Kommando der Künstlerlegion an Wieninger,« rief er herunter. »Heute wird es ohnehin keinen rechten Tanz abgeben. Diese Generale sind wie die Kreuzspinnen; sie müssen erst ihr Netz fertig gesponnen haben. Und eure Lümmelgarde soll keinen solchen Lärm machen! Ich will noch ein paar geniale Ideen überschlafen. Gute Nacht!«
Und er zog die Türe des Dachbodens wieder zu.
»Was ist das für ein Galgenvogel,« fragte mich einer der Kollegen betroffen. »Habt Ihr mehr solche Seifenblasenmacher beim Kommando?«
Ich schämte mich der gestrigen lustigen Szenen und dachte an die Worte des Prinzen Heinz bei Shakespeare: So treiben wir Possen mit der Zeit, und die Geister der Weisen sitzen in den Wolken und spotten unser!
Unwürdig sind wir, frei zu sein.
»Die Garden auf den Alarmplatz vor die Kirche!« befahl ich von der Höhe der Gartenbrüstung. – »Tambour! Zur Vergatterung schlagen!«
Auf dem Kirchplatz toste mir ein wüster Lärm entgegen. Zwei oder drei große Gruppen umstanden je einen Vorleser. Es war das Proklama des Fürsten Windischgrätz, welches in vielen Exemplaren durch die Vorstädte flatterte. In ruhigen, selbstvertrauend festen Sätzen, welche mit ihrer schönen Kraft von der geschmacklosen Bombastflickerei des Reichstages, des Gemeinderates und besonders Messenhausers abstach, wie der Zeus des Phidias von einem Posaunenbengel des aufgeschwollenen und flatterig bewegten Barockstils, so war diese Aufforderung zur Ruhe geschrieben.
Schon an der Sicherheit dieser Worte hielt der Mut einer entnervten Mastbürgerschaft nicht die Probe aus, und geradezu widerlich war der Anblick der Verzweiflung, mit welcher diese bewaffneten Männer auf dem Kirchplatz wie gefangene Feldmäuse in der Fallgrube umhersprangen; die Grenadiere aber schnaubten wie frisch gefangene Panther.
Es ist mir unmöglich, jene Verzweiflung zu schildern, und der Strudel hätte mich verschlungen und erstickt, denn an mir als Kommandanten mußten sie ihre Wut auslassen, – wenn nicht ein Teil der Bewaffneten, an die Kirchenmauer geschart, in stahlechter Männlichkeit ausgeharrt hätte.
Hier machte ich an manchem Landwirte die Wahrnehmung: Je mehr Bauer, je mehr Mann, und an den Arbeitern, welche sich in grimmigem Trotze fest zusammenhielten: Je ärmer, je größer in der Not.
Fast alle Offiziere, vermögende Bürger und Bürgersöhne fehlten; der Bezirkschef (damals noch Bürgermeister) war nicht zu finden. So maßte ich mir denn das Kommando über sämtliche anwesenden Kompagnien an.
»Antreten!« schrie ich. Wenige hörten; die meisten tobten nur umso heftiger auf mich ein: »Ihr Studenten sollt jetzt allein die Suppe ausfressen, die ihr uns gekocht habt! In Nußdorf haben sie sich ergeben, in Breitensee ist das Militär auch schon. Wir sind so gut wie gefangen! Was sollen wir tun?«
»Antreten!« rief ich zur Antwort. »Tambour!«
Dieser Trommler, ein breiter Kloß, trat vor mich hin: »Ich soll Ihnen jetzt wohl helfen, das Volk vor die Flinten der Soldaten zu bringen, damit Sie Ihre Ankläger los werden?«
»Sie gehorchen jetzt!« erwiderte ich. »Schlagen Sie Alarm!«
»Ich gehorche nicht. Wer sind Sie, wer hat Sie gewählt? Wir! Wer hat also den Willen? Wir! Sie sind unsere Kreatur, verstehen Sie? – Da! Schlagen Sie sich den Alarm selber!«
Er warf mir die aufpolternde Trommel vor die Füße und ging fort. Mir aber war der Jähzorn rot und schwarz in die Augen gefahren, ich riß den Säbel heraus, um die breite Gemeinheit dieses Schädels wie ein Hackscheit zu spalten, – da trat aus der Gruppe der Arbeiter ein sehniger Mann vor mich und faßte mich beschwichtigend am Arm. Er nahm dann die Trommel an sich und begann mit ungefügen Schlägen den beiläufigen Takt zum Antreten.
Die wirren Massen lösten sich, traten heftig schreiend in unordentliche Glieder zusammen und wurden freilich noch mehr als vorher auf mich aufmerksam. Wilde Flüche gellten mir entgegen, einer der Männer rief: »Und wo ist Gottschalk, der Redner, jetzt, wo es zu handeln gilt?«
»Ja, Gottschalk! Gottschalk!« gröhlten die Haufen in häßlicher Eintracht.
»O, ihr Gescheidten!« rief die Stimme des Journalisten Hirsch in den Lärm: »Der ist schon lange in Sicherheit!«
»Der Verräter! Der Lump! Der Gauner!« schimpfte es aus dem Volksbrodel.
»Bei den Ungarn,« fuhr Hirsch hohnlächelnd fort. »Er trinkt vielleicht gerade jetzt ein Glas Tokayer auf euer Wohl – – –«
» Mit den Ungarn!« rief eine Stimme, welche wie gehämmertes Erzblech dröhnte.
Und vor die Reihen trat staubbedeckt, aber mit machtvoller Geberde, welche zeigte, daß er keine Müdigkeit kenne, Hans Gottschalk.
Da schwiegen sie alle, und nur ein Murren und Summen fuhr wie das Raumen von Schornsteinen im Winde durch die Kompagnien.
Gott sei Dank! atmete mein Herz auf, da der Seelengewaltige endlich wieder als große Tatsache vor den Kleinmütigen stand.
»Ich bin den Ungarn vorausgeeilt,« begann Gottschalk trocken.
»Wo sind sie aber selbst geblieben?« fragte Hirsch ebenso trocken.
»Wenn ihr entdeckt, daß ich lüge,« antwortete Gottschalk dem Volke, ohne Hirsch zu beachten, »so stehe ich für eure Rache bereit unter euch! Ich habe gestern mit dem ungarischen Heere, – – Leute! Es ist eine furchtbare Entscheidung – – – die Grenze Österreichs überschritten. Es steht jetzt, in dieser Minute, dem Jellachich gegenüber.«
War früher die Verzweiflung unwürdig gewesen, so war es jetzt der Jubel, in welchen die Garden ausbrachen. Früher hatten sie ihre Czakos in kindischer Wut an die Wände und Mauern geschleudert, jetzt warfen sie dieselben in die Lüfte; sie rissen sich die Röcke vom Leibe und schwangen sie, ja, sie tanzten miteinander und mit den Weibern, welche herzudrängten.
Dann schlug die Begeisterung in Neugierde um; Gottschalk wurde auf eine Mauer gehoben. »Erzählen! Erzählen!« hieß es.
»Ich sehe den Aufruf des Windischgrätz bei euch,« begann Gottschalk von seiner Höhe. »Der Reichstag hat ihn für ungesetzlich erklärt. Ihr habt ihm nicht Folge zu leisten.«
»Vivat! Bravo!«
»General Moga ist mit fünfundzwanzigtausend Mann über die Leitha gegangen und marschiert auf Wien.«
»Juhu! Vivat die Ungarn!«
»Was mich betrifft, so braucht Ihr mich in eurer Not, sonst würde ich euch euer Kommando zurückgeben.«
Bedrücktes Schweigen folgte diesen Worten.
»Ich habe euch jetzt, da ihr euch im Angesicht der Sorge allein überlassen wart, beobachtet. Ich sage euch, es waren keine Männer, die ich gesehen habe … Nur der kleinere Teil von euch hat die Selbstachtung bewahrt. Und was habe ich von euch erwartet!
In diesen langen Tagen erfolgloser Verhandlungen stand ich oft in goldener Frühe an der Donau, welche mir von Westen, von Wien her düster entgegen rollte und sich goldleuchtend nach Osten verlor. Was sahst du daheim? Was bringst du für Kundschaft, betete ich sie beinahe an.
Die Wellen aber flossen gleichgiltig an mir vorbei, so daß ich ihre Stummheit verfluchte. Jetzt weiß ich ihre Antwort: Es war nicht des Erzählens wert, was sie in Wien gesehen hatten!
O, mein Wien, mein herrliches Wien, hat dich denn wirklich die Freiheit verlassen und ist zu den Hunnen gegangen?
Ja! Ihr, die ihr in Freiheit leben möchtet, aber nicht zu sterben versteht, hört nur: dort drüben werden die Menschen wahnsinnig, wie es der edle Széchenyi geworden ist, aus unglücklicher Liebe zu ihrem Vaterlande. Dort drüben hat der Ärmste, der Roheste, der Ungebildetste mit dem Magnaten einen Stolz gemeinsam: Die Größe seiner Nation! Und selbst der Bauer geht mit seiner Sense vom Hause fort, wenn es auch in Flammen hinter ihm auflodert, um für das heißgeliebte Vaterland blutige Feldfrüchte zu mähen.
Sie haben bei ihrer Armee nicht viel Redner und noch weniger Kommandanten, welche sich gegenseitig im Wege wären; aber wen sie erwählen, dem gehorchen sie wie Sklaven, um durch ihn frei wie Götter zu werden. Ihr führt Krieg gegen die, welche euch befehlen sollen und gehorcht, denen Ihr widerstehen müßtet.
Dort aber, was für eine Einhelligkeit!
Dort leuchtet in aller Augen voll Zuversicht das freudige Wort: Wir machen die neue Zeit! Wir machen das Glück und die Größe des Ungarlandes, wir machen alles!
Freilich; ihr werdet mir sagen, es ist eine geschlossene, kleine Nation, von Feinden seit Jahrhunderten umringt, und das macht stark.
Und wir Deutschen in Oesterreich? Zerreißt unser Los euch nicht das Herz?
Mit lauter Fremden sollen wir eine Familie bilden: O, Hohn und Schmach! – Ja! Wir, wir allein sind vaterlandslos! Ein gährender, mißratener Kuchen, von gieriger Hand zusammengebacken wie Mandeln und Schlehen! Löwe, Bär und Tiger in einem Käfig, so sollen wir gebändigt an einem Brocken Fleisch fressen, und wenn wir uns die Zähne zeigen, so schmettert die Eisenstange des Unternehmers auf unsere Häupter. Für was sollen wir leben? Für was sollen wir sterben? Wir haben kein Vaterland!
O, ihr, die ihr um die alte Reichsstadt wohnt und ihr Bürger! Ihr trotzigen, freien Wiener, welche ihren Nacken einst wie Konrad Vorlauf eher vor dem Henkerblock als vor einem Herrn beugten. Ihr, die ihr den Kaiser Friedrich ausgejagt und die Türken in eure Gräben geworfen habt, wo seid ihr hin? Wo ist der alte Rebellentrotz hingeschwunden, wohin soll ich euch führen?!
Vertraue ich denn noch euch? Vertraut ihr mir?«
»Wir haben dir immer vertraut, Gottschalk,« riefen Männer aus den Arbeiterabteilungen zu ihm hinauf.
»Ja, ihr: ihr Enterbten! Zu euch gehöre ich! Ich will euch führen, denn ihr fürchtet keinen Verlust, und euer Leben hat euch selber nie gefallen wollen.
Von den andern aber sehe ich viele durch Mißmut bedrückt. Ich erzähle euch, daß dort, acht Wegstunden von euch, die leibhaftige Freiheit wahr geworden ist. Ich denke, ein süßer Schrecken soll euch bei einer solchen Nachricht durch alle Glieder fahren, so unerwartet, so groß und geheimnisvoll, wie Donner an einem Vorfrühlingsabend, der ein fruchtbares Jahr voraussagen soll. Und ihr jubelt nicht? Ihr könnt gleichgiltig bleiben?«
»Nein, nein,« schrien sie alle. »Was die Ungarn können, das zwingen wir auch noch!«
»Ich weiß,« fuhr Gottschalk milder fort, »daß der heitere Wiener nur gleichgiltig scheint. Aber sein Gemüt ist eine flimmernde Weiherflut, deren Oberfläche spielt und plaudert, während in grundverlorener Tiefe versunken der alte Goldhort ruht. O! Greift in eure Herzen und ihr findet ihn!!
Ich weiß einen alten Mann. Er steht jetzt unter euch in Waffen. Dem sehe ich oftmals zu, wie er kleine Bäumchen pflanzt, deren großgewordene Kronen er nicht mehr rauschen hören, und deren Früchte er nicht genießen wird. Er aber sitzt glücklicher unter dem Säuseln der kleinen Besen, als vielleicht das kommende Geschlecht unter den Baumriesen. Ihr aber sollt noch genießen. Ihr sollt einen Baum pflanzen, der schnell wie ein Springbrunnen aufwachsen wird. O werdet groß mit der großen Zeit! Dazu helfe uns allen Gott.«
Als Gottschalk von der Mauer sprang, umringte ihn der alte, gewohnte Jubel. – – –
Noch einmal hatte er gesiegt.
»Wir wollen die Stellung des Militärs ausprüfen,« rief er. »Freiwillige vor!«
Es rottete sich ein starker Haufe um ihn; er aber wählte sich nur die stillsten Gesichter aus. »Ich brauche heute nur wenige Vorsichtige,« sagte er. »An euch andere kommt gewiß noch die Reihe. Ihr aber meine braven Burschen,« wendete er sich an die Patrouille, »bleibt nicht so geschlossen; ihr gebt jeder Kugel eine torgroße Scheibe. Einzeln und schleichend wollen wir erkunden, wo die Soldaten stehen und wieviel es sind, dann werden wir bald einen klaren Begriff statt der vagen Angst haben.« Er wandte sich zu den Zurückgelassenen. »Die Garden bleiben stets zu einem Dritteil auf dem Allarmplatz.
Vorwärts Patrouille.«
Ich ging neben Gottschalk. »Die Ungarn kommen wirklich?« fragte ich leise.
»Ja«, nickte er, »und es ist schmerzlich, daß wir ihnen die Freiheit verdanken sollen.«
Noch ein Lebehoch schallte hinter uns nach. »Sie rufen dir ihren Glückwunsch zu,« machte ich Gottschalk aufmerksam. Der kehrte sich gar nicht um. »Der Hälfte von ihnen bin ich vielleicht sicher,« sagte er. »Die anderen aber spielen mit der reinen Freiheit Topfschlagen, ohne zu merken wie ernst und wartend das blaue Himmelsauge auf sie herniederschaut, als sagte es: Ihr Eitlen, fühlt ihr denn niemals die Ewigkeit?«
Wir kamen gegen die Gasse herunter, in welcher sein Heimathaus stand. Er wollte, in seiner Askese, vorbei ohne einen Blick hinauf zu werfen.
»Hans!« schrie ich auf.
Die Mutter stand im Gattertürlein an der Straße, weiß im Antlitz, aber aufrecht und allein, so daß ich erschrack.
Hans ging ihr ehrfürchtig entgegen. »Gott sei Dank, Mutter, daß du außer Bett bist,« redete er sie an.
»Ich höre, du bist schon zwei Stunden im Ort,« erwiderte Frau Anna Therese mild. »Und weil du da keine Zeit gefunden hast, zu deiner alten Mutter zu kommen, so hab' ich dich besuchen wollen. Es hat mich nicht im Bett gelitten! – Ich hab' sehen müssen, ob es wirklich mein Hans ist, der zurückgekommen ist. Denn als er weggegangen ist, Kind, hat er mich belogen. Ich weiß jetzt, warum du nach Ungarn gegangen bist.«
»Ich habe es dir aus Liebe und Sorge verschwiegen, Mutter; und sieh nur, wie gut es dir angeschlagen hat!«
»Gelt ja?« entgegnete die Frau, welche nur mehr mit der Unbegreiflichkeit eines Gespenstes aufrecht zu stehen schien, mit einem herzzerreißenden Lächeln.
In diesem Augenblicke kamen Margarethe und Fiamma gelaufen. Fiamma, als sie Gottschalk sah, blieb mit einem Lächeln stehen, das ich niemals an ihr vermutet hätte; es lag eine ungezügelte Bosheit darin. Margarethe aber drängte sich angstvoll an die alte Frau: »Mutter! Das heißt Selbstmord,« rief sie. »Gleich kommst du mit mir!«
»Ich danke dir, mein Liebling,« wehrte sie Frau Gottschalk ab. »Da ist mein Hans; der wird mich stützen und zurückführen, und dann wird mir der kleine Ausflug wohlgetan haben.«
»Geh mit, Freund,« drängte ich den Starrköpfigen. »Ich übernehme die Patrouille.«
Aus dem Gesichte unseres Studenten war ein gelbweißes Feld der inneren Verwüstung geworden, aber er sagte mit widerstrebenden Worten, welche er so schwer aus dem Innern zwang, als ob er in diesem bangen Augenblick hätte singen müssen: »Es ist das erstemal, wo ich zu einer Tat schreite, denn bisher waren es nur Worte. Ich muß, schon um mich selbst als Führer kennen zu lernen, die Kugeln des Feindes hören. Gehe ich mit der Mutter, so werden sie sagen, er ist feuerscheu und feige, er verkriecht sich bei den Weibern. Ich muß mich denen beweisen, die mir vertrauen. Glaube mir, Mutter, ich muß. Ich bin sehr unglücklich.«
»Das fürchte ich auch,« sagte die Mutter langsam und feierlich. »Gott vergebe dir.«
Und sie ging an Margarethe vorüber die Stufen zum Garten hinauf, wies jede Hilfe ab, und ging auch an der funkelaugig schauenden Fiamma vorbei, ohne eine Stütze zu begehren.
»Hilfreicher Christ im Himmel, er ist ja wahnsinnig!« schrie Margarethe; Fiamma lächelte wieder.
Die Mutter schritt allein von dannen, aber ihr Gang war unheimlich, maschinenhaft, als ginge sie auf Stelzen.
»O Vater! Mein gewaltiger, starker Vater, hilf du mir meine Sünden tragen,« stöhnte Gottschalk und starrte zum leeren Gartentor hinauf, welches Margarethe losließ. Mit Fiamma eilte sie der hilflosen, schwer gekränkten Frau nach.
Der Wind schlug das Gatter vor uns zu.
Gottschalk sah mich an. – – Die Garden der Patrouille schwiegen in scheuem Grauen.
»Große Zeiten, – – – harte Zeiten!« sagte der Freund mit bebender Stimme und nach einer Weile mit festem Ton: »Patrouille, vorwärts!«
Wir schritten an den letzten Häusern vorüber fort und am Geländer von Grinzing unterhalb der Wildgrube durch die Weingärten gegen Heiligenstadt.
Als der letzte Mensch in der wüsten Einsamkeit der abgeernteten Reben begegnete uns Meister Blank, welcher in einer Rückenkraxe eine große Zahl braunglasierter, irdener Feldflaschen trug. Er traf uns sichtlich ungern an.
»Ohne Waffen, Meister, in dieser schweren Zeit?« fragte Gottschalk vorwurfsvoll.
Blank sah ihn fast scheu an. »Die Zeit wäre nicht so schwer, nur der Mutwille macht sie dazu. Wir haben einen Kaiser mit goldenem Herzen; der wird nun wohl vergeben müssen, was Sie verbrochen haben. Ihren reinen Willen außer Zweifel, Herr Gottschalk, – aber Ihr neues Reich sieht schlecht aus.«
»Es ist noch nicht da,« sagte Gottschalk bitter.
»Inwendig! Inwendig, Herr Gottschalk! Das bedeutet alles! Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sagte der Herr Christus und Länder zu versprechen war in der Wüste des Satans Geschäft. Die Staatsform tut nichts zu unserm Herzensglück, im Gegenteil: Je anbequemter, je unverschämter. – – In diesen Flaschen habe ich meinen besten Wein, Herr Gottschalk: Wenn die Soldaten einrücken, bekommen sie ein fröhliches Geschenk von mir.«
»Meister Blank!« schrie Gottschalk, und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor seine Garden zum Schutze des Alten, denn einige hatten in schnell entbrannter Wut ihre Gewehre zu einem Lynchakt erhoben. »Meister Blank! Auf Sie habe ich gezählt!«
»Es tut mir in ganzer Seele leid um Sie, guter junger Herr. Wenn der Taumel verraucht ist und die liebe ruhige Arbeitszeit wieder bei uns wohnt, dann kommen Sie wieder zu mir, und wir werden uns von neuem, vielleicht wehmütig, aber herzlich die Hand drücken und davon sprechen, wie der Mensch sich irren kann.«
»Ihr tut dem Alten nichts!« befahl Gottschalk seinen Leuten. »Er wird in jeder Regierung ein nützlicher Bürger sein.«
Es klang wie Hohn. Wir zogen weiter, ohne daß Gottschalk von Meister Blank Abschied genommen hätte.
Aber ich sah, wie schwer die ruhige Meinung des biedern Mannes und die Absage eines der Erwähltesten seines neuen Reiches auf seinem Herzen lag.
Er schaute um sich. Finsterbrauig gingen seine Getreuen hinter ihm; Schwanberger war dabei, er schritt in wehmütiges Nachdenken verloren.
»Der ist doch noch bei mir,« sagte mir Gottschalk leise, und fuhr fort: »Ohne die teilnehmende Meinung gescheiter und guter Menschen und allein gelassen vermöchte ich diese harten, hehren Ideen nicht festzuhalten, fürchte ich. Mein Vater hat mir ein schweres Erbteil hinterlassen: Dem Geist Heeresfolge zu leisten gegen das eigene Herz! Wie gewaltig mußte er gewesen sein, um das zu können. – –«
Über uns raunte es in den Lüften. »Eine Horniß? oder ein Vogel?« fragte Schwanberger arglos.
Von dem Waldsaume folgte ein ferner Knall.
»Eine Kugel,« sagte ich lächelnd. Ich war dergleichen vom März, Mai, und vom Kampf am Tabor wie beim Zeughause gewöhnt und freute mich, daß ich nicht mehr, wie jetzt der Dichter, erbleichte.
Nun sahen wir auch das Rauchwölkchen; Büchsläufe und Bajonnette glänzten in dessen Nähe.
Abermals blitzte es weiter rechts und peitschte im nahen Weingarten die Erde auf.
»In der Wildgrube sind sie auch schon,« bemerkte Gottschalk; »da haben wir donauwärts nichts mehr zu hoffen.
Schießt nicht!« befahl er, zu uns gewendet, denn wir machten uns schon für ein erregtes Geplänkel fertig. »Wir tun ihnen keinen Schaden. – Antworten wir aber nicht, so werden sie ungewiß, stellen das Feuer ein, und wir können weiterforschen.
Es ist nur ein Zug,« fuhr er fort, nachdem er scharf hinüber gesehen hatte; »eine Hauptwache. Und jetzt erkenne ich auch den weiten Bogen ihrer Vedetten. Bei der eisernen Hand die erste, und dort am Gebüsch des Feldweges entlang eine nach der andern.
Sehen wir zu, wie es gegen Süden aussieht.«
Wir schlichen an den waldigen Berghängen entlang.
Aber beim Kobenzl, an den Hängen des Herrmannskogels und des Dreimarksteins, ja bis nach Salmannsdorf war schon die eiserne Kette gespannt.
Selten wurden wir beschossen; jene drüben schienen es nicht eines Schusses wert zu finden.
»Es steht schlimm,« sagte Gottschalk, welcher sich als der einzige von uns (durch eifrigen Verkehr mit dem Hauptmann) taktische Kenntnisse erworben hatte. »Wir Grinzinger und Döblinger sind beinahe schon eingeschlossen. Gehen wir jetzt zurück: Ich muß erst wissen, ob die Ungarn kommen. Wenn die da drüben Sievering wegnehmen ehe noch Hilfe da ist, so müßten wir hinter die Währinger- und Nußdorferlinie zurückgehen.«
»Das heißt für dich: Deine Mutter allein lassen?« fuhr ich auf.
»Das heißt für mich, meine Mutter allein lassen,« bestätigte er traurig.
Wir zogen uns zurück.
Im Orte begegnete uns der Postbote und gab Gottschalk einen Brief. Gottschalk sah den Poststempel an und erbleichte; denn er hatte wohl Fischamend oder einen ähnlichen Ort innerhalb der niederösterreichischen Grenze zu lesen erwartet. Aber ich sah es wohl: Kittsee stand darauf, und das war jenseits in Ungarn. Ich erriet, daß die magyarische Armee wieder zurückgegangen war.
Gottschalk las indessen und verfärbte sich immer mehr. »Was ist?« fragte ich voll Bangen.
Er aber hatte sich bald wieder gefaßt und sagte ruhig und bestimmt: »Der Anmarsch der Ungarn verzögert sich durch ein vorsichtiges Manöver um einen oder zwei Tage. So lange aber können wir Grinzing nicht halten. Ich werde die Garden hinter die Linie zurückrufen, denn morgen haben wir in unserem offenen Orte den Soldaten auf dem Halse, welcher das Dorf bei einem Widerstande gar zu gern anzünden würde.
Es wird mir nur ein kleiner Teil folgen,« fügte er leiser hinzu, »aber die ich dann um mich haben werde, sind verläßlich.«
Später erfuhr ich genauer, welche Nachricht jener Brief enthalten hatte. Die Ungarn hatten die österreichische Grenze zwar überschritten, aber Jellachich, welcher ihnen gegenüberstand, hatte Verstärkungen an sich gezogen. Da fühlten sie sich noch zu schwach und zogen sich wieder zurück.
Ich glaubte von da ab an eine Hilfe von außen, welche mir von dieser Seite auch nicht erfreulich schien, nicht mehr recht und in meinem Herzen begann jener Zwiespalt, welcher dem Verlassen einer verlorenen Sache vorangeht. Ich schämte mich, ich strafte mich, immer aber prallte mein Vorsatz als Held zu verharren, auf die wandfeste Tatsache: »Es ist umsonst!«
So ging ich mit Gottschalk in dessen Haus zurück und hatte schon den Keim der Abtrünnigkeit in meinem Herzen.
Dort im Garten und auf den Treppen rührte sich nichts. Die gequälte Frau schlief wohl aus Schwäche und die Mädchen waren bei ihr.
»Wir werden zum Hauptmann gehen und ihn bitten, er möge die Mutter schützen wenn die Soldaten kommen,« sagte der Freund. So stiegen wir die Treppen empor und klopften an. Niemand rief; da traten wir ein, – – das Zimmer war leer.
Auf dem Tische lag ein Zettel: »Ich bin hingegangen, wohin ich gehöre,« stand darauf; »Gott behüte euch!«
»Mit seinem gebrochenen Arm zum Kriegshandwerk,« rief ich voll Teilnahme.
»Er besitzt ein starkes Herz,« nickte Gottschalk ernst. »Sie haben gute Leute dort drüben!«
»Hans, dir bangt für unsere Sache! Sage es frei heraus!«
»Mir bangt für nichts,« antwortete er ruhig. »Je besser der Feind, umso größer der Sieg; und unterliegen wir, so war unsere Sache nicht reif. Die es überleben, werden sie zu ihrer Zeit schon austragen. Die alten Dombaumeister erlebten keiner den Abschluß des Turmbaus. Sie wußten nur: Er muß fertig werden!«
»Du. glaubst noch immer hartnäckig an den Erfolg?« rief ich.
»Der Erfolg gehört dem Hartnäckigen.«
Als Gottschalk den Garden verkünden wollte, daß ein Rückzug innerhalb der Linien notwendig wäre, fand er nur wenige Schläfer oder Spieler am Kirchplatz vor. Dagegen hörte er sie aus allen Wirtshäusern tosen und streiten.
Er bestellte sich, was an Schreibern zur Hand war und diktierte den Befehl an alle Kompagnien.
»Es werden doch nur folgen, welche selber wollen,« sagte ich.
Er schaute mir in die Augen. »Gewiß,« bestätigte er. »Ich werde wenige kommandieren, aber sie werden eine Essenz und ein Quintdestillat an Charakter sein.«
Als wir wieder nach Hause zurückkehrten, war Hirsch bei Fiamma, und sie hatten eben ein lautes Gelächter, als wir eintraten. Gottschalk sah den Journalisten mit Verwunderung in seinem Hause, bemerkte aber mit keinem Worte etwas darüber.
»Fiamma erzählt mir von den Theaterleuten,« rief uns Hirsch, der gar nicht daran dachte, seine Anwesenheit zu entschuldigen, entgegen. »Das ist eine Mischpoche! Aber fahre fort, schöne Fiamma.«
Gottschalk setzte sich mechanisch und schien teilnahmslos; ich aber hörte dem Geplauder, welches eine merkwürdige Menschenkenntnis dieses vielunterrichteten Kindes verriet, gerne zu. Fiamma also erzählte weiter:
»– – Dann war der Liebhaber und Held; der spielt auch außer dem Theater weiter Komödie. Das tun sie zwar alle, aber der kann es am besten; die Damen sind auch am meisten von ihm gefesselt.
Einmal war er bei der Frau eines Arztes auf Besuch und wußte nicht, daß ich im Ordinationszimmer wartete. Ich war damals ein Kind, aber jetzt verstehe ich, worauf er es hinaus hatte.
Er paßte im andern Zimmer auf die Frau; zum Zeitvertreib stand er vor dem Spiegel und schaute sein Bild inbrünstig an. Als er ihre Schritte hörte, packte er schnell einen Totenkopf, der dem Doktor gehörte und nahm die Stellung: Hamlet, fünfter Akt, erste Szene, an. Die Frau trat ein, wurde stille, und beguckte ihn mit verliebten Augen; er machte, als habe er sie gar nicht gehört und sagte zu dem Schädel mit dem süßesten Wohllaut:
›Warum bist du nicht mit Rosen bekränzt in ihrer Nähe? Wie wagst du dich, Zeichen und Abbild der Vergänglichkeit, in den Bereich der ewigen Seligkeit? – – – Oder liebtest auch du sie einst, und ließest dich hieher verkaufen, nur um bei ihr zu sein, du stiller Sünder? du! Ich sage dir: Das ist meine Idee, die lasse ich mir nicht vorwegnehmen. – Schäker!‹ Und er knipste dem Schädel einen Nasenstüper hinauf.
›Wie Hamlet! O, mein Hamlet!‹ brach die entzückte Frau los und stürzte begeistert zu ihrem Geliebten hin, der sich erschrocken und verlegen nach ihr umwandte.
Als ich dann vierzehn Jahre vorbei war,« fuhr Fiamma mit eigenartiger Betonung fort, die Hirsch zusammenzucken machte, »begann er mir den Hof zu machen, wie alle unsere Schauspieler, die jungen und die alten. Ich wäre ein Bissen für so einen: Was?« fragte sie den aufgeregten Hirsch.
Ich hörte aber auch, wie Gottschalk mit seinem Atem rang.
Er hatte noch nicht verwunden. Und so fragte er, plötzlich aus seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit auffahrend: »Bist du rein dabei geblieben?!«
»Ach Gott,« antwortete Fiamma, und sah in den Schoß. »Was die Männer von mir wollen, weiß ich ja. Sie möchten mich schon! O, alle möchten mich! Der eine, der Reizenberg, der Lümmel, von dem sie sagen, daß er genial wäre, hat mich in ganz klaren Worten darum angegangen. Eine Nacht, Fiamma! Um Gotteswillen, nur eine Nacht, oder ich muß krepieren! – So nämlich ist seine Redeweise; schön, was? Ja, sie möchten alle,« wiederholte sie, indem sie still und schlau in sich hineinlächelte.
»Fiamma, schöne Fiamma!« rief Hirsch gequält. »Rede von anderen Dingen!«
»Ihr wundert euch,« lächelte sie, »daß ich von so etwas überhaupt erzähle. Beim Theater gilt das als ein Selbstverständliches; ich habe schon als Kind alles gewußt.
Wenn ich aber einem nachgegeben hätte, so würde ich euch nichts erzählen und gar fein schweigen. So aber; wißt ihr: ich warte immer noch auf einen Geliebten.«
Ein banges Schweigen entstand nach diesem Gespräch eines Mädchens mit drei jungen Männern. Von den überhängenden Zweigen im Garten löste sich ein reifer Apfel, fiel auf den Tisch und rollte von da in Fiamma's Schoß, wo er sich in ein Grübchen bettete.
Hirsch verfolgte den Apfel mit brennenden Augen und konnte sie von dem süß gelagerten nicht mehr abwenden. Auch Gottschalk starrte hin. Da lächelte Fiamma, errötete und saß ein Weilchen still. Dann nahm sie den Apfel. »Geh' fort,« sagte sie unwillig.
Und sie warf ihn weit von sich.
Hirsch stürzte ihm nach, erhaschte ihn, drückte ihn an die Lippen und barg ihn dann in der Brust.
»Erzähle doch von deinen Schauspielern weiter!« schrie Gottschalk zornig.
Fiamma neigte wie in Gehorsam den anmutvollen Kopf: »Es ist also eine drollige Gesellschaft. Viele haben eine reiche und alternde Geliebte und werden dafür von ihr bezahlt.«
»Hübsch!« bemerkte ich. »Hängen sich diese Leute nicht regelmäßig auf, wenn sie in einer schlechten Stunde dahinterkommen, was sie eigentlich sind?«
»Gehen Sie,« sagte Fiamma, »ein so warmer Platz ist das Sehnsuchtsziel vieler Anfänger.«
»Manneswürde!« sagte ich zu Gottschalk. Der neigte, tief in Gedanken verloren, den ernsten Kopf und Fiamma erzählte weiter:
»Einer von diesen Lumpen hätte reich werden können, wenn er die Geschenke, die ihm seine Geliebten gaben, zusammengehalten hätte. Aber er wirft alles wieder hinaus, denn er ist ein großes Genie. Jetzt ist er bei uns Heldenvater und schaut aus wie vom Galgen gefallen. Aber er ist Philosoph und hält etwas auf große Löcher an Knie und Ellbogen. ›Es weht immer etwas wie Freiheit hindurch,‹ sagt er, wenn ich ihm einen Fleck auf den Rock stückeln will. Er spielt hinreißend, aber nur wenn er angetrunken ist; leider hält er nirgends lange aus. ›Mein Gewissen erlaubt mir nur Schulden in einer gewissen Höhe zu machen, – ist die erreicht, so brenne ich durch.‹
Sie sehen ihm – – – aber nein! Wirklich!« lachte Fiamma, und schaute Gottschalk zum erstenmal an diesem Tag voll ins Gesicht: »Sie sehen ihm ähnlich!«
»Wie heißt er denn,« fragte Gottschalk lächelnd.
»Orontes. Einen andern Namen weiß ich nicht«.
Und sie erzählte weiter von Komödiantenstreichen, über welche damals Hirsch, ich und Hulle, der jetzt ausgeschlafen und aufgeräumt zu uns gekommen war, schallend lachten, und welche sich aus dem Munde des übermütigen, gänzlich aparten Kindes nicht übel anhörten, auf dem Papier aber, wenn ich sie jetzt betrachte, nicht gar reinlich aussehen. – Nur der Zauber Fiammas machte sie dazu, und gerne lasse ich sie fort.
Sie zeigten uns das Wunder, aus welch verwilderter und schamloser Bacchantengesellschaft sich dieses sinnbetörende Kind schwer begreiflicherweise unberührt, wiewohl nicht dem ganzen Sinne nach keusch zu uns gerettet hatte.
Sie hatte viel Heldenhaftes von erbärmlichen Menschen spielen sehen: Nun kam Hans Gottschalk; der spielte gar nicht Komödie, hatte keine Eitelkeiten und war, was jene auf der Bühne zu scheinen suchten. Sie hätte sich ihm (wie es ihr selbstverständlich vorkam) ergeben. Als er sie zurückstieß, blieb nach der ersten, groß erstarrenden Unbegreiflichkeit ein böses, gereiztes Gefühl in ihr, und sie gönnte dem jetzt gehaßten Verächter ihrer schwellenden Frühreife alles Üble, ohne sich jedoch, wie ich glaube, die Mühe zu nehmen, über Rache zu brüten.
Jedoch: ein sehr Böses war geschehen. Sie hatte ihren Halt verloren. Sie war eine zurückgewiesene Münze und hatte kein Vertrauen auf ihren Wert mehr.
So fiel sie dem nächsten zu, der auf sie bot, und daß Hirsch in ihrer Nähe zitterte und bebte, gefiel ihr und bereitete ihr einen leisen Schauder der Angst vor etwas Bänglichem, welches unerbittlich nach ihren schlanken Gliedern griff.
Das wollte sie beendet haben, wollte die Erkenntnis endlich herbeirufen.
Sie dachte über sich selbst so unmenschlich wenig nach, als eine Nixe oder Waldfrau; denn da ihr von Kind auf die Dinge der Innerlichkeit, wie Gefühl, Charakter und Gedanke nur als zum Schein vorgegeben, zur Unterhaltung gespielt vor Augen getreten waren, glaubte sie nicht daran.
So war es ergangen, daß das schönste Mädchen, welches ich vielleicht jemals gesehen, keine Seele erhalten hatte.
Ihre Religion hatte sie im Verkehr mit Verlornen längst abgeschüttelt; nun hatte auch Gottschalk, der einzige, welcher ihr nicht als Komödiant vorgekommen war, gespielt, mit ihrem ersten, ernsten Erwachen gespielt. Die einzige Tür nach der ewigen Seligkeit, welche ihr noch offen gestanden war, die starke Liebe, war ihr zugeschlagen worden und Fiamma nahm sich gründlich vor, sie werde sich von solchen Dingen nicht mehr foppen lassen.
Jetzt rückte ihr Hirsch nah und näher und sie hielt stille. Gottschalk stand auf und ging zu seiner Mutter, um seine Seele zu reinigen.
Er kam diesen Nachmittag und Abend nicht mehr zu uns herunter und Margarethe sagte kopfschüttelnd: »Heute bin ich der Mutter nicht nötig. Hans macht ihr die Kissen zurecht, rückt, hebt, speist und tränkt sie wie ein Kind und spricht zu ihr.«
»Und die alte Frau?« rief ich freudig.
»O,« seufzte mein Mädchen und die Tränen liefen ihr aus den guten Augen: »Ich weiß nicht, ob sie seine Liebe noch begreift. Sie liegt, lächelt die Zimmerdecke an und singt in einemfort so leise und so hold, daß es einem recht in das Herz greift.«
Wir schwiegen erschüttert.
Gegen Abend kam Schwanberger. Die Arbeiter und Grenadiere ließen Hans Gottschalk sagen: da er befehle, den Ort ohne Widerstand zu räumen, so würden sie sich morgen in der Frühe bei der Währinger Linie sammeln, und sie hofften, er werde sie dort nicht verlassen.
Wir wollten ihn mit Dank beurlauben und ich gedachte, die Botschaft dem Freunde zu verschweigen, als Schwanberger erklärte, er müsse durchaus Hans Gottschalk mit eigenen Augen sehen um die Lügner strafen zu können, welche im Orte ausbreiteten, Gottschalk sei entflohen.
Da geleitete ich ihn zum Zimmer der kranken Frau und klopfte leise. Eilig kam der Freund heraus und schloß die Türe hinter sich ohne Geräusch. Schwanberger richtete ihm alles aus, und Gottschalk preßte ihm schweigend und heftig die Hand: »Ich komme.«
Dann trat er wieder in das Gemach, in welchem sich schon mehr Überirdisches als Erdenschweres zu ereignen schien und schloß die Türe abermals sorgfältig hinter sich. Er wollte heute noch der Mutter gehören.
Aber ein leiser, feiner Gesang, wie die Glaszunge eines zersprungenen Fensters im Winde zu tönen pflegt, drang durch das Holz.
»Was ist das?« fragte Schwanberger betroffen.
»Eine Seele, welche bald gerufen werden soll, übt sich für den Chor der Engel,« antwortete ich feierlich.
Schwanberger war ergriffen und sagte: »Verzeihe mir Gott, wenn ich die reine Harmonie gestört habe, aber das wußte ich nicht. Seine Mutter!«
»Wenn Hans Gottschalk morgen und in drei Tagen nicht auf der Barrikade an der Währingerlinie sein sollte, so begräbt er sie. Sagen Sie das den Arbeitern,« bat ich ihn.
»Es ist eine heilige Pflicht, – aber sie werden ohne ihn auseinanderlaufen,« antwortete Schwanberger ernst. »Das wird er bedenken. – – Lasset die Toten ihre Toten begraben!«
»Der Spruch ist für Menschen von Fleisch und Blut zu hart!«, rief ich aus.
»Ihn hat der Heiland getan,« sagte Schwanberger und wandte sich zum Fortgehen. Ich erstaunte, wie ähnlich er in seiner Herbheit dem Gottschalk war. – In anderem dachte er jedoch noch herber als mein, nur gegen sich selber strenger Freund.
Im Garten nämlich kehrte er sich noch einmal um. »Wahrhaftig!« sagte er, »Herr Hersch; ich habe vergessen: Am Gatter lauert etwas en alter jüdischer Hausierer auf Sie. Vielleicht e Geschäft?«
Schwanbergers Stimme war merkwürdig hart geworden und hatte leicht den Tonfall des jüdischen Jargons nachgespottet.
So macht der Haß selbst den von Natur Edlen kleiner.
Hirsch aber erhob sich und sagte warm: »Es ist mein Vater. Leb wohl Hulle, leb wohl Hager. Fiamma! Tausend süße, gute Nacht!«
»Gut' Nacht,« hauchte Fiamma und ging in das Haus zurück.
Fröstelnd an dem frühen Oktoberabend saßen Hulle und ich allein. – »Was fangen wir jetzt miteinander an,« fragte mich der heitere Freund. »Weißt du was Lustiges?«
»Ich? In dieser Zeit? Nein,« sagte ich.
»Höre,« begann Hulle. »Weißt du was? Man sagt, die Welt sieht sich am interessantesten durch das Schlüsselloch an. Horchen wir aus, wie die zwei Juden reden, wenn sie unter sich sind; das gibt einen Kapitalsspaß!«
»Horchen? Ich? Nein.«
»Aber ich sage dir, wir tun es ja nicht in böswilliger und kleinlicher Absicht! Wir fangen die erschauten Bilder selbstloser auf wie gläserne Objektive und benützen sie nur, um darüber zu philosophieren. Komm! Komm!«
Da ging ich mit ihm.
Wir holten Hirsch und dessen Vater bald ein, da sie langsam gegangen waren und jetzt unter einem großen, vorspringenden Schuppendach stehen blieben, welches einem Huf- und Wagenschmiede gehörte. Hier widerhallten die Stimmen an dem offenen Dachboden so stark, daß wir die Gefahr des Heranschleichens nicht zu bestehen brauchten.
Der alte Hausierer war müde und setzte sich auf einen Wagenhebel.
»Eine Goja,« sagte er mit tiefen, unwilligen Kehllauten und spuckte aus. »Was steht geschrieben? Das heilige Volk soll sich nicht verunreinigen mit den Heiden, steht geschrieben. Den Fluch Gottes hast du schon. Willst du noch den Fluch deines Vaters?«
»Ich begehre sie nicht zur Ehe,« sagte der junge Freisinnige scheu.
»Lass' se fallen ganz und gar. Nimm eine von den drei Töchtern des Lichtblau. Schöne Mädchen! Kluge Mädchen! Brave Mädchen! Sie sind erzogen wie Engel Gottes; sie kommen nicht aus dem Hause und sind unschuldig wie süßes Brot. Ich sage dir, die Sonne hat sie noch nicht gesehen.«
Der junge Journalist schwieg; der Alte fuhr fort:
»Du lebst auch sonst nicht nach den Gesetzen, daß du mit den Unreinen eßt und schlufst. Gott sei es geklagt!
Und dein Journal! Was mischst du dich in die Händel der Christen? Was hast du ihnen? Was haben sie dir? Ich hab gewollt, du sollst werden e Handelsmann; du hast gewollt e Mediziner. Gut, hab ich gesagt, werd e Doktor. Sind doch von je die Juden gestanden als Leibärzte bei den Königen.
Nun willst du wieder sein Journalist!«
»Vater, schau her,« lächelte Hirsch, öffnete seine Brieftasche und legte in die zitternden Hände des Alten ein Bündel Wertpapiere. »Das ist verdient mit der Journalistik.«
Der Alte prüfte und zählte und fragte dann mit bebender, dumpfer Stimme: »Das alles ist verdient mit – –?«
»Und ich werde mehr verdienen,« fuhr der Sohn eifrig fort. »Die Zeiten sind gute. Behalte das Geld. Wir werden zusammen arbeiten. Ich verdiene, du vermehrst. Leihe aus auf Zinsen! Der Leichtsinn dieser Tage schreit nach dem Geldverleiher. Du sollst ein sorgenfreies Alter haben, lieber, guter Vater! Du sollst nicht mehr todmüde stehen in Gassen und Schenken, daß sie sagen: ›Seht den ewigen Juden!‹ Auf dem Kanapee, in Pantoffeln, sollst du liegen, und wenn ein Offizier kommt oder ein Baron, so sollst du liegen bleiben und ihn anfahren: Was wollen Sie? Und sie werden ängstlich stehen bleiben, die dich sonst auf der Gasse angestoßen haben und werden in Dehmut sagen: Geld, – oder Aufschub!«
Der Alte spielte mit den Noten. Lange schwieg er so.
Wir horchten wie gebannt! Je mehr unser Freund mit dem Vater sprach, desto mehr gebrauchte er dessen Redeweise.
War er das? Mein Freund, ja fast mein Bruder Hirsch?
Nein! Zwei fremde Wesen! Nicht Menschen wie wir, nein: Eine andere Art, von einem anderen Planeten!
Hulle flüsterte mir leise zu: »Der Alte redet wie das Buch Esther!«
Er hatte dieses Buch wohl nicht mit Absicht erwähnt, ich aber erschrak. Ja! Wie das Buch Esther; das Buch des Einschmeichelns mit niedrigen Mitteln, und wenn eine Tochter in den Harem eines Königs verkauft werden müßte; das Buch des mit dem Gefühl der Macht erwachenden frechen Trotzes (wie Mardochai, der sich befestigt weiß, als eine Wache am Eingang des Palastes sich ansetzt und dem Kanzler des Königs die Ehre verweigert). Endlich das Buch der Rache, einer Rache, wie sie kein Volk kennt, außer diesem, welches heute noch die Tage Purim feiert als Jubelfest, daß es fünfundsiebenzigtausend seiner Feinde samt deren schuldlosen Kindern (wie Hamans seine) straflos und mit Erlaubnis eines Weiberkönigs abschlachten durfte!
In jener Nacht verzweifelte ich daran, daß die Juden jemals unsere Brüder werden könnten! Einzelne werden unsere, ihnen so fremde Art der Seele annehmen und damit unsere Liebe haben: Das ganze Volk nie und nimmer!
Es kam noch mehr, um mich zu überzeugen, wie jenes unglückselige Volk des goldenen Kalbes, das wir wahrlich für verflucht halten müssen, unsere Art haßt.
Denn Hirsch, der Sohn, begann wie als Kommentar zu meinen Gedanken mit zitternder Stimme und unvermittelt:
»Vater. Ich habe einen Feind.«
Der Alte schwieg.
»Vater, ich habe einen Feind. Nicht nur meine Sehnsucht und Liebe bedroht er; all meine Gedanken beleidigt er mit seinem Wesen, das wie Galle schmeckt!«
Wieder war Ruhe.
»Vater!« fuhr Hirsch erregt fort. »Wenn ich ihn nicht wegdränge, – er tut es mir! Er nimmt dem Volke den Glauben an mein Blatt, an meine Ehrlichkeit. Er denkt wie der Hauptmann, von dem ich dir erzählt habe, wie sehr er unser Volk haßt; jedoch er ist darin kein Philosoph, sondern ein Mann der Tat. Ein Fanatiker! Ein Verfolger!«
Der Alte schwieg noch immer beharrlich, und seine Gedanken blieben verdeckt wie glühende Kohlen unter der Asche.
»Vater, was tue ich? Sie lieben ihn. Mein Blatt schweigt über ihn. Aber andere beginnen von ihm zu reden. Und wenn sein Name bis in das Volk der ganzen Stadt gedrungen ist – –«
Der Alte stand auf und Hirsch brach in seiner Rede ab.
»Ich weiß,« sagte der Vater. »Du redest vom Gottschalk. Er sagt, er wolle nur die Renegaten von unserm Volke dulden; ich weiß. Darum war er dein Freund. – – Sie lieben ihn? Ei so! Was mußt du also tun?
Hinausdrängen mußt du ihn aus ihrer Liebe wie Kot aus dem gesunden Leibe und mußt befördern, daß sie ihn schnell verdauen.«
»Befördern! Wie soll ich befördern?« rief der Junge unwillig.
»Wenn ich ihnen sage, Gottschalk schlägt Münze aus dem Vertrauen des Volkes, oder Gottschalk verrät uns: Wer glaubt mir? Er benimmt sich, daß man ihn umwühlen kann und es kommt nichts an Schwäche heraus! Er nimmt kein Geld, er unterliegt dem Weibe nicht, er strebt nicht nach Ehre. Was ihm in den Schoß fällt nimmt er auf und sagt: Es ist göttliche Schickung; ich muß. Und das glauben sie, das imponiert ihnen. Der Hager selbst macht seinen Kniefall vor dieser kalten Reinheit, – wie sie nur ein Frosch haben kann!«
»Gut. Ich sage dir das Brechmittel: Moritz, mein Sohn! Wenn er hat den ersten Mißerfolg, so schreibst du etwas ä lobende Biographie bei dem Anlaß – – und erzählst ihnen, den Eitlen, als ob du wolltest huldigen: stolz ist er; stolz auch im Unglück. Über alle Maßen stolz. Über alle seine Getreuen hinaus stolz, – fast hochmütig!
Am Donnerstag sagen wir ä Nachtrag; ä Beispiel von seinem Hochmut. Er hat gesagt, in Ungarn gesagt: Ich wollte, Wien wäre nur ä Stadt von hunderttausend, aber hunderttausend Ungarn, oder zehntausend aber solche, wie ich selber bin. Dann begänne das neue Reich, von was mer träumen. So ähnlich mag er ja gesagt haben; was?
Am Freitag sagst du: Gottschalk hat schlecht gelobt die hunderttausend Ungarn; sie haben uns im Stich gelassen. Wer bleibt uns noch? Er! – – Wenn er aber so wenig hält, wie seine Ungarn: Wer bleibt uns dann? Wir selber. Dennoch vertrauen wir ihm. Er aber sollte besser von uns denken und auch uns vertrauen.«
»Gut, o, gut!« sagte der Sohn eifrig. »Die Wiener sind eitel. Dann aber? Dann?«
Der Alte setzte sich wieder: »Das war der Freitag. Am Schabbes schreibst du, was in der ganzen Woche an Unglück vor dem Feind geschehen ist. Du verschweigst das Unglück der andern Führer; sie helfen dir gewiß schweigen! Und du erzählst nur, was geschehen ist, wo Gottschalk kommandiert. Das alles ist dort geschehen, und nur dort. Und dann ä Gedankenstrich.
Am Sonntag än Artikel: Kurz, geheimnisvoll, än Essenz:
Wem haben wir unsere teilweisen Mißerfolge zu verdanken?
Und du mußt das Rätsel nur halb gelöst lassen. Sie werden sich in den Schänken rote Köpfe trinken und deine Frage wiederholen.
Am Montag kä Zeitung. Ohne Nachricht, im Katzenjammer liegen sie auf ihre verdrossenen Posten am Wall.
Wir aber gehen herum und sagen da und dort auf die gestrige Frage traurig: Ob es nicht doch ist der Gottschalk selber?
Vor dieser Frage haben am Samstag aus bösem Gewissen gezittert die großen und die kleinen Befehlshaber in der Stadt von Gnaden der Volksgunst! Wie werden sie aufatmen, wenn sie sich einigen können auf die Anklage gegen einen, der sich aus Stolz nicht wird wehren!
Dort! Heute schon liegen gegen die Linien Kroaten und Jäger, und Kanonen fahren in der Ferne. Sie sind böse, weil Gottschalk die Ungarn heraufgezettelt hat; furchtbar böse!
Alle, alle in dieser Stadt brauchen sie einen Opferbock, weil sie mitschuldig sind an der allgemeinen Not, und sie werden zugreifen: Jubelnd, sag' ich dir!!«
Der Journalist sprang auf: »Soll' Gott geben,« ergänzte er. »Werd ich machen. Geb mer die Hand, Vater!«
Der Alte reichte ihm die Hand mit gesenkten Augen, kalt und flüchtig. Dann stand er auf und beide gingen langsam davon, ohne weiter zu sprechen.
Hulle und ich sahen uns lange Zeit in die Augen. Endlich brach der Freund voll Bewunderung aus:
»Virtuos! Subtil! Jesuitissime!«
»Jesuitissime,« wiederholte ich. »Wahrlich! Die Jesuiten müßten wir zurückrufen, denn nur sie vermöchten es, der zähen jüdischen Konsequenz als ebenbürtige Fechter zu widerstehen. O, Hulle, sag' mir: Müssen wir denn in diese oder jene Hände fallen?«
»Jedes Volk hat, was es verdient,« erwiderte Hulle leichthin. »Wir haben die Juden auf dem Halse und dulden sie, also geschieht uns recht. Rufen wir die Jesuiten: geschieht uns auch recht! Aber lass' mich doch auswundern: Das war ja prachtvoll! Freund! Welche Logik und Rhetorik und Dialektik in diesem ungebildetem alten Starrkopf! Oh! Oh! Ein talentiertes Volk!«
»Und du freust dich,« kam ich zu Worte, »daß sie dem reinen, hochstrebenden Studenten seine ganze Berufung, an die man wahrlich glauben darf, zernagen wollen?«
»Geh mir! Mit deinem reinen, hochstrebenden Studenten! Mir ist er unbequem. Ein Fanatiker, ja; Hirsch hat Recht: dem zu einem Verfolger nur noch die Macht fehlt. Ein schlechter Sohn wird er, bloß um ein guter Agitator zu sein. Da: Betrachte unsern Hirsch! Was für eine rührende Kindesliebe zu dem alten, stinkenden, schmutzigen Hausierer! Das einfachste und natürlichste könnte dein Hans von dem Juden lernen. Geh doch! Streiten wir nicht um blauen Dunst; die Welt ist ja doch nur zu behandeln, wie sie ist und nicht, wie sie werden sollte! Komm ins Wirtshaus. Ich bin kolossal angeregt, gescheidte Sachen zu reden!«
»Ich muß bei Gottschalk nächtigen; es wird morgen ein schwerer Tag,« entschuldigte ich mich.
»Na! Dann grüß mir die schöne Fiamma und gib Margarethe endlich einmal einen Kuß, du Lapp. Servus!«
»Du: Hulle!«
»Na?«
»Bist du am Ende auch in Fiamma verliebt?«
»Ich? Keine Spur! Ist mir viel zu wenig greifbar. Derbes Fleisch, mein Freund! Dicke Arme und einen dicken … Na, gute Nacht!«
In der grauen Frühe des Dreiundzwanzigsten weckten uns die Hörner anmarschierender Truppen schon vom weiten. Es waren Jäger. Der Zug der Infanterie rang sich hintendrein wie ein langer, furchtbarer Lindwurm; er schlang einen Ort nach dem andern hinab: Nußdorf, Grinzing, Weinhaus, Ottakring, Breitensee, Penzing, Hietzing. In Hetzendorf stieß das Nordkorps mit den Divisionen Jellachich und Auersperg zusammen, – – die Eisenkrone war geschmiedet.
Am Morgen des Dreiundzwanzigsten also kam die unabwendliche Stärke des Heerwurms immer näher an unser stillgewordenes Dorf gekrochen. Schon hatte eine Patrouille in der Brauerei Quartiere bereitet, wo Hulles Mordweiber kaum noch zu flüchten vermochten, – dann rauschte die Marschmusik eines Regiments in der Ferne auf.
»Zur Mutter! Zur Mutter!« schrie mir Gottschalk zu, als ich nach der Währingerlinie, auf den Sammelplatz, eilen wollte.
Die schwerkranke Frau aber lag ohne Bewußtsein in ihrer Kammer und Gottschalk kniete neben sie und rief sie voll Schrecken an: »Mutter! Mutter! Küsse mich, segne mich, denn ich muß fort!«
»Geh nicht Hans! Geh nicht, Hans,« warnte Margarethe in voller Herzensangst.
»O,« rief der Arme in seiner Qual. »Soll sie mich nicht mehr sehen? Ich muß. Ich muß!«
»Du mußt nicht, Hans. Ein gutes Herz haben, das mußt du!«
»Mein armes Volk hofft auf mich; sie brauchen mich! Es sind dreihundert mutige Glauben, die ich zerstören würde! Meine Arbeiter, wenn die sich ergeben, strecken sie nicht die Musketen allein; sie strecken ihre Hoffnung, und man nimmt ihnen nicht nur die Waffen fort. Nein: Ihre Seelen schleppt man mit, und sie leben in gequälter Dumpfheit weiter! – Mutter! Mutter! Segne mich!«
Der Marsch rauschte in die Straße ein; aufjauchzten Buben, Weiber, Bürger, – den Weißröcken entgegen. Und die ganze Masse donnerte jubilierend, mit brausendem Schall im Taktschritt heran.
»Mutter! Mutter, leb wohl! Gott gebe dir seine Liebe statt der meinen!«
Grethe schrie ihm zu daß die Gläser summten; er aber nahm mich an der Hand, und wir sprangen in zwei ungeheuren Schwüngen die ganze Treppe hinunter und auf die Gasse, – – klirrend in unsern Waffen!
Es mag ein Anblick gewesen sein: Zwei Empörer so nahe der Rache! Mitten unter jauchzend abtrünnigem Volk!
Die Musik hörte auf. Ungeheures Wutgeheul erschwoll, wir aber liefen um Leben und Tod!
Steine schmetterten um uns, Kugeln pfiffen, Büchsen krachten hinter uns drein, geschlossene Volksrotten rannten uns brüllend nach:
Aufhalten! Aufhalten!!
Wir rannten nieder, was uns in den Weg kam; mit Sätzen wie flüchtende Katzen erreichten wir das freie Feld, überflogen es, indem um uns das Gesause der Kugeln ein Gefühl traumhaften Schwindels verursachte, stürzten auf die Linie zu, und unsere Lungen drohten zu platzen als uns das Jubelgebrause und hundert Arme unserer Garden empfingen, einschlangen und emporhuben.
Diese Arbeiter bedeckten uns mit Küssen, unserer Treue halber. »Hast du deinen Stutzen auch noch,« rief mir Gottschalk mitten in diesem Fest des Dankes zu und hielt mir sein Gewehr entgegen.
In jauchzendem Stolz reckte ich auch das meine in die Luft: Keiner hatte seine Waffe fallen lassen! Gottschalk vergaß seinen Ernst in der Freude darüber so sehr, daß er mir um den Hals fiel.
Jetzt rannten unsere Leute der Hetzmeute entgegen, welche uns vor sich hergetrieben hatte. Die Haufen, als sie einander ansichtig wurden, stauten sich und unserer schoß eine Decharge ab. Nun liefen in wilder Flucht jene davon, welche uns verfolgt hatten, und wir atmeten unsere Lungen und Pulse in Ruhe …, welche zum Bersten voll gewesen waren.
Beide waren wir unverletzt entkommen.
Hirsch war bei der Kompagnie gewesen und hatte den Arbeitern bedeutet, daß wir sie sicherlich verlassen, wenn nicht verraten hätten.
Als sich einige solche Reden verbaten, hatte er gemeint, – nun, dann sind sie eben gefangen und werden verhört werden, um ihre Mitschuldigen zu nennen.
Diese Worte hatten viele bang gemacht, und etliche stritten wütend, ob uns Verrat, ob uns Unglück anzurechnen sei.
Unser getreuliches Kommen überwältigte diese armen, ungläubigen Herzen, und es gab alte und junge, welche vor Freude weinten. In diesem Augenblick wäre es gefährlich gewesen, sie anzugreifen.
Als die Volksmasse, welche uns nebst einer Soldatenpatrouille verfolgt hatte, zurückgejagt war, schrien viele wütend den Namen des Journalisten, der sie uns abwendig hatte machen wollen. Der aber war schon weit fort.
Diesen Vormittag war lauter Liebe und Fröhlichkeit um uns. Gottschalk hatte viel zu ordnen, zu schlichten, zu bewehren, – das ließ ihn nicht zum Nachdenken kommen.
Am Nachmittage kam ein Billet des dem Oberkommando zugeteilten Generals Bém: Gottschalk möge ihm helfen, die Nußdorfer Schiffbrücke heute Nacht zu zerstören. Ankunft der Kompagnie in der Rossau abends acht Uhr.
Wir brachen in Freudenrufe aus. Endlich sollte unter einem klaren Kopfe gehandelt werden!
Jedoch der Abend wurde böse und unruhig bevor wir noch zu den Befehlen des polnischen Rebellengenerals eintrafen, und wir sahen manche tiefe Schatten des Aufstandes schon an diesem Tage vorausfallen.
Die Aufforderung des Feldmarschalls zur Übergabe war nun auch in den inneren Bezirken allgemein bekannt geworden. Als ihre Folge standen Angst und Trotz einander fast unverhüllt gegenüber.
Viele Häuser und viele Kaufläden waren geschlossen; es gab dies den Gassen, in denen der Aufruhr brauste, ein unheimlich ödes Aussehen. Barrikaden hemmten den Weg der Bürger, welche bei schlechtester Laune waren, denn die Zufuhr war abgeschnitten und der Speisezettel schmal und einfach, wie ihn auch der Arbeiter nicht schlechter hatte.
In jenen Tagen habe ich verzweifelnde Wutausbrüche bei Männern gesehen, bei reifen Männern wenn die Köchin mit dem leeren Korbe vom Markt zurückkam: Enten gibt es keine mehr, und Salat auch nicht.
»Kreuz, Laudon! Und der Weintraubenstrudel?!«
»Mit Obst is es auch la, la. Die Frau meint, i soll Povidlknödel machen.«
Da brach der Vulkan los, die Köchin floh. Solches ereignete sich aber damals nicht nur als einzelne episodenhafte Szene: Nein! – Bitterer als die bedrohte Freiheit reizte einen Teil der Bürger die bedrohte Mittagstafel zu maßloser Wut.
Andere Szenen wieder vergoldeten dieses häßliche Sybaritentum. Das alte Wienertum von 1529 und 1683 regte sich noch. In der Rossau wurde schon den zweiten Tag mit einem Todesmut gekämpft, der mich jubeln und stolz auf meine Vaterstadt machte. Hier, in dem verrufenen Nest der Schwarzgelben, wo die meisten Häuser verlassen, die meisten Läden geschlossen standen, kämpften Wiener (nicht Fremde) so todeskühn, so in altdeutscher Stämmigkeit, daß mir das Herz vor Lust aufschrie, und ich mit Gottschalk allen Glauben an die Größe unserer Vaterstadt wieder bekam.
Aber! – – Auch die Verfolgungen begannen.
Ein Gasthaus, welches zwischen der Rossau und Nußdorf lag, wurde trotz des fürchterlichen Gewehrfeuers der Soldaten angegriffen und in Brand und Trümmer gelegt, weil es einem Anhänger des altösterreichischen Regiments gehörte.
Messenhauser, der Stadtkommandant, mußte gegen die überhandnehmenden Plünderungen mit Strang und Standrecht drohen, aber lachende Gewalttat blieb in den Straßen der unglücklichen Stadt ein offenes Schauspiel.
Gottschalk, welcher den Nachmittag seine Grenadiere und Arbeiter durch kleine Streifungen gefestigt und selbstvertrauend gemacht hatte, rückte am Abend an die Nußdorferlinie unter das Kommando Béms ein, welcher ihm mit den freundlichen Worten die Hand drückte: »Ich kännen Sie. Gute Kameraden bleiben!«
Jedoch mit dem Ausfall sollte es nichts werden.
Bote auf Bote kam vom Gemeinderate mit der Bitte, der tollkühne Bém möge nur ja nichts Gefährliches beginnen. Bém lachte verächtlich und sagte: » Er habe zu befehlen.« Unsere Leute glühten vor Kampfbegierde.
Von den Garden aber, die schon den ganzen Tag gegen die Brigade Parrot gekämpft hatten, welche ihnen hier gegenüberstand, waren viele tief niedergedrückt; sie hatten keinen Boden erkämpfen können und starke Verluste erlitten.
So durchharrte die ganze Streitmacht in einer wunderlichen Fieberstimmung die Nacht, denn die Räumung der Verkehrswege ging mit einer fast absichtlichen Langsamkeit vor sich.
Bém wurde immer ungeduldiger; es graute schon, und immer war ein Ausrücken noch nicht möglich.
Da kamen Patrouillen mit der Nachricht, daß die Truppen durch ihre Freunde in der Stadt schon längst von der Absicht Béms unterrichtet wären und sich zu einem bittern Empfange wohl gerüstet hätten.
Es war die erste große Enttäuschung, welche Gottschalk erlebte, daß sogar ein Feldherr wie Bém in Wien nichts wirken konnte.
»Der Verrat ist stärker als die Begeisterung!« rief der Student verzweifelnd aus, als die Garden Befehl erhielten, die Linie in altgewohnter Weise zu besetzen: »Ich hätte das nie geglaubt!«
Und er warf sich, da wir bei Bém bleiben sollten, auf dem Flecke wo er stand todmüde auf die Erde. Er hatte für diesen einen Tag der Aufregungen zu viel erlebt.
Die Arbeiter brachten ihm etwas Stroh und lagerten sich um uns. Es wurde schon lichter Tag, als mir Gottschalk sein gute Nacht zurief.
Ich fragte ihn noch: »Wie ist dir?«
»Fühllos wie ein Rollstein im Gießbach,« sagte er. »Die Müdigkeit wälzt mich in das Bewußtlose hinüber und ich bin froh, daß ich nichts mehr sehen und hören – – – und denken soll.«
Er schlief ein, und mich betäubte ein gleichartig schnellgewaltiger Schlaf.
So regten wir uns nicht bis in den strahlenden Mittag, um welche Zeit uns Schüsse weckten.
Gottschalk sprang empor, sah, daß Garden in Plänklerkette längs dem Donaukanal vorgingen und rief: »Ah! Schlafen und kämpfen, – kämpfen und schlafen: Ich wünsche mir nichts anderes mehr.«
Und er führte auch seine Kompagnie ins Feuer; – es wurde ein heißer Tag.
Wir drangen gegen die große Holzlegestätte vor, hinter deren Scheiterbarren wir gute Deckung zu finden hofften. Es war, als sei mit Gottschalk der Geist der Kriegsfurie unter diese Handwerker, Arbeiter und das Dutzend Studenten gefahren, welche jubelnd immer von neuem zum Sturme vorbrachen – und wahrhaftig, wir warfen die kampfgewohnten Jäger und Weißröcke!
Ein Hauptmann vom Reisinger'schen Regiment stürmte, außer Sinnen vor Schmerz und Wut über seine weichende Kompagnie, dem vorausgeeilten Gottschalk entgegen, welcher seine Büchse abgefeuert hatte, und, wie es seine Gewohnheit war, an der Seite statt eines Säbels nur den Hirschfänger trug, welchen er, um sicherer zu schießen, nicht aufgepflanzt hatte. Er erwartete den Hauptmann mit erhobenem Büchsenkolben, die beiden Männer schmetterten mit ingrimmigem Hiebe auf einander, und Säbel und Büchse flogen in Trümmern nach allen Seiten.
Gottschalk aber riß den Hirschfänger von der Seite und stieß ihn dem Offizier, welcher seine Pistole spannte, so schnell in die Brust, daß der Schuß des Gegners wirkungslos in die Luft fuhr und der Getroffene zusammenbrach.
Nun freilich eilten schäumend vor Wut die Soldaten, welche sich wieder gesammelt hatten, zum Sturme vor. Rechts und links vor uns, von zwei Seiten kamen die furchtbaren Reihen mit der starrenden Blitzlinie der Bajonnette vor sich, um uns zu zermalmen – – Kinnladen des Zornes!
Ein heulendes Handgemenge erfolgte, aber es war kurz, denn wir bekamen Hilfe und unsere tapferen Feinde waren in der Minderzahl; sie wichen und wir sahen in ihren verzweifelten Gesichtern das wütende Weh, von Zivilisten geschlagen worden zu sein. Fünf Tote, zwanzig Verwundete ließen diese Eisenköpfe liegen, ehe sie sich von uns ablösten. Ihren Hauptmann nahmen sie mit; er soll am Leben erhalten worden sein.
Nun hatten wir die Holzlegestätte errungen und feuerten von da auf die Jäger, welche das Gebäude der Ferdinandswasserleitung erstürmten. Was für eine Verzweiflung kochte in unserem Innern, als wir zuschauen mußten, wie ihnen das gelang, – als wir sahen, wie die Unsrigen, welche so herrlich vorgestürmt waren, gleich Füchsen und Kaninchen aus ihrem Bau fuhren und um ihr Leben liefen, – – – wobei mehr fielen, als wenn sie sich gewehrt hätten.
Aber auch unsere Stunde kam. Hinter einer Weidengruppe, welche wir als still und unbesetzt gar nicht beachtet hatten, blitzte es mit großem Feuerstrahl, – ein schmetterndes Hui vor uns, – ein Kanonenknall und die halbmannslangen Scheite flogen wie Zündhölzchen durch die Luft. Ein Grenadier heulte schrecklich auf und schnellte wie ein Fisch am Boden umher; neben uns hockte leichenblaß ein Handwerker, den wir kannten (ein braver Messerschmied) und stützte sich mit den Händen auf den Boden: »Helft mir aus der Grube, in die ich da gefallen bin!« bat er mit erschrockener Stimme.
Wir sahen hin. – Beide Beine waren fort. Es war unnötig, ihm das zu sagen. Ohnmächtig schlug er hin, um zu verbluten.
»Weg von den Holzscheiten,« rief Gottschalk, »und überrennen wir in gelöster Linie die Kanone!«
Aber schon kam eine zweite Granate und platzte mitten in der benachbarten Schützenlinie. Unwillkürlich und obwohl ich wußte wie sehr das Entsetzen ansteckt, sah ich hin; es mochten neun oder zehn Getroffene sein, welche sich dort wanden, beinahe in Fetzen zerrissen.
Aus der fürchterlichen Opferstätte erhob sich Schwanberger, der Buchbinder und Dichter, und sah nach uns herüber. »Ich werde lieber zu Ihnen kommen,« rief er uns scheinbar unverletzt zu. Aber kaum hatte er drei Schritte getan, so schlug er wie eine fallende Säule nach vorwärts schwer auf den Boden hin.
»Schuß ins Herz,« sagte ein junger Mediziner neben uns.
»Schnell zurück, ehe sie geladen haben,« schrillte eine Stimme in der Nähe. Wir wußten nicht, wer der Feigling war, aber der gute Rat wirkte ansteckender als Pest und Pocken. Gottschalks Kompagnie floh! Zum erstenmale!
Wir, wenige, standen und zögerten. Noch warf ein Schuß aus der Kanone verlassene Holzscheite auseinander, ein warmer Rauch schlug über uns hin, dicht neben uns begann ein Brand. Nun stürmte auch Infanterie vor: Gottschalk blickte rechts, links umher, – ein paar Studenten standen hochaufgerichtet, aber ratlos in der Nähe; das Fliehen fiel ihnen schwer.
Auch ein Haufe Arbeiter und kleine Bürger stellte sich nicht weit von den Studenten noch einmal zum Widerstande auf, da rannten jene hin, – wir schlossen uns an.
»Bajonette vor!« schrie Gottschalk.
»Wir haben keine!« hallte es ihm verzweifelt zurück.
Die Sturmkolonne rückte schauerlich näher. Schrecklich und eilig schlugen die Trommeln; unsere Flüchtlinge liefen wohl schon auf dreihundert Schritte von uns. »Dann in Gottes Namen noch eine Salve,« befahl Gottschalk.
Ungeschult und ungleichmäßig prasselten die Gewehre los, aber ich sah, sie wurden viel zu hoch gerichtet. Dann war kein Halten mehr, wir alle liefen so, wie wir mit Wut und Hohn unsere Brüder von der Wasserleitung hatten flüchten sehen, und jauchzend sprangen die Sieger hinter uns drein.
Als wir zornig und schmerzerfüllt hinter den Häusern der Linie verschnauften, teilte ein Bürger Plakate aus. Es war die zweite Proklamation des Fürsten Windischgrätz, in welcher die Auslieferung der abtrünnigen Soldaten und anderer, noch zu bestimmender Individuen verlangt und alle Drohungen verschärft wurden, welche schon in der ersten Kundmachung Schrecken genug erregt hatten: Sturm, Militärherrschaft, Standrecht.
Die übergegangenen Grenadiere stürzten aufheulend die Gasse hinab, um den Menschen zu zerreißen, welcher die Unglücksbotschaft gebracht hatte. Der aber war verschwunden. Mit verzerrten Mienen kamen sie zurück, und wir blickten ihnen auch nicht viel trostvoller entgegen; selbst Gottschalk schwieg. Er vermochte nicht zu begreifen, wie er und die Seinen hatten weichen können.
Über dieses dumpfe Brüten sank ein nebelfeuchter Abend herab. Freudlos und todmüde hockten wir in der grauenden Bangnis der Vesperzeit beisammen. – Wie die Verstorbenen, welche an den geräuschlos fließenden schwarzen Wassern der Ewigkeit sitzen, starrten wir in dumpfer Ängstlichkeit vor uns hin.
Aber es kam Licht, es kam Wein. Das Lagerfeuer machte gesellig und überhellte die fahlen Gesichter mit der Farbe des Lebens, der Wein durchwärmte und ermunterte uns. Nun griffen wir auch nach Brod und Fleisch, das uns diese selben Bürger brachten, welche Zeiten der Not nicht vertragen können, welche aber auch keinen andern darben zu sehen vermögen.
»Daß die Seele es so sehr mit dieser armseligen Leiblichkeit hält,« sagte Gottschalk bitter lächelnd, nahm aber doch Speise und Trank schnell, fast gierig zu sich.
Zu guter Stunde kam auch der alte Bém. Wie glücklich, daß er uns in dieser Wiederbelebung erblickte, und nicht unter dem Drucke des vorigen Kleinmuts.
Jetzt wirkte sein Wort doppelt. Seine Augen blitzten lachend und voll Wohlgefallen auf uns, und er sagte: »Die Kompagnie des Herrn Gottschalk ist die beste, die wir haben.« Er sah in einen Zettel: »Ich nehme dabei Polen, Mährer und Steirer nicht aus! (Dies waren Béms Kerntruppen.) Es sind Helden,« fuhr er fort, »und ich ziehe den Hut vor ihnen.«
Wirklich lüftete Bém über dem grauen Haupt, um welches ein Verband lag, seinen Generalshut.
Da jubelten unsere Garden derart, daß es dem Militär von jenseits ein paar Schüsse herauslockte.
Der Rebellengeneral aber drückte Gottschalk, welcher allein ernst und ruhig geblieben war, die Hand und ritt weiter, von Hüten und Feuerbränden umschwenkt, und am nächsten Posten schon wieder begrüßt von begeistertem Jubel.
»Helden waren wir nicht,« raunte mir Gottschalk zu. »Aber es ist gut, wenn die es hören und glauben. Da sieh, wie sogar jene, welche am ersten ausgerissen sind, in heller Freudenröte strahlen und sich die Hände schütteln. Vielleich halten sie ihrem Ruhm zuliebe morgen besser aus. Hager! Wenn wir die besten sind, – wie lange wird sich Wien wohl halten?!«
Es wurde nun von der erheiterten Mannschaft lebhaft und mit stolzer Freude besprochen, daß Bém uns in einem fast reinen Deutsch angeredet habe und zum Zwecke solcher Vollkommenheit sogar auf ein Papier habe hinschreiben lassen, was er uns zu sagen gedenke. Auch solle der General gesagt haben, die Nußdorferlinie sei so glänzend verteidigt, daß er an dieser Stelle nicht notwendig wäre. Und wahrhaftig, – er wirkte von da ab fast nur mehr im Prater und in der Leopoldsstadt, wo unser Freund Bernewein in den Reihen der Steirer kämpfte.
Der hartnäckige Tiroler hatte von Wiener Kampfgenossen nichts wissen wollen. Er traute ihnen nicht, und Gottschalk verlor so einen starken Arm und eine starke Seele.
Am folgenden Tage stürzten unsere Mobilgarden nach den Zeitungen, um ihr Lob zu lesen. In einigen war unsere Kompagnie erwähnt, in anderen nicht. Béms Anrede stand noch nicht darin; die Garden trösteten sich, daß in zehn Stunden unmöglich schon etwas gedruckt sein könne und ließen sich von Gottschalk mit hellen Freuden in neue Kämpfe führen. Da mein Freund unsere Kompagnie an ihrem eigenen Vertrauen heranstählen wollte, so gebrauchte er heute die Vorsicht, jede Deckung zu benutzen, und selbst auf den Wiesengründen, welche wir zu übersetzen hatten, bewegten wir uns auf dem Bauche kriechend von Erdwelle zu Erdwelle; ja jeder Grenzstein und Schermaushügel wurde ausgenutzt. So kam es, daß wir an diesem Tage zwar keine Eroberungen machten, aber dem Militär viele Leute wegschossen, und großer Jubel ertönte, wenn bei dieser etwas hinterhältigen Kampfweise durch einen guten Schuß ein neues Opfer der in ihrem Stolz nicht anders als aufrecht kämpfenden Weißröcke zusammenbrach. Obwohl auch heute mit Kanonen auf uns geschossen wurde, hatten wir doch fast gar keine Verluste; die gräßlichen Unterleibsverletzungen fehlten ganz, und unsere wenigen Verwundeten waren stolz auf ihre Blessuren.
Um die Vesperzeit dieses Tages herrschte gehobene Stimmung; alle erwarteten ungestüm die Abendblätter, jedoch fanden diese Kinder in ihrer vielleicht verzeihlichen Eitelkeit viel zu wenig über ihre Heldentaten. Dagegen verstimmte es, daß Bém, während wir kämpften, auf der »Sandgstätten« zwei Garden erschießen hatte lassen: freilich wegen gröbster Insubordination und Notzucht; – aber diese derben und durch eine zügellose Zeit verrohten Gemüter konnten den Fehl eben nicht so todeswürdig finden und murrten.
Dazu ermüdeten die fortwährend auftauchenden und wieder hoffnungslos zerflatternden Gerüchte von der Ankunft der Ungarn aufs äußerste. Es wurde mit Beziehung darauf der Vers gebräuchlich:
Ein Schnaps in der Hand
Gibt mehr Mut und Verstand
Als zehntausend Ungarn
Im Maulmacherland.
Auch brachte die Zeitung des Hirsch schon seit einigen Tagen die gefürchteten Notizen gegen Gottschalk. Ich warnte unsere Handwerker vor dem Blatte und erzählte ihnen und dem Freunde von dem belauschten Gespräch. Gottschalk zuckte die Achseln und sagte: »Habe ich Erfolge, so sind sie stärker als die Zeitung; habe ich Unglück, so besorgt dieses ohne Hilfe des Hirsch das seine. Schwerer liegt mir das Schicksal meiner Mutter auf der Seele.«
Die Arbeiter und Grenadiere brummten gegen Hirsch, lasen aber dennoch was dieser schrieb. Gottschalks Stolz und Selbstvertrauen waren wirklich vorhanden und seine Sympathie für die Ungarn war bekannt; da blieb denn doch einiges hängen.
Die Frist, welche Windischgrätz uns Verzweifelten gesetzt hatte, war abgelaufen und wir sehnten uns nach dem Rausch des großen Entscheidungskampfes, in welchem ein ungeheurer Ring von Kanonen wie die Bestien einer Arena die Märtyrerin der Freiheit, die Stadt mit dem goldenen Herzen in ihrem geistigen Wappen, umbrüllen würde. Denn ich, vielleicht auch Gottschalk hoffte im Fieber der Schlacht das mahnende zweifelvolle Herz nicht mehr fragen zu hören: » Sind wir nicht allesamt nur die Prügeljungen von Fremden, welche im Trüben fischen wollen?«
Von den Ungarn war keine sichere Kunde und Gottschalks Untergebene hefteten mit jedem Morgen düsterere Blicke auf den jetzt Schweigsamen, der ihnen vor Tagen noch so beredte Versprechungen gemacht hatte.
Er selbst erhob sich an jenem Morgen mit irrem Blick vom Lager. »Hager,« sagte er zu mir, »ich habe drei giftige Pfeile in meinem Herzen stecken; die fressen an meiner Kraft. Der erste ist die Liebe zu Fiamma, welche ich nicht auszureißen vermag; doch diese Wunde ist mir verächtlich. Der zweite Pfeil drang tiefer ein: Meine Mutter liegt da draußen elend und verlassen im Sterben. Wenn mir nur einer Kunde hin- und zurückbrächte!«
Ich schwieg, aber in mir regte sich anschwellend der Jammer innigen Mitleids mit der verlassenen Frau. Ich beschloß in mir, daß ich mich an ihr Schmerzenslager durchschleichen würde. Mächtiger noch als das Mitleid zog und verzehrte mich die Sehnsucht nach der Geliebten, Guten, Treuen, welche an der Seite der hilflosen Frau vielleicht zügellosen Siegern ausgeliefert war.
»Und der dritte,« sprach Gottschalk weiter, während ich dieses dachte, »ist das herbste Weh: Mein göttlicher Vater ist tot.«
Ich sah ihn erstaunt an und er fuhr fort: »Denn daß dieser freiheitsvolle Halbgott nicht wie ein Adler herbeigerauscht ist, damit er mit uns kämpfend das neue Reich oder den heiligen Tod verdiene, das ist das letzte Wort des Verschollenen. Er ist tot und nie wieder soll ich ihn sehen. Ich wünsche aus inbrünstiger Seele, daß mich eine Kugel in dieser größten Erhebung, zu der ich bestimmt war, ihm nachsende. Von der Höhe meines Lebens, als ein Geweihter der Freiheit will ich in die selige Ewigkeit zu ihm hinübergleiten.«
Ich warnte ihn: »Es ist zu schön, als daß es wahr sein könnte, was deine Träume dir von deinem Vater sagen. Aber daß du dich nach deiner Mutter sehnst, ist menschlich und recht. Ich will zu ihr und will ihr Botschaft bringen, daß du sie liebst. Ja?«
Gottschalk sah mich halb froh, halb bedenklich an: »Erlaubt dir dein Gewissen, um so fremder Sache willen deinen Posten zu verlassen?« fragte er ernst.
»Mir ist es keine fremde Sache; hier am Wall bin ich nur einer, dort bin ich alles. Verschaffe mir einen Erlaubnisschein vom Oberkommando.«
»Freund,« sagte Gottschalk und nahm aus seiner Tasche ein Blatt Papier: »Der Versucher ist schon bei mir gewesen. Messenhauer hat von Hirsch meine Schandtat, wie viele es nennen, erfahren; daß ich die sterbende Mutter allein lasse. Dieser viel zu weiche Mensch sandte mir einen Passierschein mit den Worten: ›Sollte Ihr Republikanerstolz an der Flamme Ihrer Kindesliebe schmelzen, so ist Ihr Stadtkommandant der letzte, der es einem Menschen verdenken würde, wenn er als Mensch handelt. Vielleicht beliebt es Ihnen, von beifolgendem Blatte Gebrauch zu machen. Ihr Sie bewundernder Messenhauer.«
»Ein schönes Stück,« bemerkte Gottschalk dazu. »Der Kommandant muß sich bei uns Kämpfern, denn er ist keiner trotz seiner Erziehung, beliebt machen. Hirsch aber will mich aus dem Vertrauen meines armen Volkes schieben. Mein Fortgehen wäre sein Sieg. So haben beide an diesem goldenen Brücklein gebaut.«
»Gib mir den Schein,« sagte ich, und Gottschalk legte mir ihn fast feierlich in die Hände. »Ich verdamme und segne dich,« sagte er. »Du solltest nicht als ein Weichling fortgehen, aber mein Herz wird dennoch mit dir fliegen. Geh mit Gott und bringe mir den Segen meiner Mutter!«
Ich nahm einen Wagen. Der Fiaker fuhr mich schweigend durch den schmalen, für die Kanonen offen gelassenen Fahrsteig über die Linie. In guter Entfernung von der Stadt drehte er sich auf seinem Bock herum und zeigte mir ein wohlgelauntes Gesicht.
»Hoch sollen's leben, junger Herr,« sagte er, »aber z'ruck fahrt Sö der Schakerl nimmer! Fixtürken! Bin i froh, daß i aus dera Mausfallen draußt bin und zu meine alten Kundschaften kimm!«
Die Fiaker waren alle stark schwarzgelb gefärbt. Viele der charakterfestesten Bürger, ehrenwerte Männer hingen sich in dieser Zeit an die Knie ihres geliebten Vaters, des Kaisers und blieben ihm trotz Schimpf und Verfolgung treu. Aber mit einiger Bitterkeit mußte es diese reinen Seelen dennoch erfüllen, wenn sie bemerkten, daß die große Mehrheit nur durch fetten Besitz an der alten sichern Herrschaft klebte; sie wollte das gute, bequeme Leben weitergenießen, nichts weiter: Das war die Treue und Verläßlichkeit von vielen.
Vom niedern Volke aber war monarchisch die ganze Welt – – welche Trinkgelder nahm: Fiaker, Kellner, Portiers und Bediente. Denn Noblesse und Besitz waren geflüchtet, und die Demokraten, Studenten und sonstigen Idealisten aller Art hatten nicht viel.
In solchen Gedanken schwieg ich. Diesen Menschen zurechtzuweisen und ihm von Idealen zu reden, vermochte selbst ich trotz meiner optimistischen achtzehn Jahre nicht.
»Wohin wollen denn Sö, junger Herr,« fragte mich der lustige Fiaker von neuem.
»Zu einer Mutter,« gab ich einsilbig zurück.
»Recht habens, junger Herr,« rief er aus. »Da sans am allerbesten aufg'hoben: da hams a warms Platzerl, a guats Papperl und a weichs Betterl. Segns, dös g'fallt ma von Ihnen!«
Eine Kugel surrte an uns vorbei, ein Schuß knallte. Der Fiaker riß die Zügel an, die Pferde standen.
»Jessas Maria, junger Herr! Schmeißens ihnern Studentenhuat aus'n Wagen,« rief er erschrocken.
Er nahm mir den wehenden Stürmer ohne weiteres ab und warf ihn weit fort. »Da habens mein Stößer dafür,« flüsterte er freundlich und langte aus dem Bockverschlage seinen Zylinderhut heraus. »Dös ist die beste Legartimazion! So, und jetzt probiern mas auf einer andern Seite.« Und er fuhr, beständig ein weißes Taschentuch als Friedenszeichen schwingend, auf einen Seitenweg, gelangte dann auf die heutige Währingerhauptstraße und wir versuchten unser Glück von neuem.
Das Angstrohr tat Wunder. Zwar schallte uns auch am Rande von Döbling das »Halt, wer da« entgegen, aber der Posten nahm sein Gewehr gar nicht aus der Stellung bei Fuß.
»Juhu!« jauchzte der Fiaker. »Hoch der Kaiser!«
Ein Jäger-Unteroffizier trat lachend aus dem ersten Hause des Ortes. »Schon wieder ein paar Deserteurs,« rief er. »Na! Das Geschäft geht flott.«
Der Fiaker strahlte vor Vergnügen: »Jessas, die Freud! O, ös liabe Staudenhocker, daß i enk nur wieder siach, dös is a Herzstärkung für unseran! Der junge Herr Baron da will zu seiner Frau Mama.«
»Ich muß Sie aber doch auf die Hauptwache führen,« bemerkte der Unterjäger respektvoll. »Es ist nur Formsache; wir machen keiner ehrlichen Seele den Besuch bei uns schwer.«
Langsam fuhren wir durch die wohlbekannten Gassen bergauf. Mir bebte das Herz vor Sorge und Entrüstung, aber ich schwieg. Die Gasse war in der Nachmittagssonne fast verlassen; so erkannte mich niemand. Vor der Hauptwache saßen ein paar Jäger; sie erhoben sich, einer ging in das Offizierswachzimmer, und nach kurzer Zeit trat ein Grenadierhauptmann heraus, den Arm in der Binde.
Ich stand überrascht. Es war unser Hauptmann. Er aber schaute mich befremdet an; wohl ob meines Zylinders. Erst als ich den abnahm, schien er mich ganz zu erkennen und rief in Staunen aus: »Du Hager? Du kommst zu uns!!«
»Ja, Hauptmann, ich will dir alles erzählen,« sagte ich. »Lass' mich nur erst meinen Kutscher ablohnen.«
Ich trat an den Wagen heran. Das rote Fiakergesicht strahlte mir aus allen Mienen mit einer Herzlichkeit entgegen, daß ich ganz betroffen wurde über den fast zärtlichen Ausdruck dieser sonst nicht edlen Züge.
»Also per du sein's mit die Herren Offiziere,« sagte er, als ich ihm zwei Guldenzettel hinaufreichte. »Na, mein lieber Herr! Für so a Fuhr nimmt unseraner nix; war mir bloß ein Vergnügen!«
Ich stand erstaunt, der Fiaker grüßte mich, grüßte den Offizier und flüsterte mir zu: »Den Stößer schickens mir schon später. Der wird bekränzt! I bin der Zwarasechz'ger vom Alsergrund und stell bei mein Schwagern, dem Sonnenaufgangwirt im Kahlenbergerdörfel ein.« Ein Peitschenknall, und den Hut schwingend fuhr er fort.
Keinen Fuhrlohn, kein Trinkgeld! Ich war doch etwas beschämt ob meiner früheren Gedanken. Hatten auch diese Leute ihre Begeisterung?
Der Hauptmann zog mich in das kühle Wachzimmer, zu welchem uns die Jäger freundlich salutierend freie Bahn machten und schloß die Türe.
»Jetzt erzähle nur,« sagte der sonst so Finstere, mit freundlichem Druck meine Hand mit seiner gesunden Linken ergreifend. »Denn bloß erbärmlich übergelaufen bist du ja nicht?«
»Ich komme von Gottschalk zu seiner Mutter.«
»Zur höchsten Zeit,« murmelte der Offizier. »Warum ist er selber nicht da?«
»Es zernagt ihm ohnedies sein Herz, aber er sagt mit eurem Reglement: er dürfe seinen Posten unter keinen Umständen verlassen.«
»Unmenschlich und heroisch,« urteilte der Hauptmann. »Ich will dich nicht lange hier halten; es könnte zu spät werden. Sage mir nur noch: Wie steht es da drinnen?« Und er deutete nach der Stadt.
»Du verlangst doch nicht von mir, daß ich darüber berichten soll,« sagte ich mit schmerzlichem Vorwurf.
»Es steht also schlimm,« nickte er zufrieden. »Wir wissen, wir wissen. O, Freund, wenn du wüßtest, wie viele Augen dort drinnen durch das Fernglas den Blitz unserer Bajonette suchen, und daß ihre Herzen bei dem Anblick jubeln, als wäre es die verlorene Sonne selbst, die zurückkäme, du würdest auf deine Republik verzichten ewiglich!«
»Ich sah von solchen Menschen nicht viel,« wich ich aus.
»Ei, die wirst du erst nach unserem Siege bemerken,« meinte er ironisch. »Doch Sieg: Das ist ja kein Sieg. Nach geschehener Straßenreinigung also. Und jetzt laufe, fliege zu der armen Frau und sag ihr, daß ich in Liebe um sie besorgt bin.«
Ja: Ich flog in dem sich neigenden Nachmittag die Gäßchen hinauf, in zehrender Sorge, es möchte zu spät sein. Im Garten sah ich Grethe. Eine Röte herzlicher Freude flog über ihr blasses Gesichtchen; sie blieb stehen und erwartete mich, der ihr ohne anzufragen um den Hals fiel. Sie duckte das Köpflein und mein Kuß erreichte nur das ambrosische Haar, dann wand sie sich ernst von mir.
»Hohe Zeit,« sagte sie, »daß euer einer kommt; denn nach Hans frage ich gar nicht mehr. Die Mutter begehrt in den Garten. Helfen Sie mir gleich ihr Bett tragen?«
Ich ging mit ihr und trat in das Zimmer, in welchem Frau Gottschalk mit geschlossenen Augen auf einem Feldbett lag, auf welches die Mädchen sie getragen hatten, da sie nach der freien Luft verlangte. Der Arzt hatte alles erlaubt.
Fiamma saß an ihrer Seite und las. Als die Überraschte mir entgegensah und grüßend aufstand, wendete sich mir das Titelblatt ihres Buches zu: Rinaldo Rinaldini, der große Räuberhauptmann. Ein Hausierer mochte es unter die Türe gesteckt haben, und das war nun der geistige Trank, welchen die rätselhafte Mignon meines Freundes Hirsch in sich sog, an dem Bette einer Sterbenden.
Ich sah die Frau an, deren ehemals rundliche Züge durch Blässe und Abmagerung eine innige Geistigkeit erlangt hatten.
»Schläft sie?« fragte ich.
Da taten sich zwei traurige Augen auf und sahen mich an.
»Sie, Herr Hager?« fragte sie, und ein seliger Gedanke begann sich vom Grunde eines verschütteten Brunnens der Hoffnung emporzuarbeiten. Die Trauer schwand, das Antlitz begann zu leuchten.
»Sie kommen am Ende gar – – –!« begann sie stockend.
»Von Hans,« sagte ich.
»– – – den Besuch meines Sohnes ansagen?« fuhr die unbeirrte Stimme, in welcher ein verdecktes Jauchzen hüpfte, fort.
Ich fühlte, daß das Ende dieses Lebens voll Liebe mit gramschwarzen Flügeln nahe herankreiste, und ich beschloß, mit bewußter, heiliger Lüge diese trostlos dunklen Fittige leuchtend zu vergolden.
»Ja,« sagte ich mit ernster Zuversicht: »Hans Gottschalk kommt.«
»O Gott und ihr seligen Engelein!« rief die zerbrechende Stimme: »Wann?«
»Wenn es Abend wird. In der Dunkelheit wird er sich durch alle Vorposten zu seiner geliebten Mutter schleichen.«
»In den Garten, ihm entgegen,« rief die alte Frau. »O, in den Garten!«
Margarethe sah mir zweifelnd in die Augen. Fest und fröhlich hielt ich ihren Blick aus, da hatte sie ein schwaches Lächeln der Hoffnung. Auch Fiamma lächelte, aber mit bösen, zornigen Augen.
Ich trat an das Fußende des Bettes, die beiden Mädchen zu Häupten der selig an die Zimmerdecke blickenden Frau. »Angefaßt,« befahl ich.
So trugen wir die, ach so unirdisch leicht gewordene Last der einst behäbigen Hausfrau über die Treppe, und ich hielt das untere Ende hoch auf meinen Schultern, damit das Bett wagrecht bleibe.
Im Garten, welcher herbstlich warm durchsonnt war, hielten wir. »Unter meine Linde,« bat die kranke Frau.
Da trugen wir das Bett an einen, von der tiefstehenden Sonne voll getroffenen Fleck unter der Linde, die als ein überreicher Goldbaum in wunderschöner Herbstherrlichkeit ragte. Halblaut sprach im Traume das Geflüster ihrer geschmückten Zweige unverständlich Runensätze.
»O du himmlische Stadt,« sang leise die todesnahe Frau. »Geht die Sonne bald unter?«
»Noch nicht,« sagte ich.
Wir saßen still und atmeten um die Frau in bangem Dreieck, als sollten drei vorsichtige Windbälge ein verlöschendes Kohlenfeuer glimmend erhalten.
Die Sonne stand tief und schräge schoß ein ungeheurer Goldlichtstrom an der Linde vorbei über den Garten gegen die ansteigende Wiese im Hintergrunde. Dort zeichnete er riesenlang die gitterhaften Schatten des Gartenzaunes auf die goldbraune Rasenfläche.
Die arme, irre Frau sah hin. »Wir sind noch nicht frei,« sagte sie. »Ei, du goldenes Gefängnis!«
Das gewaltige Licht, das Schweigen und die wundervolle Furchtbarkeit unseres Wartens auf den schrecklichsten aller Engel machte mich wie trunken. Wunderlich kreiste mein Blut.
Die alte Linde kam mir tausendjährig vor und wir ernst Harrenden, wie in uralte Zeiten zurückgetaucht, verzaubert.
»Erzählen Sie mir doch von Hans, bis daß er selber da ist,« bat die liebende Mutter.
Da begann ich voll feierlicher Lichttrunkenheit, im Tone alter Psalmen von ihm, der so ganz anders war als wir, zu reden:
»Selig bist du Mutter, weil du die Größe geboren hast. Dein Herzleid um den Sohn war übermenschlich, weil er selbst es ist. Fleisch und Blut haben keine Gewalt über ihn und er steht vor allem Volke leuchtend als Held.
Sein Leben ist ein Opfer und sein Herz eine Liebe und Sehnsucht, größer als eines andern irdischen Mannes.
Er liebt dich. O, er liebt dich mit der Liebe eines weichen Kinderherzens. Aber er muß leben mit der Liebe eines Mannes, und viele sind, welche warten und hoffen auf diese Liebe.
So bleibt er dir nicht im Hause und nicht am Tische, sondern er ißt in währender Arbeit, und in währendem Essen arbeitet er, wie er es im Wachen und im Schlafe tut, denn das Feuer, das die Erde schuf, ist in ihm.
Er ist aus dem unzerstörbaren Metall der Gewaltigen, und wenn er nicht gewaltig hier auf Erden wird, so geschieht es, weil ihn Gott oben braucht als Führer für eine seiner Scharen. Dort findet ihn die Mutter und segnet ihn, wenn er auszieht, den Tag über die Erde zu tragen.«
»Ja! Ich segne ihn,« hauchte die in Seligkeit bebende Frau, und immer ergriffener fuhr ich fort:
»Wie die Sonne brennt seine Liebe flutend auf dich, die ihn getragen, und wie die Sonne leuchtet sie zugleich über alles Land umher. – – So groß ist seine Liebe und sein Gedenken an alle, die eine Sehnsucht haben.«
Der Abendwind kam und die Linde streute ihre wunderschönen, tanzenden Herzen über die in Träumen entrückte Frau. Sie fühlte die Blätter aufschlagen und griff an den Bettdecken umher.
»O,« sagte sie. »Sie sollen mich bedecken!«
Wieder rauschte ein wohltönender Windhauch auf; mit ihm aber knarrte der wetterwendische Hahn auf dem Dache des Gartenhäuschens.
»Da geht die Türe!« sagte die Frau mit einem sonnenvergoldeten Lächeln. Sie wartete ein wenig.
»Ja? Ja?« fragte sie dann mit einem Kinderlockton in der Stimme.
Aber nur ein neuer Schauer von Blättern löste sich mit diesem Abendhauch und rührte an ihr Antlitz und ihre Hände.
»Hans!« jubelte sie leise und sah glückselig gerade über sich in das blasse Blau des Himmels hinein.
»Ja,« sagte ich mit überzeugter Festigkeit. »Er kommt. Er kommt mit seiner Seele, wenn ein starrer Irrtum auch seinen Körper halten würde.«
Die Mutter lächelte.
»Der Segen seiner geliebten Mutter wird ihn erlösen.«
Immer noch lächelte die Seltsame mit demselben verklärten Zuge. Ich fragte: »Mutter?«
Sie antwortete nicht mehr.
Da sah ich in ihre Augen und erkannte, daß es Zeit geworden war, sie ihr zuzudrücken.
Dann blickte ich in schauernder Ergriffenheit Margarethe an. Die stand regungslos, aber wundervoll rollten die leuchtenden Tränen über das tiefbewegte, reine Antlitz.
Fiamma, die wandte sich und ging in das Haus. Ich nahm Margarethe an der Hand und trat mit ihr zur toten Mutter des Freundes.
»Sie ist selig entschlafen,« sagte ich.
Da rief sie aus: »O, das hast du schön gemacht!« und sie schlang ihre Arme um mich und küßte mich auf den Mund.
Von jenem Abend der vergoldenden Lüge an gehörte sie mir.
Die Mutter hatte sich schon vor meiner Ankunft mit den Tröstungen der Religion beruhigen lassen, all ihre Geschäfte von dieser Welt waren mit rührender Sauberkeit geordnet, – ich hatte für den unglückseligen entfernten Freund nur mehr die letzten Vorkehrungen zu treffen.
Keine Glocke läutete zu ihrer Einsegnung und keine zu ihrem Grabe, denn die Turmstimmen, welche so lange Zeit zu Sturmrufen mißbraucht worden waren, mußten schweigen, um nicht neue Verwirrung zu erwecken.
Ein langer Zug ging mit uns in Liebe und Trauer hinter dem Sarge, aber auf allen Mienen stand die düstere Frage: Wo bleibt der Sohn?
Von diesem Augenblicke an wendeten sich vor seiner harten Größe viele Herzen ab, welche bis dahin noch trotz militärischer Besetzung des Ortes an seinen Hoffnungen gehangen hatten.
Ich kehrte in der grauen Frühe des 28. Oktober durch Erlaubnis des Hauptmanns und mit einem Herzen, in welchem süß belohnte Pflicht einen freundlichen Gesang anstimmte, zu meinen Barrikaden zurück.
Als ich meinen, vom Fiaker verschleuderten Sturmhut im Straßengraben suchte und fand, rief mich eine klare, kalte Altstimme beim Namen. Ich stand, den beschmutzten Hut in der Hand, reglos erstaunt, denn ich hatte Fiamma erkannt, welche auf mich zukam. Sie trug ein Bündel.
»Ich bleibe nicht bei Margarethe! Nimm mich mit,« sagte sie kurz.
»Weißt du nicht, daß der Kampf in einer halben Stunde wieder losbrennen wird? Daß uns nur der Morgennebel schützt,« rief ich aus. »Was hast du da umherzuzigeunern, du braunes Ding!«
»Sie werden noch nicht schießen,« sagte sie zuversichtlich. »Und in dem alten Häuschen bleibe ich nicht mehr. Es war heute Nacht entsetzlich! Der Boden kracht, und dann seufzt es da und hustet dort, und tappt und schleicht und atmet schwer; ja, ja!«
Sie schwieg und schaute sich furchtsam in der tiefgrauen Nebelstille um, dann sagte sie: »Die alte Frau geht um und sucht ihren Sohn.«
Ich antwortete diesem Aberglauben nichts mehr. »Komm nur schnell,« sagte ich, »solange uns der Nebel schützt.« Und wir schritten durch das Schleiergrau, welches im Morgenwinde zu treiben begann. Wunderlich geschlungene Säulen drehten sich zusammen, da und dort trat ein ferner Baum hervor, so daß man einen dunklen Hintergrund hatte und erkannte, wie es den feuchten Atem einer Herbstnacht an ihm vorbeitrieb.
»Schauerlich,« klagte Fiamma mit unwilligem Ton. »Alles ist noch immer so schauerlich. Wann endlich wird es völlig Tag sein?«
Ich drängte: »Schnell, nur schnell! Hörst du sie schreien? Dort ist die Linie.«
An wüstem Lärm erkannten wir zuerst, daß wir den Bezirk der Stadt wieder betraten. »Wenn sie dich anrufen, so gibst du als Antwort: Die Ungarn kommen,« riet ich ihr mit Hohn im Herzen. »Da glauben sie dir alles. Lüge dann nur weiter, was dir einfällt!«
Jedoch hatte es keine Not mit dem Einlaß. Eine einzige Wache rief uns an. »Student! Akademische Legion,« antwortete ich und fuhr sogleich fort: »Was gibts denn da für Zetermordio?«
»Sie zünden einem Schwarzgelben sein Kaffeehaus an,« war die Antwort, und mir voraus eilte der Posten, welcher vor Neugier Pflicht und Notwendigkeit vergaß, nach dem Herde der Aufruhres. Fiamma wollte mit; ihre Augen blitzten vor Aufregung.
»Ich lasse dich allein,« drohte ich. »Leb' wohl!«
»Nein, nein,« schrie sie ängstlich. »Bringe mich zum Doktor Hirsch. Er weiß ein Unterkommen für mich.«
Da die Kanonade immer noch nicht begann, reizte mich eine perverse Lust den Teufel zu spielen, und diese verworfene schöne Maske ihrem Verführer ungewarnt auszuliefern; es war ja doch ihr Schicksal. »Was wird er mit dir tun?« fragte ich im Fortschreiten durch die aufgewühlten Gassen, in denen die Empörung eben ausgeschlafen hatte und neu zu wirbeln begann.
»Er wird mich auf Händen tragen,« erwiderte sie.
»In sein Bett,« warf ich rücksichtslos trocken hin. Fiamma schauerte zusammen und ging nur noch schneller.
»Du willst es und verdienst es auch,« brummte ich. »Aber warum hast du nicht einen andern ausgewählt; den Hulle?«
»Der macht ja doch nur seinen Spaß mit unsereinem.«
»Oder den Wieninger?«
»Der hat schon eine schöne, verheiratete Frau zur Geliebten.«
»Oder mich?«
»Nein, sieh nur! Du möchtest mich?« sagte sie mit einem innerlichen, girrenden Lachen, welches vom Kuckuck und der Taube den Ton genommen und wahrhaftig ein tief Berückendes hatte.
»Gesetzt den Fall,« sagte ich, »ich wäre in dich verliebt.«
»Ach, du? Du zitterst nicht, und deine Augen brennen nicht, und du wirst gar nicht blaß,« sagte sie halblaut.
Aber dieser geheime Ton, dann meine Jugend und das Neue des Erlebens machten nun doch, daß ich die Fassung zu verlieren und von all dem, was Fiamma verlangte, ein weniges zu fühlen begann.
Ich wollte in leichtem Tone reden. Schon das erste Wort zerpreßte sich mir zu undeutlichen Lauten. Ich sah ihre blaugeäderten Hände an, ihre schlanke Biegsamkeit und ihr reizvolles Antlitz, in den schwarzen Gegensatz der Haare gerahmt. Der Duft der fremden Giftblüte begann zu wirken.
Da schaute auch sie mich an und blieb stehen. Es war in einem ganz verlassenen Gäßchen, in welchem noch das Halbgrau des Morgens träumte. Ihre Augen flammten anfragend in die meinen; sie war bleich geworden, und wieder lief das böse, feindselige Lächeln um ihren Mund.
»Du bist schön,« sagte sie zögernd. »Ich möchte doch einen der Margarethe gänzlich abspenstig machen. Ihr zuleide könnt' ich dich lieb haben.«
Ich zuckte zurück, – der Zauber war gebrochen. Der helle treue Name meiner Lieben sprudelte augenblicklich wie eine Waldquelle über meine Glut, und in aufatmender Befreiung antwortete ich: »Nein, das wäre nichts, Margarethe zuleide nicht. Das wäre keine Liebe.«
»Margarethe nimmt dich doch auch nur dem Hans Gottschalk zum Trotz,« lachte sie. »Komm nur. Wer mich haben will, der holt mich schon.«
Ich dachte in Unbehaglichkeit über ihre Worte nach. Der holde Friede meines Herzens war nicht mehr ungestört. Gottschalk zu Trotze nähme mich Margarethe? Nein, das nicht. Aber sie nahm mich hin, weil sie den Größeren, Gottschalk, nicht verstand und weil es ihr vor ihm graute. Denn verstände sie seine Größe, sagte ich mir, so würde sie mich neben ihm gar nicht bemerken. Das war unabweisbar, und diese herbe Erkenntnis schlug ich mir, wie ein Büßer den zackigen Feldstein, gegen die Brust. Es tat mir wohl, mich zu quälen; es machte mir den Barrikadenkampf, vor welchem ich mich durch mein Glück verweichlicht gescheut hatte, wieder zur Notwendigkeit.
Jetzt suchte ich mit Fiamma den Doktor Hirsch auf der Aula, welche, wie ich gehört hatte, sein ständiger Aufenthalt war, und über deren Treiben er seinem Blatte referierte. Gottschalk und ich hatten jenen Platz der Unruhe in den Oktobertagen nie betreten. Dort unter den Rednern und Salbadern werde ich zu nichte, hatte er einst gesagt. Mein Schicksal und meine Größe darf ich nicht haschen; sie müssen an mich kommen und mich heben, ohne daß ich mich bewerbe.
Er wartete unverbrüchlich und mit fatalistischer Sicherheit auf das ungeheure Ereignis, das ihn an die Spitze aller Hoffnungen werfen mußte. Ich habe die Mission meines Vaters zu vollenden, war sein Wort; ich weiß an ihm, daß ich berufen bin. Die Erwählung aber ist Sache einer geheimsten Urmacht, welche sich nichts abschwätzen läßt.
Heute sah ich mit der Aula das Bild eines gestörten Ameisenhügels, hörte den Lärm eines Jahrmarktes, das Überbieten von Eitelkeiten einer Komödiantentruppe. – – Nein! In der Aula waren nicht viele von den Helden des Oktobers. Die glühendsten der Studentenherzen, die Entschlossenen, die Charaktere, der Ernst und die Höhe her akademischen Jugend blieben der Aula ferne. Einzeln und in kleinen Freundschaften standen sie, wie Gottschalk oder Bernewein, draußen an den Linienwällen mit ihrem armen, vertrauenden Volke zusammen, und waren durch das unbeschreibliche Hochgefühl beglückt, als ganze Männer zu handeln. Von diesen kehrten nur wenige dem Jahre achtundvierzig lebend den Rücken.
Ihre Namen sind von einem schwachen Volke, das allzugerne redet und reden hört, vergessen. Ich wünsche, daß dieses Buch durch den einen Charakter, den ich der schweigenden Vergangenheit entreiße, jenen Edlen mit ein Denkmal sei.
Auf der Aula also!
Hirsch, welcher die Türe scharf im Auge behielt, um alle Kommenden mit Gebühr notieren zu können, sah uns, sprang auf und rannte uns beide geradezu wieder hinaus. Er mochte wohl seine schöne Beute nicht von den lüsternen Kollegen bemerkt wissen.
So kam es, daß ich von meinem einzigen Eintritt in die Aula des Oktobers nur mehr eine Empfindung habe wie ein Mensch, welcher im Theater dem Schauspiel folgt: Neben ihm wird eine Türe aufgerissen, – er sieht einen Augenblick unerfreuliches Zwielicht, hört die Verwirrung der Gasse lärmend aufrauschen, dann schließt sich die Türe wieder, und er horcht von neuem dem erregten Sturm der Tragödie.
Denn eine Tragödie spielte jetzt mit krassen Larven in allen Gassen. Wut und Angst! wie ich immer wieder sagen muß. Heroismus und Feigheit, Opfermut und schamlosester Egoismus! Ein gemäßigtes Mittelding jener Extreme habe ich in jenen Tagen nicht bemerkt.
An der Linie brüllten die Kanonen, schnatterte das nervöse, kleine Gewehr, – ich eilte gewaltig. Schon stand die Sonne hoch und es wurde warm, was jener Oktober täglich vermochte. Ich hatte weit zur Nußdorfer-Linie.
Als ich dort ankam, ließ der Kampf eben nach, und gewaltig rauschte mir ein Jubel entgegen. Wahrscheinlich wieder die Ungarn, dachte ich geringschätzig.
Ja! Es war! Die Ungarn waren wieder einmal angesagt, und ich wußte nicht, daß es diesmal Ernst war. Eine edle Regung zu ihren Opfern hatte sie nun doch über die Grenze gezogen; im Augenblicke der höchsten Not, da uns, wie ich hörte, der Prater, ein Teil der Leopoldstadt und die Brigittenau nordöstlich, Gloggnitzer Bahn, Belvedere und Schönbrunn südwestlich scholl entrissen waren.
Die Nachrichten klangen dringlich, überzeugend. »Und,« jubelten mir die Leute entgegen, »es hat eine ungeheure Wirkung gehabt! Zwei Grenadierbataillone sind mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen bei der Währingerlinie zu uns übergegangen!«
Mein Herz entsetzte sich vor der Größe dieser Nachricht und meine Jugend glaubte sie viel zu gerne. »Wo ist Hans Gottschalk?« rief ich, sinnlos vor Freude.
»Eben an der Währinger Linie,« jauchzten sie.
Da konnte kein Zweifel sein; Gottschalk log niemals. Ich schritt aus, so schnell ich es vermochte. Der Kampf begann indessen auszuatmen; bald ruhten auf beiden Seiten die Waffen. War ein Parlamentär hinübergegangen? War es die Mittagshitze oder jenes gewaltige, zum zweitenmal in diesem Monat ebenso unerhörte Ereignis der Fahnenflucht?
Ich ging am Linienwalle dahin, denn ich wollte unsere Feinde jenseits im Auge behalten. Es war das Schweigen der ersten Nachmittagsstunde und deren toter Sonnenschein.