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Im Oktober des Jahres 1847 ließ ich mich, nachdem ich mit achtzehn Jahren die Reifeprüfung abgelegt hatte, auf der Universität Wien als Hörer einschreiben, und zwar sollte ich auf Wunsch meiner Mutter Mediziner werden. So kam es, daß ich in der Alservorstadt wohnte, wo ich die Bekanntschaft eines kleinen rothaarigen Juden machte, welchen die Kollegen Doktor Hirsch nannten.
Nicht, daß er Doktor gewesen wäre: er hatte seine Studien wegen bitterer Armut vorzeitig abschließen müssen; wir aber gaben ihm in unserem Kreise als Trost und Trotz jenen Grad. Der nervöse, idealdenkende junge Mensch dauerte uns tief. Er war so arm, daß wir ihm mit unseren Kleidungsstücken aushelfen mußten, und als er ein schmales Stellchen als Berichterstatter bei einem der Wiener Tagesblätter erlangte, wurde es nicht viel besser. Denn der fleißige kleine Idealist gab fast sein ganzes Geld für Bücher dahin und wohnte aus Liebhaberei den Vorlesungen philosophischer Fakultät bei, zu welchen er auch mich zog – das heißt, wenn mich nicht mein Herz schon früher dorthin gezogen hätte.
Besonders liebten wir die Kollegien eines Lehrers, welcher in jenem Winterhalbjahr über den ethischen und ästhetischen Gehalt klassischer Dichterwerke las.
In der Bankreihe vor mir pflegte ein hagerer Mensch mit einem interessanten Catoprofil zu sitzen. Er zählte etwa fünfundzwanzig Jahre und gehörte zu den älteren Schülern des Professors, an welche dieser in zwanglosen Kolloquien gerne das Wort zu richten pflegte.
Da ergriffen mich nun die knappen, herben Antworten des Studenten ebensosehr, wie sein gedankenvolles Antlitz, welches schön, aber sonnenlos, ja düster war. Hinter diesen Zügen schienen mir feurige, stolze Werte verborgen, denn sie belebten sich manchmal mit fanatischer Erregtheit.
Ich hätte ihn gerne kennen gelernt. Aber er kam und ging allein: immer von schwermütigen Gedanken beschattet, stets eine Hand auf dem Rücken und mit einem Gange, welcher nicht ganz zu der wilden Bestimmtheit der Meinungen paßte, die ich ihn aussprechen gehört hatte.
Einer meiner Freunde, Hulle, ein windfideler Maler, welchen ich einst auf diesen Studenten aufmerksam machte, nannte diese Art zu gehen »lyrisch dahinsegeln«. Mir aber schien es ein anderes, was sein Haupt so sehr gegen die Schulter niederbeugte, daß die ganze Haltung wirklich einem mit Seitenwind streichenden Segel zu vergleichen war: Bodenlose Schwermut.
Dieses mein Interesse steckte Hirsch und andere Freunde an. Zuletzt hatte sich ein kleiner Verein fast verliebter junger Leute gebildet, die ihn alle kennen lernen wollten.
Es rührt sich in feinfühligen Jünglingen eine große Neigung, sich an Genossen von nicht viel höherem Alter anzuschließen, welche durch bestimmte und originale Gedanklichkeit einen Halt und ein Vorbild verheißen. Ich gehörte zu jenen schwachen Knappennaturen, denn mich hatten Weiber erzogen und es dauerte lange Zeit, bis ich das verwunden hatte, mich meiner weichen Liebenswürdigkeit schämte und härter wurde. Denn als ich aus den Händen von Mutter, Tanten und wunderschönen Cousinen kam, war mein Gehabe ein wahrhaftes Hosenrollenspielen. Nun suchte ich vorerst das Harte am anderen, und an dieser Härte wollte ich lernen, ganz Mann zu werden.
Mit Hans Gottschalk, so hieß jener Student, hoffte ich größer zu werden. Der wollte etwas; das fühlte man. Selbst seine oft wunderlichen Irrtümer zogen durch ihre eigenartige Herbheit an.
Einstmals lasen wir auf der Universität den Hamlet, und der Professor fragte, ob sich einer von uns Gedanken gemacht habe über den Grund von der Unentschlossenheit und Schwermut des Königsohns.
»Angeboren« halfen sich die meisten achselzuckend heraus, oder sie hielten sich an das Wort des frauenhaft einfachen mütterlichen Urteils:
»… es ist nichts anders als das Eine:
Des Vaters Tod und unsre hast'ge Heirat.«
»Wie denken Sie hierüber, Herr Gottschalk!?« fragte der Professor, indem er über eine originelle Antwort schon im voraus lächelte. Und Gottschalk sagte:
»Hamlet ist der Sohn eines Helden. Ein Held sollte immer der Letzte seines Stammes sein, denn wenig ist niederdrückender, als wenn »Wichte zwischen Himmel und Erde herumkriechen«, wie sie Karl der Große, Heinrich der Fünfte von England, – auch wohl Goethe und Mozart zu Söhnen hatten! Das Gefühl, den Ruhm eines Riesen auf unwürdigen Schultern weiterschleppen zu müssen, erdrückt Hamlet. Jeder Sohn hat die Pflicht, größer zu sein als der Vater: sonst war dessen Ehe ein Geschäft, bei dem er betrogen wurde. Die Beliebtheit der Dichtung spricht dafür, daß die Menschheit ganz allgemein ihre tiefste Tragik empfindet: Daß Fortpflanzung fast nie Verbesserung bedeutet!«
»Aber, aber! Herr Gottschalk,« lächelte der Professor: »Sie würden zum Beispiel die Dynastie der Hohenzollern mit Friedrich dem Großen, oder jene der Habsburger gar schon mit Rudolf dem Ersten aussterben lassen?«
»Diese Frage Herr Professor,« entgegnete Gottschalk nachdenklich, »ist eine gefährliche Frage in Anbetracht dessen, daß ich eine unbesonnene Antwort darauf geben könnte.«
Ein peinliches Schweigen entstand. »Gehen wir wieder auf Hamlets Schwermut zurück,« sagte der Professor. Die Vorlesung verlief von da ab ohne Debatte.
Als es schon Frühling wurde, kannte ich Hans Gottschalk immer noch nicht.
Ich hatte ihn wohl einmal zu meinem frohen Schreck zusammen mit einem Vetter von mir gesehen, einem Hauptmann des Reservestandes, der als außerordentlicher Hörer die Universität besuchte.
Freundschaftlich waren die beiden in der Richtung gegen Döbling fortgegangen, wo der Hauptmann in einem Gasthaus zu Miete wohnte. Aber dieser Vetter stand in unserer Familie als grober, hagestolzer Sonderling, ungezogen gegen Damen und als ein trostloser Pessimist abgeschildert, und ich scheute mich, auf der Gasse an ihn heranzutreten.
Es verging eine Zeit, aber ich sah die Zweie nicht wieder beisammen.
Da kam der März des Jahres 1848 und in ihm die große Begebenheit, wie wir Studenten mit feierlich brennenden Herzen vor der Hofburg standen, in deren Fenster Kaiser Ferdinand seine Hand auf die schwarz-rot-goldene Fahne legte.
Ich war in den hintersten Reihen der Studenten, neben mir ein reicher Lederersohn, dann kam Gottschalk.
Volk hatte sich zwischen uns gedrängt, und als die wunderbar ergreifende Szene entstand und wir dem herzensguten Herrn und Vater, der unser Panier ergriff, in Freudentränen zujauchzten, da machte sich ein kleiner, verwachsener Mensch an uns, ein Buckliger, mit unglücklichen Gesichtszügen, welche aber jetzt vor Begeisterung zuckten. Aus seinem überquellenden Herzen sprach er den Studenten neben mir an: »Gestatten Sie, daß Ihnen ein deutscher Mann die Hand drückt?«
Er war an den Unrechten gekommen. Peinlich berührt, maß der verwöhnte Hausherrnsohn den Höcker und die Armut der Erscheinung und hätte sich am liebsten nichts hören gemacht.
Da streckten Gottschalk und ich dem Zurückgewiesenen in Wärme die Hände hin; dieser leuchtete glückselig über das ganze Gesicht, da wir ihm jeder eine Hand schüttelten. Gottschalk und ich aber schauten uns zum erstenmal als Bekannte in die Augen.
Wie dann der festliche Umzug, welcher diesem Augenblicke der Verklärung folgte, vorüber war, ging ich noch eine kurze Weile mit ihm.
»Wie darf es einem Studenten vor dem Elend grauen, das er später als Arzt, als Lehrer, als Anwalt verbessern oder beschützen soll!« rief ich.
Gottschalk sagte: »Ich denke, der reiche junge Mensch ist jetzt allein und schämt sich. Vielleicht hat diese Schwäche ihm sein verdorbenes Bild gezeigt und er geht es ausbessern. Die Zeit ist groß und man wird es in ihr. Vielleicht auch bleibt das Wort von dem Kameel und dem Nadelöhr zu Recht bestehen und er schimpft zu Hause über die Zudringlichkeit des Pöbels … Leben Sie wohl!«
Ich widerredete zögernd: »Wir sind heute doch alle Brüder geworden, und so wage ich zu sagen: Leb wohl, und: Auf Wiedersehen!«
»Wenn dich die äußere Form freut,« lächelte der neue Freund: »Leb wohl denn!«
Nach diesem sah ich ihn manchen Tag nicht wieder. Der März verstürmte die Felder mit neuem Schnee, aber seine letzten Tage wurden herzwarm und sonnig.
Da schlug ich mich einst in Döbling an den Zäunen entlang und sehnte mich nach Veilchen. Auf den Straßen saßen die Goldammern und ganze Seen von geschmolzenem Schnee krausten sich in den Gräben unter dem Winde. Mir war recht zum Singen und Jubilieren, der Frühling wirkte wie ein leichter Rausch. Da sah ich auf einem besonnten Zaunweg Hans Gottschalk daherkommen, und das Wiedersehen durchfuhr mich als ein froher Schreck.
Er ging melancholisch zwischen den sonnenwarmen Hagungen dahin und war in Gedanken, so daß er mich nicht sogleich erkannte. Unser Wiedersehen schien ihm halb eine Störung, halb angenehm zu sein. »Du gehst auch allein?« fragte er.
»An einem solchen Tage weiß ich mir niemand, den ich mit mir haben möchte außer einem, der selber gern allein geht,« gab ich zurück und lachte. Er erzählte mir im Weiterschreiten einen in Deutschland geläufigen Witz: Ein Österreicher habe zu einem neuen Bekannten gesagt: Sie gehen gern allein? Ich halt auch. Wissens was? Da gehn wir mitsammen … was ihm, Gottschalk, nur äußerlich ungereimt erscheine, denn die beiden Einsamen werden sich manches zu sagen haben. »Auch du bist viel allein,« fuhr er fort, »und ich habe mich schon darüber gewundert.« »Warum?« fragte ich.
»Du schienst mir oberflächlich,« antwortete er. »Ich habe von dir noch wenig Gutes vernommen. Im Hörsaal hast du noch stets von schönen Weibern gesprochen.«
»Zu solchen, welche nichts Besseres hören wollen,« rief ich aus.
»Das lasse ich gelten,« gab er zu und ich beklagte mich: »Gottschalk, es läge mir daran, daß du besser von mir denken möchtest.«
»Ich halte dich für einen ganzen Menschen,« urteilte er, »weich, heiter, gutherzig und beweglich. Du bist wahrscheinlich viel besser als ich. Man liebt dich allgemein … mit mir hält man nicht einmal eine Freundschaft aus.«
»Ich möchte mich's wohl getrauen,« meinte ich. Er schwieg und in mir stieg eine leise Beschämtheit auf, daß ich mich um die Freundschaft eines Menschen bewarb, an dem mir vielleicht nur das gedankenhafte Hängen des Kopfes und das schiffartige Hinstreichen im Hauche einer Idee gefallen hatte. Endlich sagte er: »Wir dürfen wahrlich öfter zusammenkommen, denn wir sind vielleicht unter vielen Vernünftigen die beiden einzigen Narren.«
So gingen wir nebeneinander: er die eine Hand auf dem Rücken, ich beide, – und sprachen …? Ei, damals sprachen wir nur vom Theater, von Gemälden, Künstlern und von der Philosophie. Es war eine schöne, reine Stunde, und Gottschalk schien so wenig beunruhigt wie ich selbst von der Erregung jener Zeit, von der ich ohne jedes Mißtrauen geradezu den Himmel auf Erden erwartete.
Es war noch nicht Oktober.
Von jenem Märztage ab sah ich Hans Gottschalk dann und wann noch in den Vorlesungen, aber das Semester ging bald zum Schlusse und die Ferien trennten uns.
Dann, als der Mai mit seiner Sturmpetition vorüber war und die politischen Errungenschaften des Frühlings gesichert schienen, ging ich zu meiner Mutter auf das Land.
Hinter mir lag eine heitere, geschlossene Rechnung. Das liebe Deutsche Reich wird sich von neuem erheben und eine goldene Zeit bricht feierlich heran, sagte ich mir. In ihr will ich mich ganz der Natur weihen. In doppelter Freude will ich leben: über ein glückliches Menschengeschlecht und im Gefühl der Gottheit, welche sich gleichmäßig in Wolke, Berg und Baum, wie in das Menschenherz verteilt hat, und deren Alldurchdringung in sich selber zu verspüren das höchste Glücksgefühl dieser Erde gibt, denn es ist unmittelbarer Genuß der Ewigkeit!
An seinem Herzen will ich ruhen, bei ihm, vor welchem Glück und Leiden gleich sind, dessen Einatmen Leben heißt und sein Ausatmen Tod, dessen Sprache zu uns Sehnsucht heißt, der sich von uns wendet, wenn wir genießen und in dessen Gedankenauge wir schauen, wenn wir leiden!
So lag ich versunken an Waldrändern und auf Bergspitzen und fühlte oftmals jenes Wunder, wie das Körperliche an uns entschwindet. Federleicht schwebte da in mir das Traumgefühl der Einheit mit dieser sonnenleuchtenden Welt.
Dir gehörte ich, rauschende Einsamkeit! Als die Sichel klirrte, sagte ich zu den Feldern: Wie gebt Ihr und gebt bis zur Blöße, Ihr offenen Hände des großen Geistes. An Euch will ich ihn dankbar erkennen lernen durch alle Jahreszeiten. Und als der Wald gelb und rot wurde, als der Schuß des Jägers an den Berghöhen entlang rollte und Spätsommerfäden über goldbraune Flächen, Zugvogellinien unter blauer Hochferne dahinschwammen, da war in meinem Herzen der reine Wohllaut eines wehmütigen Liedes.
Dann aber: nach Mitte Septembers schauerte und bangte es in mir und mir war so sehnsüchtig zu Mute, wie es durch die Brust eines Wandervogels ziehen mag, der über dem wilden, verödeten Walde nach Fahrtgenossen rufend kreist. Der Wind fuhr immer kühler daher und die schönen Blätter des wilden Weins gehörten ihm. Wie dürftig wurde da meine liebe, umrankte Sommerheimat!
Aus der Stadt kamen die Zeitungen. Sie, im Sommer so öde, wie lebten sie nun!
Vom Theater war viele Nachricht. Alte liebe Künstler waren wiedergekommen, neue machten uns bange. Der Vorhang der großen tragischen Bühne rauschte auf und in wenigen Tagen sollten die in der Stadt den Haidesturm um den alten König Lear miterleben dürfen, ohne daß ich dabei war. Da wurde mir das Herz ungehorsam.
Und alle Maler waren wieder in Wien und all die Studenten und ja: schöne Mädchen wohl auch.
Wieder kam die Zeitung: immer sehnlicher erwartet, immer hastiger aufgerissen. Ja, nach Tagen stand ich und sah dem Postboten von weitem entgegen, als brächte er einen Brief der Liebe.
Und wie diese Zeilen raunten, was sie ahnen und fürchten ließen … und wie sie riefen!
In Wien, in Wien: da bereitete es sich wieder vor, das Wilde, Große, Gefährliche! Und ich saß im Schoße des ungastlichen Herbstes, ferne von diesem unrastvollen Herzen der Zeit. Trübselige Stoppelfelder, vertrocknete Astern, verlassene Nester in ödem Gezweig, kurzer Tag, früher Abend – das war meine Welt. Und ferne summten die Stimmen der erregten, beleuchteten Straße.
Ja! Ja!
O Stadt, du schlechte, herzverwirrende! O du tausendstimmige, du rufende! Du Versammlerin der ruhelosen Herzen, du Reichausteilende: Auf und zu dir!
Und ich eilte, ich flog nach diesem Triebwerk voll Unrast, nach dieser schlechten, dem Herzen verächtlichen, aber ach, dem Geiste so lebendigen Stadt!
Da jauchzte mein Herz in der Unruhe der abendlich hellen Straßen, und wie ein Kind ging ich Schauläden sehen, kaufte langentbehrte Kleinigkeiten, genoß die Freuden der Schauspielkunst und der entnervenden Musik und begann dringlich die Freunde zu suchen, denn die Lust zur Aussprache war übermächtig!
Am stärksten bewegte mich die Sehnsucht nach Hans Gottschalk, welchen ich in Döbling zuhause wußte, und ich begann in der Lieblichkeit jener weingesegneten Dörfer eine hoffnungsfreudige Suche nach dem lange Vermißten.
Es kostete mich manchen hübschen Ausflug, ohne daß ich ihn angetroffen hätte. Einst aber ging ich über Döbling nach Sievering hinaus, bis an den Rand der Besiedlung, wo Gärten, Reben und Wäldchen durcheinanderzugreifen beginnen und wo die Häuser immer kleiner und seltener werden. Hier lag fast am Ende des Dorfgäßchens und in die Gärten zurückgezogen die Werkstätte eines Gipsgießers, und da fand ich auch Hans Gottschalk wieder.
Er kam mir entgegen, wie das erstemal in jener Dorfverlorenheit: ohne mich zu erkennen und in tiefen Gedanken. Aber er hatte nicht mehr die eine Hand auf dem Rücken und den Kopf zur Seite geneigt, »lyrisch dahinsegelnd«, wie Hulle von ihm gesagt hatte. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt und das dunkle, schwermütige Antlitz vorgeneigt; es brannte in düsterer Glut. Erst als ich ihn anrief, bemerkte er mich, ließ die Arme frei und schaute mir wenig erfreut entgegen.
»Sei nicht böse, Gottschalk,« sagte ich. »Ich wollte mein Nachtmahl hier außen im Freien einnehmen, aber ich finde keine Ruhe in einem Gasthaus; so habe ich dich geradezu gesucht. Mir ist es schwer ums Herz. Es scheint mir, als ob in dieser Zeit in allen Spelunken unheimliche Flämmchen, wie giftiges blaues Kohlenfeuer aus dem Boden brennen wollten, und eine Stickluft steht über der ganzen Stadt. Gottschalk! Es ist etwas Bedeutsames im Werke!«
»Ich hab es wohl bemerkt,« sagte er in verbissenem Grollen, »doch es geht uns nichts an. Andere sind an der Arbeit: Schermäuse, die ein jüngstes Gericht anzetteln möchten!«
»Wer ist das,« fragte ich beklommen über diese dunklen Worte.
»Schufte! Niedrige Wühlhandwerker und einige, denen zum Schuft Verstand und Tatkraft fehlen … Sonst weiß ich nichts.«
Er schwieg eine kurze Weile, dann lenkte er mit einem Ton von Bitterkeit ab und wies in den kleinen Garten vor uns: »Sieh' dir dies schöne Bildchen der Vergänglichkeit an. Es versöhnt.«
Ich trat an den Zaun.
Das war der rechte Septembergarten mit seinen großen Georginen und Helianthen, während ganze Bündel des kleineren Landvolks der Ringelblumen, Levkojen und Afrikanernelken schon wie niedergetreten sich zum Schlafe neigten. Wehmütig dufteten ein paar verspätete Reseden.
Aber unter und zwischen dem Blumengewucher lag vielgestaltige Formung versteckt … Gestalten, Urnen, Kapitäle, – alles aus der Werkstätte des Gipsgießers, welcher in jüngeren Tagen wohl seinen Garten klassisch auszuschmücken gedacht hatte. Noch ragte im Hintergrunde, in einer kleinen, pompejanisch rot ausgemalten Loggia die herrliche Gestalt einer mediceischen Venus.
Das Haus versteckte sich weit im Hintergrunde unter Weinranken, und der Garten schien seit langem verwahrlost; er war eine Ablagerungsstätte für ausgemusterte Gestalten geworden. So hatte sich denn die Natur desselben wieder bemächtigt und wucherte wild und bunt über das graue Geform.
Ein Reiz wie über der Ruine einer römischen Villa träumte auf der Kopienvergänglichkeit dieser Gipstrümmer, um welche die Herbstherrlichkeit Farben über Farben spann. Die Winde schlang sich über alle Formungen; sie hing an der Säule mit Kapitäl und Architrav, welche die Mitte des Gartens bezeichnete, auf das Rundbeet herunter und was Winde und Geißblatt nicht in Besitz genommen hatten, das umstrickte der wilde Wein, welcher seine Endranken alle blaßgelb und rosenrot, die großen Blätter aber tief in Purpur gefärbt hatte. Nur ein riesiges Prophetenhaupt auf ellenhaften Schultern schaute grau und mächtig ernst aus all dem Gewucher heraus; ja, es grollte mit michelangeleskem Zorn zu uns herüber und stimmte uns so ernst, als sähen wir unter wilden Rosen die Trümmer Roms.
Mir fiel ein gewitterschwerer Vers des italienischen Bildhauers ein und ich sprach ihn nachdenklich vor mich hin:
Le favole nel mondo m'hanno tolto
Il tempo, dato a contemplar' Iddio.
Die Zeit, die mir gegeben war, um mich ins Göttliche zu versenken, hat mir der Fabeltrug dieser Welt gestohlen.
Gottschalk stieß leise einen kurzen Laut aus: Zorn und Schmerz. Und, die Arme ausbreitend, sagte er: »Wenn mein Wien so vor mir in blühend überrankten Ruinen läge – nur mehr eine Stätte – und kein Leben darin als Wiesel, Fledermaus und Eidechse, und ich müßte auf dem, mit Rasen und Brombeere bewachsenen Trümmerhügel von Sankt Stefan sitzen … Ich sage dir: mir wäre wohl, gegen mein jetziges Herzweh, wenn ich denken könnte, daß diese übergrünten Hügel Trümmer bedecken, welche über einem Heldenkampfe zusammengestürzt sind; Trümmer die noch im Tode trotzen: Unwiederweckbar, aber unsterblich!
Wenn ich sagen könnte: Da war Geist, da war helles, hohes Wollen; wilde Größe der Sehnsucht, wilde Sehnsucht nach Größe! Ja: Mir wäre wohl und wenn ich wie ein Hund sterben sollte, der auf der Brandstätte seiner Heimat verhungert, weil er aus Liebe zu seinem begrabenen Herrn nicht fortzulaufen vermag!
Hatte Rom denn Menschen aus einer anderen Welt als diese Stadt? Nein. Hatte es jemals mehr Gelegenheit zur Größe als diese Stadt, welche sich in diesem Jahre selber tief im Herzen besonnen hat und nun neu aufleben müßte? Nein.
Rund um warten tiefatmend alle Völker: Was wird Wien tun? Die Gewalthaber leben: Was wird Wien tun? Die eigene Jugend frägt – die eine Hand am Schwert, die andere am Herzen: Was wird Wien tun? Und dieses Wien?
Halb Übersättigung, schmaust es weiter und denkt an die nächste Mahlzeit, – halb Unzufriedenheit, murrt es weiter und denkt an fremdes Hab und Gut. So leben wir einer Zeit entgegen, die ungeheuer groß sein könnte; größer als alle die jemals waren. Und wir werden sie unwürdig überleben, wenn nicht …!«
Er schwieg.
»… wenn nicht?« fragte ich.
»Ich wollte,« fuhr Gottschalk sehnsüchtig fort, »wenn ich noch fünfzig Jahre Leben hätte, von Gott neun Menschen, wie ich es bin, neben mich erbitten, und meine fünfzig Jahre wären unter uns zehn verteilt. In diesen fünf Jahren würden wir tun, was unsere Zeit und uns und Wien verklären sollte!«
Diese vorgegangenen Klagen und Flüche und Wünsche brachten mir eine wundervoll glückselige Erregung. Aus hundert Büchern über vergangene Größe hatte ich mir eine Sehnsucht nach einem Menschen gelesen, der wie der Herr Christus, – oder, wenn schon das nicht, – wenigstens zu sein vermochte wie Cola di Rienzo, oder Huß oder wie Savonarola, und den ich zu sehen, dem ich zu helfen begnadet war!
Selbst hätte ich ein solcher niemals werden können. Meine Gedanken waren nicht Feuer aus sich selbst, und ich war nicht aus Stein und Eisen. Aber neben einem solchen als Jünger gehen, mit ihm und seiner Größe lichterloh brennen, – auch mit ihm verbrennen, wenn es sein müßte: das hätte ich blindlings durch Not und Tod gehalten.
Und da!
Hier stand ein solcher neben mir in seiner Höhe und seiner Verzweiflung, gegen das Abendrot scharf umrissen, und dunkel und gebeugt wie die Schwermut selbst. Dieser Zeit sollte ein Prophet erstehen.
»Hans Gottschalk,« sagte ich. »Ich gehe mit dir durch Feuer und Eis. Ich fühle: du willst alles, was ich für recht halte und wirst es mächtig zum Leben befehligen. Sage mir, was ich tun soll.«
»Bleib' bei mir,« antwortete Gottschalk langsam und nachdenklich. »Lebe viel um mich und prüfe mich, bis du mir vertraust. Dann tu, wie ich tue. Wirft uns der Wogenschlag dieser Zeit an gutes Land, so hilf es mir bebauen. Begräbt er uns, so waren wir nicht auserwählt … Sieh: ich gebe mich in die Hand des Schicksals, denn so lautet das Erbbedingnis meines Vaters. Ich muß so groß in der Seele werden als er; sonst ist mein Leben das Anlehen eines Schuldenmachers, der nicht bezahlen kann.«
»Was war mit deinem Vater?« unterbrach ich ihn erstaunt.
»Mit meinem Vater …!« wiederholte er meine Worte mit einer Innigkeit, welche ihn allsogleich ferne von mir entführte, denn nach einer ganzen Weile erst fuhr er fort: »Du erfährst es ein andermal. Laß mich jetzt mit ihm allein. Tust du's?
Und, besuche mich morgen. Es ist schön bei uns.«
Da ging ich, ein wenig gekränkt, von ihm fort. Die irdische Schwere und Kleinheit sank über mich und diesen Abend stachelte es mich schmerzlich, daß ich mich so ganz und gar als Diener eines Menschen hatte anbieten können. Ich empfand eine böse Art von zorniger Demütigung, welche all das Gute, das ich tun wollte, geringschätzte, denn ich sollte es nicht allein tun.
War ich nicht jünger als er? Wie konnte ich denn wissen, ob er in meinen Jahren mehr war als ich? Und wenn! War es nicht schöner, mich mit ihm feindlich zu messen? Besser, rief es in mir, einem Gewaltigen im Verzweiflungskampf zu unterliegen, daß alle schaudern, die meinen Fall mit ansehen, als neben ihm »hört, hört« und »sehr wahr« rufen und als das Parteischaf dem Leithammel nachtrollen.
Solche Gedanken der Eitelkeit und der Selbstsucht wanden sich um meinen Entschluß und machten die innere Freudigkeit zaghaft, welche mir dennoch immer wieder sagte: Ich will ein reines, großes Vaterland. Und weil ich nicht stark genug bin, es allein zu schaffen, gebe ich mein Teil wie in eine Sammelbüchse. Und wenn dann auch niemand weiß, was und wieviel ich dazugetan, so habe ich es doch recht getan und eben daß es niemand weiß, erhöht mich.
Mit gereinigtem Herzen ging ich am andern Tage zu Gottschalk, traf aber nur seine Mutter an: eine Frau von etwas über fünfzig Jahren, behäbig und wohlwollend, ja voll Liebe und Güte, aber mit dem leisen Zug eines Leides in dem sonst klaren Hausfrauenantlitz.
Neben ihr fand ich ein Mädchen von solcher Lieblichkeit, daß in meinem Innersten etwas erschrak, als ich mich der Frau vorgestellt hatte und nun der Blühenden die Hand reichte.
In einfacher Weise luden mich beide in die Stube und setzten sich zu mir. »Hans wird gleich kommen,« sagte die Frau. »Er ist jetzt so schweigsam, daß wir niemals recht wissen, wo er hingeht und was er vor hat. Mir ist bange, weil er jetzt so viel politische Bekanntschaften hat, während er früher stets allein war. Es sind gefährliche Zeiten, in die er sich nicht einmischen soll. Sie sind doch nicht auch von der Aula?«
»Student bin ich wohl,« erwiderte ich lächelnd. »Auf der vorlauten Aula jedoch habe ich nichts zu schaffen. Die werden schon ohne meine Hilfe die Welt auf den Kopf stellen. Ich bin wie Ihr Hans und denke mir mein Teil im stillen.«
»Wenn der Hans nur auch so bliebe,« fügte das Mädchen, welches Margarethe hieß, leise hinzu.
»O nein,« seufzte die Frau, »das ist ja die Sorge. Er ist so ganz verwandelt; er trägt was in sich und ich weiß, wenn der etwas unternimmt, dann ist es ein gefährliches.«
»Wohl möglich,« sagte ich im Nachdenken.
»Seit er das Bild seines Vaters aus der guten Stube in seine Kammer überhängt hat, seit der Zeit hat die Veränderung sich merklich werden lassen. Du, Greterl,« fuhr die gute Frau fort, »red einmal du zu ihm. Wenn er dein sanftes Stimmerl hört, kommt allemal die liebe Herzensruh über ihn.«
Und Grete fragte halblaut und mit einer ganzen Verklärung über ihr Gesichtlein: »Glaubst du? Tut's ihm wohl, wenn ich ihm zurede?«
Die Mutter Gottschalks sah sie voll Liebe an. »Du wirkst auf alle lieb und ruhig, die um dich sind.«
Es wurde still.
Die Sonne schaute tief durch die Fenster, da kam Hans herein. Dunkel zeichnete sich in der Tür sein traurig geneigtes Haupt gegen das goldene Licht draußen. Er mußte weiche, melancholische Gedanken gehabt haben; ganz leise sagte er guten Abend und setzte sich in die Finsternis eines Winkels. Von dort schaute er in den lebhaften Sonnenglanz, welcher im Rebengelaube außen über die Fenster sein leuchtendes Gewebe spann. Wir ließen ihn alldritt in seiner Stimmung, und lange Zeit tickte nur die Uhr und Fliegen brummten gegen das warme Fenster. Endlich kam es aus dem verdüsterten Winkel mit weich klagender Stimme: »Eng und trüb ist es hier innen.«
»Aber doch traulich,« meinte die Grete.
»Du, Maus, du fühlst dich in der Enge wohl,« antwortete ihr die freundlich schwermütige Stimme aus ihrem Dunkel.
Grete schwieg ein Weilchen und zeichnete mit dem Finger auf den Tisch. Dann brachte sie, zögernd, betreten und im Stimmlaut der Liebe und des Zweifels hervor: »Hans?«
»Sprich nur.«
»War das ein Scheltwort oder was Liebes, daß du mir gesagt hast ›Maus‹ – und ›in der Enge fühlst du dich wohl‹?«
Hans dachte schwermütig nach; er schien von brauner Dämmerung und Schweigen ganz überflutet. Grete aber sah ihn mit einer großen Bangigkeit an und hätte so gern ihre Antwort gehabt und wartete und wartete. Dann endlich, als keine Antwort auch eine Antwort war, sagte sie leise: »So also …«
Und sah ihn dennoch wieder an, voll unaussagbarer Liebe und Sorge, und wartete.
Aber Hans dachte schon an ganz andere Dinge. »In diesem Wien,« begann er, »sind jetzt in den letzten Septembertagen alle Herzen zerstört und wüst wie ein zertretener Garten, der in Ödheit auf den Allerseelenreif wartet.«
»… die unseren auch?« fragte Grete halblaut.
»Ach nein; aber mit euer einem kann ich doch nicht sprechen.«
»Was sollen das für Menschen sein, die du brauchen kannst,« zürnte die Mutter in einer leisen Kränkung.
»Mutter,« sagte Hans und stand auf, »das ist so: ich müßte jemand haben, jemand oder etwas, für das ich leben und für das ich sterben könnte.«
»Für deine Mutter ist das wohl nicht,« fragte sie traurig.
Hans Gottschalk schwieg und schien betroffen, und die Mutter fügte begütigend bei: »Kind, ich verlang' es ja nicht.« Nach einer Weile aber begann der Student:
»Ich bin wohl schlecht … wirklich schlecht. Doch, wenn ich all jene fragen müßte, welche so waren, wie ich werden möchte: Propheten, Helden oder auch nur Volkstribunen, die alle sagen mir: Für eine Mutter stirbt man nicht. Für Liebe stirbt man nicht, und besonders: Für das Alte und Fertige stirbt man nicht. Wir alle starben für Undank, aber für das Werdende.«
Er trat, innerlich erregt, aus dem Schatten in die streifig hereinschießenden grellgelben Sonnenstaubfluten und rief: »Leben und sterben möchte ich außer den Gesetzen, welche Mutterliebe schreibt! Du bemühst dich in deiner unermeßlichen Liebe, die sich in ihrer ganzen Größe auf ein so kleines Stücklein Menschheit, wie ich es bin, versessen hat, um dieses arme Einzelleben und möchtest mich am liebsten unsterblich haben oder doch meine Lebensdauer in unendliche Länge ziehen. Eine so stille Langlebigkeit soll ich haben, wie ein Holunderstrauch sie hat. In der Erde, wohin ich einmal gesetzt bin, soll ich, regungslos das Leben erduldend, festwurzeln, und sparsam nur, sparsam soll mich das göttliche Feuer aufzehren. Ich aber,« rief er aus und warf die Arme empor: »Ich will brennen! Lichterloh flammen und wenn ich mich in einem Augenblick verzehren sollte, wie eine Pulvermine!«
Der Frau Gottschalk war sehr bange geworden. In tiefer Bedrückung, Stirn und Augen mit vielen faltigen Runen der Bekümmernis umschrieben, sagte sie: »Gott beschirme und beschütze dich, Hans: du wirst wie dein Vater!«
»O, wenn ich so würde!« rief er, und sein Antlitz war leuchtend wie ein Ostersonntagmorgen.
»Hans! Er war kein guter Mann,« mahnte die Mutter mit bedeutsamem Kopfschütteln.
»Du magst das sagen, du Arme,« erwiderte er mitleidvoll. »Du, mit einem Meteor zusammengestoßen, bliebst schwerwund am Wege liegen, und er sauste sprühend weiter. Dir hat er bitter wehegetan. Aber ich! Wie muß ich ihm dankbar sein, das er in mein armes dumpfes Bürgerblut die Funken seines Genius mischte. Durch seine Gnade siedet es so heiß in mir. Er ging an dir vorüber … ein kurzes Aufblitzen seiner Liebe, und ich bin kein Philister geworden!«
»Hans, mein Hans,« beruhigte ihn die Mutter. »Ich will dich und mich nicht aufregen. Aber hast du niemals bedacht, daß, was dich so stolz macht, das allerschlechteste an dir sein könnte? Von fremden Leuten höre ich, Gott wie oft: Es ist ein braver Junge und alles Gute hat er von Ihnen, wenn nur die wilde Art des Vaters nicht wäre; des Egoisten, des Zigeuners, wie sie ihn nennen.«
»Du Mutter,« entgegnete der Sohn mit gedämpfter Stimme, »mir zuliebe beleidige ihn nicht! Auch du hast ihn geliebt und hast sicherlich recht damit gehabt. Und was ich von euch beiden erbte, das weiß ich besser als die Frau Greislerin an der Ecke und besser als der pensionierte Rechnungsrat gegenüber. Von dir ist eine stille zwingende Art in mir, daß ich tun muß, was ich für recht halte, und daß ich all das für recht halte, was nicht mir, sondern anderen zugute kommt.
Aber da ist ein vielgestaltig Anderes in mir: das glüht und sehnt sich; es ergrübelt Gott und seine Gedanken, und in Leidenschaft liebt und haßt es. Es möchte alles wissen und dann all dieses in herrlichen Worten sagen. Es möchte auf dem Sturmwind reiten und mitten in donnergrollenden Wetterwolken möchte es singen, ein Lied, das über die schwarzen Wolken ins Blaue hineinsteigt, das Aufbau und Vernichtung in einen Reim, in eine Harmonie bringt … es ist eine Sehnsucht ohne Grenzen, ohne Gleichen, ohne Ertragen, es ist all das, was ich nicht von dir habe, aber auch all das, was mich entzückt und verzehrt, wodurch allein ich mir Leben zuerkenne; es ist alles Hohe in mir und alles Gewaltige: – – Es ist Er! Er!«
Und heiß kam ihm das helle Wasser in die Augen geschossen. Da ging er mit großen Schritten aus der Stube; der Zuruf der Mutter, der Zuruf des schönen Mädchens klang ihm nach; er achtete nicht darauf.
Grete wollte ihm folgen, aber schon in der Tür blieb sie stehen und ließ in schweren Gedanken den Kopf hängen. Die Mutter saß still am Schreibpult und schaute auf ein Buch; als ich aber nach ihr hinsah, bemerkte ich, daß sie weinte. Ohne eine körperliche Regung, das milde Antlitz wie zum Lesen gebeugt, saß die alternde Frau, aber ihre Tränen tropften so hastig, so reich, so hellschimmernd wie die eines Kindes.
»Frau Gottschalk,« bat ich und hatte ein inniges Mitleid in der Brust.
Sie winkte mit der Hand, als wollte sie sagen, das habe nicht viel zu bedeuten. Aber in ihrem Herzen hatte es viel zu bedeuten. Sie wußte, daß sie ein Kind verloren habe.
Grete ging zu ihr hin und drückte ihr das eigene Tüchlein an die Augen, küßte die sorgenvolle Stirn und ordnete die feinen blonden Haare auf dem glatten Scheitel der Frau, die an dem guten Mädchen ein zweites Kind besaß; aber das war freilich noch kein Ersatz. Die fremde Liebe tat ihr vielleicht noch mehr weh, weil sie daran ermaß, wie viel ihr das eigene Kind versagte.
Aber sie wurde ruhig, da trat auch ich näher. Sie vermochte wieder zu sprechen und leicht seufzend, als wäre nicht allzuviel auf ihrem Herzen, sagte sie zu mir: »Sehen Sie, so ist er halt.«
Da setzte ich mich zu ihr, nahm sie an der Hand und begann ihren schönen, hochgemuten Jungen zu loben, zu loben!
Es ging mir recht von Herzen, und ich sagte ihr, wie viel wir Studenten alle von ihm hielten, und wie jedes seiner Worte ungewöhnlich wäre und er selber ganz und gar ungewöhnlich. Und ich würde glücklich sein, wenn ich so sein könnte wie der! Ich, der mit keinem Herrn der Welt tauschen wollte, würde voll Dank und Freude mein weiches, singendes, glückliches Herz gegen dieses gequälte, wilde, ringende austauschen, das so hoch schlug: fast so hoch wie ein Heilandsherz.
Und als sie über dieses Wort beinahe erschrak, erzählte ich der Frau, die in fromm katholischer Befangenheit ihren Gott nur aus dem Munde der Priester kannte, von dem glutherzigen, herben Herrn Christ, wie ich ihn mir aus der Bibel herausgelesen hatte, der jähzornig den Feigenbaum verdorren machte, der auf die Wechsler und Mäkler losschlug und seiner eigenen Mutter, wenn sie ihm mit beschränkter Liebe entgegentrat, mehrmals anfahrend harte Worte sagte, dessen ganze Seele aber dennoch Liebe, Liebe war.
Und sie horchte. – Noch tropften die Augen, aber ihre Seele lachte und leuchtete.
Dann ging ich ihn suchen. Ich forschte nach ihm in dem kleinen Gartenhäuschen, das ob der Mauer über der Straße stand. Dort mochte er oft in leidenschaftlicher Träumerei nach den formvollen Sommerwolken geschaut haben, die weit hinter der Donau am Rande der unermeßlichen blauduftigen Ebene in geballter Phantastik standen. Jetzt war es dort im Häuschen still und heiß. Die bunten Glasfelder über den Scheiben brannten in der Abendsonne auf einen Glasschrank rote, gelbe, blaue Zeichnungen; mitten in einem prachtgrünen Strahl leuchteten zwei geschliffene Stammgläser, aus deren einem getrunken worden war, ohne daß man es noch gereinigt hatte. Müde Herbstfliegen sogen an vertrocknetem Wein.
Ich nahm die Gläser in die Hand. Erasmus Theodor J. Gottschalk und Anna Theresia Kranebitter stand auf den beiden. Sie stammten aus der Brautzeit von Gottschalks Eltern.
Im Garten dufteten herbstliche Blumen, die alte Linde rauschte auf. Sie war der größte Baum weit und breit und war in den Tagen gepflanzt worden, als man noch Volkslieder dichtete.
Und wahrlich: Hier war alles aus einer verschollenen Zeit. Rundum in Stadt und Land murrten friedlose Herzen, drohten düstere Stirnen, hier aber träumten Haus und Garten unauferweckbar weiter von den Tagen des Posthorns, des wandernden Handwerksgesellen, der stillredlichen Genügsamkeit.
Ein kühler Abendhauch atmete von der Donau herüber, die goldrot und still dahinwallte, als ginge sie in das Land der Seligkeit. Der westliche Himmel flammte. Ich schaute der Sonne nach, welche versinkend und nur mehr zur Hälfte über dem Wienerwalde stand, und bemerkte, wie sich die ungeheure Waldbrust hob und hob. Wie ein schlafender Riese wälzte sich der Erdball vor der Sonne auf die andere Seite, noch ein Blitz, dann strahlte nur mehr der entzündete Himmel; rosenrot schwammen die Wolken: wir schon im Schatten, sie, die seligen, noch im Licht.
Warum sah Gottschalk solcher Pracht nicht zu?
Ich trat in den Schank des Gasthauses, wo Frau Anna Therese Gottschalk schaffte. »Er ist nicht im Garten,« sagte ich.
»Dann wird er oben im Hause sein,« dachte die Mutter nach, nahm mir die beiden Gläser ab, welche ich immer noch in Händen hielt und wusch sie in frischkühler Flut. Sonach füllte sie die beiden sorgsam durchblickend aus einer verborgenen Kanne – es war der Beste von all den Rebhügeln ringsum.
Beide Gläser hielt sie mir hin und bat: »Gehen Sie doch und trinken Sie eins mit meinem Jungen. Er sitzt irgendwo in den Dachzimmern und ist traurig, und ich kann nicht zu ihm, weil es die Zeit ist, wo meine Gäste kommen.«
Als ich mit den gefüllten Gläsern in den Abend hinaustrat, saß schon ein Paar junger Liebesleute am letzten Tischchen unter der Riesenlinde und verschaute sich in die Glut und Pracht im Westen. Stärker wehte der Abendwind und es wurde kühl.
Da stieg ich die Treppe empor zu Gottschalks Dachstube, in welcher blaue Dämmerung war. Die Türe stand offen und ich konnte den Freund sehen, der auf den Knien an einem Schubkasten lag, über welchem ein Bild seines Vaters hing. Der Abendwind rüttelte das offene Treppenfenster so kräftig, daß der Freund meine Schritte nicht vernommen hatte, und da er laut und leidenschaftlich redete, hielt ich in staunender Bangnis den Atem an und blieb stehen.
Durch das Fenster hinter mir kam der Luftzug, treibende Blätter schlugen mir an den Rücken und wehten über mich hin bis in das Zimmer hinein. Mich fröstelte leicht: aber angewurzelt blieb ich stillestehen, und hielt meine zwei Gläser Wein in Händen, mit welchen ich uns diesen Herbstschauer wohlig genießend zu vertreiben gedacht hatte.
Gottschalk sprach mit dem Bilde, um dessen Augen und Lippen es in gespenstiger Bewegung zu zucken schien.
Er sagte: »O du meine wehende Purpurfahne! Mein Heiligenbild! Wie vor einer Wallfahrt will ich das Bild deines wilden freien Geistes vor beglückten Scharen hertragen, und in Wohllaut gestimmt sollen sie hinter mir herziehen, aus dem Kampfe hinweg durch die verklärten Felder des Friedens! Du Verewigter! Steh mir bei. Umschwebe mich!
Als alle Ideale hatten, schwieg ich von den meinen. Solange Güte und Einklang zwischen Kaiser und Volk war, stand ich froh und gern beiseite in Reih und Glied. Jetzt aber gedeihen die Leidenschaften der Tiefe: denn der Ackerboden der Freiheit liegt allzulange brach. Die Trägheit macht das Volk drohend und boshaft: O hilf es mir aufwirbeln zu Arbeit, Kampf und Größe, du Rücksichtsloser!
Du wildlockiger Jüngling, verdopple meine Kräfte. Senke deine Seele in die meine und schreie in mir auf als Prophet, denn ich brauche überirdische Hilfe, um diese Zeit und dieses Volk zu lenken!«
Als ich solches hörte, ging ich leise wieder treppab und brachte Frau Anna Therese die schönen Familiengläser unbenützt zurück.
»Was hat er denn,« rief sie. »Mag er nicht?«
»Ich darf ihn nicht stören,« sagte ich in geheiligter Scheu. »Er betet.«
»Hans betet? Das wäre selten,« entgegnete die Frau mit vibrierender Stimme. Sie neigte den Kopf in Zweifeln hin und her und fuhr fort: »Vielleicht erhört ihn unser Herr, der gesagt hat, über einen Reumütigen sei im Himmel mehr Freude als über viele Gerechte. Vielleicht gießt er Ruhe in sein Herz und macht ihn von neuem still, fromm und nachdenklich, wie er bis vor diesem Herbst gewesen ist, damit seine Mutter länger und froher lebt.«
Mich aber durchklangen die Worte des oft so zornigen Heilands: »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu predigen, sondern das Schwert.«
Jedoch, ich sagte sie nicht laut. Schweigsam verabschiedete ich mich, ohne die Hoffnung einer Mutter anzutasten.
Als ich am andern Tage wiederkam, stand Freund Gottschalk im Garten und wollte fortgehen. Die Mutter, welche bei ihm war und ihm die Krawatte band, nickte mir traurig zu.
»Ich weiß nun wohl, zu wem er gestern gebetet hat,« sagte sie. »Ich bin hinaufgegangen und hab ihn segnen wollen. Da ist er noch vor seinem Gott Vater gekniet. Ich sag es dir wieder und wieder, Hans: Gebe der Himmel, daß du nicht so wirst wie Der!«
»Wie mein Vater?« fragte Gottschalk ruhig. »Ach Mutter, ich wünsche nichts sehnlicher als zu werden wie er war.«
»Hans, Hans,« warnte die Frau. »Du machst nur so eine Religion aus ihm und ich muß dir endlich die Augen öffnen. Er war nicht so, wie du ihn dir vorstellst! Und wenn ich dir als Kind von ihm nur das Schöne erzählt habe, so geschah das, damit du dich seiner einmal nicht gar zu arg schämen mußt; du selber hast ihn ja kaum gekannt!«
»Du noch viel weniger,« widersprach mein Freund mit ruhig lächelnder Sicherheit. »Ich aber habe seine Seele, – seine Erhabenheit und seine Schlechtigkeit so innig studiert wie ein Ketzer die Bibel. Denn sein Antlitz und seine Wahrheit habe ich erforscht und verstehe ihn so ganz und gar, daß nur er selber noch mir fehlt, damit ich seine Knie umschlingen kann. Ah! Ich weiß seine Züge noch, wenn ich auch erst vier Jahre alt war, als dieser Wanderfalk davonrauschte. Aber er ist ja doch schon tot; nur kann ich es nicht fassen, daß er nicht mehr leben soll. In meinen nächtlichen Träumen, da lebt er und geht neben mir; er, den ich wachend vielleicht nie mehr sehen werde. Heute hat mir abermals von ihm geträumt: so schön, daß es mich noch jetzt ganz ausfüllt!
Wir sind über eine freie Höhenstraße gegangen und haben zusammen nach den fernen, wolkenweiß beschneiten Alpenhöhen geschaut. Als ich aber meine Augen wieder auf das geliebte Angesicht wendete, war es allein, ohne den Körper, wie an die Luft gemalt, aber noch immer in die Weite schauend verklärt und hatte Tränen der Sehnsucht in den leuchtenden Augen.«
»O du mein lieber, armer Bub,« rief Frau Anna Therese, » mir hat er anders ausgesehen! Schön und gescheidt: ja, das war er. Aber wie es uns damals recht hart und knapp ergangen ist und es geheißen hätte, mit Arbeit Geld zu verdienen, da hat er sich gerad an seine Ideale erinnern müssen und hat uns mitten in der Not verlassen; das Vagabundengenie!«
Gottschalk schüttelte ernst den Kopf: »Wie häßlich du ihn siehst, weil du ihn nur mit den Augen des Grolles siehst. Schon ein wenig Mitleid würde ihn dir verklären. Denke, vielleicht ist er einsam zugrunde gegangen, ohne dich zu rufen und hat gebüßt, ohne einen Laut auszustoßen, sterbend wie ein edles, wildes Tier.«
Die erregte Frau murmelte ein hartes Wort.
»Am Misthaufen, sagst du?« rief der Sohn. »Meinetwegen: Hinter den Zäunen, hinter dem Dorf, aber schön war sein Tod dennoch! Er lag in den Ranken der reifen Melonen, welche nie für ihn gewachsen waren, aber ihr Duft umwehte ihn schwül und süß, und aus den Gärten schauten still und feierlich die Sonnenblumen in heiliger Gemeinde mit ihm dem Lichte nach, in welches seine Seele flog.«
»Mein Kind,« begütigte Mutter Anna sanft, »du kannst halt alles so schön ausdenken, daß selbst ein garstiges Ende gesegnet wird, wenn du davon erzählst. Gott gebe, daß dir diese Welt nur auch einmal so schön wird. Und nun geh. Vielleicht tut mir Herr Hager ein Liebes und redet dir die gefährlichen politischen Gedanken ein bisserl aus.«
»Leb wohl, Mutter,« sagte Gottschalk und trat ruhig seinen Weg an.
Ein frischer alter Herr begegnete uns vor der Gartenstiege und hielt den Freund grüßend an. »Ich sehe eben nach Frau Anna Theres,« sagte er, »wie geht's?«
»Sie verschweigt mir ihren Zustand,« sagte Gottschalk mit einiger Scheu. »Margarethe aber fürchtet für sie.«
»Ach wo! In vier Wochen kann die Frau Mutter noch einmal heiraten, wenn sie meine Vorschriften befolgt,« lachte der Alte. »Machen Sie ihr nur keine Sorgen, dann kann sie noch lange leben.«
»Es ist der Doktor,« bemerkte Gottschalk, als wir weiterschritten, kurz.
»Ist deine Mutter krank?« fragte ich.
»Es ist etwas mit dem Herzen,« erwiderte der Freund zögernd, »und ich befürchte, daß ich hart geprüft werden soll.«
Wir gingen langsam durch den Ort in's Freie. Da kam aus einer Allee, die Hände auf dem Rücken und den starken Kopf tief im Nachdenken angezogen, der Hauptmann gegangen, der bei Gottschalk im ersten Stockwerk wohnte und mit dem ich weitschichtig verwandt war.
Mit dem besprach sich Gottschalk öfter und stets in leidenschaftlichem Ton; jedoch einer hielt vom andern nicht wenig. Nur, daß ihr Verhältnis folgendes war: Gottschalk fing erst an, über die Welt und ihr Wesen nachzudenken – der Hauptmann aber hätte schon gerne damit aufgehört, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. Darum schien der Hauptmann Gottschalk überlegen.
In jüngeren Jahren hätte er gerne bei seinem Beruf ausgehalten. Als jedoch der Friede allzulang dauerte, trat er in die Reserve zurück. Ein kleines Vermögen genügte seinen einfachen Bedürfnissen, und so trieb er sich in Wien umher, wo immer es für ihn zu lernen gab.
In den Hörsälen der philosophischen und der medizinischen Fakultät hatte ich ihn oft gesehen. Er war dort als außerordentlicher Hörer eingeschrieben. Auch in wissenschaftlichen Vorträgen, in Konzerten edler Richtung, in Volksversammlungen, überall war seine Schule. Aber kein Professor, kein Künstler und kein Redner, und waren sie noch so beschrien, konnte ihn hindern, den eigensinnigen Kopf oft, oftmals zu schütteln. Seine Kritik war rücksichtslos, und man hörte es ihr an, daß all seine Meinung von einem Zentrum ausging. Er hatte seine Überzeugung, und oft sahen einige von den Kollegen, welche ihn kannten, wenn sie in Zweifel geraten waren, während des Vortrages nach ihm, was für ein Gesicht er dazu mache.
»Was treibt eure Welt?« fragte er, als wir jetzt auf ihn stießen. Seit dem Frühjahr war er der Universität ferngeblieben.
»Ich fürchte,« sagte Gottschalk, »sie ist ein Hexenkessel, aus dem wir viele böse Dünste werden aufsteigen sehen. Kinder der Nacht und der Lieblosigkeit werden heraufbeschworen.«
»Wer beschwört sie? Eure Kollegen?«
»Allerlei Menschen. Fremde Gelegenheitsmacher, einheimisches Unkraut, Geschäftsspekulanten und auch die liebe leichtsinnige Jugend, alle kochen mit.«
»Sei lustig, Junge,« tröstete der Hauptmann. »Wir Soldaten werden den schmutzigen Kessel ausleeren und tüchtig scheuern. Der alte Kehrbesen für verrottete Zustände wird wieder heraus müssen: Der Krieg.«
»Das freut dich so sehr, Hauptmann?«
»Herzlich, kann ich sagen. Der Krieg macht große Leidenschaften, große Schicksale, große Zeiten. In der langen Friedensduselei wuchern Schwächlinge und Elende wie Huflattich und Bilsenkraut. Man hat uns die Menschenliebe unmöglich gemacht zu so vielem Gesindel. Ah! Nun dürfen wir hassen.«
»Nun kannst du viel Gutes wirken, Vetter,« erinnerte ich.
»Ja,« erwiderte er kurz und ohne zu beachten, daß wir ihn im bürgerlichen Verein bleiben sehen wollten. »Ja; ich geh zu meinem Regiment zurück; die Einberufung muß jede Stunde da sein. Überall spielen Schwindler frevelhafter Weise mit den Herzen der Völker. In Ungarn machen hochstaplerische Advokaten ein Geschäft aus Volksidealen, in Wien fehlt denselben Kerlen nur Talent und Kraft. Diese Wortklopfer vermag niemand festzuhalten als der Soldat.«
»Warum hältst du nicht mit uns?« rief ich aus. »Wir wollen gar nichts anderes, als reine Ziele vor die Volksbewegung stecken. Deine gewaltsame Weise ist sicherlich die falsche. Du wirst nach den Wühlern schlagen und das Volk verwunden. Du wirst schießen lassen und die armen Teufel treffen, welche vorne stehen und schreien; das aber sind nie und niemals dieselben, welche du treffen solltest. Das Volk ist nicht von oben – es ist von innen aus zu beherrschen. Komm mit uns, mitten hinein! Du wirst da mehr und Besseres wirken.«
»Du hörst es nun abermals,« bestätigte Hans.
»Euer Volk,« rief der Hauptmann, »wie wollt ihr aus dem Gutes herauszaubern? Bleibt doch lieber gleich einsam von Anbeginn, bevor ihr durch schmerzlichen Schaden erfahrt, daß ihr nicht zu den andern paßt.«
»O, ich verstehe, was ihr wollt, unverbesserliche Optimisten, die ihr seid! Die Ordnung der Gesellschaft scheint euch schlecht und ihr seht, daß dieses Chaos, das sich immer noch lösen soll, dem planlosen Wurfe einer blindspielenden Gottheit ähnelt. Ihr seht die schlechtesten Nummern obenauf und schüttelt die alten Würfel neu durcheinander, so oft sie auch vergebens geschüttelt worden sind, wie's die Geschichte breithöhnisch erzählt!
Aber ihr seid unvernünftige, tolle Spieler: Hallo, ruft ihr: Ein neuer Wurf! Das beste liegt am Grunde; nun soll es an die Oberfläche. Und so macht ihr ›Revolution‹. – Ein famoses Wort: Umwälzung! … Aber immer um dreihundertundsechzig Grade!
Die Würfel sind falsch, das ist die Sache. Wohl sind an ihnen, – ja, an der Menschheit! – höhere Werte; aber da sind sie gerade mit Blei ausgegossen. Werft und werft: Die Eins wird immer oben sein, die Sechse unten.
Die Rücksichtslosigkeit, das Schachertalent, die Korruption sind wie das Öl; sie müssen über das edlere Gewicht steigen.
Jeder Mensch, und wenn er dreimal lebte, – er könnte immer nur die Erfahrung des ersten Lebens machen, denn er erlebt nur sich selber. Und ebenso muß jedes neue Leben das ihr dem altverrotteten Staat aufzwingt, ausfallen wie sein voriges.
Darum: Ein starker und gerechter Herr, und dann Bürger, die ehrlich zusehen sollen, daß sie aus sich selber was Rechtes machen, den Staat aber in Ruhe lassen! Ein solches Verhältnis bestand immer zur Blütezeit eines Volkes.«
Der Hauptmann schwieg, Gottschalk aber sagte: »Verblendung, Verblendung.«
Der Hauptmann, ebenso kurz: »Beweis!«
»Beweis?« rief der Student. »Hunderttausend Herzen glühen und wollen, zersehnen und zerstöhnen sich, ja sind bereit zu sterben, wenn nur anderen das wird, was ihnen versagt war! Wenn alles nach einer neuen, heiligeren Ordnung ruft, wie kannst du dich gewalttätig dagegen stemmen wollen!«
»Weil ich den Rechenfehler sehe,« sagte der Hauptmann mit harter Stimme und kehrte mit uns um.
Wir überdachten unsere Gegengründe und schritten stumm durch die braune Allee gegen dem Hause zu. Der Wind pfiff im Grase, die Äste brausten, ja klapperten schon, und die großen Kastanienblätter, die wie Hände geformt sind, schwankten in der Luft ihre Zirkel oder rauschten unter den Füßen. Ein herber Duft war ringsumher, düsterbrauig blickte der Himmel und wie in rauchigen Flammen brannten die Buchenwälder; immer von neuem kam über sie der Herbst mit Bergreifluft grollend herangebraust … erst schmetterte es oben in den Wäldern wie ferne Posaunen, und als dann der Windstoß bei uns eintraf, kämpften die Kastanienbäume mit stöhnenden Ästen.
Durch uns alle drei ging dieser Schauder; ich hatte die Gedanken unseres Gespräches darüber vergessen, der Hauptmann vielleicht auch, als Gottschalk, welcher sie in sich wie den Funken unter der Asche bewahrt hatte, plötzlich auffuhr:
»Und die Verzweifelnden! Sollen die wehrlos stehen wie diese Bäume und sich berauben lassen? Der Arme! Der Überlastete! Nicht einmal ein Tragtierschicksal soll der Mann mit fester Hand beiseite drücken dürfen?«
»Tragtierschicksal,« lachte der Hauptmann. »Geh nach dem Morgenland; dort erzählten berghafte Bautrümmerhaufen allein davon, daß die Seufzer von Millionen verhallt sind, ohne daß die Weltliteratur auch nur ein Klageliedchen von ihnen bewahrt hätte. Assyrer, Ägypter: Uns sind sie Namen und nur sich selber waren sie Menschen. Sie sind hingestorben wie Gras im Prairiebrand, und ihr Todesschrei war vor dem Weltgeist nicht mehr als das Knistern jener Halme. Massenschicksal war es, wie die Massen es wirklich verdienen!
Haha! Ich sehe schon die Phrase, den großen Trumpf auf euren Lippen: Heiligkeit eines Menschenlebens! Ja! Eine der unseligsten Lügen, welche feige Journalisten je in das Volk getragen haben. Und wie gerne wird diese infame Schmeichelei geglaubt! Als die Zeiten groß waren, als Propheten, Volkstribunen und Märtyrer, um deine Worte, Hans, zu gebrauchen, so häufig und so verhaßt waren wie Unkraut, da galt ein Menschenleben nichts! Wir beten diese Zeiten an, aber wir haben durch schamlose Selbstüberwertung jede Hoffnung auf ähnliche verscherzt. Krampfhaft halten wir es jetzt umschlungen: dieses heilige und kostbare Leben; aber nie war es wertloser als jetzt! Hekatomben davon täten nur großen Nutzen!
Eine Folge dieser zügellosen Selbstverliebtheit ist die Genußsucht. Ehedem sah ein jeder zu, wie er sich selber im Leben zurechtfand, und war er was Ganzes, so kam er zu Haus und Gut. Nur der Enterbte der Natur bleibt ein Enterbter der Gesellschaft.
Nun aber soll auf einmal der Wunsch jedes ungemessenen Schlüffels nach einem Doppelliter Bier und drei Stunden trägen Hinduselns pro Tag mehr aller Erde Heiligkeiten und ein allgemeines, höchstes Gut der Menschheit bedeuten.
Wer ist dieses gebenedeite Volk? Wer sind diese Menschen?
Leichtsinnigerweise mißgezeugt und darum unharmonisch an Herz und Hirn. Vom Vater der Mutter hingeworfen in einer schlechten, bierdusligen Stunde wie ein gleichgiltiges Wort am schläfrigen Abendtisch. Von hundert sind neunundneunzig nur beiläufig entstanden: die alle aber sollen ein heiliges Recht haben, die nichts Heiliges in der Seele haben?!
Ein dumpfes, gefräßiges Wollen treibt den armen und reichen Pöbel, und ihr, Idealisten, stellt euch hin, heiligt es und vergoldet es und helft ihnen dazu?«
Wir traten schon in das Gottschalk'sche Haus ein; aber immer noch wetterte der gallbittere Soldat über die dunklen Treppenstufen hinauf weiter: »Ja! Eine sinnlose Gefräßigkeit sitzt in eurer zivilisierten Menschheit, der die große Welt zu klein ist.
Seht die Weltkarte – – nein: Seht bloß den Plan einer Großstadt an: Wie der entzündete Kreis einer Wunde, so liegen die Fabriken um die Stadt und vermehren das Fieber. Aber diese Zeit, die sich alles verlangt, wird am eigenen Verlangen ersticken, denn zu sättigen ist sie nicht. Die Gefräßigen werden von den Genügsamen aufgefressen werden; was für eine alte Weisheit! Und dennoch wuchert der Irrtum der Genußsucht weiter: unbelehrt und ewig dumm, obschon er so alt ist wie der Bergkristall.
Darum muß das Schwert wieder Raum in der allzudichten Saat fressen!«
Gottschalk stieg nachdenklich über die letzten Stufen der Treppe empor, auf welcher der Hauptmann stehen geblieben war. »Du siehst den Menschen,« sagte er zu diesem, »von einem sehr unmenschlichen Standpunkt an und deshalb glaube ich nicht, daß er richtig ist.«
Der andere nun selber ruhig geworden, antwortete ihm: »Ich halte den Menschen für das größte, unerbittlichste und erfolgreichste Raubtier dieser Welt …«
Wir traten in des Hauptmanns Zimmer.
»… und ließest dieses Raubtier am liebsten gar nicht gelten?« fragte Gottschalk.
»… und lasse nur den gelten,« fuhr der Offizier fort, »der genügsam und nachdenklich lebt und seine Sünde, daß er einer von solchem Geschlecht ist, dadurch tilgt, daß er gerecht und weise zu werden versucht.«
»Und mit dem Schwert!« rief Gottschalk. »Ist das gerecht und weise?«
Der Hauptmann antwortete nicht mehr. Auf seinem Tische lag ein großer Brief, den riß er stürmisch auf und las, tief erregt, tief bewegt.
Es war seine Einberufung zur Truppe: wir fühlten es.
Er aber stürzte zu einer großen Truhe; rechts und links flogen Hemden, Briefe, Bücher. Von tiefunterst riß er die alte Grenadiersuniform heraus und hielt den mächtigen Czako in beiden Händen wie den Kopf einer Geliebten vor die Augen. Wenn wir nicht dagewesen wären, er hätte des Kaisers Kokarde geküßt. So sagte er zu uns mit tief aufgewühlter Stimme: »Schön, schön ist es doch dabei: Ihr ahnt es gar nicht!«
Auch uns erregten seine Worte; halb zuckte es in uns voll Feindseligkeit und Hohn, – und halb ergriff es uns gegen unsere Überzeugung. Der Hauptmann aber nahm den Säbel und schlang das Portepee daran, dann legte er den Stahl Hans Gottschalk in die Hände und fragte freudig bewegt: »Ist der nicht herrlich?«
Der Student zog die edel gearbeitete Waffe halb aus der Scheide und blickte verwirrt auf die Klinge. Das Eisen zog den Mann an.
»Auch ich werde so einen führen, wenn es Ernst wird; und in Ehren!«
Entschlossen aber fügte er hinzu, indem er den Säbel an den Offizier zurückgab: »Gegen alle, welche bekämpfen wollen, was gut und recht ist.«
»Das ist umsonst – –,« sagte der Hauptmann, und seine Augen schauten düster leuchtend aus dem ernsten, nun so belebten Angesicht auf Gottschalk: »Es ist schön, aber es ist umsonst. Diese Zeit ist nicht reif, sondern faul. Gott selber hat uns über diese Welt geschickt! …«
Da gingen Gottschalk und ich im Grolle von ihm fort.
Margarethe rief uns zum Abendtisch, welcher trotz des nun schon hereingegangenen Oktobers im freien Garten gedeckt war, denn ein Föhnhauch durchwärmte die Luft und wir waren nur junges Volk an der Tafel.
Still und rasch aßen wir; denn Frau Gottschalk lag in ihrem Zimmer und hatte Herzbeschwerden. Da wollte Gottschalk zu ihr.
So blieben Grete und ich allein bei der Gartenlampe, an welche die Nachtschmetterlinge stießen. Das liebe Mädchen nähte, und ich durfte sie mit Innigkeit betrachten, ohne daß sie es merkte.
Sie saß in dem milden Lichte, das Haar durchgoldet, das Antlitz durch den Reflex der Weißarbeit wie ein Pfirsich zart beflaumt. Sie hatte ein still gescheidtes Köpfchen, daran die Zöpfe glatt umgelegt waren, so daß die schönste Rundung erreicht war. Und indem ich sie ansah, bedachte ich, wie schön eigentlich unser heller deutscher Mädchentypus ist. Dieses sanfte Gold viel schöner als Schwarz, und das Weiche, Blühende eines solchen Gesichtchens feiner, als der so bestrickende Kontrast ebensolcher Blüte mit schwarzem Haar. Sogar die Stimme eines solchen Gottgeschöpfes hat etwas Warmes, Anfragendes, während sie bei Dunklen oft so bestimmt lautet, als wenn ein Hammer auf klingendes Metall schlüge: Klavierton. Die Blonde sprach, wie wenn der Wind über eine Saite strich; alt-harfenartig, leise vibrierend.
Doch ich hielt inne und nahm mich zusammen, denn ich fühlte, daß in mir etwas Süßes und Banges wuchs, welches in solcher bitterer Zeit und bei Vorsätzen, wie ich sie hatte, nicht gedeihen durfte.
Dann galt Margarethe als Gottschalks Verlobte. Als sie vor fünf Jahren aus Oberösterreich, der Stammheimat der Kranebitter, gekommen war – von wo sie den leicht singenden Tonfall ihrer Rede mitgebracht hatte, – da war das dreizehnjährige Kind dem acht Jahre älteren Herrn Vetter Studenten über Feld und Wiese nachgefolgt und ganze Tage mit ihm gegangen, der ihr die Natur erklärte oder auch wohl stundenlang schwieg.
Da sie heranreifte waren beide die alte Freundschaft gewohnt worden und gingen nach wie vor über die grüne, braune, weiße Welt … die Menschen aber begannen sie zusammenzureden; Frau Anna Therese sah kein Arg und wünschte, die Leute möchten recht behalten. Sie sagte diesen Gedanken sogar laut und Gottschalk litt ihn lächelnd, denn er glaubte nur an eine schwesterliche Neigung und gehörte selbst zu sehr der Aufgabe, welche der Vater ihm hinterlassen hatte, um an Nest und Futtertragen Gefallen zu finden. In diesem vulkanisch heißen Boden vermochte eine stille, treue Liebe nicht zu gedeihen.
Vielleicht einst eine Leidenschaft?
Mit Margarethe jedoch war es anders ergangen. Sie gehörte schon so sehr zu Gottschalk, daß sie sich ohne ihn gar nicht mehr denken konnte. Sie schlug Wurzel, da man sie hinstellte und pflegte. Ein gesundes Gewächs vom Lande das sie war, wuchs sie in diesem Boden fest, und eine ruhige, große Neigung war in ihr: keine brennende Sehnsucht, aber dennoch kaum mehr auszurotten.
Ich bin erst in meinen späteren Jahren zu der Meinung gelangt, daß jede Liebe veränderlich und umpflanzbar ist, wenn die Bedingungen da sind; und ich denke nicht sehr groß von dieser wichtigen aber geistmordenden Beschäftigung des leichtfertigen Lebens.
Damals aber schien mir die Liebe viel unverrückbarer als Religion und Krone, und ich verzweifelte daran, dieses gesunde, wackere Geschöpf an meine Seite zu bringen.
So war ich nach einer, dem jungen Dinge vielleicht lächerlich schweigsamen Stunde in banger Ergriffenheit, als mich Gottschalk zur Nachtruhe in seinem Elternhaus einlud.
Wir kamen in seine stille, reine Stube mit ihrem Altvaterhausrat, mit Kupferstichen und Holzschnitten aus Familienblättern an den Wänden, zwischen denen mächtig und leidenschaftsvoll zwei gewaltige Gesichter, das Bild Erasmus Theodor Gottschalks und das ihm ähnliche, nur noch herbere Antlitz Dante Alighieris brüteten.
All das bewegte mich heute doppelt stark. Wie viele Seufzer nach Gewalt und Größe waren gegen die Wände dieses Studentenstübchens geprallt, wie viele Unruhe eines gedankenwälzenden Herzens war hier verschwendet worden!
»Betrachte die beiden Brüder,« sagte Hans; er wies auf Dante und seinen Vater und fuhr fort: »Beides verbannte Flüchtlinge, beides unruhige Wanderer, welche dieser Welt zu fluchen scheinen, die ihnen den Feldstein zum Kopfkissen gemacht hat. Und dennoch stünde beiden kein Leben besser an als das ihre. Ihr Elend macht ihre Größe.«
Ich schwieg – denn in mir waren weichere Schwingungen.
Das Fenster stand offen; ich lehnte mich weit hinaus, indessen mir Gottschalk ein Bett herzurichten begann. Da auch er noch schlaflos war, setzte er sich dann zu mir an das Fenster und schaute mit seinen wilden, stillen Augen mit mir auf das bewegte Licht, welches aus unserem Zimmer auf die Bäume fiel, in denen der Wind sein Wesen hatte – und hörte wie ich dem Geraune der Herbstnacht zu.
Dieses schwieg bald eine kurze Weile, nur drüben auf der Hohen Warte fingen die Bäume sich zu neigen an; man hörte sie leise herüberrauschen, aber im weitläufigen Nachbargarten standen noch die großen Wildkastanien ganz stille und wir rochen nur den herben Duft ihrer Herbstvergänglichkeit. Dann, urjäh, rauschte es in ihnen bewegungsreich auf und prasselnd fielen von allen Zweigen zahllose Kastanien, – ein kurzer, köstlicher Trommelwirbel schlug an die Erde, lau kam ein Siroccofauch gegen unser Haus gestoßen.
»Er erntet, der weiche, warme,« sagte Gottschalk träumerisch.
Dann raunte es wieder leise weiter wie zuvor, der herbe Lohduft kam stärker herüber, selten fielen drüben einzelne Kastanien oder bei uns im Garten ein schwerer Apfel. Lange blieben wir so am Fenster und nahmen jedes dieser Geräusche bei wunderbarer Stimmung in uns auf.
Dann aber fuhr Gottschalk empor. »Wir träumen ja,« rief er, »das darf nicht sein, es entnervt wie Musik; man wird zum Instrument seiner Stimmungen, da man doch ihr Herr sein sollte! Laß uns schlafen gehen.«
Ungern folgte ich.
Am Morgen rauschten die Zweige stärker und die Fensterflügel schlugen im Winde, da sang es draußen in der taufrischen Welt vorbei:
»Schwarz sein die Hollerbeer
Weiß sein die Blüah,
Schön sein die schwarzen Aug'n
Treu aber nia.«
Gottschalk sprang auf und ans Fenster. »Steirerschützen,« rief er froh. »Die kommen doch wie Sturmvögel dorthin, wo es Unruhe und Geraufe geben soll!«
Auch ich reckte mich vom Bette los und trat gutgelaunt in den Morgensonnenschein am Fenster. Da zogen sie unten, die Arme untergefaßt, mit ihren reifgrauen, grün ausgeschlagenen Lodenröcken und den Schildhahnhüten, und die Büchsen blitzten im Frühschein.
»Sie gehen jagen,« sagte ich neidvoll.
»So eine Schar möchte ich führen,« träumte Gottschalk.
Und die herrlichen Jungen aus dem grünen Lande sangen und klangen immer ferner dahin, wo über der Donau die lichten Morgenwolken zogen.
»Hocken wir immer noch hier?« rief der Freund, und wir machten uns rasch fertig und sprangen über die stilldämmrigen Treppen ins Freie.
Gottschalk war wie in Heiterkeit eingehüllt. »Heute sollst du sehen, was deutsches Volk heißt,« sagte er. »O, ich habe Bekannte in den Wurzeln der Eiche!«
Wir kamen nach frischer Wanderschaft zu einem Häuschen, dessen weißer Giebel recht lieblich über rotem Rebgeschwanke in die blaue Morgenheiterkeit hineinstand.
»Da wohnt so eine Herzstärkung,« sagte Gottschalk, und wir traten ein, stiegen die Treppen hinauf und klopften an eine alte buntbemalte Stubentür. Niemand antwortete. Da drückte Freund Gottschalk die Klinke nieder und wir traten ein.
Ein kleines, gedankenhelles Stüblein, fast leer, lächelte uns an. Da war ein reinliches Bett, ein Stuhl, der als Waschtisch gedient hatte, ein Schubladenkasten, auf welchem zahllose Pappeschnitzen jeder Größe und Form lagen, wie sie beim Buchbinder abfallen, ein kleiner Ofen, auf dem an einem Feuer von ähnlichem Schnitzelwerk ein Frühstück gekocht worden war, und vom Schubladkasten bis auf das Fenstersims hinüber lag ein glattgehobeltes Brett.
Das war der Schreibtisch, und der Buchbindergesell, der hier wohnte, war ein Dichter.
Im Fenster lag ein Bündel Dramen; auf den Papierstücken und Pappdeckeln standen halbe und ganze Gedichte. Ein solches lag begonnen und ganz frisch verlassen auf dem hellen Brett, welches Schreibtisch hieß.
Hans Gottschalk las halblaut:
O, Vaterland! Der Sommer ist entschwunden;
Du willst uns reife, süße Weinfrucht geben,
Du willst ein trauliches Zusammenleben
All deiner Kinder in den Winterstunden.
Doch in den Trauben, in den busig bunten
Durchwühlt mit giervoll hastendem Bestreben
Fremd ein Heuschreckenvolk die schweren Reben
Und erntet mit und frißt dir tiefe Wunden.
Die Welt wird öde und der Rauhwind schnaubt,
O, Vaterland, nun ist es Herbst geworden
Und wir …
»Und wir?« fragte ich.
»Es steht nichts weiter hier,« antwortete der Freund nachdenklich. »Dort am Boden liegt die Feder: sie ist vielleicht in tiefer Erregung weggeschleudert worden und er ist davongestürzt, um sich durch den Frühsonnenschein und die rauschenden Bäume sein Herz in Schlaf schmeicheln zu lassen.«
Und Hans Gottschalk wurde tief ernst und stand in Forschung versunken an dem Brett in dem kahlen Stübchen, in dem eine Seele wohnte, deutsch, träumerisch, grübelnd aber kampfsehnsüchtig wie die seine.
Er dachte über das Ende des verlassenen Liedes nach …
An der Wand hing mir indessen zu willkommener Betrachtung ein Bild in Rötel, welches, wohl von einem Freunde des Buchbinders gezeichnet, den letzteren darstellte: Ein helles, umlocktes Antlitz, sonst aber ganz und gar der deutsche Handwerksbursch, über welchen so viel gespöttelt worden ist, bis er ausgestorben war … der arme, ehrliche Bruder Straubinger; klobig, treu und mit einer Seele wie ein Stammbuch voll naiver Verslein; der still verliebte wanderbewegte Morgenmußichfort, von dem wir die wunderschönen Volkslieder bekommen haben.
Heute ist er verdrossen und wunschzerfressen; er nennt sich Arbeiter. Weil er seine kleine Stube nie mehr zum Häuschen wird ausbauen können, läßt er sie verschmutzen, und weil er niemals seinen Kindern Erziehung und Besitz wird hinterlassen können, zeugt er mit einem elendsverfallenen Wischhadern Balg auf Balg von der Art, wie Gott sie einst über diese Welt schicken wird, statt der viel zu sanften Heuschreckenplage früherer Jahrhunderte.
Mir wurde bang. – Ja! Damals ahnte ich, was sich heute zusammenbraut – unter unseren sorglosen Blicken.
»Komm, gehen wir,« drängte ich Gottschalk. Der aber nickte mit dem dunklen Haupte vor sich hin und las mit herbem Ton:
»Doch in den Trauben, in den busig bunten
Durchwühlt mit giervoll hastendem Bestreben
Ein fremd Heuschreckenvolk die schweren Reben
Und erntet mit und frißt dir tiefe Wunden.
Die Welt wird öde und der Rauhwind schnaubt;
O, Vaterland, nun ist es Herbst geworden
Und wir, auf eignem Boden, steh'n beraubt!«
»Ja: Das reimt sich,« sagte ich betroffen. Wir gingen wieder fort … lange nicht mehr so heiter wie wir gekommen waren.
Als wir in's Freie gelangten, fragte ich den Freund: was den stillbraven Burschen, als der er aussehe, zu solch einem Rügelied gereizt haben mochte?
»Seine Eltern,« erzählte Hans, »verloren durch jüdischen Kornwucher ihre ländliche Wohlhabenheit. Mit dem Brief in der Tasche, in welchem sie ihm von der gerichtlichen Auspfändung schrieben, mußte er in die Bibliothek eines Barons Rotschild oder Hirsch, wohin ihn sein Lehrherr für mehrere Tage zur Arbeit gesendet hatte. So lernte er eines der Meere kennen, in welches die Ströme des Schweißes münden, mit dem der Arme nach Wohlstand ringt. Zudem arbeitet er in einer Art Fabrik mit hundert anderen, und sein Brodherr, welcher niemals Buchbinder gewesen ist – abermals ein Jude.
Da ist es denn kein Wunder, daß auch aus so mildem Herzen manchmal bittere Worte aufsteigen. Und doch: Es ist das erstemal, das ich solches von ihm lese. Wie wird sich das weiterbilden?«
Und Hans Gottschalk führte mich weiter und abermals zu einem von jenen, von welchen er die Tüchtigkeit und Ideenfreude des neuen heiligen deutschen Reichs erhoffte, welche aber die letzten aus überbliebenen Zeiten waren – wie ich später fürchten lernte.
Gottschalk hatte Tage, an denen er von früh bis in die Nacht fern vom Hause auf den wilden Waldhöhen oder in der sonnenbrandigen Ebene umherirrte und seine zweifelvolle Seele zu den Bauern auf die Kost trug.
Alsdann verkehrte er mit niemand von den Kollegen und Gebildeten, und sein einziger Umgang war ein Töpfer, der am Walde im letzten Häuschen über Sievering wohnte.
Mit Stolz hielt Gottschalk diesen Mann dem Hauptmann entgegen, wenn der über verluderte Lebensführung und Gedankenscheu der Wiener brummte.
Es war ein rechter alter Freistadtbürger, welcher sich da draußen angesiedelt hatte und sich nach Fleiß und Tüchtigkeit in eigenem Hause zu bürgerlicher Behaglichkeit niedersetzen durfte. Rings um ihn gab es blondzöpfige, stille Mädchen, bedächtig starke Jungen, und eine rührige Hausfrau vertrat die Unruhe, den Lebenserreger in diesem soliden Uhrwerk. Lauter Bravheit und Tüchtigkeit wuchs um den alten Stamm.
Wir kamen durch einen luftigen, schattenguten Hausgang mit gestampftem Estrich. Zu beiden Seiten machten Topf und Tiegel aus feuchtem, ungebranntem Ton ein kühles Spalier.
Aus einem Gartenzimmer las eine ruhige, starke Stimme einen feierlichen Text … sonst war Verlassenheit und Schweigen im Gang, im Garten, in der Küche, im ersten Zimmer. Als wir an das zweite pochten, entstand auch hier Schweigen, dann trippelten hastige Schritte und die jüngste Tochter war wohl durch einen Wink zum Oeffnen der Tür gesendet worden, denn ein freundliches Mädchengesicht erschien an der weichenden Türkante und ging daran gelehnt mit ihr zurück, wir traten ein.
Einmal, an einem stillgoldenen Feierabend an der Donau hatte ich mit diesem Töpfer über die Ernte gesprochen. So kannte er mich, als ich eintrat und streckte mir und Gottschalk von seinem Sitze die Hand hin: »Schön, daß auch Sie kommen« – und ließ uns zwei Stühle rücken.
Gottschalk begrüßte Frau und Kind und sagte: »Das ist mein Freund Hager.«
»Sie haben schon über ihn gesprochen,« sagte die Frau und lächelte mir gutmütig zu. Und ich saß am Tische und hielt, wie all die Jungen und Mädchen um den Vater, die Hände vor mich gestemmt und gehörte auch schon mit in das Haus.
Der Alte aber neigte sich in seiner sicheren Weise über ein Buch, das vor ihm lag, rückte eine Brille von der Stirn vor die Augen und las, unbeirrt von unserem Hiersein weiter, wo er bei unserem Eintritt stehen geblieben war:
»Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen.
Und da solches das Volk hörte, entsetzte es sich über seine Lehre.«
Meister Blank schlug die Bibel zu, sah seine Kinder freundlich an und fuhr in freier Rede fort: »Wenn unser lieber guter Herr Christus wieder einmal über die Erde gehen und uns abermals gütlich zureden wollte, da würden sich auch alle entsetzen. Und die Geistlichen vorauf würden rufen: Das ist nicht die Lehre der Kirche! Der so spricht, ist einer von jenen falschen Propheten, vor denen der Heiland gewarnt hat, daß sie sagen werden: Sehet, ich bin Christus.
Denn leider: Seine Lehre ist eine Lehre der Toten geworden; der Friedhof und das Jenseits werden gepflegt, und dieses Leben, das einzige was wir sicher in der Hand haben, bleibt verwahrlost. Tot ist auch Christi wahres Wort, – an das sich immer nur wenige im großen Staate halten könnten, – und lebendig bleibt nur der Nutzen, den alle Kirchen aus Staatsreligionen ziehen.
Liebe Kinder! Lauscht den Lehren der Geistlichkeit und scheidet in eurem Inneren das Gute darin vom Bösen. Die Geistlichen selbst aber nehmt nach den Worten des Herrn: An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen.
Wenn einer euch das Herz innig rührt, wenn er die menschgewordene Güte selbst ist und Friede verbreitet, dem folgt: Denn er ist von Jesu selber gesendet.
Wer aber von euch den Zettel der letztabgelegten Beichte vorgewiesen begehrt, statt auf die Rührung eures Herzens zu sehen, der ist ein anmaßender Beamter, ein trockener Bureaukrat der Kirche.
Und wer, statt zur Liebe für unsern Herrn und Meister zur Anhänglichkeit an irgend ein Bekenntnis und zum Haß gegen ein anderes wirbt, der ist ein Parteimann, ein Agitator dieser Welt. Vor denen Zweien verschließt euer Ohr und verhärtet ihnen euer Herz: Still und ohne zu widerreden!
Diese sind es auch, welche euch lehren, Gott in euren Gebeten zu euch in den Staub zu ziehen und ihn mit Bildern, Wachskerzen und silbernen Herzen zu bestechen, ihn, der sich, wenn er allweise ist, nichts abbitten lassen kann, was er nicht selbst beschlossen hat; ihn, zu dem das Gebet sich erheben sollte, statt eine widrige Bettelei zu sein.«
Hier fiel der älteste Junge ein. »Vater, ich wollte dich schon lange fragen: ich muß bald auf die Wanderschaft. Wer wird da mein Gewissensrat sein, wenn mir kein Priester ansteht?«
»Der liebe Herr Christ doch selber, mein Bub. Ich bleibe bei euch bis an das Ende aller Tage, sagt er. Halte ihn in dir und er ist dir mehr und näher als dein Bruder, ja du wärest Er selbst, wenn du ihn keine Sekunde von dir zu lassen vermöchtest, denn das Himmelreich wäre dann in dir. Freilich! Solches wird nur Auserwählten zuteil: Der heilige Franz von Assisi war ein solcher, aber: Hat sein eigener Orden viele ähnliche gezeitigt? Wie also sollten wir Kinder der Nützlichkeit ihn ganz in unser Herz zu ziehen vermögen?
Aber ihn nahe halten, so nahe als wir können, das gibt uns doch immer einige glückliche Lichtstrahlen aus der offenen Tür des Himmelreiches.
Nun: An die Arbeit, Kinder!«
Diese gingen still auseinander. »Was führt Sie zu mir, Herr Gottschalk,« fragte nun endlich der Alte, indem er aufstand und mit uns zur Werkstätte ging.
»Ich wollte Ihnen nur am heiligen Morgen die Hand drücken, bevor Sie noch vom Lehm dieser Erde starren,« gab Gottschalk lächelnd zurück.
Ich aber, bevor wir schieden, fragte den Meister: »Werden Ihre Kinder nicht büßen müssen, wenn sie in der Schule, wortefroh wie besonders die Jungen sind und im Glauben auf die Autorität des Vaters so gefährliche Dinge weiterplaudern?«
»Es ist ein stilles junges Volk,« beruhigte mich Meister Blank. »Sie horchen bei mir und sie horchen in der Schule, und mit ihren ruhigen Köpfen sitzen sie dann zu Gericht, vereinen oder trennen, verurteilen oder bestätigen und lernen aus sich selber und nach eigener Meinung unterscheiden … was von den Alten wenige können.«
Er war dabei an die Arbeit gegangen, hatte ein Stück Lehm zu formen begonnen und setzte die Drehscheibe in Schwung.
An uns vorbei gingen seine jüngeren Kinder in die Schule und grüßten mit hellen, zweifelfreien Augen. Und auf der Drehscheibe bildete sich die Wohlgestalt eines Labekruges für die Schnitter auf dem Felde.
»Mögen Ihnen die Seelen Ihrer Kinder eben so sicher und gerundet aus der Hand gehen,« wünschte ich ihm herzlich.
»Gott wird es geben,« nickte er freundlich. »Guten Morgen.«
Und wir gingen.
»Vor Kindern!« brach ich zu meinem Freunde heraus, als wir im Freien waren. »Es ist kühn und gefährlich. Eine wahre Seiltänzererziehung!«
»O, du Philister,« widersprach mir Hans Gottschalk. »Der Alte ist der ruhigste Bürger und beugt sich vor aller Obrigkeit; auch vor der Kirche. Und er würde den Kindern niemals gestatten, sich aufzulehnen. Aber in ihren Herzen will er sie frei wissen.«
Wir waren schon weit gegangen, da sang es aus dem Töpferhause kraftvoll herüber:
Sein Wort sie sollen lassen stehn,
Kein Dank dafür nicht haben,
Wir haben selbst es eingesehn
Mit unserm Geist und Gaben,
Und nehmen sie den Leib,
Ehr, Gut, Kind und Weib –
Laß fahren dahin,
Sie haben 's kein Gewinn:
Das Reich muß uns doch bleiben!
»Ein protestantisches Lied bei einem Katholiken!« rief ich aus.
Gottschalk sah mich mit Triumph in den Augen an und sagte: »Das macht die Freiheit des Herzens. Die im Jahre 1530 also sangen, sind auch alle einst Katholiken gewesen. Aber daß heute so gesungen wird, verdient abermals den Ausruf: Es ist eine Freude zu leben, denn die Geister im Lande sind wach!« Und leiser sprach er die Worte nach: »Das Reich muß uns doch bleiben! … Wie schön!«
Und auch ich sagte aus vollem Herzen und mit jenem Gemüte, mit welchem man Amen spricht: »Ja, wie schön!«
»Seltsam ist es aber doch,« fuhr der Freund nach einer großen Weile fort: »Sonst, wenn er morgens die Bibel liest, ist alles, was er sagt, mehr behäbig, heiter, wie eine altdeutsche Legende oder wie ein Schwank von Hans Sachs … Ist denn die Zeit der guten Laune unseres Volkes vorbei? Seine Geduld gerissen?«
»Es ist wahr,« antwortete ich betroffen. »Der weltverlorene Poet und der bodensichere Bürger – jeder hat seine Feindschaft, beide singen Kampflieder.
Sollte der Atem dieser Zeit so giftig sein?«
Am nächsten Abend, jenem des vierten Oktobers, erwartete Gottschalk nebst mir unsere Freunde Hirsch und Hulle. Sie hatten sich selbst eingeladen; »Weingartenstimmung kosten,« wie sie sagten. Jedoch Gottschalk wollte, besonders mit dem Journalisten, über die Unruhe dieser Tage, in der Hauptsache über die Truppensendungen nach Ungarn sprechen, welche alle Gemüter erregten. Der Hauptmann aber sollte uns abermals die gute Stunde mit seiner Gallbitterkeit verderben.
Er war jetzt die ganzen Tage in der weit entlegenen Gumpendorferkaserne beschäftigt, wo er eine Grenadierkompagnie überkommen hatte; erst spät am Abend ritt er nach Döbling hinaus, um seine Angelegenheiten vor beginnendem Feldzuge zu ordnen und seine Feldausrüstung zu packen. In seiner Stimmung schien ihm unsere Politik vermessen, verächtlich und strafbar, woraus er kein Hehl machte.
Jenen Nachmittag nun freuten wir uns auf das Wiedersehen mit Hirsch, dem »Doktor«, welchen wir lange nicht gesehen hatten.
Der war im März einer der begeistertsten gewesen. Mit all den Schwärmern, mit all den Lärmern sah man ihn Arm in Arm. Er schwang die schwarzrotgoldne Fahne vor der Hofburg, er stimmte immer zur rechten Zeit das Lied an: »Deutschland, Deutschland über alles,« und es war rührend, wie dieser junge Jude für ein Volk entbrannte, welches nicht das seine war.
Manche witzelten über ihn, einige Rohe wiesen ihn sogar durch brutale Worte aus der deutschen Stammgemeinschaft. Uns, Gottschalk, der ihn durch mich kennen gelernt hatte, und mir tat es für ihn wehe.
Hirsch aber hatte viel Witz und mehr und mehr suchte man ihn in einer Zeit, in der es so viel zu belachen gab. Er hatte bald stets Gesellschaft auf der Gasse und in den Schenken, in welche er nur seiner Beliebtheit wegen, nicht um zu trinken, ging. Er wurde bekannt, dann populär und so sahen wir ihn immer seltener und fürchteten fast, er hätte die Zeit vergessen, in welcher wir fast die einzigen waren, welche er als Freunde besaß und welche zu ihm hielten.
Als aber die Trauben in den Weingärten süß und durchsichtig geworden waren, entsann er sich wieder an Gottschalk und schrieb, daß er mit Hulle kommen werde. Hulle, ein bodenloser, liebenswürdiger Taugenichts, der aus seiner Nichtsnutzigkeit niemalen ein Hehl machte, setzte ein Postskriptum hinzu, zu der von Hirsch kosten gewollten Weingartenstimmung gehöre auch der zu verkostende Wein. Von allen Sorten, von allen Jahren.
So kamen sie denn. Hirsch blieb mäßig, Hulle nahm alles, was man ihm vorsetzte und aß und trank als ein kerngesunder Mensch. Dazwischen lehnte er mit seinem Stuhle schaukelnd weit zurück und erinnerte sich in dem entzückenden Idyll dieses Vorstadtgastgartens, in welchem schon Franz Schubert wunderschöne Lieder geschrieben hatte, daß er Maler sei. Er sang zu einer selbsterfundenen Melodie die Pigmente herunter, welche er in Baum und Strauch sah und zeichnete hübsche Skizzen auf den weißgestrichenen Tisch.
Auch Hirsch war in guter Laune; aber wir hatten ihn lange nicht gesehen und es fiel uns auf, daß er früher bescheidener und dankbarer gewesen war. Sonst gab er nur manchmal ein blitzblankes Wort in das Gespräch, – heute machte er Witze um jeden Preis. Er war übermütig geworden und uns tat es herzlich um die zarte Feinheit leid, welche er ehedem besessen hatte.
Auch von Deutschland sprach er nicht mehr; es schien ihm nur eine Zwischenstufe in seinem Erkenntnisgang gewesen zu sein; heute kannte er nur die allgemeine Freiheit der Rassen und Klassen.
Jetzt betrachtete er eben eine der Zeichnungen Hulles. »Ah! ah!« rief er: »Ein Idyll? Du führst also ein idyllisches Leben hier, Gottschalk? Ein Genrebildleben? So einer bist du? Ich vermochte dich nie recht zu beurteilen; es war in deiner Republikanernatur stets ein Ungelöstes, Zurückbehaltenes … deine Grundsätze dufteten immer so eigen … ich dachte an Alt-Nürnberg. Jetzt weiß ich es: es war Lavendel und Wäschekasten.«
»Glaubst du doch?« fragte Gottschalk bedenklich. »Philisteridyllik? Altfamilienkram in der Seele?«
Hirsch sah ihn an und fragte plötzlich dagegen mit ernsthafter Miene: »Was ist der Unterschied zwischen einem Idyll und einem Freudenmädchen?«
Gottschalk blickte ernst auf und schüttelte verwundert den Kopf, wie das hieher gehöre? Desto schneller war Hulle bei der Sache. »Also?« drängte er.
»Ein Idyll ist e unschuldige Handlung und die andere ist e verhandelte Unschuld.«
»Ach so,« sagte Gottschalk freundlich. – Er war aus ganz anderen Gedanken gezogen worden.
»Und was haben sie gemeinsam?« fuhr Hirsch fort.
»Freund!« erinnerte Gottschalk ruhig. »Wir wollten doch von der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches sprechen.«
Der Hauptmann unterbrach uns. Unbemerkt war er herangekommen. Hirsch kannte ihn und machte ihm, nervös zur Seite rückend, einen weiten Platz am Tische. Seine blanke Laune war angelaufen; er liebte den düster stolzen Offizier nicht.
Diese Abneigung war gegenseitig, und diesmal hatte der Hauptmann sich wohl vorgenommen, dem militärfeindlichen Journalisten zum Abschied seine Meinung zu sagen. Es entspann sich ein Zwiegespräch, von dem ich bedaure, daß ich es nicht mehr in seiner Frische aufzuschreiben vermag; denn niemals hatte ich einen reinen Logiker, wie es der pessimistische Hauptmann war, gegen einen absoluten Dialektiker wie Hirsch streiten hören. Auch hier wäre, wie immer, der Logiker – besonders der hitzige Logiker – der unredlichsten aller Künste, deren sich Weiber und Satan am besten zu bedienen wissen, erlegen, wenn nicht der Hauptmann jede Ablenkung augenblicklich wieder an ihren Ausgangsort zurückgeführt hätte.
»Es ist hübsch von Ihnen,« hatte der Hauptmann, indem er sich gemütlich in die von Hirsch geöffnete Lücke setzte, ohne weiteres begonnen, »daß Sie nichts mehr von Deutschland wissen wollen. Ich bitte Sie: Ein Allerweltsbürger wie Sie!«
»Besser Allerweltsbürger als Allerweltsborger,« sagte der Doktor mit seinem charakteristischen Idiom. Wir lachten.
»Hm,« sagte der Hauptmann, »ich bin einer der vielen Offiziere, welche nie verschuldet waren. Dennoch sitzt auf jedem Offizier der Ruf des Leichtsinnes, wie auf Ihrer Rasse der des Eigennutzes. Und doch bilden wir einen Stand, keine Blutsgemeinschaft. Wenn nun in Ihrem Volke – um nicht zu sagen in Ihrer Familie –«
»Herr Hauptman,« unterbrach Hirsch den gewiß interessanten Gedankengang des Offiziers, »wenn Sie das Geldpumpen im Offizierskorps zur Höhe eines erblichen Kunsttriebes erheben wollen, wie die Juden das Geldverleihen, so müssen Sie einen Erlaß an hoher Stelle provozieren, daß die ärarischen Familien behufs Inzucht nur unter sich heiraten dürfen.«
Abermals lachten wir; der Hauptmann wartete und sagte dann ruhig: »Sie lenken ab, Herr Hirsch. Verwenden Sie das in Ihrem Journal, dessen halber Daseinszweck zu sein scheint, die Armee anzugreifen, welche ohne Preßorgan stumm und wehrlos ist.«
»… außer daß sie von Bajonetten starrt, wie ein Igel!«
»Herr Hirsch, wenn ich auf Ihren Ton eingehen dürfte, so müßte ich erinnern, daß Sie es dann ebenso machen wie der Fuchs, der nicht den Mut hat, den Igel zu beißen und ihn mit seinem Unrat begießt. Aber da ich die Dinge zu gründlich vornehme, wäre ich im Nachteil, wenn ich Ihre Kampfweise annähme. Ich kann die Herrn da also nicht amüsieren –«
»Doch! Passiv.«
»Ich denke, das wird vorbei sein, wenn sie aufmerksam werden. Also: Ich kann Ihnen nur mit Erfolg begegnen, wenn ich Sie mit meinen Waffen: Ernst, Ehrlichkeit, Gründlichkeit, wie in einer Zange festhalte.«
»Um mich zu zwicken?«
»Nur um Sie zur Sache zu halten, Herr Hirsch; sehen Sie, die Herrn lachen schon nicht mehr alle drei, denn es sind ernste Köpfe unter ihnen.«
»Aha! Sie schmeicheln Ihrem Auditorium.«
»Ich spräche gar nicht vor solchen, vor denen ich meine Sache von vorne herein verloren geben müßte, und in jeder Wirtshausgesellschaft räume ich Ihnen den Platz ohne Kampf, nur um nicht ausgelacht zu werden. Aber hier will ich Ihnen rückhaltslos erzählen, wie ich über Sie denke, und da Sie ein gescheidter Mensch sind, wird es Sie interessieren, mir zuzuhören, welchen Effekt Ihr Wirken in einem fremden Kopfe hervorbringt.«
»Herr Hauptmann, wie mein Bild in Ihrer Dunkelkammer aussieht, ist mir so gleichgiltig –«
»Keine Beleidigung, Hirsch,« mahnte Gottschalk.
»Ihr hört es,« sagte der Hauptmann zu uns, »ich greife ihn ruhig, sachlich, akademisch an, und er sucht durch eine geschickte, ja witzige Dialektik von meiner Gedankenfolge abzuweichen, mich zu reizen, dadurch aus der Fassung zu bringen – und dann hätte er leichtes Spiel.«
»Rede, rede, Hauptmann,« rief ich aus. Uns gewann seine ruhige Geradheit und ungewohnte Milde. Er war beleidigt worden und hatte es so gar nicht mit kavaliersmäßigem Aufbrausen hingenommen.
»Ich werde also diesen Herrn anklagen.«
»O, bitte,« erwiderte Hirsch gereizt.
»Ich mute ihm die Noblesse zu, mir erst dann zu erwidern, wenn ich zu Ende geredet haben werde. Dann werde ich meinerseits seine geschlossene Erwiderung mit keinem Worte unterbrechen.«
»O, bitte,« wiederholte der andere.
Der Hauptmann aber begann: »Glauben Sie nicht, Herr Hirsch, daß ich Ihrem Talent verständnislos gegenüberstehe. Ich bewundere die Leichtigkeit, mit der Sie die überraschendsten Einfälle aus allen Ecken eines Tisches zapfen, der für andere aus Holz ist – nur nicht für einen solchen Teufelskerl wie Sie. O, wehren Sie nicht ab; warten Sie: Da sind Worte von Ihnen, über deren Sicherheit ich einfach paff war.
›Freue dich am Haß deiner Widersacher, denn er ist das Thermometer deiner Kraft.‹ – Wundervoll; – besonders im Munde eines rechtschaffenen Mannes.
›Der Mensch ist nur ein Gebäude ad interim, wie es ein Holzstoß ist. Der Idealist ist Brennholz, der Realist Bauholz.‹« – Alle murmelten wir beifällig.
»Auch das war gut,« fuhr der Hauptmann fort. »›In einem schräge stehenden Spiegel nimmt sich die wagerechte Linie schief aus. So entstellt der Querkopf den besten Gedanken.‹
Es ist unglaublich, wie rechtlich das empfunden ist, und man müßte Sie darum gerne haben, daß Sie die Erscheinungen so hübsch zu sehen und zu verwenden vermögen. Aber! Da kommen wieder Aussprüche wie die folgenden: ›Die zartesten Gedanken vermag nur ein lange unterdrücktes Volk auszudrücken, dessen Fideikommiß die Sehnsucht ist.‹ Kornbörse, Preistreiberei! Was? Oder: ›Scharfe Geister haben prinzipiell keine Stumpfnasen.‹ Sie enterben Sokrates und Luther. Warum sagen Sie so etwas? Es gibt Mißtrauische, welche denken, Sie wollen dem Volke die Überzeugung einer Erbpacht Judas auf Geist beibringen.
Wenn ich Ihre Aufsätze, nein, Ihr ganzes Blatt sozusagen statistisch durchsiebe und alle tieferregten Kampfartikel, jeden temperamentvollen Aufschrei, ja die Aphorismen von Dichtern und Denkern, welche Ihr abdruckt, perzentuell in Hinsicht auf die Sache zusammenstelle, der sie dienen, so gilt es vierzig, ja fünfzig von Hundert jüdischem Leiden, jüdischem Streben, jüdischem Gewinn. Und Sie sagen, Sie schrieben für das Volk! Dann müßten die Juden in diesem fünfzig von Hundert betragen oder Sie sind nicht ehrlich: denn nur fünf Prozent der Stadtbevölkerung sind es, deren Sorgen Sie fast ausschließlich in einem Blatte vertreten, welches der Allgemeinheit zu dienen vorgibt.«
»Und wenn ich noch jüdisch empfinde,« rief Hirsch dazwischen. »Wer erinnert mich am öftesten, am tiefsten, am schmerzlichsten an mein armes Volk? Menschen wie Sie! Sie selbst jagen mich zum Judentum zurück. Ich will mich an das Schiff der deutschen Nation retten, Sie aber stoßen mich zurück, indem Sie rufen: ›Weg von hier, Jude!‹«
»O,« rief der Hauptmann, »ich würde Sie nicht abweisen, wenn Sie nur in den Tiefen Ihrer Seele weniger Jude wären.«
»Wäre das möglich!« rief Hirsch ironisch.
»Ja,« tönte es gewichtig neben uns. Gottschalk hatte sich in das Gespräch gemengt und fuhr fort: »Ich kenne Juden, welche an ihrer großen Seele die ihrer Rasse eingewachsenen Makel bis zur Unkenntlichkeit weggeschliffen haben. Aus solcher Seele konnte ein Mendelssohn Lieder von herzdeutscher Innigkeit, wie die Eichendorff'schen Waldlieder, so stolz und schlicht, so fromm und gewaltig in Töne setzen. Diese Renegaten sollen wir lieben und ihnen die Arme weit entgegenbreiten! Und Hauptmann, vielleicht steckt ein solcher in unserem Freunde. Störe das zarte Werk nicht.«
»Deutsch tun und Jude sein!« lachte der Grimmige. »Ihre Gier nach den Rost- und Mottengütern, ihre Geschäfte und Profite und vor allem ihre Lüsternheit auf unsern herben Boden pflanzen und fortwährend dabei rufen: Wir sind die Euren! Was, Herr Hirsch? Und haltet dabei eure Brandfackeln in den Krügen versteckt wie eure Vorväter, als sie Schlafende überfielen!
All' denen, die eure perfiden Heuchelblätter lesen, werdet ihr in fünfzig Jahren die Meinung eingespritzt haben, das Thermometer menschlichen Glückes steige und falle mit dem Kurszettel. Ihr werdet Schiller vom Theater jagen und mit dem schwülen Parfüm eurer uns noch fremden Lüsternheit darauf einziehen, und Gott will ich danken, wenn ich dann keine Statistiken der geistigen Renegaten auf eurer oder auf deutscher Seite einander entgegenstellen kann. Mir brennen die Schläfen wenn ich daran denke! Ihr seid die Schmarotzermistel an der deutschen Eiche … Erst schmückt ihr sie beinahe, dann bedeckt ihr sie und sie trägt zuletzt Mistellaub anstatt ihres eigenen und stirbt ab.
Um eurer guten Gelehrten, um eurer paar liebenswürdigen Künstler willen sollen wir euch alle dulden? Brauchen wir denn jene, eure wirklich bedeutenden Ärzte, Juristen, Künstler? Nehmen sie nicht unseren Talenten den Platz? Was wären wir erst, wenn wir sie … euch alle nicht hätten! Ein großer Gott helfe uns von euch!«
»So geht es nun seit dreitausend Jahren,« rief Hirsch und sprang empor. Nun war er Jude: Der erregte, begeisterte Jude mit einem herben, klagvollen Zuge des Wehes um den Mund. Wie bedeutsam ist es, daß uns der Jude am jüdischesten vorkommt, wenn er wehklagt! Soll das sein tiefstes Wesen sein?
Und Hirsch klagte und schrie fassungslos, leidenschaftlich, alttestamentarisch: »So geht es nun seit dreitausend Jahren. Wir wandern als ewige Nomaden gehetzt unter stärkeren Völkern: Gebt uns Erde, gebt uns Wasser! Und überall ruft es: ›Der Jude hinaus!‹ Wir aber wandern mit zerrissenen Schuhen weiter. Kanaaniter, Ägypter, Assyrer, Römer, Spanier, Deutsche, Russen, jedes Jahrhundert in neuer Sprache der alte Ruf: Hinaus mit den Juden! Wenn wir wirklich immer noch Juden sind und jüdisch fühlen – wer hat uns denn ewiglich gemahnt, daß wir es sind und uns angeschrien mit Schlägen: ›Jude, bleib bei deinem Pinkel!‹
Ihr! Ihr! Und wenn ich ehrlich wollte sein ein Deutscher, ich dürfte nicht! Wenn ich beim traulichen Halbdunkel des deutschen Herdes mich wollte wärmen, wer hält mir den Feuerbrand vor meine verhöhnte Nas' und sagt mir: ›Du bist auch einer‹? Und wenn ich lobsingen will aus dankbarem Herzen für das liebe Land, das mir Heimat geworden: ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹ Wer schreit da hepp, hepp? Leute wie Sie, Herr Hauptmann. – Jude muß ich sein, ob ich will oder nicht, und womöglich gleich Saujud!«
»Um der ganzen Bibel willen, ruhig, Hirschele,« rief Hulle und schlang seine Arme um den kleinen Menschen, der am ganzen Leibe zitterte. Wir begütigten ihn, wischten ihm den Schweiß ab, der ihm über Haupt und Antlitz lief, jedoch immer stand er noch und sein Mund, sein Kinn zitterten, seine Augen konnten nicht los von seinem Gegner.
»Hat er dir nun ehrlich geantwortet, Hauptmann? Ohne Dialektik und mit Logik?« fragte Gottschalk und ergriff die Hand des tieferregten Juden. »Bist du mit ihm zufrieden?«
Der Hauptmann erhob sich und sah düster und fest in unsere mißbilligenden Gesichter, in eins nach dem andern.
»Ihr guten, warmen, mitleidigen Menschen,« begann er dann. »Zu weich, zu gerecht, um sich zu behaupten, so ging der deutsche Michel in all den zahlreichen Ländern unter, die er sich erobert hat, und er wird es zuletzt noch im eigenen.
Eines aber sage ich euch: Nicht der Haß machte den Juden, sondern der Jude erregte den Haß. Sie wurden nicht Juden, weil sie isoliert und ausgetrieben worden sind, sondern sie sind von allen ausgepeitscht worden, weil sie unverbesserliche Juden waren. Jenes Volk, welches vor viertausend Jahren aus dem vertrauenden Ägypten alles Gold stahl, bevor es auszog, das Volk, welches in Babylonien unter König Ahasveros und im oströmischen Cypern Hunderttausende ermordet hat, das Volk, dessen heiligstes Buch ein Katalog der unerhörtesten Schandtaten ist, das Volk, das allein Propheten erzeugen konnte, weil an keiner anderen Nation deren größte Männer verzweifelten – das Volk, dessen Jehovah wahrhaftig und von je das goldene Kalb gewesen ist – – – das ist Ursache und nicht Wirkung!
Gleichwie sie sich die egoistischeste aller Religionen machten, und nicht die Religion sie, so sind die Reinen und Herben der Feind ihrer Idee. Und diese Idee war zuerst da, dann kam die Feindschaft, und nicht umgekehrt! Das laßt euch gesagt sein, und seid um eurer Seelen willen hellsehend und starkherzig!«
»Schwarzsehend und hartherzig,« murmelte Gottschalk. Der Hauptmann schien es nicht zu hören. »Ich warnte dich,« sagte er und ging durch den verdüsterten Garten fort; seine Schritte knirschten noch; – »unangenehmer Kerl,« sagte Hulle laut in das allgemeine Schweigen. Der im Garten mochte es wohl noch vernommen haben.
Wir aber bemühten uns herzlich, den armen Freund, welcher zum Mitleid angegriffen aussah und bitter gekränkt worden war, mit Liebe zu umgeben.
Da es spät geworden war, verschoben wir unsere Unterredung auf den nächsten Abend, zu welchem noch mehrere der engeren Bekannten geladen werden sollten.
So kam ich auch mit einigen von Gottschalks anderen Bekannten zusammen – denn Freunde mag ich diese Studenten, von welchen fast jeder einen eigenen Sinn hatte und die sich nur lebhafter Debatten wegen so gerne gesellten, nicht nennen.
Frau Gottschalk sah es gar nicht gerne, daß bei ihr staatsgefährliche Besprechungen gehalten wurden und wir strichen meistenteils mit heißen Wangen und glühenden Worten im Felde umher. In der alten Kastanienallee gingen wir oft viele hundertmal hin und her und über dem Kopfe zusammen schlug uns das übermächtige Gefühl: Wir, wir machen jetzt die groß erregte Zeit, welche alles schlimme Alte ausbrennen, alles gute Neue in gewaltigem Guß formen wird!
Für diesen Tag jedoch, den fünften Oktober, hatte Bernewein, nächst mir der einzige nähere Freund Gottschalks, ein herrlicher Tirolerjunge, der guten Frau Anna Therese ein Faß jenes Etschländerweines verschafft, von Tramin oder Kaltern, der an der Grenze deutscher Besiedelung wächst, und, wenn man ihn zum erstenmale trinkt, so süß durchrieselt und so wehmütig glühen macht wie der Gedanke, daß das geliebte deutsche Volk nach Süden gerade dort eine Grenze haben soll, wo die Welt am schönsten wird.
Bernewein war seit kurzem mit der Tiroler Studentenlegion vom Grenzkriege zurückgekehrt; er hatte dort im Hochgebirge einen Schuß erhalten und war auf die Narbe stolzer als je ein ritterlicher Soldat auf den Theresienorden.
Gottschalk hielt diesen Feuerjungen von seiner Rückkehr ab fast ängstlich nahe am Herzen; es schien ihm viel an idealistischen Schwarmköpfen zu liegen, wenn sie Mut besaßen.
Diesen Abend nun war ich von allen Erwarteten am ersten eingetroffen. Ein Tisch auf einem erhöhten Podium des großen geschlossenen Glassaales war für uns gedeckt; von hier hatte an Sonntagen oft die Musik der Vorstadtschrammeln verweichlichend heruntergesungen.
Heute war der Tisch freundlich hell gedeckt, und der neu angekommene Südtiroler funkelte in geschliffenen Flaschen.
»Endlich sollst du Bernewein näher kennen lernen,« trat mir Gottschalk entgegen. »Er ist ein Tiroler Dickkopf, der sich für seine Sache dreimal totschießen läßt, bevor er umfällt.«
Wie es aber Gottschalk oft widerfuhr, fiel er jäh aus dem leichten Ton, den er angeschlagen hatte und fügte gedankenvoll dazu: »Mit solchen Leuten – – –!«
»Du steckst voll Plänen,« nickte ich.
Er sagte ja; war auch schon ganz von Ideen eingehüllt.
Wir lehnten uns beide nebeneinander an die Brüstung eines offenen Fensters der Glasveranda, da unten die Gasse vorbeiging.
Als erster nach mir kam ein junger Komponist, welchen ich schon vom März her kannte; der »musikgeweihte« Student der Philosophie Wieninger; ein Weichling, dessen Werke so duselnd dahinschwammen wie sein ganz und gar den Weibern verfallenes Leben. Hirsch und Hulle hatten, höchst unmotiviert, den Künstler in diesen Kreis geführt, in welchen er gar nicht gehörte. Er betrachtete uns nur als Auditorium, musizierte uns vor und nahm uns damit, wenn er auch manchmal die Stimmung erhöhte, viel Energie.
Seine einschmeichelnde Stimme lockte ihm schon vom weiten unsere Augen entgegen.
»Auch heute hat er ein Weib bei sich,« sagte Gottschalk und trat vom Fenster zurück. Er hielt sich steif, als wolle er sich so etwas nicht ankommen lassen.
Wieninger hielt mit seiner Dame am Treppengatter unter der Mauerbrüstung des Gartens an. »Hier verlasse ich Sie, gnädige Frau, weil ich es Ihnen versprochen habe; aber befehlen Sie, so verrate ich Freunde und Vaterland und gehe mit Ihnen.«
»Ich werde mir das merken und ich halte Sie vielleicht einmal beim Wort,« antwortete die Stimme einer sogenannten reschen Frau.
»Sie halten mich beim Herzen, nicht nur beim Worte, Gnädigste,« komplimentierte der fade Kerl.
Wir hörten nichts mehr, es erfolgte eine Pause; vielleicht gab es einen Kuß. Dann klang es tief atmend: »Auf Wiedersehen!«
»Man sollte immer hinter Schlüssellöchern stehen,« bemerkte Gottschalk bitter. »Aber ich bin zu feige dazu; ich mag die Schwächen derer nicht erfahren, auf die ich gerne gezählt hätte.«
Er empfing Wieninger kühl. Der aber fragte sogleich nach Frau Gottschalk, nach Mamsell Margaretha, und ging in den Schank, von wo wir seine Liebenswürdigkeiten bis herüber klingeln hörten.
»Von den Künstlern ist nur auf die aus der Familie Dante Alighieris zu rechnen,« sagte Gottschalk. »Diese allein haben einen Herrn und Gott, und sie tun einzig, was Er ihnen befiehlt. Die andern haben so viele Herren als sie Sinne und Begierden haben; denen sind sie treu, an großen Dingen aber sind sie Verräter. Als die sinnlichsten aller Männer sind sie den Weibern lieb und leisten Dinge, als ob sie Zuchtstiere wären. Und doch sind sie so unmännlich, so unmännlich! Nein: Der ist kein Mann, der sich nur an Weibern beweist.«
»Oho, warum?« scholl es hinter uns.
Ein gewisser Doktor Bestereder, ein gescheidter aber rechthaberischer Mensch war es, der so fragte.
Er war das Familienbild unserer heutigen jungen Doktores, welche alles wissen und nichts mehr zu lernen brauchen – aus deren Gemeinschaft die lächerliche Unfehlbarkeit der akademischen Senate, einer wahren Pfaffheit der Wissenschaft, herauswuchs. Dieser Bestereder, ein schöner Mann von Temperament, welcher in sich selbst den Angelpunkt der Welt sah und also nur in Gesellschaften verkehren wollte, wo er das große Wort führen konnte, kam nur, wie ich glaube, weil ihn ein quälendes Gefühl immer wieder zu Gottschalk zog, um sich diesem Studenten doch endlich einmal überlegen fühlen zu können. Aber so viel und so gescheidt er sprach, es gelang ihm nie, sich als den besseren zu beweisen, obwohl er nicht wußte warum.
Ich darf hier wohl schon sagen, warum: Im Hintergrunde von Gottschalks Wesen ruhte etwas, welches größer und besser als die schönsten Gedanken Bestereders war, dessen Aussprüche doch nur zur Verherrlichung der Persönlichkeit des gescheidten Doktors vorgetragen wurden. Es waren eben nur Worte.
Hinter Gottschalks Wesen aber saß abwartend die Erfüllung, – die Tat.
Bestereder war vom Gastzimmer hergekommen und kurze Zeit an der Türe stehen geblieben als Gottschalk eiferte. Da er es nicht aushielt, ein Gespräch passiv anzuhören, so riß er es an sich.
»Warum der kein Mann ist, der gerne vor Weibern paradiert?« wiederholte ihm Gottschalk. »Weil Eisen härter ist als Silber; und Stahl bewährt sich nur gegen Stahl.«
»Nein Gottschalk,« rief der Doktor eifrig. »Nehmen wir die Dinge wie sie liegen. Wo kämen wir ohne Weiber hin? Was sind die Ambitionen eines Mannes, der ihrer Gesellschaft ferne bleibt, also: Förster, Landdoktoren – vom Geistlichen nicht zu reden, denn der kommt ohne seinen weiblichen Anhang niemals zur Wirkung. Was also sind die Bestrebungen von Männern unter sich? Tabak, Tarock, Bier. Ein volles Herz, vor wem schüttet es sich am liebsten aus, wer hört ihm am willigsten zu? Weiber!
Dann der Ehrgeiz, dessen Baukasten die Staaten sind – –«
»Entschuldige,« rief Hans lebhaft.
»Bitte, aber schnell.«
»Also: Wegen dem Herzausschütten vor Weibern. Dir freilich kommt es sehr auf Reden an, denn dir ist nur dabei wohl.«
»Oho! du wirst persönlich,« drohte Bestereder.
»Ohne dich kränken zu wollen,« eilte Gottschalk zu sagen. »Ich möchte nur aussprechen: Die allervollsten Herzen beweisen sich daran, daß sie gerade vor Weibern unfähig sind ihren, für diese viel zu komplizierten Knäuel herabzuwickeln.«
Bestereder lächelte: »Christus, den du selber so hoch hältst, hatte die Oase seines Herzens in Bethanien bei den Weibern.«
»Ei ja,« rief der Student. »Und in Bethanien wäre er niemals Christus geworden. Er wurde es vor dem seligkeitdürstenden Elend, vor dem palmenwirbelnden Pöbel, vor Pilatus, auf Golgatha!«
»Da hast du es aber doch,« triumphierte Bestereder. »Die Weiber tragen dich, die Männer hängen dich!«
Gottschalk sah ihn mit tiefer Mißbilligung an: »Ja, – wenn du nur auf den Lebenserfolg siehst –!«
»Mein Lieber, ich bin Doktor und rechne als solcher nur mit dem Leben.«
»Warum kommst du dann zu mir um meine Verschwörungen zu teilen, wenn ich dir doch sage, daß ich um meinen Hals spiele.«
»Ich weiß schon, wie weit ich spiele,« erwiderte Doktor Bestereder stolz und ruhig.
Zum erstenmal erfuhr ich, daß sich Gottschalk bereits irgendwie in Gefährliches eingelassen haben mußte, denn er rief heftig: »Ich nicht! Ich weiß nicht, wohin mich mein Beginnen werfen wird, aber ich nehme jedes Schicksal an!«
»Verblendung, unpraktische Schwärmerei,« murmelte Bestereder.
»Lieber Doktor«, antwortete ihm Gottschalk. »Noch am Ende dieses Sommers hörte ich dich – freilich wieder vor einer anderen Gesellschaft – dieser selben Idee höchlich annehmen, welche du jetzt verurteilst … Denn damals,« er lächelte, »vertrat ein anderer Doktor deinen jetzigen Standpunkt. Und damals glaubte ich voll Freude, wir könnten auf dich rechnen!«
»Ich entsinne mich nicht,« schnitt Bestereder beleidigt das Gespräch ab.
Aber es war in der Tat so. Der eitle Mann, welcher über alles und meistens wegwerfend urteilte, verteidigte stets allen Philistern gegenüber die Märtyrer der Idee mit solcher Leidenschaft, daß ihn Gottschalk für einen fanatischen Idealisten hielt und viel von ihm erwartete. Erst als ihm und mir der Doktor öfter in Dingen widersprach, welche wir ihn anderen gegenüber verfechten gehört hatten, stieg in uns ein Zweifel an seiner Zuverlässigkeit in schweren Zeiten auf.
Seit jenem Verdacht prüfte ich, auch an anderen Menschen, alle leuchtenden Worte vorerst auf ihre Originalität: hatte sie ein anderer vor ihnen gesagt, so wurde ich mißtrauisch. Namentlich aber sah ich mir die Persönlichkeit an, welche sprach. Und wenn ein so genial an Haar und Bart aufgewirbelter Charakterkopf wie dieser schöne Doktor ihn sich zugelegt hatte, asketische Lehren zum besten gab so dachte ich mir: »Opernprophet«.
Auch Diplomatenkotelettes und Künstlermähnen betrügen mich seit jener Zeit nicht mehr, denn ich sage mir: Wer sein Aeußeres zurecht richtet will scheinen, nicht sein.
Als ich damals in solchen, jedoch noch unbestimmten Gedanken schwankte, sang draußen auf der Gasse eine Stimme, welche aus mächtiger Brust kommen mußte, die ersten Takte der Marseillaise.
Das Gartengatter wurde weit aufgerissen, Gottschalk rannte mit großen Schritten hinzu: »Bernewein, Bernewein!« und schüttelte ihm stürmisch die Hände.
Bernewein sah in seinem reifgrauen Lodenrock aus wie der Onkel Herbst; er bewegte sich frisch, laut und herzhaft.
»Ist die Bande vollzählig?« rief er. »Ah! da kommt noch Hulle mit dem Zeitungshirschele!«
Hulle schwang schon von weitem seinen Kalabreser. Zugleich mit dem Heraufstürmenden und Hirsch, der ihm kaum folgen konnte, kam vom Schankzimmer her Frau Gottschalk mit Wieninger, welchen beiden sich Hulle sogleich zuwandte: »Meine Reverenz der Frau Anna Therese und Servus Wieninger! Setz dich an's Klavier und spiel was Wildlockiges.«
Bernewein aber ging der Mutter unseres Freundes mit herzlichem Gruß entgegen. Sie war für ihn die Frau Wirtin, nicht mehr; und doch schien sie gerade ihn am liebsten zu sehen.
»O, Frau Gottschalkin,« rief er. »Rund, aber immer noch jung und lieb. Wenn der Hans nicht mein Freund wär', so käm' ich in den Verdacht, in Sie verliebt zu sein, so gerne bin ich da heraußen bei Ihnen.«
»Wir verstehen uns halt Herr Bernewein,« lachte Frau Anna. »Schön Dank auch für den Südtiroler und rechnen wir gleich ab.«
»Später, später einmal! Erst kosten wir ihn, ob er eine Abrechnung wert ist. Also an's Zeug. Herrgott Jungen,« rief er uns an. »Ich bin zu euch herausgelaufen wie gehetzt, und immer ist meine Seele noch nicht ausgestürmt. Brüder! Was in der Stadt los ist: Es treibt mich beinahe wieder hinein! Gottschalk! Der Abgeordnete Violand läßt dich grüßen: Es wäre Zeit.«
Gottschalk erblaßte; bestürzt sah ich auf ihn. Was waren das für Geheimnisse?
»Halloh«, rief Hirsch, »ich merke: Es brandelt? Es brandelt?«
Berneweins Augen flackerten vor Lust. »Ja«, atmete er tief: »Es kommt wieder zu Taten! Gottschalk, Hager, ihr seid ja Schützen; macht eure Büchsen fertig. Sechzig Patronen in die Taschen!«
»Oho«, riefen wir alle aufgeregt: »Erzähle, erzähl!«
»Mit hübschen Leuten fangt Ihr nicht an,« flüsterte Bernewein Gottschalk zu. Der runzelte die Brauen: »Ich weiß; was kann ich tun? Erzähle ihnen nur.«
»Geht selber hinein und seht,« fuhr Bernewein zu uns gewendet fort, »wie viele die roten Kokarden der Republik über herausfordernden Stirnen tragen; füllt euer Ohr mit dem Geschnatter der polnischen, italienischen, ungarischen Zungen, die in allen Gassen vorlaut werden. Wenn diese Hochstapler der Politik scharenweis an einen Ort strömen, muß ich immer an Rabenzüge denken, die weither nach einem fetten, vollbeladenen Galgen streichen.
Und diese Stimmung! Da stehen flüsternde Gruppen, dort schreit einer einem Militär was Beschimpfendes nach, die Läden schließen sich – – aber geht selber hinein.«
»Großartig!« rief Hulle begeistert. »Diese Schneckenordnung war ja kein Leben mehr. Endlich soll man einmal sehen, wie die Welt wirklich aussieht. Diese geschniegelten Gassen, ach! Ich sag' euch, laßt einmal die Revolution, die wahre, betrunkene, brüllende, blutrot rauchende Revolution los und schaut dann, wie bunt und malerisch die Welt wird!«
Wieninger hatte am Klavier erst einen alten Kriegsmarsch, etwas zopfig, gespielt, welcher dann in ein erregtes Allegro hineingezogen wurde; nun donnerte er mit dem Rakoczimarsch drein. Und wir Deutsche sangen jubelnd mit; ich ließ sogar Ungarn hochleben!
Nur Bestereder saß mit kaltem Lächeln am Tische und blieb stumm.
»Bestereder schweigt, er will also reden,« rief Hulle und schlug an sein Glas.
»He, nein, Herr Doktor!« hielt ihn Bernewein zurück als Bestereder wirklich zu einer Rede ansetzen wollte. »Erst der Redner pro, dann erst der contra. Bestereder, du sprichst doch nur gut contra, laß also mich zuerst. Mir sind Herz und Kehle zum Bersten voll. Ich muß euch unbedingt meine Ideen sagen oder ich ersticke!
Brüder! Während ihr hier singt und jubelt, geschieht vielleicht dort drinnen in der Stadt Wichtiges.«
»Gewaltiges,« unterbrach Gottschalk.
»Könnte Gewaltiges geschehen,« fuhr der Tiroler fort, »wenn gewaltige Männer obenan ständen. Aber wie ich euch erzählte: in der Stadt schürt und wühlt ein elendes Polacken- und Hunnengesindel in einem faulen Boden. Darum stinkt es.
Du, Gottschalk, wirst mir antworten, die Freiheit ist dir bei allen Völkern heilig, die ihrer wert sind. Schön: sehr schön. Ich aber sage euch: Uns tut es bitter Not, einzig und allein für die Freiheit des heiligen Deutschen Reiches alles, für fremde Freiheit keinen Schuß zu tun, denn wir, wir wollen sein!
Ist das ein Egoismus, so ist er römisch, großartig!
Heute oder Morgen beginnt der Kampf. Kampf ist immer gut, also tun wir mit. Wer aber soll vorkämpfen? Bürger? Edle? Die sind viel zu sehr befriedigt, denn sie haben sich Fett für einen langen Winterschlaf angemästet. Bauern? Sie sind nicht mehr deutsch, seit sie katholisch sind. Arbeiter? Die brauchen nur irdisches Brod, und das nehmen sie, von woher es kommt. Nur wir Jungen, die wir durch keinen Besitz bestochen, aber auch durch keine Not gekettet sind, wir Studenten sind als die rechten Gottesgeißeln dieser trägen Zeit auserkoren.
Alles aber, was wir sind und haben ist unser deutscher Traum! Jetzt freilich müssen wir alle mit uns reißen die unzufrieden sind, denn wir brauchen viele Arme, und auf die Herzen kommt es nicht so sehr an.
Wenn aber der Erfolg da ist, dann muß alle Frucht in Germanias Schoß fallen.
Wie das geschehen soll? Die Jugend einigt sich zu einer furchtbaren Vehme gegen die Inhaber der Gewalt und der Oeffentlichkeit. Ist einer bestochen, wir Tausende erfahren es durch den Einen der gewiß in seiner Nähe ist. Ueberliefern wir ihn der öffentlichen Schande. Ist einer undeutsch, wir machen ihm auf der Gasse, im Bett, im Parlament, in der Familie, und wenn es durch Verführung seines Weibes, seiner Töchter geschehen müßte, das Leben zur Hölle; wir zerbröckeln ihn, bis er stürzt! Kein Mittel darf gescheut werden: aber wie in der Gesellschaft Jesu soll der lauterste Charakter mit dem verschlagensten Reinhard Fuchs Hand in Hand gehen. Der Raufbold sei uns als Bravo dienstbar, der Dichter als Agitator, der Ehrliche als Aushängeschild, der Wüstling als Henkersknecht! Furchtbar wollen wir sein, aber deutsch! So wollen wir einholen was unsere Vorfahren versäumt haben: Die Welt zu erobern!
Vor allem aber los, nur los von der eklen Rastelbindergemeinschaft, von der Lauseehe, die nur aushält, weil einer als Parasit am Leibe des andern sitzt.
Die kleinen fremden Völker, welche ihr Unheil unter uns gesetzt hat, müssen erdrückt werden, die größeren sollen sich selbst vorläufig in Frieden genießen. Wir können all das erreichen, wenn wir wollen. Ich habe gesprochen.«
Wir schwiegen alle. Bernewein plante doch gar zu ungeheuerlich. Nur Hulle meinte, die Geschichte mit den Abgeordneten der Vehme in Ministerbetten, und die Duelle mit Bravos sei geradezu pikant und die Rücksichtslosigkeit gegen die anderen Nationen habe etwas Grandioses. Eine so wundervolle Gewaltherrschaft der Geister und der Jugend wird wundervolle, nie geahnte Konflikte hervorrufen; »es wird höllisch interessant werden,« schloß er.
Bernewein sah Gottschalk trotzig in die Augen: »Nun Kampeador,« fragte er: »Bist du erschrocken?«
Gottschalk blieb unbeweglich und als wir stille ausharrten, sagte er langsam und schwer: »Wenn uns im eigenen Volke kein Machtvoller, Riesiger aufsteht, – deine Vehme kann sich nicht lange erhalten. Vieles, was du gesagt hast, ist, wie du weißt, auch schon in meinem Herzen laut geworden – bis auf die Ungerechtigkeit. Die nicht; nein: die nicht. Du wärst ein guter Kondottiere, Bernewein. Ich kann dir jetzt nicht antworten … ich muß nachdenken.«
Bei seinen schweren, einfachen Worten wurde mir ganz feierlich zu Mute. Bernewein brummte vor sich hin, Hulle und Wieninger gingen leise singend in den Garten, jedoch nahmen sie eine Weinflasche mit. Hirsch machte eifrig Notizen, Bestereder hatte sich erhoben und nahm Abschied.
»Ich will wirklich nach der Stadt sehen,« lächelte er. »Vermutlich Waschbeckentumult.«
Da Gottschalk schweigsam blieb, nahm auch ich mein Weinglas und setzte mich an den Steintisch an der Linde, das Herz voll Erregung und Sehnsucht nach einem sicheren Pfade, den man ein- für allemal bis an den Opfertod verfolgen könnte.
Namentlich aber dachte ich mit zwiespältigem Herzen über die rücksichtslose Bukanierpolitik des Deutschtirolers nach. Wir waren es bisher so inniglich gewohnt, von der Bruderschaft einer großen Menschheit zu träumen … Ich wußte nicht, was ich wünschen sollte.
Daß im öffentlichen Leben der Haß, im Innenleben die Liebe ein guter Behelf sei, ahnte ich wohl. Aber ich vermochte mich nicht für eines dieser beiden Leben zu entscheiden. Die Ereignisse dieses selben Monats sollten mich noch belehren, denn an jenem Abend setzte das Schicksal ein.