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Die Berliner Tage vergingen sehr schnell. Tobias besuchte den Schwager auf dem Baubüro und fuhr mit ihm nach dem neuen Warenhaus, das sich am Alexanderplatz mit vielen eisernen Gerüsten erhob und viel mehr einer Werft mit ihren Helgen ähnlich war als einem der fabelhaften Gebäude, die jetzt in Berlin erstanden, und in denen man scheinbar alle nur erdenklichen Dinge kaufen konnte.

Ulitsch ließ Tobias in einem Aufzug bis nach den Mauersimsen des noch ungedeckten Daches bringen, und dann stand er da oben eifervoll neben den Doktor der Theologie und erklärte mit eindrucksvollen Bewegungen die Grundrisse des Hauses. Tobias verstand sehr wenig von den technischen Erklärungen. Sein Blick schweifte in die Tiefe und in den Abgrund der Straßen und Plätze. Wie lächerlich klein und aufgeregt schienen doch die Menschen da unten zu sein! Ihre Hast, ihre Mühe, ihre Arbeit, ihr Glück und ihre Qual: sie schienen ihm wie die Gefangenen in einem ummauerten Hof zu sein und den Rundgang zu trotten wie die Sträflinge in der Hofstunde im Marienburger Gefängnis.

Weiter ging sein Blick und schweifte die engen Schluchten der Königstraße und der Landsberger Straße entlang. Auch die schmutzige Münzstraße suchte er ab, sah die schauderhaften und häßlichen Kasernen im Scheunenviertel und mußte plötzlich an Bergmann denken und an die Sterblichkeit der Kinder in den Massenquartieren. Der kleine Ulitsch hatte ein eigenes schönes, lichtes und großes Zimmer: sein Bett war wie ein Gedicht, seine frühen Jahre waren wie ein schönes Lied, aber wie leben die Kinder in dem Hinterhof, Quergebäude vierter Stock links? Ulitsch erklärte und erklärte, bis er endlich sah, daß der junge Doktor mit anderen Dingen beschäftigt war. Er unterbrach seine Rede und ließ ihn wieder in die Tiefe fahren, in das Gewimmel der steinernen Straßen.

Tobias nahm sich einen Wagen und fuhr nach Hause. Der kleine Tobias lachte, Carla war schön und freundlich wie immer. Am Abend war ein Besuch im Theater verabredet, aber der Herr Doktor ließ sich entschuldigen, er legte sich früh ins Bett, grübelte viel über das Elend in der Welt nach, suchte Trost in seinem Brevier, fand keinen Trost und schlief traurig ein.

Am anderen Tage unternahm er Streifzüge durch das Scheunenviertel. Am Eingang der Münzstraße stand er lange vor dem ersten Bioskoptheater, jener neuen Erfindung, welche die ehrwürdige Laterna magica in die Rumpelkammer geworfen hatte und nun die ersten Filmstreifen einem großen Publikum zeigte: groteske Szenen, Hanswursttheater, rührende Trauerspiele, zu denen ein Erklärer witzige oder sentimentale Erklärungen gab. Dabei spielte und hämmerte ein elektrisches Klavier. Vor jenem Kino wurde der junge Doktor plötzlich angerufen.

»Hallo, Herr Kaplan!« hörte er eine Stimme, »hallo, Sie sind jetzt in Berlin?«

Erler drehte sich um und sah Hans Bergmann vor sich stehen.

»Herr Bergmann,« sagte er und streckte ihm die Hand entgegen, »Herr Bergmann, ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Sind Sie jetzt in Berlin?« und erzählte: »Ich komme von Freiburg und fahre in den nächsten Tagen nach Ostpreußen. Ich habe viel an Sie gedacht, aber Ihre Bücher habe ich trotzdem noch nicht gelesen.«

»Macht nichts, Herr Kaplan. Ja, ich bin jetzt in Berlin, und wenn es Ihnen angenehm ist, will ich Ihnen die Stadt ein wenig zeigen. Wo wohnen Sie?«

»Am Nollendorfplatz, bei meiner Schwester.«

»Schöne Gegend. Ich wohne in der Weinstraße. Haben Sie Lust, mitzukommen? Wir gehen durch das Scheunenviertel.«

»Ich habe Lust. Für das Scheunenviertel und für die Weinstraße.«

Die zwei Männer gingen die Münzstraße entlang und Bergmann führte ihn dann durch die Dragonerstraße und Linienstraße in die Mietskaserne, wo er wohnte. Unterwegs erzählte er viel von Berlin und erklärte dem jungen Doktor die Geschichte jener Straßen, die sie durchwanderten, in denen das ärmste Proletariat Wand an Wand mit dem Verbrechen zusammenwohnte. Tobias war entsetzt. Schon am Vormittag strichen durch jene Gegend die Straßenmädchen. Die Kaschemmen waren voll. Fragwürdige Gestalten standen an den Straßenecken. Die Häuser waren häßlich und schmutzig wie das Leben der Menschen. Endlich war die Weinstraße erreicht.

Bergmann führte seinen Gast in einen dunklen Torweg, hinter dem sich ein gepflasterter Hof ausbreitete. Einige Kinder spielten auf den Steinen, andere standen bleich und müde an den Müllkästen. An manchem Fenster blühten Blumen. An anderen Fenstern wurde Wäsche getrocknet.

»Kommen Sie, Herr Kaplan,« sagte Bergmann und ging eine ausgetretene Treppe hinauf, ging voran bis zum vierten Stock und öffnete dann eine Tür. Die Luft im Hause war dumpf. Irgendwo glaubte der junge Doktor den Lärm stampfender Maschinen zu hören.

Bergmann bewohnte im vierten Stock des Hauses zwei Zimmer. Das eine lag nach der Straße hinaus, das andere grenzte an die Hofseite. Diese zwei Zimmer waren notdürftig möbliert. Erler folgte seinem Gastgeber. Sie gingen in das Vorderzimmer nach der Straße. An der rechten Wand bauten sich einige Bücherregale auf, vorn am Fenster stand ein großer Tisch. Ein Diwan war zu sehen, einige Bilder hingen an den Wänden, Blumen, ein wenig Sonne, ein abgetretener Teppich, zwei, drei Stühle. Plötzlich hörte Tobias Maschinenlärm. Bergmann lächelte.

»Diesen Krawall höre ich jeden Tag«, sagte er. »Gerade unter mir im dritten Stock ist eine Mützenfabrik. Eine Bruchbude, sage ich Ihnen. Zehn Mädchen arbeiten Tag für Tag zehn und elf Stunden in einem einzigen Raum. Blasse Dinger, die immer noch blässer werden. Keine Ventilation. Staub und Schwindsucht. Haben Sie die kleinen Kinder auf dem Hof gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen. Sie schienen nicht gesund zu sein, Herr Bergmann. Aber wie können Sie hier in diesem Hause leben und arbeiten? Schreckt Sie der Jammer nicht ab?«

»Nein, Herr Erler, er schreckt mich nicht ab. Er reizt mich nur auf. Kommen Sie an das Fenster. Sie sehen eine graue, endlose Straße. Die grünen Wipfel dort am Ende sind die Baumkronen vom Friedrichshain. Das ist heilige Erde. Die Toten von Achtundvierzig liegen da oben begraben. Jetzt ist die Straße leer wie ein Flußbett im Sommer. Aber nachts! Nachts um zwölf oder zwei Uhr, in der Sommernacht, füllt sich manchmal die Straße. Irgendeine Schlägerei, irgendein Zusammenstoß: nachts um zwei Uhr ist diese Straße überschwemmt von vielen hundert Leuten, die nur darauf zu warten scheinen, aus den Torgängen und Kellern und Dachkammern hervorzubrechen, die scheinbar immer auf der Lauer liegen und sich nachts ausbrüllen. Kein Schutzmann ist zu sehen, keine Polizei. An manchem frühen Morgen, wenn ich das Haus verließ, habe ich Blutlachen auf der Erde gesehen. Vor einigen Tagen wurde in einem Lumpenkeller eingebrochen. Stellen Sie sich das, bitte, vor. Der Lumpenhändler ist ein alter Mann und zieht mit seiner Karre durch die Stadt, kauft für ein paar Pfennige Papier, Flaschen und Lumpen zusammen, sitzt dann in diesem Dreckzeug, sortiert die Fetzen, verdient kaum so viel, um zu leben, und ausgerechnet bei diesem Mann wurde eingebrochen! Sie haben sein Lumpenlager geräumt und drei gefüllte Säcke fortgeschleppt. Sie haben ja gar keine Ahnung, Herr Kaplan, wie arm die Leute sind und wie grausam das Leben ist.«

»Oh, ich weiß schon, das Leben ist grausam. Es ist viel Schmerz in der Welt. Auch ich habe viel gelitten,« entgegnete Tobias.

»Kommen Sie nach der anderen Seite, Herr Kaplan, kommen Sie, kommen Sie«, sagte Bergmann und führte den Besuch in das Zimmer, das nach dem Hof grenzte. »Sie stehen jetzt vor dem Abgrund, Herr Kaplan, das ist wörtlich zu nehmen. Den Hof kennen Sie, und nun sehen Sie sich die Fassaden der Hinterhäuser an. Da in diesem gardinenlosen Fensterloch am Dach wohnt eine Prostituierte mit ihrem Freund zusammen. Das verstößt natürlich gegen die Vorschriften der Sittenpolizei, aber es verstößt doch nicht gegen die guten Sitten: das Mädchen will nämlich wieder ehrlich werden!«

Der junge Doktor starrte in das Fensterloch und sah die schwachen Umrisse eines Tisches, an dem zwei Menschen arbeiteten und Tüten klebten. Einmal kam das Mädchen nahe an das Fenster und man konnte ihr Gesicht sehen. Es war nicht schön.

»Das ist ja grauenvoll, Herr Bergmann«, flüsterte Tobias. »Kann man den beiden Meischen nicht helfen? Hier muß man doch etwas tun! Bekommt denn der junge Mann keine Arbeit?«

»In Deutschland gibt es eine sogenannte industrielle Reservearmee, Herr Kaplan«, sagte Bergmann. »Immer sind einige hunderttausend Männer arbeitslos, werden nicht gebraucht, müssen sich selber helfen. Der junge Mann da drüben ist außerdem krank. Spuckt Blut. Einige Male war schon eine vornehme evangelische Dame da oben, sie hat sich nur darüber entrüstet, daß die beiden unverheiratet zusammenleben, aber nicht darüber, daß ein kranker Mensch in einer verdreckten Dachkammer Tüten klebt. Für die beinahe phantastischen Anstrengungen des Mädchens, aus dem Schlamm zu kommen, hatte sie nur einige Erbauungsschriften. Wenn Sie helfen können!«

»Hier muß geholfen werden. Ich will heute noch mit meiner Schwester reden. Selber bin ich arm, aber so viel wird schon zusammengebracht, um für das Mädchen anständige Arbeit und für ihren Verlobten einige Wochen Heilanstalt zu finden. Ich bitte Sie, die ganze Geschichte zu vermitteln. Kommen Sie morgen abend zu uns.«

»Ich komme, Herr Erler«, sagte Bergmann und führte den Besuch in das Wohnzimmer. »Neben mir wohnt eine Familie«, begann er neu zu erzählen, »in einem winzigen Zimmer leben und schlafen: die Frau, ihre Schwester, der Mann und fünf Kinder. Stellen Sie sich das, bitte, vor. Die Schwester der Frau ist mannstoll, sie werden wissen, was ich meine. Tragödien über Tragödien in dem einen Zimmer! Sie geht auch auf die Straße und hat einem sogenannten Kavalier, der für minderjährige Mädchen schwärmt, ein vierzehnjähriges Kind aus dem Hinterhause zugeführt. Lasset die Kindlein zu mir kommen? Ach, Herr Kaplan, die Kindlein kommen schon. In jeder Familie und in jeder Ehe sterben einige Kinder im frühen Alter. Was haben Sie darauf zu antworten?«

»Es muß anders und besser werden! Das habe ich zu sagen. In Freiburg habe ich Theologie studiert und bin Doktor geworden, Herr Bergmann. Ich hätte meinem Prälaten folgen sollen und Nationalökonomie studieren sollen. Ach, ich werde schon meine Pflicht tun. Gott dienen heißt auch den armen Menschen dienen. Mitleid haben. Helfen.«

»Nun gut, Herr Doktor,« sagte Bergmann, »nun gut, wir werden sehen. Zum Schluß will ich Sie noch zur Barnimstraße führen.«

»Die Barnimstraße? Was ist dort?«

»Das Weibergefängnis! Das Weibergefängnis, Herr Erler!« lachte Bergmann höhnisch auf. »Das Gefängnis für die Frauen heißt offiziell »Weibergefängnis«. Was sagen Sie nun? Die Vorderfront ist mit verlogenen Türmchen ausgeschmückt. Wie im Mittelalter. Ach, unsere ganze Zeit steckt ja noch im Mittelalter! Verlogene Romantik! Alles ist nur Fassade. Dahinter lauert das Elend.«

Erler zuckte bei dieser Rede zusammen. Er erinnerte sich seiner Schwärmerei für die Marienburg und die bayerischen Königsschlösser, er erinnerte sich seiner brennenden Sehnsucht nach Schönheit und Vollendung, an das alles erinnerte er sich, als er Bergmann in einer Berliner Mietskaserne im vierten Stock gegenübersaß. Helfen, helfen, dachte er. Was kann man da schon helfen? Dem Mädchen da drüben und dem kranken Mann, aber ist damit die Armut nur in diesem Haus beseitigt? Und wieviel tausend solcher Häuser gibt es nur allein in Berlin!

»Herr Bergmann, ich sage nicht, Gott allein kann helfen, wie ich es als Theologe sagen könnte. Sie führen einen großen und gerechten Kampf. Ich denke jetzt anders über Sie und Ihre Freunde. Ich habe genug gesehen, mein kleiner Schmerz ist unwichtig. Wir brauchen nicht mehr nach der Barnimstraße zu gehen. Ich erwarte Sie morgen Abend bestimmt bei mir.«

»Schön, ich werde kommen«, antwortete Bergmann und führte den Besuch die Treppe hinunter. Im zweiten Stock hörten sie ein Kind weinen, dazu kreischte die böse Stimme der Mutter. Man hörte auch das klatschende Geräusch von Schlägen. Das Kind wimmerte nur noch.

»Da haben Sie zum Abschied noch ein kleines Schauspiel, Herr Erler. Die Frau da drinnen hat acht Kinder. Ihr Mann verdient in der Woche knapp zwanzig Mark. Wie soll sich die Frau gegen die Armut und gegen die acht hungrigen, schreienden, immer noch lebendigen Kinder anders wehren können als durch Prügel? Die Welt muß schöner eingerichtet werden, dann habt ihr auch bessere Menschen!«

Tobias Erler antwortete nicht. Zuviele Schläge waren in dieser Stunde auf ihn herabgesaust. Er atmete befreit auf, als er auf der Straße stand, verabschiedete sich von Bergmann und lief nach dem Alexanderplatz. An dem neuen Warenhaus, das sein Schwager baute, nahm er einen Wagen und fuhr über die Königstraße nach den Linden und durch den Tiergarten nach Hause. Ihm war, als führe er aus der Unterwelt in das Licht hinein.

»Die Welt muß anders eingerichtet werden, Schwester, ich habe entsetzliche Dinge erlebt«, sagte Tobias zu Carla. »Ich war im Scheunenviertel und dann in der Weinstraße. Diese Straße sollte eigentlich Jammerstraße heißen oder Schnapsstraße oder Bierstraße, beinahe lückenlos sind an jeder Kreuzung Destillen. An den Kreuzungen sind Destillen, aber in den Mietskasernen und Hinterhäusern sind Kreuzigungen. Was hilft es, daß Ulitsch Warenhäuser baut? Neue Wohnhäuser müssen gebaut werden, Kinderheime, Krankenhäuser. Ich habe dir früher einmal von einem gewissen Bergmann erzählt, nun, diesen Mann habe ich getroffen. Höre zu, Schwester. Er erzählte mir die Geschichte von einem Straßenmädchen, das mit ihrem kranken und arbeitslosen Bräutigam zusammenlebt. Die beiden Menschen kleben jetzt Tüten. Der Mann muß in eine Kuranstalt. Auch für das Mädchen muß gesorgt werden.«

»Bruder,« antwortete Carla, »warum gehst du in den Schmutz der Großstadt? Dein Herr Bergmann wird dir schöne Lügengeschichten erzählt haben! Arme Leute hat es schon immer auf der Welt gegeben.«

»Ja, es hat immer Arme gegeben, aber Christenpflicht ist, wie es unser Herr und Heiland vorgelebt hat, die Kranken zu heilen und die Hungrigen zu sättigen. Wir müssen helfen.«

»Wenn Ulitsch nach Hause kommt, werden wir darüber sprechen. Du hast natürlich recht, lieber Bruder. Und weißt du, Menschendienst ist viel schwerer als Gottesdienst ...«

Tobias nickte. Ja, es war leicht, den Namen Gottes im Munde zu führen und die Hände zu falten. Gefaltete Hände, dachte er, sind manchmal wie eine doppelte Faust, mit der man auf seine Brüder schlägt. Unruhig wanderte er im Zimmer auf und ab. Die Schwester setzte sich ans Klavier, aber die Musik brachte ihm heute keinen Trost.

Am Abend saßen die drei Menschen lange zusammen. Tobias führte das Wort. Er erzählte von seinen Erlebnissen. Carla unterstützte ihn. Ulitsch blickte finster vor sich hin.

»Vielleicht hast du recht, wenn du meinst, Wohnhäuser und Kinderheime seien wichtiger als Warenhäuser. Darüber kann ich nicht entscheiden. Ich bekomme meine Aufträge und baue. Ich bin nur ein Baumeister, Tobias. Natürlich müßte man das Scheunenviertel niederreißen, aber wer bezahlt die Geschichte? Und ich kann dir sagen, daß sich die ollen Mietskasernen mit den Hinterhäusern für die Besitzer viel besser rentieren als zum Beispiel die Häuser in unserer Straße. Von dieser Rechnung wird der junge Mann, von dem du erzählt hast, nicht gesund, seine Braut nicht ehrlich. Was können wir tun? Vielleicht macht man die Sache so, wenn der Mann was von Gärtnerei versteht, daß man sich mit Leisewitz in Verbindung setzt. Leisewitz ist ein befreundeter Gutsbesitzer. Er ist philantropisch veranlagt. Ich habe sowieso eine Verabredung heute Abend mit ihm, und da könnte man die Sache besprechen. Kommst du mit?«

»Herzlich gern, Ulitsch.«

»Aber die beiden müssen heiraten«, sagte Carla, als stünde schon fest, daß Leisewitz einen tüchtigen Gärtner suche.

»Natürlich«, sagte Ulitsch.

Am Abend brachen die Freunde auf und trafen im Cafe Bauer Unter den Linden den Gutsherrn Leisewitz, einen beleibten und fröhlichen Mann in den fünfziger Jahren. Tobias wurde ihm vorgestellt und brachte das Gespräch auf jenes unglückselige Paar in der Dachkammer im Hinterhaus der Weinstraße. Leisewitz hörte aufmerksam zu, und sein fröhliches Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick. Er schlug mit der Hand auf den Tisch, daß sich einige Gäste erstaunt umsahen.

»Schweinerei,'' sagte er dann, »Schweinerei, dieses Berlin. Ich will mir die Leute mal ansehen. Einen Gehilfen des Gärtners könnte ich gebrauchen. Los, meine Herren, auf nach der Weinstraße.«

»Herr Leisewitz,« antwortete Tobias, »morgen mittag besucht uns ein Herr, der mich auf die beiden Menschen aufmerksam gemacht hat. Ein Herr Bergmann. Ich erlaube mir, den Vorschlag zu machen, erst morgen nachmittag die Leute aufzusuchen.«

»Was ist das für ein Herr Bergmann?«

»Eine alte Bekanntschaft von damals, als ich Gefängniskaplan war«, sagte Tobias. »Der Mann wird Sie interessieren. Er ist Redakteur an einer Arbeiterzeitung.«

»Sie haben ja schöne Bekannte, Herr Doktor«, lachte der Gutsbesitzer. »Wenn es den Herren angenehm ist, komme ich morgen zu Tisch. Berlin, Schweinerei, das Berlin! Da müssen die armen Leute ja Sozis werden!«

Das Gespräch glitt in neue Bahnen über. Die drei Männer saßen noch lange im Cafe und wanderten dann gemächlich die lichtfunkelnde Friedrichstraße hinunter. In der Jägerstraße verabschiedete sich Herr Leisewitz, um noch eine dringende Besprechung zu erledigen. Ulitsch lächelte. Er kannte den Ort der Besprechung. Der fand in einem Kabarett mit kleinen Mädchen statt. Leisewitz kam des öfteren nach Berlin, um sich von der Langeweile des Landlebens zu erholen.

»Du hast deine Sache gut gemacht, lieber Tobias,« sagte Ulitsch, »der Herr Leisewitz ist ein seltsamer Heiliger. »Schweinerei, das Berlin«, sagt er immer, aber er liebt diese Stadt und hat auf seinem Gut mindestens fünf oder sechs Leute, die er aus dem Schmutz aufgelesen hat. Ich glaube, wir haben Erfolg. Hast du Lust auf ein Glas Wein?«

»Ja, ich habe Lust. Ich freue mich, weil ich morgen dem Bergmann einen seiner Lehrsätze aus der Hand reißen kann, den Satz nämlich, daß die reichen Leute nur herzlose Verbrecher sind. Nicht nur der Mammon triumphiert in der Welt!«

Bei einer Flasche Wein saßen die beiden noch lange zusammen, erzählten sich Kindheitsgeschichten und tauschten Erinnerungen von der Schule aus. Auch das Lied von den preußischen Spartanern wurde leise gesungen. Erst gegen Mitternacht brachen die Freunde auf und fuhren dann nach dem Nollendorfplatz.

Am nächsten Tage zur Tischzeit waren die Gäste da,

Herr Leisewitz und Herr Bergmann. Sie verstanden sich gut. Der Gutsbesitzer löste die eisklaren Theorien des Redakteurs in menschliches Gelächter aus, verstand es vorzüglich, ein starres Dogma breitbeinig auf die feste Erde zu stellen und, wenn auch nicht zu widerlegen, ihm Blut und Leben zu geben. Auch Tobias, Carla und Ulitsch beteiligten sich lebhaft an diesen Gesprächen.

»Nun wollen wir uns die Herrschaften einmal ansehen, Herr Bergmann«, sagte Leisewitz. »Wenn der Mann so krank ist, wie sie sagen, hat der Doktor zuerst das Wort. Der Menschendoktor. Wenn mir das Mädchen gefällt, kann sie auch mitkommen. Berlin, Schweinerei, dieses Berlin.«

Bergmann lächelte.

»Herr Leisewitz,« sagte er, »ich schlage vor, wenn Sie gestatten, daß ich die beiden Leute zuerst informiere. Ihr Besuch in diesem Hinterhaus dürfte beträchtliches Aufsehen erregen und könnte der Sache mehr schaden als nützen. Das ganze Haus nämlich, bis auf die kleine Bruchbude, in der zehn blasse Mädchen jeden Tag zehn Stunden arbeiten und immer blässer werden, das ganze Haus nämlich, bis auf die Besitzer dieser Bruchbude, könnte eine Verpflanzung auf das Land und eine Untersuchung durch den Menschendoktor gebrauchen. Vielleicht haben Sie die Güte, mit Herrn Doktor Erler in einem Cafe am Alexanderplatz zu warten.«

»Unsinn, Unsinn«, wehrte Leisewitz ab. »Jetzt sind Sie der Reaktionär, Herr Bergmann. Ich wollte mir schon lange ein Hinterhaus in Berlin ansehen. Gehen wir.«

Die drei Männer brachen auf, fuhren bis zum Alexanderplatz und gingen dann die Landsberger Straße entlang, bogen in die Gollnowstraße ein und standen bald vor dem Haus, in dem Bergmann wohnte. Sie traten ein. Auf dem Hof spielte ein Leierkastenmann den letzten Schlager. Kleine Kinder standen an den Müllkästen. Halbwüchsige Mädchen tanzten. Der Musikant unterbrach sein Spiel, als Bergmann und die beiden Herren über den Hof gingen. Neugierige Frauen beugten sich weit aus den Fenstern. Bergmann führte Leisewitz und Erler in das schmutzige Hinterhaus und klopfte dann an die Tür, die zur Mansarde führte. Ein junger Mann öffnete.

»Was wünschen Sie?« fragte er. »Ah, der Herr Bergmann? Ich dachte schon, die Polizei.«

»Können wir einen Augenblick eintreten, Herr Schubert? Diese beiden Herren sind von auswärts und möchten sich gern mal eine Berliner Dachkammer ansehen.«

»Bitte,« antwortete Schubert. »Viel ist nicht zu sehen. Dreck, meine Herren.«

Durch einen vollkommen dunklen Gang führte der Weg in ein großes, kahles Zimmer. Die Luft war dumpf und roch nach alten Kleidern und nach Kleister. Nahe dem gardinenlosen Fenster stand ein großer Tisch, der mit halbfertigen Tüten überhäuft war. Am Tisch stand ein blasses, ungefähr zwanzig Jahre altes Mädchen, die ihre Arbeit plötzlich unterbrach. In ihren Augen flackerte Angst.

»Paula,« sagte Schubert, »die Herren wollen sich einmal ein Berliner Zimmer ansehen.«

Leisewitz wechselte mit Tobias einen langen Blick. Bergmann stand prüfend im Flintergrund. Einen Augenblick herrschte Schweigen. Das Mädchen war verlegen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Schubert musterte gleichgültig die fremden Gäste. Auf dem Hof begann der Orgelspieler einen neuen Schlager.

»Schubert,« begann plötzlich Bergmann, »Schubert, erzähle mal den Herrschaften, wie lange du schon arbeitslos bist.«

»Wollen die Herren auch in der Zeitung schreiben?« höhnte der junge Mensch. »Sie können schreiben, wenn Sie mir das Honorar geben, wie du es gemacht hast, Bergmann, als du über uns schriebst. Die fünf Mark damals waren eine große Hilfe. Sieben Monate bin ich arbeitslos, meine Herren, und jetzt spucke ich Blut. Das gibt einen rührenden Aufsatz.«

»Genug mit dem Spiel,« sagte Tobias. »Wir sind nicht von der Zeitung. Wir wollen Ihnen helfen, Herr.«

»Helfen?« höhnte Schubert weiter, »uns kann niemand helfen. Die Paula, was meine Braut ist, wir helfen uns schon allein.«

»Himmeldonnerwetter!« begann jetzt Leisewitz zu schreien, daß das Mädchen erschrocken zusammenfuhr, »Himmeldonnerwetter, aufhören mit dem Quatsch. Sie sind krank, Mensch, Sie müssen zum Doktor. Und Sie da, junges Fräulein, Sie müssen weg von der verdammten Tütenkleberei. Mein Name ist Leisewitz.«

»Schubert,« begann jetzt Bergmann noch einmal, »hör' mal zu: ich habe mit den beiden Herren über euch gesprochen. Es geht nicht mehr so weiter. Ihr krepiert ja. Du steckst Paula mit deiner kranken Lunge an. Der Herr Leisewitz ist Gutsbesitzer. Er sucht einen Gehilfen für die Gärtnerei. Paula muß auch an die frische Luft. Wollt ihr weg von Berlin? Ihr könnt auch endlich heiraten, das ist besprochen worden mit Herrn Leisewitz, und wir haben auch Geld aufgetrieben für drei Wochen Erholung im Harz. Mensch, Schubert, los. nun rede du!«

Schubert stand lange und unbeweglich im Zimmer. Es war, als sei er ein morscher Baumstamm. Aber plötzlich bewegte sich der Baumstamm, trieb grüne Äste und blühte. Er ging auf sein Mädchen zu. lachte plötzlich, umfaßte sie und schüttelte sie wie ein Kind hin und her.

»Paula! Paula!« sagte er, immer nur: »Paula!«

Das Mädchen weinte. Er wischte mit zärtlicher Bewegung die Tränen aus ihrem Gesicht. Sein Blick fiel auf die halbfertigen Tüten. Er ging schnell zum Fenster, riß es auf, wandte sich dem Tisch zu und fegte mit einer heftigen Armbewegung die bekleisterten Papiere auf den Boden. Vom Hof her kamen die letzten Fetzen Drehorgelmusik.

»Also abgemacht, Herr Schubert. Heute ist Mittwoch. Morgen gehen Sie zum Doktor. Hier ist die Adresse. Übermorgen fahren Sie mit Paula in den Harz. In drei Wochen sind Sie verheiratet, verstanden? Dann kommen Sie zu mir. Hier ist die Adresse. Hier ist Geld für die erste Zeit. Unsinn, Mädchen, aufhören mit der Heulerei. Berlin, Schweinerei, dieses Berlin.«

Er ging auf den schmutzigen Tisch zu, an dem Schubert und Paula standen, klopfte den jungen Mann auf die Schulter, drückte ihm einige Geldscheine in die Hand und einige Notizblätter, auf denen die Adressen des Doktors und des kleinen Bades im Harz vermerkt waren. Dem Mädchen überreichte er seine Visitenkarte. Als das erledigt war, drehte er sich schnell um, sagte: »Alles Gute, Kinder, und auf Wiedersehen in drei Wochen« und verließ das Zimmer. Tobias und Bergmann folgten ihm. Als sie auf den Hof kamen, mußten sie durch eine Gasse neugieriger und ergebener Frauen und Kinder gehen. Die Nachricht von dem ungeheuren Glück, das über die Dachkammer hereingebrochen war, hatte sich auf geheimnisvolle Weise durch das ganze schmutzige Haus verbreitet. Endlich erreichten sie die Straße. Einige Kinder liefen hinter ihnen her bis zum Alexanderplatz, wo die drei Männer einen Wagen nahmen und, ohne miteinander zu sprechen, sehr schnell nach dem Westen der Stadt fuhren.

In der Dachkammer waren viele Frauen auf Besuch. Das Fenster stand immer noch offen. Ab und zu kamen Windstöße und ließen die halbfertigen Tüten durch das Zimmer flattern. Paula war glücklich und erzählte allen Frauen die Geschichte von jenem Besuch. Schubert war merkwürdig stumm und verdrossen. Das Geld trug er auf bloßem Leib. Die Visitenkarte und die anderen Adressen von Leisewitz waren gut verwahrt. Er drängte sich durch die schwätzenden Frauen und ging aus dem Zimmer. Nach einer Stunde kam er wieder, vollkommen verändert, gebadet und rasiert. Auch einen billigen Anzug hatte er sich gekauft. In den Armen trug er ein großes Paket. Er vertrieb die Frauen, stellte eine Weinflasche auf den Tisch, ein gebratenes Huhn, Weißbrot und Butter. Für Paula hatte er ein Paar neue Schuhe und Blumen mitgebracht Später kam Bergmann.

Tobias hatte sich von Leisewitz verabschiedet. Am Abend reiste er in sein Dorf zurück. Sein Herz war froh. Er war stolz, bei einer guten Tat mit dabei gewesen zu sein. Carla hatte ihn zum Abschied geküßt. Der kleine Tobias hatte ihn umarmt. Ulitsch drückte ihm lange die Hände. Lange Gespräche an jenem Nachmittag, als er aus der Weinstraße zurückkehrte. Das eiserne Lied der Räder klirrte durch die Sommernacht. Traum und Frieden. Ein neuer Morgen, ein neuer Tag begann.

Freiburg lag hinter ihm, Berlin lag hinter ihm: das Leben lag vor ihm. Der junge Doktor stellte sich seiner geistlichen Behörde vor. Die Begrüßung fiel sehr kühl aus. Man schien überrascht zu sein, daß er trotz der vorzeitigen Abberufung seinen Doktor gemacht hatte. Nach kurzer Zeit bekam er Anstellung als Kaplan, wurde in ein Dorf verschickt, das mehr polnische als deutsche Einwohner hatte und unglaublich einsam und armselig war. Doktor der Theologie und Kaplan in einem armseligen Dorf! Er hatte ein wenig die Welt gesehen und hungerte jetzt nach der Welt. Im zweiten Monat seiner Tätigkeit bewarb er sich um die Religionslehrstelle am Lehrerseminar einer größeren Stadt. Der Bischof lehnte das Gesuch ab und schickte ihm einen Verweis, besann sich aber und gab ihm im Herbst die Vertretung des nach Rom beurlaubten Religionslehrers in einer Stadt mit einigen tausend Einwohnern.

Der junge Kaplan kehrte aus der Verbannung in das Leben zurück. Oft dachte er an Berlin. Er arbeitete viel, klappte zusammen, und ein befreundeter Arzt verbot ihm, in der Freizeit zu studieren oder zu schreiben. Ja, er begann über theologische Fragen zu schreiben. Ab und zu machte er auch Gedichte. Er unterrichtete gern, war ein guter Lehrer und mehr Kamerad als Vorgesetzter. Bei einer persönlichen Prüfung und Revision schnitt er sehr gut ab. Aber sein Autoritätsgefühl war erschüttert. Er achtete nur noch Leistungen und begann, alle Menschen als gleichberechtigt zu betrachten. Freiburg und Berlin: das waren die harten Schulen seines Lebens gewesen. Jede Unterdrückung wühlte sein Blut auf. Manchmal hatte er Zusammenstöße mit anderen Lehrern. Schmeichelei und Unterwürfigkeit haßte er stark.

Seine früher mehr gefühlsmäßige Abneigung gegen jedes starre Dogma versuchte er jetzt wissenschaftlich zu begründen. Er fing bei sich selbst und bei seiner Kirche an. Zweifel über die Existenz Gottes plagten ihn. Mit der Zeit lehnte er viele Dogmen ab, die Erzsünde, die Ewigkeit der Hölle, die jungfräuliche Mutterschaft Mariens. Er hatte ja selbst eine Schwester und wußte, wie die Kinder empfangen wurden. Manchmal dachte er auch daran, den schwarzen Rock auszuziehen und sich einem neuen Beruf zuzuwenden.

Er überlegte, was zu machen sei. Die Worte des Vaters fielen ihm ein: die Welt ist ein großes Wettrennen nach dem Bissen Brot, und du bist ein Hinkepeter, mein Junge. Außerdem wurde er sehr oft von Krankheiten heimgesucht und dann, soviel er auch nachdachte, fast alle Stellen waren besetzt. Wie eine Mauer standen die neuen Berufe vor ihm. Keine Lücke war sichtbar, um einzubrechen, und wenn eine Lücke zu sehen war, standen viele junge Menschen davor, die technisch und wissenschaftlich viel besser ausgerüstet waren als er, um einen neuen Platz zu erobern. Er blieb also Geistlicher und versuchte sich damit zu beruhigen, daß nicht nur er allein, sondern auch viele andere Kollegen zweifelten, kämpften und sich dennoch in das Schicksal ergaben.

So war das Leben: in der Jugend liegt es schimmernd wie das Land in der Morgenröte da. Alle Dinge glühen wie Feuer. Herrlich! Vogelgezwitscher. Blumen wiesen. Goldgrüne Wälder. Strahlende Sonne!

Als Lehrer kam der junge Doktor mit einigen Ordensleuten zusammen. Einige Male besuchte er ein Kloster. Der Himmelsfriede schien hier zu wohnen. Grenzenlose Sammlung und Hingabe. Aber als er dann mit einigen Mönchen sprach, hörte er in ihnen das unruhige, friedlose und manchmal auch verzweifelte Herz schlagen. Er lernte eine Ordensschwester kennen, eine noch junge Frau in den dreißiger Jahren, schön, große Augen, ein Gesicht in krankhafter Blässe. Sie war eine Bauerntochter und schon als Kind für das Kloster vorbestimmt. Über theologische Fragen sprechend, kamen sie auf menschliche Fragen, und da brach aus dem Herzen jener Nonne so heftige Glut, daß Tobias meinte, diese Frau müsse vom inwendigen Feuer verbrennen.

»Gott, Gott und der heilige Herr Jesus!« flüsterte sie, »ich habe dreißig Jahre um Klarheit und Wahrheit gerungen. Gebetet. Gefastet. Gebeichtet. Gelitten. Gekämpft. Immer wieder gekämpft. Qual von Ewigkeit zu Ewigkeit schon auf Erden! Das Fleisch abgetötet! Ach, Fleisch ist Geist, und Geist ist Fleisch! Hilfe, ich versinke.«

Dieses Zusammentreffen erschütterte Tobias. Überall fand er Schmerz. Er litt nicht nur allein. Leid schärft die Sinne, und so schürfte er wieder in den Dogmen seiner Kirche. Die ewige Verbindlichkeit der höheren Weihen und der Ordensgelübde entsetzten ihn, weil er die Stärke und die Schwäche der menschlichen Herzen kannte. Das Dogma von der Unfehlbarkeit der katholischen Lehre wurde für ihn durch die Tatsache erschüttert, daß viele aufrichtig nach Wahrheit strebende Menschen nicht katholisch wurden. Er prüfte seine Bekannten nach ihrer Lektüre und fand, daß hauptsächlich Erbauungsbücher gelesen wurden. Bei seinen Grübeleien stieß er auf den Buddhismus und fand den Quell des Erbarmens viel tiefer in ihm sprudeln als in seiner Kirche. Einmal sprach er mit einem Ordensmann über pädagogische Fragen und äußerte, es sei wertvoll, auch den Schülern über die anderen Religionssysteme objektiv zu berichten.

»Nein,« antwortete der Geistliche, »wir würden dann viele Zöglinge nur verwirren oder abschrecken.«

»Aber später, aber später, wenn die Schüler Männer sind, wenn sie denken, wenn sie studieren und selbst auf diese Probleme stoßen? Wenn sie sagen: Warum hat man uns nicht früher davon berichtet?«

Der Ordensmann zuckte mit den Schultern.

Ja, Tobias wurde von schweren Zweifeln heimgesucht. Da er aber ein Mensch war und unter Menschen lebte, gesellschaftliche Verpflichtungen hatte und von einigen Kollegen geliebt wurde, kam er aus der Wüste des Zweifels zur Freundschaft mit einigen Lehrern. Er verkehrte sehr viel im Hause eines Gymnasialdirektors. Das war ein idealistisch veranlagter, begeisterter und tüchtiger Schulmann. Seine Frau war hochgebildet, geistreich, schön und praktisch. In jenem Hause wurde sehr viel über die Antike gesprochen. Der Hausherr schwärmte für Rom und Hellas. Er brachte eine Sammlung römischer Geschichtswerke und zeigte sie den geistlichen Herren, begann von Zeus, Pallas Athene, Apollo und Aphrodite zu schwärmen, von jenen heidnischen Göttern und Göttinnen, daß die Gäste verlegen oder erschrocken abwehrten.

»Das alte Rom und die alten Götter herrschten über der Welt,« schwärmte der Gymnasialdirektor. »Sie zivilisierten Europa. Die Römer bauten auch in Deutschland die ersten Straßen. Viele Städte am Rhein haben sie gegründet. Die Weinberge angelegt. Auch am Bodensee. Ja, es waren Heiden, meine Herren, aber herrliche Heiden! Ach, wer einmal in Rom gewesen ist, kann diese Stadt nicht mehr vergessen. Er kommt als ein anderer Mensch zurück.«

»Herrliche Heiden?« fragte mißbilligend ein Religionslehrer. »Es kann unmöglich herrliche Heiden geben. Die Römer haben im Blute der ersten Christen gewatet.«

»Und die Römer haben das Christentum zur Staatsreligion gemacht und damit zur Weltreligion, Herr Doktor,« entgegnete der Gastgeber. »Und doch war die Schönheit des alten Rom vielfach nur der Abglanz einer noch höheren Kultur: des alten Hellas!«

»Zum Hellas aber führt aus Ägypten über Kreta der Weg aller Kulturen. Und Ägypten wurde von dem babylonischen Imperium mitbefruchtet, Herr Direktor. Wir sehen in der Geschichte ein ewiges Auf und Ab«, fiel der Geschichtslehrer in das Gespräch ein.

Tobias wollte reden, aber dann besann er sich, wie wenig er doch von all diesen Dingen verstand. Noch kannte er sich besser im Himmel aus als auf der Erde. Rom, dachte er, Rom, wenn ich doch nach Rom kommen könnte, Aus den Trümmern der alten Kulturen steigt neues Leben. Alles fließt, hat nach Bergmann ein griechischer Philosoph gesagt. Was sind tausend Jahre in der Geschichte der Menschheit? Nichts, ein Lächeln oder ein schmerzlicher Schrei! Was sind aber tausend Jahre im Leben der Menschheit? Oh, Entsagung, Sehnsucht, Qual, Schmerz, ein wenig Lachen und viel Tränen. Das Leben eines Menschen ist viel zu kurz, zu eng, zu winzig. Und darum hat sich die Welt den Mythos von der Ewigkeit gedichtet. Den Mythos? Er erschrak. Seine Gedanken stießen an einen stahlharten Lehrsatz seiner Kirche. Immer, wenn sein Herz phantasierte, fühlte er die schmerzhafte Bindung in ein Dogma. Frei sein, frei, ja, vielleicht glückt es, nach Rom zu kommen.

Das Jahr näherte sich dem Ende. Der Religionslehrer kam aus Italien zurück. Doktor Erler stellte sich zur Verfügung und bewarb sich um Urlaub für einen einjährigen Studienaufenthalt in Rom und um das Stipendium preucianum in der Höhe von zweitausend Mark. Beides wurde bewilligt. Sein Glück und seine Begeisterung aber waren gedämpft. Im letzten Jahr war er wieder krank gewesen. Leistenbrüche quälten ihn. Er litt unter furchtbaren Schmerzen. Da halfen auch die Bruchbänder nichts. Die Schmerzen hatten andere Ursachen, nämlich: der junge Doktor, nahe an die Dreißig, im Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht sehr behutsam und zurückhaltend, war noch vollkommen unberührt und unschuldig. Die Natur rächte sich.

Wem konnte er sich anvertrauen? An den üblichen Witzen, wie sie oft auch von den Geistlichen gemacht wurden, hatte er kein Vergnügen. Er schämte sich, wurde rot und verlegen. Die Frauen standen ihm viel zu hoch. Wohl hatte er noch den Schrei jener Nonne im Herzen: Fleisch ist Geist, und Geist ist Fleisch! aber es blieb nur ein Schrei, blieb Aufruhr des Blutes, beinahe unmenschliche Ergebung in das Schicksal, Schmerzen im Unterleib, wüste Träume in der Nacht und Scham und Entsetzen am frühen Morgen.

»Herr Doktor,« sagte der Gymnasialdirektor beim Abschied zu ihm, »Herr Doktor, vergessen Sie nicht, den Tempel der Vesta am Tiber zu besuchen. Sehen Sie sich das Colosseum an. Das Capitol. Die sixtinische Kapelle mit den unsterblichen Gemälden von Michel Angelo! Fahren Sie an das Albaner Gebirge. Avanti, nach Napoli! Oh, Sie glücklicher Mensch!«

»Venedig sehe ich zuerst, und nach Neapel fahre ich auch. Ich danke Ihnen für Ihre Freundschaft! Natürlich, den Tempel der Vesta! Das Colosseum und die Katakomben. Addio, addio!«

Ehe Tobias Erler seine Italienreise antrat, besuchte er den Vater. Der alte Organist hatte sich in der letzten Zeit erholt. Schon vorher, als Tobias aus Freiburg kam, waren sie zusammen gewesen. Der Alte war stolz auf seinen Sohn. Der Bauer Kuhn lebte auch noch, aber mit den jungen Hengsten war es aus. Tobias wanderte mit dem Vater zum Sternsee, nachdem sie das Grab der Mutter besucht hatten, und in jener stillen Bucht erzählte der Vater seinem Sohn von der Zeit, als er die Mutter kennenlernte.

»Junge,« sagte der Alte, »wenn das Mutter noch erlebt hätte! Du warst ihr größter Stolz! Bist du glücklich?«

»Ja, Vater, ich bin glücklich, ich fahre ja nach Rom,« entgegnete Tobias, »warum sollte ich nicht glücklich sein?«

Er nahm Abschied vom Vater, küßte ihn, streichelte sein silbernes Haar und unterdrückte die Tränen, die plötzlich aufstiegen. Wieder ratterte ein Eisenbahnzug heran, hielt und dampfte, begann von neuem zu rollen und zu schütteln, immer wieder das alte Spiel mit den Wiesen, Wäldern und Dörfern, Städten und Feldern, und dann noch einmal Berlin: zwei Tage Aufenthalt in Berlin. Ulitsch ist verreist. Der kleine Tobias liegt krank im Bett. Carla ist selbst krank geworden aus Angst um ihr Kind. Bergmann, was ist mit Bergmann? Ja, sagt Carla, der Herr Bergmann ist in einen neuen Prozeß verwickelt und auf der Flucht im Ausland. Und, Carla, was ist mit Schubert und dem Mädchen geschehen? Sie sind verheiratet und immer noch bei Herrn Leisewitz.

Herr Leisewitz kommt manchmal zu uns, Tobias, aber jetzt mußt du gehen, mein Kind fängt an zu weinen.

Am nächsten Morgen fuhr Tobias nach Wien. Er hatte gute Gesellschaft. In Dresden stieg eine junge Dame in sein Abteil zweiter Klasse. Sie begann das Gespräch und wußte den Reisenden so in Schwung zu bringen, daß er rettungslos schwärmte und von seinen Plänen in Rom erzählte. Die Dame unterbrach ihn nicht, aber aus der Art ihres Schweigens fühlte er ihre große Anteilnahme. Manchmal lächelte sie, manchmal nickte sie, aber ihre Augen waren immer auf den Erzähler gerichtet.

Die Grenze war bald erreicht, die Zollstation, und dann die Reise durch wunderschöne Landschaft das Elbtal hinauf. Berge, sanfte Hügel, der belebte Strom: immer weiter ging es, und dann zeigte Prag die edlen Schattenrisse schöner Kirchen und Türme. Von Prag aus fuhr er allein weiter und kam am späten Abend in Wien an, blieb nur einen Tag in dieser Stadt, besuchte eine Oper und war vom Orchester so hingerissen wie noch niemals zuvor von irgendeiner Musik. Audi in den Prater verirrte er sich einmal, kehrte dem bunten Jahrmarkt bald den Rücken, spazierte an der Donau und ließ sich dann über den Ring fahren. Am nächsten Tage reiste er nach Budapest, erlebte, wie es ihm dünkte, die Pforte vom Abendland zum Morgenland, war glücklich und wunschlos. Immer neue Schönheiten zeigte die Welt. Triest stand am Ende einer langen Fahrt, und zwischen Triest und Venedig lag das blaue adriatische Meer.

Das blaue Meer! Ungeheuerlicher Lichtblitz vom Wasser zum Himmel! Goldener Dunst in der Ferne. Das weiße Schiff fährt im blauen Meer nach dem goldenen Dunst, der sich lichtet und die zauberhafte Stadt Venedig preisgibt. Tobias stand auf dem Marktplatz. Die Löwen hatten den Blick starr auf's Meer gerichtet. Unzählige Tauben schwärmten in blitzenden Wolken auf und ab. Der Dogenpalast schimmerte. Der Campanile stand steil im Licht und die Markuskirche verlockte den Schwärmer zur Andacht. Er trat in das mystische Dunkel der Kirche, sah die mit Goldmosaik ausgelegte Kuppelwölbung, den gleißenden Prunk alter Jahrhunderte, war ergriffen, und doch schien es ihm, als sei der Glanz des blauen Meeres noch schöner als dieses kostbare Gewölbe.

Viele Male durchkreuzte er mit Gondeln die Stadt, fuhr an alten, ehrwürdigen Marmorpalästen vorüber, kam auch in stille Gegenden und sah flüchtig hinter dem Glanz den Jammer und die Armut, schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als ihn die Gondel in die Pracht zurückführte. Über eine Woche lebte Tobias Erler in Venedig. Endlich mußte er weiter.

Letzte Fahrt mit einer Gondel durch den Canal grande. Er hatte sich eine besonders schöne Gondel ausgesucht. Der Gondeliere war ein braungebrannter, schlanker Jüngling mit rabenschwarzem Haar. Die Augen waren groß und glühend. Er war ein Meister im Rudern. Tobias betrachtete ihn wohlgefällig und versuchte eine Unterhaltung, die mit Hilfe lateinischer Brocken stockend gelang. Der junge Doktor, der immer nur geistigen Dingen gelebt hatte, sah hier und erlebte das vollkommene Meisterwerk schöpferischer Natur. Schönheit und Kraft schienen sich in dem Jüngling zu paaren. Als er das Lob des Fremden hörte, steigerte er sich noch über sich selbst hinaus. Sein Körper bog sich wie ein junger Weidenbaum, richtete sich elastisch empor, blieb gelassen und schön auch bei großer Anstrengung. Mit unfehlbarer Sicherheit steuerte er die Gondel durch alle Hindernisse. Mitten in der Arbeit begann er zu erzählen. Tobias verstand von dem Dialekt sehr wenig, nur das verstand er, daß der junge Gondeliere wie ein Kind mit seinen Heldentaten prahlte.

Tobias ließ ihn prahlen. Auch das gehörte zu der schönen Gestalt. Und dann fragte der Verkrüppelte den Unverkrüppelten nach seiner Geliebten. Ach, die Frage war schmerzlich! Was wußte Doktor Tobias Erler von der irdischen Liebe? Der ärmste Gondoliere in Venedig wußte mehr davon. Die Liebe? Die Geliebte?

»Si si, Signore!« lachte der junge Mensch und begann von seinem Mädchen zu schwärmen, entwarf ein Lichtbild ihrer Gestalt, ein Lichtbild von der Schönheit ihres Leibes, von der Wildheit ihres Herzens und redete sich in heftigen Eifer hinein, als müsse er sie gegen die Schmähungen unbekannter Feinde verteidigen. Dann begann er zu singen. Was sang er auf dem Canal grande? Er sang Liebeslieder. Vielleicht gehörte das alles zu seinem Geschäft, wie die Gondel und die Ruder, die Schwärmerei von seiner Freundin und die Hymnen auf sie. andere und erfahrene Reisende hätten vielleicht gelächelt: Tobias Erler, Doktor der Theologie, lächelte nicht. Die Gestalt des jungen Gondoliere hatte ihn bezaubert. Er sah die Gefühle des Volkes wie einen Regenbogen über sich stehen, in dem Freiheit. Stolz, Offenheit und Jugend leuchtend ineinander verschmolzen. Er dachte an die kümmerlichen Freuden seiner Heimat unter dem grauen Himmel in Deutschland. Und als diese für ihn unvergeßliche Fahrt zu Ende war, erlebte er, daß man ihn nicht betrog. Der Gondoliere schwang seine rote, bewimpelte Mütze zum Abschied, eine glühende Flamme über den Glanz des blauen Meeres, ein rotes Fähnlein gegen den Marmor des Dogenpalastes und gegen das Gold der Markuskirche.

»Addio, addio, Signore! Addio!«

»Addio! Addio!«

Das blaue Meer leuchtete nicht mehr. Der Glanz Venedigs versank. Das feste Land. Bewegte Landschaft. Bologna stieg auf und dann Florenz. Tobias unterbrach die Reise. Sein Herz riß ihn nach Rom vorwärts, in die Stadt der Entscheidung, aber genau so, wie ein Mensch vor der Entscheidung zögert, so zögerte auch der junge Doktor. Über einen Tag lief er durch die schöne Stadt am Arno, stand lange vor dem gewaltigen Rathaus und begeisterte sich an Michel Angelos »David«, jenem kostbaren Marmorstandbild vor der Signorina. in dem die heldische Tat eines Jünglings weiterlebte, und in dem der Geist über die brutale Kraft triumphierte.

Tobias besuchte auch die Offizien, lief mehr verwirrt als verklärt durch die endlosen Säle, in denen viele tausend Bilder ausgestellt waren, eine Versammlung erleuchteter Namen und Meister aus der Kunstgeschichte. Auch das Haus, in dem der politische und religiöse Dichter Dante gewohnt hatte, wurde besichtigt. Viele köstliche Kirchen wie in Venedig, edle Türme, die Loggia dei Lanzi mit alten Standbildern, darunter Perseus mit dem Kopf der Medusa, dann Ponte Vecchio über den schönen Fluß, endlich über der bergumkränzten Stadt die Piazza Midie! Angelo, ein berauschender Rundblick in das Land, in das Tal, aus dem Florenz die Türme, Kuppeln und Kirchen hebt.

Geschichte, Handel. Kunst. Wissenschaft, Religionskämpfe, Savonarola, Scheiterhaufen, Krieg, Wollust, Reichtum. Verrat, Liebe. Haß: jeder Stein in Florenz schien einmal von Blut umtropft zu sein, jedes Haus und jeden Torbogen hatte Gelächter erfüllt, jede Kammer einmal Jubel oder Tränen. Michel Angelo hatte hier gearbeitet. Tobias sah seine halbfertigen »Sklaven«, jene noch in Stein gebundenen Menschen, die wie mit ungeheurer Anstrengung sich aus dem Marmor lösen wollen, alles vergeblich, sie bleiben versteinert, sie bleiben gefesselt. Tobias seufzte schwer. Er erlebte vor jenen Arbeiten die Qualen künstlerischer Geburt und darüber hinaus sein eigenes Leben, das auch noch unfrei und gefesselt war. Wann würde einmal der große Meister kommen und ihn befreien, klar ins Licht stellen und vollendet machen?

Viele Fragen, keine Antwort.

Von Florenz nach Rom war nicht mehr weit. Der Zug fuhr durch die süße Hügellandschaft Umbriens. Blaue Berge, romantische Dörfer, weiße, leuchtende Städte, Pinien. Olivenhaine. Lorbeer. All das entfaltete sich wie ein Fächer und verschwand, um neue Entfaltungen und Gestaltungen zu zeigen. Das Abteil, in dem Tobias fuhr, war überfüllt. Die Reisenden sprachen vom Wetter und von Skandalgeschichten. Sie lachten. Sie lärmten. Zwei deutsche Herren sprachen sich mißbilligend über das schlechte Bier in Florenz aus und vermißten die Tannenwälder. Tobias schwieg und war wie ein Instrument, das mit schlafender Musik angefüllt ist und auf seine Zeit wartet. Die Zeit kam. Die ungeheure Zeit, die Ewigkeit, wie es dem jungen Reisenden schien: die Kuppel der Peterskirche wurde sichtbar.

Sie schwebte unwahrscheinlich hoch über der Campagna, riesengroß, scheinbar losgelöst von der Erde, ohne Schwere, frei und herrlich geformt, eine steinerne Glocke zwischen' wallenden Nebelschleiern. Rom, endlich Rom! Erwartung. Fieber. Gesteigertes Dasein. Vom Bahnhof fuhr Tobias Erler nach dem Hotel »Quirinal« und eilte dann mit einem Herrn, der sich unterwegs angeschlossen hatte, in die Peterskirche. Schon der riesenhafte Platz mit dem Obelisk, den Säulengängen und den zwei Springbrunnen begeisterte ihn. Dann die Front der Kirche! Michel Angelo hatte ein Pantheon in die Lüfte gehoben, ein Pantheon für die unsterblichen Seelen!

Voller Wehmut betrat er das Innere der Kirche, war ein kleiner, winziger Mensch in dem großen Gewölbe, ein Staub, ein Nichts. Sein Begleiter wollte ihm viele Einzelheiten erklären, die Statue des heiligen Petrus, dessen rechter Fuß von den Küssen der Gläubigen abgescheuert ist, die Schmerzensmutter von Michel Angelo, die ihren geliebten Sohn Jesus tot und starr ausgestreckt über den Schoß liegen hat und mit solcher Angst und Verzweiflung den Kopf neigt, wie man es nur heute bei gefangenen Menschen beobachten kann, wenn sie allein sind, dann das goldgeschmückte Grab des Apostels, viele Bilder berühmter Meister, Altäre, schwere Bronzearbeiten: das alles wollte der Begleiter erklären. Tobias brauchte keine Erklärung: zum erstenmal in seinem Leben fand er die von Menschen gemachte Form, die groß und herrlich genug war, um das Göttliche zu erfassen. Viele Stunden wanderte er in den hohen Räumen, glücklich, selig und ohne Wunsch.

Er verließ die Kirche, ging nach dem Hotel zurück und suchte sein künftiges Heim auf, das Hospiz Santa Maria Del Anima. Ähnlich wie in Freiburg wohnten auch hier ungefähr zwanzig jüngere Geistliche, um zu studieren. Sie stammten aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands und Österreichs. Der Leiter dieses Hospizes war ein Mann von sicherem Takt und überlegenem Geist und der spätere Kardinal und Fürsterzbischof von Wien. Ja, in Rom war die Welt, das erkannte Tobias auch im Hospiz. Er lebte sich rasch ein und befreundete sich mit einigen jungen Leuten. Den Prälaten der Anstalt verehrte er und bewanderte den Gleichmut und das starke Gefühl der Selbständigkeit, das ihn ausfüllte. Als bei Tisch einmal über Bischöfe und Erzbischöfe gesprochen wurde und einige junge Leute schmeichelhaft von einigen geistlichen Würdenträgern sprachen, fiel ihnen der künftige Fürsterzbischof ins Wort und bat, jene Herren mit »monsignore« zu bezeichnen, da ein Bischof in Rom nicht viel zu bedeuten habe.

Die jungen Leute wurden rot und verlegen. Tobias freute sich. Er war ja kein Pfaffe. Am selben Tage war ein Dominikanermönch als Tischgast anwesend, ein Mann von ungeheuerlicher Gelehrtheit. Wenn er aus der Tiefe seines Wissens wie ein Zauberer die sonderbarsten Schätze aus fast allen Gebieten der menschlichen Erkenntnis hervorholte, mit ihnen spielte, wie man eben mit Dingen spielt, wenn man sie beherrscht, da rissen die jungen Kapläne die Augen und die Münder auf wie Fische die runden Mäuler aufreißen, wenn sie aus dem sicheren Wasser an das unsichere Land geschleudert werden.

Der Gast erzählte und brannte sein Feuerwerk ab, der Prälat schwieg und lächelte, und Erler ahnte, daß in dem lächelnden Schweigen viel mehr Erkenntnis, viel mehr Wissen und viel mehr Gläubigkeit ruhte, als in dem streitbaren Dominikaner, den Sohn seiner streitbaren Kirche. Das Gespräch kam auch auf die Männer von der evangelischen Seite, die der Gast mit den Streitäxten scharfgeschliffener Dialektik erledigte, und wie die Trophäen eines Sieges durch den Staub der Niederlage schleifte. Der Prälat lächelte nicht mehr, das konnte Tobias sehr gut beobachten. In seinem vergeistigten Gesicht war große Müdigkeit zu lesen und vielleicht auch duldsame Langeweile.

Dieser Dominikaner war kein Duckmäuser oder Streber. Er kam ungefähr alle vierzehn Tage in die Anima zu Tisch und erzählte gern und viel von sich und seinen Arbeiten. In einer Sitzung mit geistlichen Herren, in der über die neuesten Forschungen über die Heilige Johanna gesprochen wurde, stieß er mit einem Kardinal heftig zusammen. Ein Kardinal, was war schon in Rom ein Kardinal? Der Dominikaner erzählte:

»In einer früheren Versammlung brachte jener Herr Kardinal erheblichen Unsinn vor. Er war ein Spanier, das besagt viel. Ich versuchte, ihn aufzuklären. »Eminenz,« sagte ich, »nach den neuesten Forschungen der Geschichtswissenschaft ...« Er sagte: »Wissen ist gut, glauben ist besser« und blieb bei seiner Meinung und nahm das Wort und schmiedete weiter an seinem dünnen Rasselblech. Da lief mir die Galle über, und ich sagte: »Eminenz, da Sie diese Sache nicht genau kennen, haben Sie, bitte, die Güte, das Urteil denjenigen zu überlassen, die sich damit gründlich beschäftigt haben.« Er unterbrach sich sofort, als ich zu reden begann, wanderte mit scharfen Augen die Versammlungsgesichter ab, wurde verlegen und ließ uns in Ruhe.«

Am Tisch erhob sich ein Gelächter, Der Dominikaner streifte nun die jungen Kapläne mit scharfen Augen. Ihr Lachen erstarb. Nur der Prälat lachte noch. Er kannte jenen Kardinal ganz gut und gönnte ihm diese Niederlage, Ja, hier in Rom wurde nicht nur über geistliche Dinge gesprochen. Der Mensch als Träger des Geistes, als Träger der Materie kämpfte gegen andere Menschen. Nicht nur das Amt und die Würde machten das Schwert des Sieges scharf, nicht nur der Glaube, manchmal auch das Wissen und die Wissenschaft.

Tobias Erler hatte einen guten Anschauungsunterricht. Er lernte Menschen kennen, viele Menschen, Prälaten, Kaplane, Schüler, Kardinäle, Ordensgeistliche, stille Menschen und laute Menschen, kalte und feurige. Der Dominikaner schrieb damals an einem Buch gegen die Reformation und Luther. Er hatte interessantes und unbekanntes Material zusammengetragen, ganze Berge von Tatsachen, aber er war und blieb trotz aller Gelehrtheit ein viel zu gläubiger Katholik und Sohn seiner Kirche. Er war zu heißblütig und ungestüm, um die Gewitterkette jener Ursachen zu erkennen, die der Reformation vorausgegangen waren, das Strahlengewitter der Renaissance und der Erfindungen und Entdeckungen.

Tobias fühlte sich zu jenem Manne hingezogen, aber der geistliche Herr ließ sich nicht einfangen, er brauchte einen großen Zuhörerkreis und hatte an der einen Freundschaft mit dem Prälaten genug. Zuerst war der kleine Doktor aus Deutschland traurig darüber, dann besann er sich auf die Stadt Rom.

Wieder stand er vor der Peterskirche, herrlich glühte die Kuppelwölbung im Licht, da mußte er wie unter fremdem Willen nachdem Vatikan gehen und die sixtinische Kapelle besuchen. Er war blind für alle Schätze der wundervollen Sammlungen. Die Augen öffneten sich erst, als er in jener Kapelle stand und die kosmischen Deckengemälde Michel Angelos sehen konnte, die Schöpfungsgeschichte, die Vertreibung aus dem Paradies, die Engel und die Apostel. Lange und trunken starrte er empor, und plötzlich war es ihm, als ertöne Musik. Ja, er hörte fern und sausend Beethoven musizieren. Die Eroica!

Michel Angelo und Beethoven!

Über Jahrhunderte und über die Gräber hinaus waren diese beiden Männer durch das schöpferische Werk so ineinander verschmolzen und so unsterblich, daß für die Nachgeborenen der Stein und das Bild zu Musik wurde und die Musik auch aus der Pantheonwölbung der Peterskirche und aus den Gemälden der Sixtinischen Kapelle tönte und brauste!

An einem Dezemberabend kurz vor Weihnachten kam Erler von einem Spaziergang über die paladinischen Hügel nach dem Tiber, und als er aufblickte, sah er vor sich den schönen Rundbau des Vestatempels. Die Sonne versank schon in der Campagna. Viele Glocken läuteten über der Stadt. Heilige Reliquien wurden durch die Straßen getragen. Natale, das Fest der Geburt, war nicht mehr weit. Jeder Tag brachte neue Pilgerzüge über die Alpen. Rom war von Fremden überschwemmt.

Spaziergänger gingen am Tempel der Vesta vorbei. Der nahe Tiber verströmte sich nach dem Meer, strömte gelb und rauschend durch das schwarze Land, um in die unendliche Bläue der nahen Küste unterzutauchen. Erler ging weiter. Vor ihm wanderte ein junger Mann. Bergmann? Ja, der Wanderer vor ihm war Bergmann! Tobias verfolgte ihn lächelnd. An der Engelsbrücke holte er ihn ein. Die Engelsburg stand schon dunkel und schwer gegen das letzte Licht. Immer noch läuteten die Glocken.

»Guten Abend, Herr Bergmann,« sagte Tobias, »guten Abend! Was treiben Sie in Rom?«

»Der Herr Erler!« sagte der Angesprochene und drehte sich schnell um, »Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Menschen!« Er ergriff die ausgestreckte Hand, schüttelte sie lange und herzlich, und fuhr fort: »Ich habe viel an Sie gedacht, sehr viel. Sind Sie schon lange in Rom?«

»Einige Monate. Von Ihnen habe ich in Berlin ja schöne Geschichten gehört, schöne Geschichten, Sie Hetzer!«

»Hetzer ist gut, Hetzer muß wörtlich genommen werden. Ich wurde nämlich gehetzt. Aber jetzt hat die Hetz ein Ende. Ich war in der Schweiz und bekam die Nachricht vom Rechtsanwalt, daß der Prozeß liquidiert ist. Beim besten Willen können mich die Leute nicht ins Gefängnis stecken.. Es war blinder Alarm. Ich für meine Person wäre ja nicht von Berlin gegangen, aber die Genossen bestanden darauf. Gut, ich war in Zürich und bin für einige Tage über die Berge gerutscht, um Rom anzusehen. Eine fabelhafte Stadt! Morgen reise ich nach Deutschland zurück. Und Sie? Was machen Sie in Rom?« »Ich studiere in der Anima.«

»Der Mensch studiert nie aus, das weiß ich. Ich habe von der Anima gehört... Rom! Auf Schritt und Tritt kann man spüren, daß eine Weltregierung hinter allen Dingen steht. Auch noch hinter den alten Heidentempeln! Sonderbare Stadt, dieses Rom ... Die alten Götter stehen nackt und herrlich in den Museen, und in einem anderen Saale in demselben Hause blenden die märchenhaft schönen Bilder der Madonna mit dem Kind. Natürlich steht eine große Idee hinter ihrer Kirche, eine herzbewegende Idee, die das Sterben leicht macht, dafür aber das Leben vergißt und als unwichtig erklärt. Zuerst ist das Leben und dann erst der Tod ...«

Erler war in Gedanken versunken. Er hörte kaum, was Bergmann erzählte. Nur das hörte er, daß sich auch dieser ungläubige Mensch mit den Dingen der Ewigkeit beschäftigte.

»Haben Sie etwas von Leisewitz und seinen Schützlingen gehört?« fragte er dann, um dem Gespräch eine neue Richtung zu geben. »Was macht der Schubert und seine Frau?«

»Darüber können wir später reden. Darf ich Sie zum Nachtmahl einladen?« »Ja, gern.«

Sie gingen schweigend weiter. In einer kleinen Osteria erzählte Bergmann von Leisewitz und von Schubert. Erler hörte aufmerksam zu. Sein Gesicht war gespannt. Müde war nur seine Seele, sterbensmüde. Vor einigen Tagen hatte er mit noch anderen Geistlichen eine Audienz beim Papst gehabt.

»Ja, und Herr Leisewitz ist ein sonderbarer Heiliger. Seine Leute wollen ihn entmündigen. Das gibt einen harten Kampf ... Schubert hat sich auf dem Lande eingelebt, ist richtiger Gärtner geworden und schrieb mir nach Zürich, daß er wieder in die Stadt zurück will. Sehen Sie, wir alle sind mehr oder weniger den großen Städten verfallen. In den großen Städten ist unsere Heimat. In den Hinterhöfen. Auf den versteinerten Straßen. Nicht der Hinterhöfe oder der Straße wegen. Nein, weil wir Gladiatoren einer Idee sind ... Sehen Sie Rom und das Colosseum. Da in der Arena haben sich die Männer um der Laune eines Cäsaren willen zerfleischt. Auch wir heben die kurzen Schwerter hoch. Für einen Cäsaren? Nein, für uns, für das ganze Volk, für die Welt. Das ahnt auch Schubert, darum will er fort aus dem Park und Blumengarten des Herrn Leisewitz, darum will er zu seinen Genossen in die Stadt. Jugendsturm, sagen Sie müde lächelnd und sind doch selbst noch jung, Herr Doktor! Nicht wir allein sind jung, unsere Idee ist jung, unsere Bewegung.«

Erler antwortete immer noch nicht. Er ließ den anderen weiter reden und erzählen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Die Finger trommelten auf der Tischplatte, als wollten sie dem geschwätzigen Menschen aus Berlin eine Botschaft signalisieren. Endlich hielt es Erler nicht mehr aus.

»Was halten Sie vom Heiligen Vater?« fragte er flüsternd.

Bergmann hielt die Augen klar und still auf den Frager gerichtet wie ein Arzt. Um seinen Mund zuckte Mitleid. Er ergriff die noch immer unruhig trommelnde Hand Erlers und sagte:

»Repräsentant einer Idee!«

»Ach,« lächelte Erler müde, »ich hatte die große Ehre, vor einigen Tagen den Heiligen Vater zu sehen. Wir waren sechzig bis siebzig junge Leute und wurden durch viele funkelnde Gemächer in den großen schimmernden Audienzsaal geführt. Kaum zu atmen wagten wir, Herr, feierlich war uns zu Mute, herzklopfend. Kinder waren wir. die auf den Weihnachtsbaum warten und auf die Geschenke und auf die Liebe. Auf die Liebe vor allem, Bergmann! Endlich kam der Heilige Vater. Er wurde in einer Sänfte herumgetragen und sprach mit jedem von uns einige Worte. Er war ein sehr alter Mann, auf seinem Gesicht stand ein angelerntes Lächeln. Ja, auch mit mir hat er gesprochen. Ich habe alles vergessen, Bergmann, alles, jedes Wort, nur das Lächeln vergesse ich nicht mehr, das leere, kalte, höfliche, glatte und unnahbare Lächeln in dem alten Männergesicht.

Die Audienz war bald vorüber, und mehr taumelnd als gehend kam ich nach der Anima zurück. Das also war der Papst, der Stellvertreter Petri auf Erden, der Schlüsselbewahrer zum Paradies, der irdische Herr über Himmel und Hölle! Ach, wenn er doch wenigstens ein Herr gewesen wäre, ein strenger Herr, ein guter Herr, aber er war nur ein ungnädiger alter Mann, wie mir Leute erzählten, die ihn näher kannten, ein böses Männlein, das sofort heftig schimpfte, wenn ein Bischof selbst einer sehr armen Diözese einen geringen Peterspfennig ablieferte. Ein schimpfendes Männlein mit der Tiara, ein Mensch mit allen Fehlern und Schwächen, ein alter Mensch, in dessen Hand das Wohl und Wehe vieler Millionen gebunden lag ... Ich kenne auch ein wenig Geschichte der Heiligen Väter, Bergmann, aber sie war mir bis heute Historie, jetzt aber ist sie keine Historie. Sie ist Erlebnis geworden, Leid und Schmerz, Enttäuschung. Oh Welt!«

Er stand auf, nahm den Hut und ging auf die Straße. Bergmann aber saß noch lange in der kleinen Kneipe, trank sehr viel Wein, wurde nicht betrunken, überdachte sein Leben und beugte sich nicht. Nein, er stand endlich auf, ging mit starken Schritten in die Nacht, über die Tiberbrücke, und reiste dann am frühen Morgen nach Berlin zurück. Stürzte sich in die Arbeit, hetzte und wurde gehetzt und ergab sich niemals.

Erler aber, der kleine Doktor aus Deutschland, hatte nach jenem Zusammensein ein neues Erlebnis, das ihn beinahe zerschmetterte. Mit einem Freund besuchte er einmal einen feierlichen Gottesdienst. Ein gemischter Chor, der unsichtbar blieb, sang die alten Hymnen. Der Gesang war herrlich. So hatte Tobias noch niemals singen hören. Die Sopranstimmen waren klar und opernhaft, strahlend und einmalig. Sangen kleine Kinder? Stimmten Mädchen die Himmelmusik an?

»Einzig,« stammelte Tobias, »einzige Musik. Wie heißt der Chor?«

Der Freund lächelte und führte ihn nach einem Platz, von dem aus man die Sänger sehen konnte. Und Tobias sah die Sänger. Es waren keine Kinder. Es waren auch keine Mädchen. Tobias Erler, Doktor der Theologie, riß die Augen weit auf. Er sah die Sänger: es waren kräftige, feiste Männer! Männer mit Mädchenstimmen! Männer mit Knabenstimmen, Kastraten ...

»Was ist das? Männer stimmen das hohe G an?« fragte er atemlos.

»Männer?« wiederholte der Freund, »das sind keine Männer mehr. Das waren einmal wohlausgestattete Kinder, die ihre Eltern in früher Jugend haben verschneiden lassen, damit die Kinderstimme bis ins hohe Alter klingt.«

»Nein, nein, das kann unmöglich sein.«

»Und doch ist es so, Herr Doktor ... Sie wußten das nicht? Oh, diese Chöre sind berühmt in der ganzen Welt. Am berühmtesten ist die Sixtinische Kapelle des Heiligen Vaters. Und die Soprane darin? Nun, Kastraten.«

»Aber die Sittenlehre?« flüsterte Tobias immer noch.

»Die Eltern lassen die Verschneidung besorgen, dagegen ist doch nichts zu machen.«

»Aber die Eltern tun das doch nur, weil die Knaben später hauptsächlich als Soprane in Kirchen beschäftigt werden! Also duldet die heilige Kirche die himmelschreiende Sünde?«

»Die Kirche? Nein, die Eltern haben die Schuld!« antwortete zögernd der Freund und verwünschte, daß er dem aufgeregten deutschen Doktor jene Sänger gezeigt hatte.

Aber wenn die Kirche keine Kastraten als Sänger angestellt hätte?« fragte Erler weiter. »Ja, was dann? Das ist ein Verbrechen! Jeder Mensch, der die Macht hat, ist verpflichtet, Verbrechen nach Möglichkeit zu verhindern ...«

»Ja, wenn nicht andere Rücksichten ... Ich kenne die Morallehre auch, Herr Doktor!« antwortete der Begleiter unwillig und entfernte sich. Tobias blieb allein. Immer noch sangen die Kastraten. Immer noch schwebten die Soprane. Hymnen für Gott? Erler lächelte bitter. Er verließ die Kirche und hatte dann in der Anima eine Unterredung mit seinem Prälaten.

»Ja, die Geschichte ist böse,« antwortete er, als kein Ausweichen mehr möglich war, »sehr böse ist die Geschichte, und wir haben dem Papst wiederholt die Beseitigung dringend nahegelegt. Aber er lehnt es rundweg ab.«

»Der Heilige Vater duldet die Sünde?«

Der Prälat drehte sich rasch um und ließ den kleinen Doktor mit seinen Nöten allein. Was konnte er auch antworten? Nichts. Nichts konnte er antworten, keinen Frieden konnte er geben, keinen Segen, keine Ruhe.

Tobias fand keine Ruhe und vertiefte sich in die Bücher, las nach, was die Moralisten über die Kastraten schrieben, fand Gründe dafür und Gründe dagegen, aber alle diese Gründe waren nur Abgründe und konnten nur unglücklicher machen. Gut oder böse – die Frage, die sein Herz quälte, war einfach die rein menschliche Frage: »Was würde ich sagen, wenn mich der Vater in meiner Kindheit hätte entmannen lassen?« Ja, das fragte der kleine Hinkepeter, der noch niemals seine Mannbarkeit bei einer Frau ausprobiert hatte.

Die Wochen vergingen. Es wurde Frühling in Rom. Die Rosen und die Narzissen blühten. Die Campagna begrünte sich. Aus Schlaf und Verwesung stieg das neue Leben in millionenfältiger Form und Leuchtkraft. Wurzel, Stamm, Krone, Blüte und Samen, ewige Auferstehung aus dem Staub, grandioses Beispiel für jeden Menschen, auch für den verkrüppelten Menschen Tobias Erler; an dem sich an einem Frühlingsabend in einem kleinen Dorf nahe bei Rom das Schicksal erfüllte, das Blutgezwitscher und die Ewigkeit im Rausch einiger Tage.

Der Tag war schön, aber der Abend wurde noch schöner. Erler war durch das Gebirge gestreift und saß dann, als die Sonne sank, in einem kleinen Garten vor einer Weinschenke. Frieden kam über das Dorf. Frieden kam auch in sein Herz. Rom lag sichtbar in der Tiefe, das Rom der Kampfe und der Heiligtümer, das Rom der Leiden und der Leidenschaften. Das Glockengeläut entfernter Dörfer klang und brandete melodisch.

Mit den fernen schwebenden Tönen erschien ein junges Mädchen auf der Dorfstraße, die Erler übersehen konnte, und näherte sich der Osteria. Das Mädchen schien eine Fremde zu sein. Sie war schön, wie alle Mädchen im Frühling. Nun war sie ganz nahe an dem kleinen Garten und trat ein. Sie setzte sich an einen freien Tisch, beachtete den anderen Gast kaum, bestellte roten Wein, trank tief, prüfte den Wein im Glase gegen das letzte Licht des Abends und ließ dann ihre Augen über den einsamen Mann am Nachbartisch wandern. Ihr Gesicht war klar und offen, der Mund voll und fest. An den weißen Händen funkelten einige Ringe. Sie hieß Helene.

Das Mädchen wohnte, wie Erler, in Rom. Am Morgen hatte sie ein heftiger Streit von ihrer zufälligen Reisegesellschaft getrennt. Sie war allein in die nahen Berge geflüchtet, suchte und fand Trost im Anblick der Natur, lächelte jetzt über sich selbst und ihren Trotz. Unsinn, sich darüber zu streiten, wer der größere Meister sei: Rafael oder Michel Angelo, Unsinn, wie ein Kind in die Wildnis zu laufen, wenn der Eigenwille nicht erfüllt wird. Ob die Gesellschaft nach Neapel weitergereist war, oder ob sie auf sie wartete, ein herzliches Lachen in stiller Bereitschaft? Sie stand auf. Nach Rom waren es noch zwei Stunden. Fuhrwerk, Signorina? Nein, im anderen Dorf. Da verzog sie wieder das Gesicht wie ein Kind, Erler trat nahe, und sprach sie an. Sie antwortete und scherzte. Oh, der kleine Doktor war nicht mehr scheu. Sie nahm seinen Arm, und gemeinsam wanderten sie nach dem nächsten Dorf und fuhren dann nach Rom zurück. Im Hotel lag Nachricht für Helene: »Wir sind nach Neapel gefahren.« Ratlos und allein in einer fremden Stadt, die Freunde sind fort, Herr Doktor, helfen Sie mir, bitte! Ja, gnädiges Fräulein, von Herzen gern. Ich will Sie nach Neapel bringen. Danke schön, tausendmal Dank. Addio. Addio ... Gute Nacht. Auf Wiedersehen morgen früh!

Erler hatte vier Tage Urlaub bekommen. Der erste Tag: Ausflug in das Albanergebirge. Mit Glockengeläut erschien am Abend Helene. Er ließ ihren Namen wie Honig im Munde vergehen. Helene, Helene. Wer war Helene? Sie war die etwas eigenwillige Tochter eines Professors, die ihrem Vater nach Italien vorausreiste, einer Laune wegen in das Gebirge entlief und am Abend den Doktor Tobias traf. Helene, Helene! dachte Erler, als er nach der Anima ging, Helene!

Am frühen Morgen stellte er sich zur rechten Zeit ein und wurde wie ein langjähriger Freund empfangen. Er brachte Blumen mit, einen Strauß Narzissen, durfte an ihrem Tisch sitzen und die kleinen Sorgen anhören, Geschichten vom Papa, die Mutter war tot, durfte sein salomonisches Urteil über den gestrigen Streitfall abgeben und traf mit unheimlichem Instinkt ihre Wünsche. In letzter Stunde kam ein Telegramm für das Mädchen. Der Vater war unterwegs. Treffpunkt Neapel in zwei Tagen.

»Wollen Sie mich begleiten, Herr Doktor?« fragte sie, »wollen Sie mich wirklich nach Neapel bringen?«

»Sie machen mich glücklich, Fräulein Helene. Ich bringe Sie sicher nach Neapel, und wenn Sie wollen, reisen wir über Cassino.«

»Was ist Cassino?«

»Ein weltberühmtes Kloster.«

»Nein,« lachte sie, »ich will kein Kloster sehen. Haben Sie keine anderen Vorschläge?«

»Doch, viele. Sorrent. Amalfi. Capri.«

»Dann nach Sorrent, Amalfi, Capri! Und übermorgen kommt Vater aus Leipzig. Dann sind Sie mich los,« spielte sie, lachte und zeigte ihre schönen Zähne. Erler errötete. Sein Lachen klang eher wie Weinen. Aber es war keine Zeit mehr, das Gelächter zu untersuchen, es war Zeit zur Abfahrt. Der Bahnhof war nicht weit. Der Schnellzug donnerte klirrend an, verschnaufte und wurde wie im Sturm genommen. Tobias eroberte sich Fensterplätze. Fertig, Abfahrt! Räder stampften, Schattenrisse von Rom, Rauchfetzen, Ruinen, freies Land, die Campagna, blaue Berge, Sonne, weiße Dörfer: alles bemerkte Tobias, aber in seinem Blickfeld saß ein junges Mädchen, Helene, Helene, nichts weiter als Helene.

Neapel. Der Bahnhof. Das Hotel. Ja, Signore, Bruder und Schwester. Zwei Zimmer nebeneinander. Helene hatte sich diese Geschichte ausgedacht. Nein, morgen reisen wir weiter. Und nun waren sie allein. Bruder und Schwester! Tobias kämpfte leidenschaftlich mit sich. Nein, er hatte ihr nicht gesagt, daß er Kaplan sei, daß er an der Anima studiere, nein, er hatte es verschwiegen. Ach, an dem Abend, als sie erschien als schönster Klang ferner Glocken, ach, an dem Abend gab es keine andere Religion in der Welt als die der Freundschaft und der Liebe, Philosophie? Ja, Doktor der Philosophie, gnädiges Fräulein! Durch die dünnen Wände hörte er die Bewegungen des jungen Mädchens, hörte ihre Kleider fallen, eilige Schritte und ein kleines Lied. Im Badezimmer rauschte das Wasser. Ach, wie schön und gesund war das alles! Kein Hymnen, keine Schwärmerei: ein Mädchen wäscht sich nackt unter der Brause, bewundert sich selbst, ist verliebt in ihre Wohlgestalt und reist mit dem ersten fremden Mann bedingungslos von Rom nach Neapel und schreibt ins Gästebuch: Bruder und Schwester!

Arm in Arm gingen sie dann aus dem Hotel und fuhren nach dem Hafen hinunter, ließen sich aufs offene Meer hinausrudern, sangen, lachten, waren glücklich, waren wie Bruder und Schwester, vergaßen Capri, Sorrent und Amalfi, und am Abend, als die Lichter der Stadt flammten, als die Hotels und die vielen Schiffe erleuchtet waren, ja, am Abend saßen sie ganz nahe und befreundet in einem alten Kastell am Meer und hörten die Brandung. Sie hörten Musik über dem Wasser und sahen letzte Fischer fahren. Die Sonne war ertrunken. Nur noch ein fahler, kühler und blauer Streifen am fernen Horizont war sichtbar. Brüderlein und Schwesterlein, ja, und dann nahm er ihre weißen Hände, ja, und dann lehnte sie sich an seine Brust und suchte seinen Mund. Dann küßte er sie.

Wer singt so hell und klar durch die Dunkelheit? Singen die jungen Mädchen? Stimmen die Liebespaare ihren Lobgesang an? O Mannsein, o Weibsein, kein Abgrund zwischen den Geschlechtern, ja, ja, ich liebe dich, und ich will dich immer lieben, immer, bis in alle Ewigkeit. Ja, ja, ich habe dich lieb ... Kein Wort mehr, keinen Schwur, weinen vor Glück, endlich, endlich ... Dunkelheit, Fahrt durch die Nacht in das Hotel. Brüderlein, Schwesterlein ... Am frühen Morgen, als Helene noch schlief, verließ Tobias ihr Zimmer.

Das erste Licht stürzte in seine Stube und spritzte um die toten Dinge, um die Stühle, Schränke, Tische und Teppiche, flammte in dem großen Spiegel und erfüllte den Raum mit ungeheurer Klarheit. Auch sein Herz war leuchtend. Oh, die schöne Nacht! Nein, nein, er war kein Kastrat. Nein, nein, er war ein Mann mit männlichen Kräften und Wundern begabt, er war der andere Ton in dem Lobgesang aller lebendigen Dinge. Helene, Helene ... Dann, als das viele Licht sich verflüchtete, als hätte es noch andere Kammern strahlend zu machen, dann wanderte Tobias unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Das Herz hatte gesprochen, jetzt aber begann das Hirn zu reden. Ein Mann? Nein, er war kein Mann, er war ein Kaplan, ein Diener der Heiligen Kirche, er war der Madonna geweiht. Für immer? Bis in alle Ewigkeit. Was hatte er getan? Lüge, Lüge, Doktor der Philosophie, er war kein Doktor der Philosophie, er war kein Mann wie die anderen Männer.

Was sollte er tun? Hingehen zu dem Mädchen, sich in die Knie werfen, alles gestehen, Tränen, Verzweiflung?

Nein, nein, der Abend auf den Bergen, die Fahrt nach Neapel, der Abend im alten Kastell und die trunkene Nacht: das konnte niemals mehr ausgelöscht und vergessen werden. Er war ein Mann, ja, er war ein Mann, und sie war ein junges Weib, sein junges Weib für eine dunkle Ewigkeit. Sie liebte ihn. Sie hatte zuerst geküßt. Helene, o Helene ... Ja, und dann? Trennung. Für immer. Kühl und nüchtern wurde der Tag. Kalt. Lieblos. Heute war alles vorbei. In einer Stunde, in zwei Stunden, wenn das Mädchen erwachte. Am Abend kam der Vater. Brüderlein? Schwesterlein? Alles vorbei, alles verklungen und zu Ende. Er warf sich in den Kleidern aufs Bett und schlief rasch ein. Helene weckte ihn auf,

»Aufstehen, mein Freund,« sagte sie, »und ich werde dich nicht vergessen. Nein, nein, kein Wort mehr, meine Koffer sind schon gepackt. Ich warte auf dich unten in der Halle.« Sie lief rasch aus dem Zimmer.

Erler stand auf, wusch sich den Schlaf aus den Augen, packte seinen Koffer und traf dann Helene. Sie blickte ins Leere, erwiderte seinen Gruß mit leiser Stimme, nur die Augen leuchteten, und dann verließen sie das Hotel, fuhren nach dem Bahnhof und trennten sich. Auf der Fahrt wollte Tobias alles gestehen, seine Liebe und seine Lüge, aber sie wollte nichts hören. Ihre Augen blitzten. Die junge Brust bebte. Nein, nein, keine Worte mehr. Das Spiel ist aus.

Das Spiel war aus. Am Bahnhof nahm das Mädchen einen neuen Wagen und ließ sich in ein neues Hotel fahren, um den Vater zu erwarten. Sie blickte sich nicht mehr um. Unbegreiflich waren ihr jetzt die letzten Tage, wundervoll und grauenhaft. Sie war kein Kind mehr und kannte schon die Süßigkeit der Liebe, aber so schnell hatte sie sich noch niemals ergeben. Sie war voll lächelnder Scham. Die Reisegesellschaft hatte Neapel noch nicht verlassen, aber was sollte sie jetzt bei den jungen Herren und den alten Damen, die doch nur ein maskenhaftes Puppentheater aufführten und von den toten und gewesenen Dingen sprechen konnten oder wollten, von den Bildern und Bauwerken berühmter Meister. Von Genua war sie mit den Leuten gereist, eine zufällige Bekanntschaft, die sich aufgelöst hatte, scheinbar aus einem dummen Zufall, aber der kleine Streit damals in Rom schien einem herrlichen Gesetz zu dienen.

Tobias Erler nun, der Mann der einen Nacht, nannte sich Schuft, Lügner, Schurke und Betrüger, als das Mädchen fort war, als er ihre Nähe nicht mehr fühlte und ihre schöne Stimme nicht mehr hörte. Ja, er war ihr dankbar gewesen, als sie sich seinen Erklärungen verschloß. Was sollte er tun? Da stand er nun auf dem Bahnhof. Klirrender Lärm dampfender Züge war hörbar, Betrieb, Reise in die Welt. Wie unter fremdem Willen löste er eine Fahrkarte und ratterte nach Rom. Kam nach Rom, war immer noch nicht fertig mit sich selbst, war scheu und still, abwesend und nicht auf der Erde. Die Vorlesungen begannen. Er wollte sich von allen Zweifeln befreien. Sein Prälat sollte ihm helfen. Ja, aber vorher hörte er noch einmal in einer Kirche die Kastraten singen, die armen, verschnittenen Männer. Da kam Trotz in sein Herz, Kraft und Saft des Mannes und der Mannbarkeit. Die Erde war kein Paradies, und kein Mensch auf der Welt war ohne Sünde. Buße und Beichte? Er hatte seine ganze Jugend schon gebüßt! Er hatte schon viele Male gebeichtet, und sein Dasein wurde nicht leichter.

Das Studienjahr war beendet. Helene schrieb einmal über Ulitsch an Tobias und teilte ihre Verlobung mit. Bald darauf heiratete sie. Sie hat den jungen Doktor Tobias niemals vergessen. Sie segnete ihre italienische Reise, sie segnete auch jene napolitanische Nacht, sie segnete auch ihn, der zum erstenmal bei einer Frau war und gedachte seiner erst recht, als sie erkannte, daß sich ihr Mann für babylonische Altertümer mehr interessierte als für das törichte Herz eines jungen Weibes, das so alt ist wie die Welt und so neu wie der kommende Tag.

Die letzte Nacht in Rom. Tobias hatte gute Zeugnisse bekommen, das Lob des Prälaten ist süß wie Honig, und morgen fährt der kleine Doktor nach Deutschland zurück. Nein, er kann jetzt nicht schlafen. Er ist wach und denkt an viele Dinge, an den Gondeliere in Venedig, an die Kastratensänger in Rom, an den streitbaren Dominikaner, der nach vierhundert Jahren mit einem neuen Buch die deutsche Reformation rückgängig machen will. Der Frühling ist vergangen und hat seinen Glanz, seine Blumen, seinen strahlenden Himmel verschwendet. Der Sommer funkelt und prahlt heiß und fruchtbar über dem Land. Die nahen Berge blitzen in blauem Feuer. Aber auch das Meer rauscht mit singenden Orgeltönen.

Ja, er ist noch einmal in Neapel gewesen, ein trunkener Schwärmer in jenem Kastell und nachts vor dem verdunkelten Hotel, in dem Brüderlein – Schwesterlein gespielt wurde. Nein, nein, nein, er war kein Lügner und kein Schuft, er war nichts als ein Mann. Er war kein Phantast mehr. Die Madonna war auf die Erde herabgestiegen und mit ihr die vielen Götter der vielen, vielen Völker, der endlosen Zeiten und Geschlechter. Ja, die Götter waren gestürzt, aber nun lebten sie und wirkten mit magischen Kräften und Gesetzen in der Welt, nun waren sie irdisch und den Herzen nahe und heilig. Die Madonna? Das Sinnbild ewiger Geburt und Schöpferkraft!

Der wachsame, einsame Mensch lächelte.

Er ist wach, ganz hellhörig, und träumt über Raum und Zeit. Rom, die ewige Stadt auf den sieben Hügeln, von denen aus die Welt zweimal erobert wurde. Die Völker und Länder dröhnten und stöhnten unter den eisernen Schritten der Legionen. Die Fahnen und die Adler flogen rauschend durch Europa, Asien und Afrika. Dann, als die Adler starben und die Fahnen vermorschten, dann wuchs das Kreuz in den blauen, wolkenlosen Himmel. Ein schwarzer Schatten fiel in die Welt. Licht und Frieden, Trost und Verheißung: die Madonna mit dem Kind. Die Mutter mit dem Kind! Strahlenglanz, Lächeln.

Nacht über der ewigen Stadt. Die Berge röten sich schon. Silbernes Läuten ferner Glocken. Oh Helene! Tobias lächelte. Frieden kam in sein Blut, trunkenes Weltgefühl, verschwistert dem Wissen von der Unsterblichkeit aller Dinge. Dann kam die Sonne, viel Licht, Leuchtkraft und der Lärm der erwachenden Stadt wie eine gewaltige, heidnische Hymne. Und in dem ersten Licht schrieb er sein erstes Gedicht

An Helene

Ferne Glocken sangen in die Nacht hinein,
Schöne Berge waren schattenvoll verhangen.
Letztes Licht wie bernsteingelber Wein, Glocken sangen,
Oh Helene, in mein Einsamsein!

Hab' die Heilige Jungfrau nur gekannt,
Die Madonna mit dem süßen Kinde,
Sehnsucht hat mit Feuer mich verbrannt:
Leis und linde Kühlte alles Deine weiße Hand.

Wer hat selig mich und froh gemacht?
Die Madonna mit den goldnen Armen?
Selig machte mich zur Nacht Dein Erbarmen,
Deiner Liebe Überfluß und Übermacht!

Die Madonna steht in goldner Pracht.
Doch ihr Antlitz strahlt Verzeihung.
Deine Liebe hat mir Mut gebracht
Und Befreiung, Oh Helene, aus der Nacht.

Tobias war wieder in Deutschland. In Berlin besuchte er seine Schwester, und Ulitsch erzählte eine neue Geschichte von Leisewitz. Er hatte sich mit Schubert verkracht, weil er bei Paula keinen Erfolg für aufgewendete Mühe finden konnte, keinen Lohn, keine zärtliche Dankbarkeit. Schubert war wieder in Berlin und fand Arbeit als Portier. Der Herr Leisewitz trieb sich auch in Berlin herum und suchte gefallene Mädchen, die sich an seiner Wohlgestalt aufrichten konnten. Bergmann? Nein, von Bergmann hatte Ulitsch nichts gehört. Das war doch der schreckliche junge Mensch mit den kalten grauen Augen, die erbarmungslos hinter die Dinge sahen? Bergmann, das war doch der Mann ohne Seele, der Mann, dessen Religion die Partei war?

Der Vater war in dem einen Jahr sehr gealtert. Das Dorf aber blieb immer jung, immer alt. Kinder wuchsen in die Höhe, alte Leute wuchsen zur Erde hinab, auf den Feldern gedieh das Brot, Vieh brüllte auf den Weiden, eine neuer Organist musizierte an der Orgel, am Sternsee gingen neue Liebespaare spazieren. Neuer Frühling, neue Vogellieder aber über Wald, Feld und Mensch die ewigen Sterne und immerfort die eine Hälfte des tollen Mondes mit den magischen Zeichen A und Z, wie Anfang und Ende, und einmal im Monat die gläserne Scheibe im Meer der Ewigkeit schwimmend. Die Hunde bellten immer noch in den hellen Nächten, die Pferde wieherten immer noch auf den Wiesen. Der Bauer Kuhn war gestorben, sein Sohn, ein neuer Kuhn, bewirtschaftete den Hof, stand wie ein Baum so stolz in der Sonne, und in seinem Schatten strebte ein kleiner Mensch heran, auch wieder ein Kuhn, der dem Vater einmal die Zügel aus der zitternden Hand nehmen würde.

Schön ist die Welt mit dreißig Jahren. Die Sonne steht dem Dreißigjährigen immer noch im Angesicht, alle Schatten liegen hinter ihm, die Welt liegt vor ihm, das Ziel, die Aufgabe, und im glühenden Licht das Vermächtnis der Toten, der Segen oder der Fluch der Vorfahren, manchmal auch geschichtslose Berufung, Erfüllung vergeblicher Sehnsucht von gequälten Geschlechtern, oder der flammende Wald vieler Fahnen, die eine große Idee vor die Lebenden hingestellt hat. Manchmal hat der Dreißigjährige auch schon die Gesetzmäßigkeit der Dinge begriffen, das bittere und herrliche Muß. Ja, und wenn er sich dem heiligen Muß ergibt, freiwillig und stolz, dann erst ist sein Herz frei geworden, maßlos, vermessen und kann an der Ordnung aller Dinge rühren.

Tobias Erler näherte sich dem dreißigsten Jahr. Als er von Rom zurückkehrte, ein neuer Mensch mit neuen Zielen, fand er zuerst Anstellung in einer kleinen Stadt als Kaplan. Schön, er hatte ein wenig die Welt gesehen und ihren Lauf begriffen, er wußte, das Christentum ist eine Weltanschauung und die Kirche ist eine Regierung und hat, wie jede Regierung, mit Macht und Herrschaft mehr zu tun als mit Glauben und Ethik. Es mußte auch in der Kirche etwas wie Staatsraison geben. Also schön, er hatte Frieden gefunden und sein Beruf war ebensogut wie jeder andere Beruf. Gottesdienst ist Menschendienst, nun, er versuchte als kleiner Kaplan seiner Gemeinde nach bestem Gewissen zu dienen.

Sein Pfarrer war ein Mann der alten Schule, nichts konnte sein Gleichgewicht erschüttern. Er las keine neuen Bücher und blickte verächtlich auf alle Wissenschaft und Forschung herab. Seine Gemeinde hielt er nach alter römischer Regierungskunst mit Zuckerbrot und Peitsche, oder, um in seiner Sprache zu reden, mit Himmel und Hölle in strenger Zucht. Das Paradies für die Guten, die Hölle für die Bösen. Als der kleine Kaplan am Anfang einmal mit theologischen Fragen kam, wehrte er ab und sagte: »Vierzig Jahre bin ich Pfarrer im Ort und kenne meine Gemeinde, Herr Kaplan. Wissenschaft? Was weiß der Mensch? Glauben muß er, wenn er selig werden will. Selig sind ... schloß er und sagte einen Spruch aus der Bergpredigt auf. Tobias ließ ihn zufrieden, arbeitete im Gesellenverein, arbeitete an seinem Tagebuch aus Italien, schrieb neue Gedichte auf Helene, begann einen Briefwechsel mit Bergmann und besuchte oft den alten Vater, der sich wieder, um der Einsamkeit zu entgehen, zur Musik flüchtete. Flucht vor der Wirklichkeit? Wir alle fliehen gern vor der Wirklichkeit, und vielleicht war auch das eine Flucht, als Tobias, der nicht mehr bedingungslos an die Lehrsätze seiner Kirche glaubte, sein Examen machte und kurz darauf nach einer größeren Stadt als Pfarrer versetzt wurde. Das war ganz kurz vor seinem dreißigsten Jahr. Auch ihm leuchtete noch die Sonne vor seinem Weg.

Dreißig Jahre! Ulitsch war dreißig Jahre alt, Carla war dreißig Jahre alt, Bergmann war dreißig Jahre alt und Schubert und Paula. Ulitsch, der Baumeister mit jungem Ruhm und neuen großen Plänen. Carla, die Schwester mit dem kleinen Kind, immer wieder die Mutter mit dem Kind, dann Bergmann, der einsame Wolf in der Wüste einer großen Stadt, dessen Geheul wilde Aufsätze in der Arbeiterzeitung waren, der Mann mit der Vergeistigung der leblosen Dinge, der Mann ohne Seele, wie Ulitsch sagte, und der doch so viel Seele hatte, daß er für seine armen Brüder und Schwestern ins Gefängnis ging. Und Schubert, der junge Portier im Hansaviertel, unten in einer Kellerwohnung, über sich die Zimmerfluchten der reichen Leute, der Proletarier mit seinem Haß und mit seiner Liebe, schlagendes Wetter in der Tiefe, das einmal loskrachen wird, wenn der Funke zündet.

Noch stand die Sonne vor ihnen, vor dem Pfarrer, dem Baumeister, dem Portier, dem Agitator und vor der Mutter mit dem Kind, noch lebten sie und freuten sich des Daseins, aber bald kam die Zeit, wo alle Herrlichkeit zusammenbrach und wo man nichts hörte als das Wimmern und Wehklagen vieler Opfer, wo die Verzweiflung heranrauschte und auch die Sonne erlosch.

Der Pfarrbezirk von Tobias Erler dehnte sich zwei Meilen rings um die kleine Stadt. Auf dem Lande wohnten die Arbeiter der großen Güter und Vorwerke. Sie lebten ein unmenschliches Leben, oft nicht besser als das Vieh, und waren fromm und ergeben. Die Gutsherren waren nicht katholisch, es war alter und neuer Preußenadel mit allen Fehlern und Vorzügen jener Kaste. Der junge Pfarrer war einigemal bei zwei oder drei Herren auf Besuch und wurde freundlich aufgenommen. Das Gespräch war das gebildeter Leute. Tobias, das Kind, wußte nicht, daß alle Freundlichkeit nur dazu da war, um ihn als Verbündeten zu halten, damit er den katholischen Knechten, Mägden und Kutschern vom himmlischen Paradies erzähle, damit sie ihre Augen nicht auf irdische Güter richteten. Aber der Verkehr schlief bald ein. Die Herren waren reich. Der Pfarrer war arm.

Die kleine Landstadt bot wenig Abwechslung. Die Menschen waren eng und alt wie ihre Stuben, Häuser und Straßen. Sie waren selbstgerecht wie nur Menschen selbstgerecht sind, die das Bild der Welt durch den Zerrspiegel des Klatsches kennen. Der neue Pfarrer fühlte sich einsam, aber dann richtete er sich häuslich ein, borgte sich von Verwandten das Geld dazu, schrieb und las sehr viel, tat seinen Dienst, predigte, hörte Beichte ab, versah Sterbende mit dem Heiligen Sakrament, segnete junge Ehepaare, taufte Kinder, hielt Grabreden, und alles das erfüllte ihn mit gelinder Heiterkeit. Er lebte ja viel mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Er hielt sich tapfer, der arme Hinkepeter, manchmal stimmte er das Lied von den preußischen Spartanern aus Smolensk an, manchmal blätterte er in dem römischen Reisebuch. Das Erlebnis mit Helene war das große Licht, um das seine schönsten Gedanken kreisten.

Aus seiner Schwärmerei, aus seiner Arbeit und Einsamkeit wurde er plötzlich durch das Telegramm seiner Schwester gerissen. Das war am Abend. Er kam von seinem täglichen Spaziergang durch die blühenden Wiesen, noch leuchtete die Sonne, auf dem Studiertisch standen Blumen, und unter den Blumen lag das Telegramm. Er lief auf den Tisch zu und riß das Papier auf. Herzklopfend las er:

»Komme sofort Berlin. Großes Unglück. Carla.«

Er übergab dem Organisten einen Bericht mit dem Telegramm an die geistliche Behörde, packte schnell seine Sachen, erreichte noch den Abendzug und kam am frühen Morgen nach Berlin. Die Schwester öffnete mit verweinten Augen die Tür und fiel ihm schluchzend um den Hals.

»Bruder, Bruder,« sagte sie weinend, »Bruder, Bruder, Ulitsch liegt im Sterben und der kleine Tobias ist tot!«

»Carla! Carla ...!«

Sie wollte antworten, aber da fiel sie selbst wie leblos in seine Arme. Er führte sie in das Musikzimmer, zwei junge Mädchen eilten herbei und bemühten sieh um die Ohnmächtige. Ein junger Mensch, er stellte sich als der jüngste Bruder Ulitschs vor, gestern aus Paris zurückgekommen, nahm Tobias beiseite und erzählte die ganze Geschichte.

»Ich bin schuld an dem Unglück, Herr Schwager, ich habe die Schuld. Gestern mittag komme ich aus Paris, habe telegraphiert und mein Bruder ist mit dem Kind an der Bahn. Große Freude, zwei Jahre war ich fort, die Carla wartet, und ich sage zum Chauffeur: »Schnell fahren' und dachte dabei mehr an die Pariser Taxi als an Carla, nun, er fuhr auch schnell und Ulitsch erzählte von einem großen Bauauftrag am Kurfürstendamm. Wir fahren von der Friedrichstraße die Linden entlang, und am Brandenburger Tor saust uns ein anderes Auto in die Fahrtrichtung. Wir schmeißen um, Krach und nochmals Krach, dann Explosion. Ich springe wie ein Büffel aus dem Wagen, bin wild und wahnsinnig, Leute kommen, schreien, Polizei. Im anderen Wagen ein angstschlotternder Herr. Sanitäter, die Wache, was weiß ich, nur das: ich bin unverwundet, der kleine Tobias ist tot und Ulitsch schwer verletzt. Die Ärzte sind bei ihm, aber es ist keine Rettung. Und ich bin schuld daran, weil ich gesagt habe: »Schnell fahren'!«, schloß er mit flüsternder Stimme.

Tobias ließ den hilflosen Menschen stehen, er lief geschwind einer Krankenschwester nach, die nach dem Schlafzimmer ging, hatte sie hinkend und ohne Schwere erreicht, öffnete vor ihr das Zimmer und trat lautlos ein. Um das Bett des Verletzten standen zwei Ärzte, die sich mißbilligend dem Eindringling zuwandten. Ulitsch war bei Bewußtsein. Sein Kopf lag in dicken, weißen Binden, nur die Stirn war frei, der Mund und ein schmaler Schlitz für die Augen. Er winkte den Ärzten ab. Sie verließen das Zimmer. Tobias ging behutsam an das Bett.

»O Ulitsch, mein Freund!« sagte er beinahe unhörbar.

»Tobias,« flüsterte der Sterbende, »Tobias, mit mir ist es aus. Ich bin fertig. Die Ärzte geben mir noch einen halben Tag. Bis zum Abend, wenn alles gut geht. Und es muß gut gehen. Ach, Tobbi, das Kind ist tot, und da will ich auch nicht mehr leben ... Da hat man große Häuser gebaut und ganze Blocks ausschachten lassen, und jetzt wird das Grab ausgeschachtet im Verhältnis zwei zu eins«, versuchte er leise zu scherzen. »Aber nun bist du da. Carla, siehst du, Carla, darüber will ich mit dir reden. Ich habe mich verspekuliert, alter Junge! Einige tausend Mark sind schon noch da, zehntausend, schätze ich, wenn alles liquidiert ist, und das sollst du in die Hände nehmen. Auch Carla. Ich gebe sie dir zurück. Sorge dich um Carla. Durch dich habe ich sie kennen gelernt, alter Junge, damals am Sternsee, weißt du noch, damals im Boot, und am Abend wolltest du als Dritter mitfahren, aber das Schwesterlein sagte: ›Nein‹. Ja, sie hat ›Nein‹ gesagt, lieber Tobbi ...« Er hustete und auf seiner Stirn stand Schweiß. Tobias kühlte die Stirn mit einem nassen Tuch. »So ist's viel besser, alter Junge,« begann Ulitsch wieder zu reden, »mein Vater hat immer von den preußischen Spartanern gesprochen, und weil du jetzt da bist, fühle ich mich auch so sicher und so wohlgeordnet, alter Knabe. Nichts kann mir mehr passieren. Das Schlimmste war nämlich das Kind ...«

»Hat es sehr gelitten?« fragte Tobias.

»Weiß nicht. Kein Mensch kann wissen, was der andere Mensch leidet, und wenn es auch nur in einer kleinen Minute ist. Man sagte mir, es sei gleich tot gewesen. Gestern? Heute? Ich weiß es nicht. Wann ist der Wagen verunglückt? Vor hundert Jahren? Es ist eine entsetzlich lange Zeit schon her ... Mein Bruder, der dumme Junge, glaubt, er hätte die Schuld. Tröste ihn, Bruderherz. Tröste die Carla und nimm sie zu dir ... Und jetzt bringe die Papiere. Carla soll sie geben. Bleib nicht zu lange fort, ich habe sehr wenig Zeit, mein Freund.«

Tobias ging und die Ärzte erschienen wieder. Die Krankenschwester brachte eine bittere Arznei, Ulitsch ertrug alles mit geschlossenen Augen wie ein Tier in der Schlinge, das ausgetobt hat und für das der Tod Befreiung und Rettung ist. Die Ärzte sprachen mit gedämpfter Stimme, und dem Verletzten war es wie das Rasseln einer fernen, dumpfen Trommel.

Carla lief ihrem Bruder zitternd entgegen, stürzte sich an seine Brust, klagte wieder, war verzagt, weinte, war wie leblos und dann verzweifelt. Ja, das Licht war erloschen, Schatten des Todes, eines dummen, zufälligen Todes, brachen herein. Ein nicht ausgelebtes Leben zerfiel. Eine Blüte schleifte im Staub.

»Schwester,« sagte Tobias leise, »Schwester, fasse Mut. Dein Mann spricht durch midi zu dir. Noch ist nicht alles verloren. Ein Wunder kann ihn retten. Ein großes Wunder. Bete, Carla, bete.« Sie sank auf die Knie. »Nein, nicht beten, später, Liebling, Ulitsch spricht jetzt durch mich. In der Bibliothek das kleine Kästchen, das sollst du mir geben«, flüsterte er weiter.

Sie hörte und hörte nichts, sie lag auf den Knien und betete zu Gott. Auf den Knien lag sie und jammerte: »Ein Wunder, himmlischer Vater, ein Wunder! Laß meinen Mann gesund werden. Ein Kind habe ich schon geopfert, und, der du das Opfer Abrahams abgewendet hast, nimm mein Opfer an, laß ihn gesund werden, den Mann, den Liebsten, den Einzigen! Laß ihn gesund werden, nimm mein Leben für seins. Hilf Ulitsch ...« Sie schwieg, unterbrach das Gebet, lauschte eine kleine Weile und stand dann auf. Stand und ging mit starken Schritten auf den Bruder zu.

»Ist dein Gott auch gestorben?« fragte sie mit entsetzlicher Stimme, »ich höre, daß er mich nicht hört! Mein Sohn ist tot, mein Mann stirbt, und warum will er denn ewig leben, der hartherzige Gott im Himmel?« Sie taumelte und fiel in einen Stuhl. »Mein Mann spricht durch dich?« sagte sie dann. »Bis gestern hat er durch seinen Sohn zu mir gesprochen, oder er kam selber. Tobbi! Ist alles nur ein entsetzlicher Traum? Ich will zu ihm, laßt mich zu ihm! Eine Frau gehört zu ihrem Mann. Warum seid ihr so grausam? Was habe ich euch getan, daß ihr mich so quält?«

Tobias ging auf sie zu, hob ihren Kopf in die Höhe und küßte den heißen Mund. Sie ließ alles mit sich geschehen, wimmerte nur manchmal, stand endlich auf, entfernte sich, kam nach einigen Minuten zurück und schleppte, als trüge sie ungeheure Last, ein kleines Kästchen aus Mahagoni und gab es dem Bruder. Er streichelte ihre Hand, aber sie zuckte vor der Berührung zusammen, floh an das Fenster und streckte die Arme aus.

»Mein Kind will ich haben, mein Kind! Laßt mich zu meinem Mann, ihr Leute, ich will zu meinem Mann!« schrie sie auf. Die Mädchen kamen und führten sie aus dem Zimmer. Sie ließ alles mit sich geschehen, wie eine Wahnsinnige. Ihr Bruder weinte. Dann ging er zu Ulitsch.

Er trat in das Zimmer. Die Ärzte verließen den Raum. Die Krankenschwester verschwand. Ulitsch winkte mit der Hand. Stille, kein Wort, jedes Wort ist gezählt. Jeder Atemzug ist schon berechnet. Wenn die Sonne sinkt ist alles aus und erloschen. Das Herz schlug schon langsamer. Der Geheimrat, das war der alte Doktor mit der goldenen Brille, hatte neue Kampfereinspritzungen gemacht.

»Ich habe sie schreien gehört, und ich will sie sehen. Die Ärzte sind Bestien, sie haben sie aus dem Zimmer geschickt«, flüsterte Ulitsch. »Sie soll und muß bei mir sein in den letzten Stunden, Tobbi. Aber erst wollen wir für morgen sorgen, wenn ich nicht mehr da bin ... Also die Papiere. Zeig her alter Junge, ganz nahe, siehst du. Noch näher.«

Er holte aus dem geöffneten Kasteien einige Papiere und ein Buch heraus, hielt alles an die Augen, las und prüfte mit letzten Kräften, seufzte und sagte dann: »Viel ist es nicht mehr, Tobias, zehntausend Mark auf der Bank. Das andere sind Wechsel, die decken meine Verbindlichkeiten. Das Geld nicht anrühren. Für Carla, hörst du ... Da« und er gab ihm ein gestempeltes Dokument, »das ist das Testament. Nimm alles an dich, Tobbi, und hole meine Frau ...« Er schwieg erschöpft und als Tobias gehen wollte, nahm er alle Kraft zusammen und sagte: »Nein, hole sie noch nicht, wir wollen noch zusammen sprechen ...« Er schloß die Augen. Auf der Stirn lag ein weißes Tuch. Jetzt sah der ganze Kopf wie eine unheimliche Maske aus.

»Ulitsch,« flüsterte Tobias, »Ulitsch, ich habe alles gehört und verspreche dir, für Carla zu sorgen. Ich nehme sie mit zu mir. In mein Haus. Ich will alle Dinge in Ordnung bringen ... Ach, ich war in den letzten Wochen so froh und nun kommt dieser Schlag!«

»Er hat mich getroffen, den kleinen Tobias und Carla, dieser Schlag,« antwortete der maskenhafte Kopf, »wir sind zusammengebrochen und du hast mich ein wenig aufgerichtet, Tobbi, nun richte auch Carla auf, lieber Junge ... Ich will dich nicht fragen, ob du glücklich bist, das hätte ich früher tun müssen, aber da war ich mit mir und anderen Dingen zu sehr beschäftigt. Aber du mußt ja glücklich sein, denn du lebst ...«

»Ich bin glücklich, Ulitsch,« antwortete Tobias, »ich tue meine Pflicht. Menschendienst ist Gottesdienst.«

»Und nun hole Carla.«

Tobias ging. Die zwei Ärzte erschienen wieder bei dem Verletzten. Die Krankenschwester kam wie ein freundlicher Schatten. Sie nahm das kühlende Tuch von der Stirn und stellte Arznei auf den kleinen Tisch. Ulitsch hatte die Augen geöffnet und blickte nach der Tür, durch die Carla eintreten würde. Tobias fand seine Schwester im Kinderzimmer. Dort lag der kleine Tobias aufgebahrt. Wie schlafend sah das tote Kindlein aus, ein friedliches Gesicht, Blumen im Haar, die kleinen Arme über der Brust gekreuzt, die Hände gefaltet, so daß es im ersten Augenblick aussah, als seien diese gefalteten I fände eine unbegreifliche Faust, die auf der Brust liegt, um einen großen Schmerz zu unterdrücken. Carla lag vor dem Totenbett des Kindes auf den Knien. Sie sah nichts außer ihrem toten Kind, sie hörte nichts außer der zwitschernden Stimme des so früh gestorbenen Sohnes. Sie weinte nicht, sie jammerte nicht, sie hatte sich scheinbar in das Schicksal ergeben. Mit toternsten Augen blickte sie ihren Bruder an.

»Carla, dein Mann ruft dich«, sagte Tobias. Sie erhob sich, stand eine kleine Weile vor ihrem toten Kind, nahm eine Blume aus seinem Haar, streichelte die kalte Stirn und ging lautlos aus dem Zimmer. Tobias folgte ihr. Als er mit ihr bei Ulitsch eintreten wollte, warf sie ihm einen so kalten und strafenden Blick zu, daß er stockte und sich zurückzog. Die Ärzte erschienen wieder und auch die Krankenschwester.

»Herr Geheimrat,« wandte sich Tobias an den alten Doktor mit der goldenen Brille, »Herr Geheimrat, ist keine Hoffnung mehr?«

»Das steht bei Gott, Herr Pfarrer«, antwortete der Arzt, Also keine Hoffnung mehr, dachte Tobias, keine Hoffnung und Ulitsch stirbt. Unruhig hinkte er den Korridor hinab, dort fand er den Schwager und sprach ihn an. Der junge Mensch war immer noch verstört. Als er aber den Trost menschlicher Stimme hörte und die Versicherung von Ulitsch, daß er unschuldig sei an dem Unglück, kam neue Kraft in die zusammengebrochene Gestalt. Er richtete sich auf, beugte sich plötzlich nieder und küßte die Hand seines Schwagers. Dann ging er ganz schnell fort. Immer noch wanderte Tobias hin und her. Unter dem Arm trug er das kleine Mahagonikästchen, in dem Ulitsch seine Papiere verwahrt hatte. Hin und her, auf und ab wanderte Tobias, niedergeschlagen, verzweifelt und selbst nach Trost suchend. Manchmal blieb er vor der Tür des Krankenzimmers stehen und lauschte. Nichts war zu hören als ein fernes, unendlich weites und unverständliches Gespräch zwischen dem sterbenden Mann und seiner Frau. Manchmal hörte man auch ein schluchzendes Weinen. Tobias konnte den Jammer nicht mehr ertragen. Er ging in das Musikzimmer, setzte sich in einen weichen Sessel und starrte vor sich hin. Plötzlich erschien Carla. Sie hielt in der rechten Hand jene Blume aus den Haaren ihres toten Kindes. Ihr Gesicht war tränenleer. Sie ging auf den Bruder zu, beinahe schwebend.

»Ulitsch ist tot!« sagte sie und fiel um, stürzte wie unter einem furchtbaren Schlag auf den Teppich und riß im Fallen einen kleinen Tisch um, auf dem gelbe Rosen standen. Die Vase zerbrach. Einige Rosen fielen über sie. Carla lag wie tot auf der Erde. Wie ein Opfer.

Als sie hinstürzte, sprang ihr Bruder auf, ließ das Kästchen mit den Papieren fallen, die weißen Blätter flatterten auf den Boden, flatterten in das vergossene Wasser, auf die Blumen und auf die ohnmächtige Frau. Er kniete auf die Erde nieder, in das Wasser, auf die Papiere und auf die Rosen und richtete Carla auf. Dann schrie er nach Hilfe. Der alte Doktor mit der goldenen Brille erschien, die Krankenschwester kam gelaufen, die zwei anderen Mädchen waren plötzlich da und trugen mit der Krankenschwester die Ohnmächtige aus dem Zimmer, brachten sie in einen neuen Raum und als dann Tobias erschien, lag sie schon im Bett, um sich die Ärzte und war immer noch ohne Bewußtsein. Sie erwachte erst wieder aus der Ohnmacht und Nervenfieber, als ihr Mann und ihr kleiner Sohn schon begraben war.

Tobias Erler hatte zehn Tage Urlaub bekommen. In diesen Tagen kam er keine Stunde zur Ruhe. Er gönnte sich kaum richtigen Schlaf. Viele Dinge mußten erledigt werden, das Begräbnis, die Auseinandersetzung mit der Verwandtschaft, Liquidierung des Geschäftes, Verkauf der Firma, Prüfung und Lösung alter Verträge, Auflösung der Wohnung, Sichtung aller Papiere: nach acht Tagen hatte er alles geschafft und reiste mit seiner Schwester, die der Schmerz versteinert hatte, in die Heimat zurück. Aus dem Zusammenbruch hatte er für Carla zwölftausend Mark gerettet und auf einer Bank in Berlin sichergestellt. Er brachte die erschöpfte und willenlose Frau zu seinem Vater, blieb selbst noch einige Tage dort und ging in die kleine Stadt zurück.

Über einen Monat blieb Carla bei dem Vater. Über einen Monat pflegte der alte Mann sein Kind. Quellen verschütteter Zärtlichkeit sprangen in ihm auf. Sein ganzes Wesen war vollkommene Güte. Langsam, ganz langsam erholte sich Carla. Sie besuchte mit dem Vater das Grab der Mutter und als sie den alten Mann mit den weißen Haaren neben sich sah, ahnte sie zum erstenmal, wie einsam und wie elend er sein mußte, wie viel er gelitten hatte, als die Mutter starb. Und mit diesem Gedanken schienen neue Kräfte über sie zu kommen. Jetzt war sie es, die den Vater aufrichtete, jetzt war sie es, die ihn tröstete. Ja, das Schicksal hatte ihr größtes Glück ausgelöscht, ihr Leben beinahe zerstört. Aber noch war Leben in ihr, eine kleine Flammenkette unter der Asche der Trauer. Noch war sie nicht wertlos und zwecklos auf der Welt, noch galt es, den alten Vater zu schützen und ihren Bruder Tobias beizustehen.

Einige Tage darauf verließ Carla ihren Vater und übersiedelte zu Tobias. Die alte Wirtschafterin wurde entlassen, sie selbst führte jetzt den Haushalt. Sie klagte nicht mehr, sie verzagte nicht mehr, sie baute ihr Leben neu auf. Ja, sie war noch eine junge und schöne Frau, und wenn sie mit ihrem Bruder durch die kleine Stadt ging, blieben die Leute oft stehen, um das ungleiche Paar zu betrachten und sie zu bewundern. Carla half ihrem Bruder im sozialen Dienst an armen Leuten und eroberte sich viele Herzen.

Über ein Jahr lebte Carla schon bei ihrem Bruder. Sie harmonierten gut miteinander und Tobias war glücklich.

einen Menschen um sich zu haben, der die graue Langeweile einer kleinen Landstadt erleuchten konnte. Sie musizierten oft zusammen, lasen viele Bücher, sprachen über vergangene Dinge, über Bergmann und Leisewitz und manchmal auch über Ulitsch. Die Schwester war so stark, von ihrem Mann zu sprechen, als hätte sie das alles in einem vergangenen Dasein erlebt, auf einem schöneren Stern. Endlich beichtete auch der Bruder sein römisches Erlebnis mit Helene.

»Bruder,« sagte sie, »vielleicht hättest du sagen sollen, wer du bist. Ich glaube, das Mädchen hätte dich auch geliebt. Hast du nie mehr etwas von ihr erfahren?«

»Ich sagte ihr, sie könne mich jederzeit über Ulitsch erreichen,« antwortete Tobias, »und sie hat mich erreicht und mir geschrieben, als sie heiratete. Ihr Brief war freundschaftlich und voller Nachsicht. Vielleicht war auch ein wenig Zärtlichkeit dabei.«

»Zeige mir den Brief«, bat die Schwester. Tobias brachte ihn und Carla las, lächelte und blickte ihren Bruder strahlend an. Dann nahm sie den Brief und warf ihn ins Feuer.

»Aber Carla!« rief Tobias und wollte in die Flammen greifen.

»Aber Tobias!« sagte die Schwester und wurde ernst, »wenn du das Mädchen geliebt hast, so ist dieser Brief in dein Herz geschrieben. Wenn du sie geliebt hast, wie du erzählst, dann brauchst du es nicht schriftlich haben. Weißt du überhaupt, was sie geschrieben hat?«

»Ja«, antwortete der Bruder beschämt und ging auf seinen Platz zurück, ich kenne Wort für Wort. Sie schreibt:

»Lieber Herr Doktor! Vor einiger Zeit bin ich aus Italien zurückgekehrt. Das Schönste, was ich finden konnte, war meine Begegnung mit Ihnen. Der Abend auf den Bergen bei Rom und dann jene Fahrt nach Neapel. Neapel!! Brüderlein und Schwesterlein ... Wir werden uns nicht mehr sehen. Leben Sie wohl. Ich habe mich verlobt. Ich denke sehr viel an Sie. Ihre sehr ergebene Helene.«

»Ach Carla ...«

»Ulitsch hat mir nie etwas von deiner Bekanntschaft erzählt,« sagte Carla nachdenklich, »wir hatten sonst keine Geheimnisse, aber es scheint, daß die Männer miteinander mehr Geheimnisse haben als die Frauen.«

»Ja, so wird es sein,« antwortete lächelnd der Bruder, »die Männerfreundschaft bindet die Menschen ebenso stark zusammen wie die Liebe.«

»Was weißt du von der Liebe!« antwortete Carla, »das Erlebnis mit Helene war noch nicht die richtige Liebe, war Schwärmerei und Bereitschaft des Blutes. Liebe ist nicht nur süß, sie ist auch bitter. Sie ist nicht nur Sonnenschein, sie ist auch Unwetter. Und dann vielleicht erst recht. Liebe, Liebe, was weißt du von der Liebe?«

Der Bruder schwieg. Audi Carla versank in Schweigen. Es war am Abend. Die Dunkelheit kam. Die zwei Menschen saßen stumm in den ersten Schatten der Nacht. Manchmal seufzten sie, aber ob sie nun schwiegen oder seufzten, immer dachten sie an die Liebe, immer dachten sie über jenes Gesetz nach, dem Mann und Frau gehorchen müssen, wenn es richtige Männer und richtige Frauen sind. Endlich seufzten sie nicht mehr, standen auf, machten Licht, und dann besprachen sie die kleinen Sorgen des Tages.

Bergmann wohnte immer noch in der Weinstraße. Schon längst hätte er eine bessere Wohnung haben können, aber ein Gefühl, das stärker war als jede Berechnung, hielt ihn in jenem Hause fest, das allgemein »Der Sarg« genannt wurde. Neben ihm hatte sich ein junger Student namens Eugen Weinmeister einquartiert. Er stammte aus Eßlingen am Neckar und hatte aus einer Laune, wie sie oft verwöhnte Menschen überfällt, ausgerechnet im vierten Stock jener Kaserne ein möbliertes Zimmer genommen. Er studierte an der Technischen Hochschule und hätte sehr gut im Westen der Stadt wohnen können, aber vielleicht gerade dieser höllische Gegensatz riß ihn in das vermorschte Haus, den Sarg, in dem alles zu finden war, außer den blanken Blitzen der Technik: keine Technik des Glücks und keine Technik des Unglücks. Über den Sarg stürzte das Unglück ohne jede Technik in unberechenbaren Jammerkurven. Ja, einmal hatte auch das Glück gelächelt: das war an jenem Tag, als Leisewitz den Schubert aus der Mansarde herausholte.

Der Sarg! Grau in Grau stiegen aus schmutzigem Grund die Fassaden der Mauern hoch, über denen das flache Dach wie ein Erdhügel lagerte. Auch Musik war immer noch zu hören, Sterbemusik, und immer noch stellten sich die Hofmusikanten und Drehorgelspieler an den schmutzigen Müllkästen auf. Immer noch, wie damals, kamen wächserne Kinder, die niemals ein freies Tier oder ein grünes Saatfeld gesehen hatten, und tanzten. Immer noch ratterten die Maschinen jener Mützenfabrik. Zehn junge Mädchen verblühten in den dumpfen Räumen.

Wenn spät am Abend die Arbeit ruhte und der kleine Unternehmer die Gewinne des Tages berechnete, brach oft der Haß einer dreißigjährigen Ehe brüllend hoch. Auch diese zwei Menschen hatten sich einmal geliebt. Der Mützenmacher schien aus der Anwesenheit der anderen Männer seine Kraft zu holen (am Tage war er meistens still, seine Frau führte das Wort), aber abends stand er mit dunklem Gebrüll gegen das Geschrei seines Weibes. Auch die anderen Männer, die aus den Fabriken heimkehrten, standen wie vom Tode auf und rüttelten heftig an ihren Käfigen. Noch mit Haß im Herzen gingen sie dann schlafen. Aber der Sarg war nun kein Sarg mehr. Das morsche Haus wurde eine mächtig schwankende Wiege, in der die Kinder des Volkes lagen, schliefen und träumten.

Bergmann kam mit dem Studenten manchmal zusammen. Einigemal saßen sie bis zum frühen Morgen wach und diskutierten über Technik und Sozialismus. Der Vater des Studenten war ein reicher Kaufmann, und der Monatsscheck, den er seinem Sohne sandte, war wie ein scharfes Beil, mit dem der junge Mensch alle Argumente seines Nachbars niederschlug.

»Das Kapital kommt, um mit Ihren Worten zu reden, Herr Bergmann, mit Blut und Tränen zur Welt,« sagte Weinmeister am Ende jenes Gespräches, »nun, ich will Ihnen sagen, wie sich mein Vater das Geld verdient hat. Er war ein kleiner Kaufmann und fing mit einigen hundert Mark an. Er hatte Glück, das gebe ich zu, aber er hat Tag und Nacht gearbeitet und sich hochgebracht. In der ersten Zeit verkaufte er Lebensmittel, und er hat mir oft erzählt, er ging lieber hungrig zu Bett als seine eigenen Sachen aufzuessen. Er aß trockenes Brot und trank Wasser, und in seinem Laden war Butter, Schinken, Eier und Wein. Was sagen Sie nun?«

Bergmann sagte gar nichts. In seinem ernsten Gesicht stand ein Lackeln, und das verwirrte den jungen Studenten viel mehr als jede wohlaufgesetzte nationalökonomische Rede. Er verließ das Zimmer und ließ sich nicht mehr sehen. Er war ja noch jung, kaum zwanzigjährig, kühl bis ans Herz hinan, aber doch voll geheimer Romantik. Er verliebte sich nämlich in jenem Sarg in die Tochter des Gemüsehändlers, der tief unten im Keller Kartoffeln, Salat, Eier, Öl und Mohrrüben verkaufte.

Sein Betriebskapital erreichte die phantastische Höhe von rund sechzig Mark. Das war kaum ein tausendstel des Geldes, das in dem Geschäft des alten Weinmeister in Eßlingen arbeitete.

Wie zum Ausgleich wuchs in dem dunklen Keller die Schönheit heran in Gestalt der achtzehnjährigen Henriette, in die sich der Student verliebt hatte. Vielleicht ist Liebe ein zu hohes Wort, sicherlich war Spieltrieb und Berechnung dabei, auch von Henriette, die das erste Erröten und Schwanken des jungen Mannes gut ausnutzte und mit einem so strahlenden Lächeln nachstieß, daß er sich gern ergab. Henriette hatte sich in ihren achtzehn Jahren schon manchmal ergeben. Im Sarg blieb kein Mensch lange jungfräulich. Sie war von jener angenehmen Kühle, die man oft in Berlin findet und die heftigster Leidenschaft fähig ist. Also schön, der Student verliebte sich in Henriette, brachte kleine Geschenke, ging mit ihr im Friedrichshain spazieren und machte mit ihr kleine Ausflüge. Als er an einem schönen Sonntag mit ihr nach Plötzensee hinausfuhr und beim Tanz jene Bereitschaft zur Liebe fand, die er sonst nur aus seinen Träumen kannte, stürzte er nicht nur bildlich aus dem vierten Stock in den Keller hinab. Natürlich war er auch schon ein Mann und kannte die Harmonie weiblicher Glieder, ohne Anatomie studiert zu haben. Als auf dem Heimweg Henriette »Komm, Eugen!« sagte und einen stillen Weg einbog, der in die Jungfernheide führte, da schlug sein Schwabenherz doch schneller.

Nach jenem Sonntag trafen sich die Verliebten noch oft, und einmal kam auch Henriette aus dem Keller hinauf in den vierten Stock. Als sie in das Zimmer trat, lehnte ihr Freund am Fenster, hatte einen Feldstecher vor den Augen und versenkte sich in den Anblick der kahlen Fensterhöhlen der gegenüberliegenden Häuserfront. Er sah, wie damals Tobias Erler, als er Bergmann besuchte, die kahlen Zimmer, in denen sich Nähmaschinen und Hutpressen bewegten, die von einsamen Männern und Frauen bedient wurden. Sie waren so tief in die Arbeit gebeugt, daß man von ihren Gesichtern alle Niederlagen des Lebens ablesen konnte.

»Henny,« sagte der Student atemlos und ließ das Glas sinken, »Henny, guten Abend, Henny, das ist ja furchtbar! Hast du schon mal Gesichter gesehen, die wie gestorben sind, wenn sie sich unbeachtet fühlen?«

»Nein,« sagte das Mädchen, »aber ich habe an einem Gesicht genug. An deinem, Eugen.«

Der Student wandte sich dem Mädchen zu. Ihre Gestalt stand wie ein schwarzes Götzenbild im Raum. Und als sie nun die Arme bewegte, da war es ihm plötzlich, als rührten sich die Flügel einer Mühle. Er hatte Angst. Unvermittelt mußte er an die jungen Arbeiter denken, die auch in dieser Straße abends mit ihren Mädchen bis in die späte Nacht in den dunklen Fluren zusammenstehen wie ineinander verschmolzen. Einsame Doppelposten eines kleinen Glücks, und die nichts sind und bleiben als namenloses Volk, Volk der Fabriken, der großen Städte, der schweren Arbeit, der vielen Kinder.

»Mensch,« sagte das Mädchen enttäuscht, »Mensch, hast du Angst vor dem Duster?« als er erregt das elektrische Licht andrehte, um die schwarzen Schatten der Tiefe zu verjagen, die quälend emporstiegen.

»Nein, gewiß nicht, Henny,« wehrte er ab, »Angst habe ich nicht. Aber was hast du für sonderbare Ausdrücke! Mensch, Mensch! Natürlich bin ich ein Mensch, aber wie du das sagst, klingt es, als ob ich ein Unmensch wäre.«

»Liebenswürdig bist du gerade nicht, mein Freund. Einmal warst du schon anders. In der Jungfernheide nämlich«, antwortete das Mädchen und wollte gehen. Ihr Herz wurde schwer.

»Henny, bleiben. Ich war nicht anders, aber du bist anders geworden, Schätzele.« Und als er das liebkosende Wort aussprach, wurde es bitter in seinem Munde. Da war das Herz nicht mehr dabei. Die Lüge saß wie ein kalter Frosch auf seiner Brust. Er schämte sich.

»Das ist alles?« wütete das Mädchen und drehte sich um. »Ich komme zu dir, bin das erstemal in deinem Zimmer, und du zeigst mir die Gesichter der Arbeiter von da drüben! Dein Gesicht wollte ich sehen, aber nicht deine Maske. Dein liebes Gesicht, Weinmeisterlein!«

»Ich bin in die Weinstraße gezogen, Henny, weil ich Weinmeister heiße, und weil das so lustig zusammenklingt. Ich komme ja aus einer ganz anderen Welt. Ich verstehe euch nicht mehr. Da ist der Bergmann mit dem kalten Gesicht, und jetzt bist du böse. Was habe ich dir getan? Vielleicht war es Unrecht von mir an dem Sonntag in der Jungfernheide. Und ich will ja alles tun ...«

»Du dummer Junge,« sagte das Mädchen und verging, »du dummer Junge! Ich habe dich ja lieb, und wenn du fortgehen willst, so gehe fort. Ich werde nichts als weinen ...«

»Ach, Henny,« seufzte er und freute sich, weil er frei war, »dieses Haus heißt ›Sarg‹, aber es ist gar kein Sarg. Ich hatte Angst vor dir, aber nun habe ich keine Angst mehr. Ich habe dich lieb, aber ich muß fort. Ich will nicht mit dir spielen.«

»Spiele doch, du großes Kind,« schrie das Mädchen und fiel ihm um den Hals, »spiele doch, du Weinmeister vom Neckar!«

Das elektrische Licht verlöschte. Ehe es aber verlöschte, hatte der Student die ausgebreiteten Arme seiner Freundin gesehen. Ja, sie waren immer noch wie zwei Flügel einer Mühle, aber jetzt hatte er keine Angst mehr. Er ahnte, daß jede Umarmung heilkräftiges Brot ist. Brot des Lebens, Brot der Liebe.

Der kühle Mond machte die gegenüberliegende Häuserfront gläsern. Die verlassenen Maschinen spiegelten sich in seinem Licht. Der Sarg war kein Sarg mehr. Wie eine Wiege schwankte die graue Mietskaserne durch die Nacht hinüber in das Morgenrot.

Am frühen Morgen, als das Mädchen mit bloßen Füßen das Zimmer verließ, stand sie plötzlich Bergmann gegenüber, der von seiner Zeitung kam. Er sagte kein Wort, er betrachtete sie nur mit nachdenklichem Gesicht. In seinen grauen Augen war viel Zärtlichkeit. Henriette ging herzklopfend an ihm vorüber und war dankbar, weil er sie nicht angesprochen hatte. Am selben Tage verließ auch Eugen Weinmeister die Weinstraße. Er zog nach dem Westen der Stadt. Dort gab es keine Gemüseläden im Keller und keine Hennys, die ihre Liebe so selbstlos und verschwenderisch verstreuten. Dort fand er die Technik, die er ja auch an der Hochschule studierte, überall: Technik des Glücks und Technik der Liebe. Aber die war auch danach.

Auch den Studenten ließ Bergmann schweigend vorübergehen. Was hätte er schon sagen sollen! Ein Dienstmann schleppte einen großen Koffer die steilen Treppen hinab, der junge Herr trug eine kleine Reisetasche und war wie auf einer Flucht. Vielleicht schämte er sich, vielleicht war er nur hochmütig, als er an Bergmann vorüberging, vielleicht witterte er auch den Klassenfeind. Ja, Bergmann sagte kein Wort. Er war müde von der Arbeit, müde von den vielen Besprechungen und Reden. Er wollte nichts als schlafen, sich ausruhen und stärken. In den nächsten Tagen sollten die großen Demonstrationen der Berliner Arbeiter einsetzen, um das Klassenwahlrecht zu stürzen. Was sollte das kleine Schicksal, das sich an dem Mädchen Henriette aus dem Keller erfüllt hatte? Vielleicht war es auch gar kein Schicksal, war Spiel oder Berechnung, Rausch einer Nacht. Ja, und der Student war hochmütig davongelaufen, er kam sich vielleicht auch noch nobel vor wie der Herr Leisewitz, der sonderbare Wohltäter.

Berlin demonstrierte. Das werktätige Volk war auf die Straße gegangen und zog in endlosen Kolonnen durch die versteinerte Stadt. Inmitten der Versteinerung war das marschierende Volk das lebendige Leben und tausendmal wichtiger und wertvoller als jede Technik, Ordnung und Disziplin. Die Fabrikarbeiter marschierten, und man sah in ihren Gesichtern die Qual der Arbeit an den Maschinen, sah den schwarzen Ruß vieler Feuer, die gelbe Schminke aus den chemischen Betrieben, hunderttausend Gesichter und in ihnen hunderttausendfaches Brandmal. Die Metallarbeiter marschierten, und es schien, als hätte auch sie die Art ihrer Beschäftigung gekennzeichnet: die Eisendreher sahen anders aus als die Kupferschmiede, die Goldarbeiter waren anders als die Männer, die mit Messing, Nickel oder Bronze zu tun hatten. Dann kamen die Holzarbeiter. Die grünen Wälder waren schon lange geschlagen, sie waren schon zugerichtetes Holz, wenn die Maschinen passiert wurden, die sausenden Kreissägen, die knarrenden Abrichtbänke und die heulenden Hobelmaschinen. Was war der Wald für die Holzarbeiter! Keine Insel grüner Einsamkeit mehr, kein Gipfelrauschen, kein Vogelgesang, kein schwellendes Moos und keine nachtgrünen Verstecke mehr: nein, nichts als zugerichtetes Material in verschiedener Art, Eiche, Buche, Kiefer, Tanne. Jedes Brett und jede Leiste anders gefasert und vorbestimmt. Dann weit über den Ozean her der edle Mahagoni, aufleuchtend später in der letzten Politur. Die Bauarbeiter marschierten und bewegten sich, als stünden sie noch auf hohen Gerüsten. Andere wieder marschierten gebeugt, als trügen ihre Rücken gewaltige Lasten. Jugend marschierte im Zug, und unsichtbar vor ihnen schienen Fahnen zu wehen, brausender Flügelschlag, flammender Schwung entfalteter Banner. Auch Kinder waren im Zug, Frauen und Mädchen.

Am Alexanderplatz wurde der Marsch der Arbeit und der Arbeiter durch berittene Polizei auseinandergesprengt. Vierzig Genossen wurden verhaftet. Unter den Verhafteten war auch Bergmann. Schubert, der neben ihm marschierte, wurde von einigen Genossen zugreifenden Polizeifäusten wieder entrissen. Wie ein Meer in der Brandung brüllte die Arbeiterarmee auf, als die Polizei den Zug der Hunderttausend sprengte. Hunderttausend Fäuste flogen empor, Fäuste, die schwere Hammer zu tragen gewohnt waren, Beile, Brechstangen und Feilen. Ja, geschwungene Säbel, brutale Attacken, triumphierende Gewalt, alarmiertes Militär. Die Regierung gegen das Volk, Kein Zuckerbrot. Nur die Peitsche!

Die Peitsche. Hinter der Leibwache säbelschwingender Polizisten und alarmbereiter Soldaten saßen die Macher der Regierung, die Beauftragten der herrschenden Klasse, der Polizeipräsident und die Polizeiminister, der hohe Adel und der Monarch. Aufgeblasen wie eine Gummipuppe kam schließlich auch der Polizeipräsident und besah sich das Schlachtfeld. Das Schlachtfeld? Vierzig Genossen verhaftet, zwei Frauen niedergeritten, ein Arbeiter hatte einen Säbelhieb quer über die Stirn, ein junges Mädchen war von einem Pferd an eine Wand gequetscht worden. Der Strom der Arbeiter flüchtete, getrennt in viele Ströme, durch das lauschende und bebende Berlin, durch die Proletarierbezirke, empfangen von der Liebe und dem Haß der Zurückgebliebenen, der Frauen, der Kinder, der alten Leute.

Schon in den nächsten Tagen begann der Prozeß gegen die Verhafteten. Bergmann und vier andere Genossen wurden als Rädelsführer angesehen und auf zwei Jahre in die Gefängnisse geschickt. Zehn Genossen wurden freigesprochen, um das aufgewiegelte Volk zu beruhigen. Die anderen Verurteilten hatten Gefängnisstrafen von drei Wochen bis zu drei Monaten zu verbüßen. Der Polizeihauptmann, der die Attacke gegen die Demonstranten führte, wurde zum Major ernannt. Der Polizeipräsident bekam einen neuen Orden und ein allerhöchstes Handschreiben.

Unbegreiflicherweise war die kleine Henriette auch mit zur Demonstration gegangen. Sie interessierte sich durchaus nicht für Politik, sie litt noch unter dem Abschied von ihrem Freund, vielleicht war es die Verzweiflung, die sie auf die Straße trieb und neben die Arbeiter stellte. Sie marschierte und stimmte wie alle anderen jene rebellischen Lieder an, die wie die Gesänge und Hymnen einer unterirdischen Kirche herausgebrüllt wurden. Und am Alexanderplatz, als die Attacke begann, war sie eine von den beiden Frauen, die von den Pferden niedergeritten wurden. Hilfsbereite Fäuste rissen sie empor, verbanden ihre Wunden und brachten sie dann in die Weinstraße zurück. Kleine Henriette, achtzehn Jahre alt, eine blutige Wunde auf der Stirn. Nein, sie spielte nicht mehr das Spiel der Spiele: ein neues Spiel hatte begonnen.

Entstellte Berichte von jenem Polizeiüberfall gingen in die Provinz und erreichten auch Tobias Erler, der mit der Schwester sein kleines Leben erfüllte und mißmutig die Zeitung auf den Tisch warf, weil sie seinen Freund Bergmann als schwarzen Teufel hinmalte. Lange und aufgeregt hinkte er im Studierzimmer herum und blieb endlich vor Carla stehen.

»Carla,« sagte er, »den Bergmann haben sie wieder gefaßt. Wenn ich daran denke, könnte ich weinen. Zwei Jahre Gefängnis! Siehst du, das ist eine Bewegung ganz aus der Tiefe heraus, eine Bewegung voller Schwung und Leidenschaft. Dienst am Volk! Stolz und aufrecht wird er ins Gefängnis gehen, der Bergmann. Ungebrochen nimmt er seinen Platz wieder ein, wenn er freikommt. Bei uns ist träge Ruhe. Wir sind erstarrt und selbstgerecht. Nichts kann unser Gleichmaß erschüttern. Die Zeit der Märtyrer ist für uns schon lange vorbei.«

»Lieber Bruder,« antwortete Carla, »ich liebe deinen Bergmann nicht. Er ist zu kalt. Märtyrer müssen heiße Herzen haben.«

Tobias antwortete nicht, er ging an den Schreibtisch und bereitete sich für eine Grabrede vor. Der fünfjährige Sohn einer jungen Witfrau, welche die Bahnhofswirtschaft verwaltete, war plötzlich gestorben und sollte morgen begraben werden. Die Mutter war untröstlich wie alle Mütter, die ein Kind verlieren. Sie haderte mit sich und der Welt und beruhigte sich erst, als der junge Pfarrer alle Worte von Gott und Himmel und ewigem Ratschluß fallen ließ und mit ihr menschlich redete. Er erzählte weiter nichts als die Geschichte von Carla, die ihren Mann und ihr Kind in kurzer Zeit verloren hatte. Die Frau beruhigte sich endlich, und als Zeichen ihrer Dankbarkeit küßte sie seine Hand. Dieser Kuß machte ihn aufgeregt. Die Frau war jung und schön. Er rettete sich durch überstürzte Flucht und saß nun, nachdem er mit Carla über Bergmann gesprochen hatte, am Schreibtisch und disponierte seine Rede.

Das Begräbnis ging vorüber. Die junge Frau weinte und wehklagte. Tobias tröstete sie, und aus der flüchtigen Bekanntschaft entwickelte sich in der nächsten Zeit so etwas wie Freundschaft. Er betrachtete sie mit Wohlgefallen und hörte gern ihre tiefe, tönende Stimme. Der Bahnhof, in dem sie die Wirtschaft führte, lag ganz einsam im freien Feld. Oft wanderte Tobias nach jenem Bahnhof, war fast immer einziger Gast, saß und trank und unterhielt sich mit der jungen Frau. Sie hieß Elisabeth, war schön gewachsen und bewegte sich weich und elastisch. Ihre Augen waren strahlend.

Die Schnellzüge nach der weiten Welt klirrten auf den Schienen vorüber, nur die Personenzüge hielten an und warfen den oder jenen Passagier auf die freie Strecke zum Bahnhof, kleine Handwerker oder Reisende, die in der Stadt zu tun hatten. In den Warteraum zweiter Klasse, in dem der Pfarrer saß, verirrte sich keiner der Reisenden. Wenn sich Elisabeth entfernte, um neue Gäste zu bedienen, wurde er unruhig und trommelte aufgeregt mit den Fingern auf der Tischplatte, verräterische Zeichen eines unruhigen Herzens. Und wenn sie dann wieder erschien und sich in den Hüften wiegte, wenn die strahlenden Augen sein Gesicht trafen und ihre dunkle Stimme wie eine Glocke zu läuten begann, dann wich die Unruhe. Freude und Wohlbehagen erfüllte seine Brust.

An einem dunklen Herbstabend, als der Sturm um den Bahnhof heulte und den warmen Raum doppelt teuer machte, ein Jahr nach dem Begräbnis des kleinen Kindes, kam, was kommen mußte: die beiden Menschen fanden sich als Mann und Frau. Beide waren im gleichen Alter, beide waren gesund, beide waren einsam: es braucht keiner großen Worte und Erklärungen mehr. Das Gesetz der Natur rechtfertigt sich von ganz allein.

Immer noch heulte der Herbststurm, als er sie endlich verließ. Wie ein Sieger hinkte er durch die Nacht. Aber es gab ja keinen Sieger und keinen Unterlegenen, es gab nur zwei glückliche Menschen mehr auf der Welt, die lachend streng gezogene Grenzlinien übersprungen hatten. Auf dem Heimweg stimmte der junge Pfarrer ein Lied an und sang aus voller Brust in den Sturm hinein, warf seine Musik in die Musik des Wetters, seine Stimme in den Orgelton fern brausender Wälder. Carla war schon schlafen gegangen, als er das Haus erreichte. Er blieb noch lange im Studierzimmer wach, konnte nicht schlafen und war glücklich wie damals in Neapel mit Helene. Vielleicht war er noch glücklicher. Keine Zweifel quälten ihn, keine Angst beschwerte sein Herz. Lächelnd ging er schlafen, und mit einem Lächeln wachte er am frühen Morgen auf.

Die Schwester sah mit großer Verwunderung, wie sich sein ganzes Wesen wandelte. Er war vollkommen ausgeglichen, Frieden und Demut erfüllten sein Herz. Er quälte sich nicht mehr mit alten Zweifeln. Es war, als hätte er auf schreckliche Fragen endlich die tröstende Antwort bekommen. Sie kannte ihn ganz gut und wußte, daß er schon zu ihr kommen würde, wenn es an der Zeit war. Er hatte ja keine Geheimnisse vor ihr. Aber auch in der nächsten Zeit blieb er stumm und lächelte nur, wenn sie nach der Ursache seines Glückes forschte. Oft besuchte er Elisabeth. Schon ihre Nähe heiterte ihn auf. Sie besprachen auch die Zukunft, und er trug sich mit dem Gedanken, sein Amt niederzulegen, um einen anderen Beruf zu ergreifen.

Mit einem Schlage trat eine plötzliche Veränderung in seiner Stellung zur Kirche ein. Ganz scharf fühlte er den Widerspruch seines Wesens. Wie Verrat an sich selbst erschien es ihm, in dem Beichtstuhl zu sitzen und die Sünden fremder Menschen anzuhören und Bußen vorzuschreiben, an die er selbst nicht glaubte! Mit großem Widerwillen stieg er auf die Kanzel, um zu predigen. Die Dogmen und Lehrsätze der Kirche erschienen ihm manchmal wie ein grausamer Irrtum und dann wieder wie eine furchtbare Bedrohung. Aber er duckte sich, wie sich ein kleines Kind vor einbrechenden Schlägen duckt: so leicht war es doch nicht, sich zu befreien und in der Welt ein neues Dasein aufzubauen. Ja, er war arm und verschuldet, er war ein Hinkepeter, und sein ganzes Wissen war Wissen um Dinge, an die er nicht glaubte, Dinge, an die er selbst mit heißen Händen rührte.

Endlich offenbarte er sich seiner Schwester. Carla war zuerst erschrocken, aber die Liebe zum Bruder blendete sie. Und einmal wanderte sie selbst zu Elisabeth, um Tobias zu retten, wie sie annahm. Als sie aber nun der jungen Frau gegenüberstand, lösten sich ihre Vorsätze wie Rauch im Winde auf, sie konnte nicht verurteilen, denn sie war ja selbst eine Frau und hungerte nach Zärtlichkeit. Lange saß sie nun bei Elisabeth, und zum Abschied war eine flüchtige Freundschaft zwischen den beiden begründet. Ja, Carla lud in den nächsten Tagen Elisabeth selbst ein, ihr Haus zu besuchen, und sie überließ dann die beiden Menschen ihrem Schicksal. Tobias war ihr dankbar und umgab sie mit ausgesuchter Zärtlichkeit und überraschte sie oft mit Aufmerksamkeiten, daß sie fraulich errötete.

Es gibt Menschen, die plötzlich aus großem Elend emporgehoben und auf den Gipfel eines Glückes gestellt werden, von dem sie dann mit tödlicher Sicherheit abstürzen. Tobias Erler war so ein Mensch. Und was war schon sein Glück! Er hatte nach bitteren Jahren der Entsagung endlich eine Frau gefunden, die ihn liebte, er konnte endlich sich selbst verschwenden und dadurch steigern, er brauchte nicht mehr einsam und verbittert zu sein und die Augen schließen oder abwenden, wenn er Liebesleute sah: klar und vereinfacht war der Sinn der Welt – ein Mann und eine Frau.

Elisabeth war bei ihm. Frühling rührte schon mit verzauberten Händen an den Wäldern und Feldern. Der erste schöne Tag im März mit einem Himmel, durch den man beseligt in den Weltraum blickt und dort den Tanz der Gestirne ahnt. Weiße Wolkenfahnen davor wie die flatterhaften Kulissen eines Theaters ... Die zwei Menschen saßen scherzend beisammen. Mit dröhnender Stimme beschrieb er seiner Freundin die wüste Pracht der Berge, und als er mitten im Reden war und im Erzählen, setzte seine Stimme aus. Er sprach weiter und bewegte den Mund. Kein Laut kam aus der Kehle. In den Ohren sauste das Blut. Ach, wie quälte er sich ab, um das Wort »Berg« zu sagen! Kein Wort, kein Berg, ein hilfloser Mund, eine erschreckte Frau!

Elisabeth sprang auf und starrte ihn mit großen Augen an. Da saß er nun und quälte sich ab, um das Wort »Berg« zu sagen, noch es war, als sei ein Berg in seinen Mund gestürzt und hätte ihn stumm gemacht. Die Frau lief schreiend aus dem Zimmer. Vorher hatte sie viele Worte gesagt: »Liebster Freund!« Und: »Tobias« und: »Herzgeliebter«, aber auch diese Worte erreichten seine Ohren nicht, in denen das Blut rauschte. Dann kam Carla, und die beiden Frauen fanden ihn, den Kopf in den Händen und schluchzend. Er erhob nicht die Augen, er schob ihnen ein Stück Papier hin und hatte »den Doktor holen« darauf geschrieben. Carla eilte davon. Der Doktor kam. Elisabeth war nach Hause gegangen. Große Untersuchung. Atemübungen. Endlich kam die Stimme wieder und war nur ein heiseres Krächzen.

Lange Zeit kämpfte der Kranke um die Gewalt über seine Sprache. An manchen Tagen konnte er ganz klar reden, ging in den Wald und dröhnte die Bäume an, saß bei Elisabeth und sprach so übermäßig laut, daß sie ihm den Mund zuhielt. Dann aber wieder versagte die Stimme vollkommen und erhob sich röchelnd wie ein Vogel mit zerschossenen Flügeln. Er tat trotzdem seinen Dienst, war ein sonderbarer Prediger auf der Kanzel, und endlich, endlich, nach quälenden Wochen konnte er wieder sprechen.

Endlich konnte er wieder sprechen und dröhnen, singen und lachen. Er konnte flüstern und Zärtlichkeiten sagen. Ach, wie schön war die Welt! Als er auf der Kanzel stand, sprach er mit einer so hinreißenden Beredsamkeit, daß den Leuten die Tränen in die Augen traten. Diese Predigt war ein einziger Lobgesang auf den Schöpfer aller Dinge, der der armen Kreatur die Stimme verliehen hat, um ihre Schmerzen und Freuden hinauszuposaunen. Diese Predigt war wie eine heidnische Hymne auf die Sprache, die den Menschen gegeben ist, um sich mitzuteilen und zu verbrüdern. Nein, so hatte noch kein Pfarrer gepredigt, und die kleine Gemeinde glaubte ein Wunder zu erleben.

Das Wunder! Tobias war nicht mehr allein, Carla sorgte für ihn, Elisabeth liebte ihn. Er war ein Mann in den dreißiger Jahren und wie aus dem Grabe auferstanden. Warum sollte er nicht glücklich sein und sich verschwenden? Warum sollte er nicht lachen und singen und den Traum von der Unsterblichkeit träumen, wie ihn jeder Mann träumt, wenn er eine Geliebte hat? Wie schön ist es, wenn am Abend die Freundin kommt und durch ihre Wohlgestalt und Blutnähe das erleuchtete Zimmer erfüllt. Man braucht kein Wort zu sprechen, man kann ganz still sein, und plötzlich brechen doch die Worte aus der Brust wie die Quellen aus der Erde. Ein Gelächter entfaltet sich und steigt wie eine Rakete empor. Die Seele? Auch im Wort ist Seele, im Gelächter, in jedem Atemzug.

Tobias stand wieder auf der Höhe. Er liebte und wurde wieder geliebt. Er freute sich des Lebens. Ein neuer Frühling jubilierte über der Erde. Und mit ihm jubilierte ein menschliches Herz,

Viele Herzen jubilierten.

Bergmann kam aus dem Gefängnis mit neuem Wissen, mit neuem Mut und mit neuer Tatbereitschaft. Auch die anderen Genossen wurden frei. Die Partei gab eine kleine Feier, und kein Mensch konnte sagen, daß die Haft die Herzen der Befreiten gebrochen hatte. Bergmann hielt eine hinreißende Rede und machte selbst die alten Leute, die mit am Anfang der Bewegung gestanden hatten, wild und aufrührerisch. Dann stürzte er sich in die Arbeit.

Schubert war kein Portier mehr. Er hielt es in dem feuchten Kellerloch unter den Zimmerfluchten der reichen Leute einfach nicht mehr aus. Ein kleines Kind war da und versuchte die ersten Tanzschritte. Um des Kindes willen nahm er Arbeit in einer Fabrik, stand in den Giftschwaden eines chemischen Betriebes und lachte nur, wenn er abends den kleinen Sohn schlafend im Bettchen bewunderte.

Und Henriette? Henriette war aus dem Keller in der Weinstraße geflohen. Sie blieb verschollen und ging unter im Sumpf der großen Stadt. Einmal traf sie auf Herrn Leisewitz in einer Bar, aber es war der alte Leisewitz schon lange nicht mehr. Er war nichts als ein abgelebter, alter Mann, entmündigt und grau. Er war von seinen Verwandten im Kampfe um das Geld besiegt worden und hatte einige Wertpapiere, die in der Schweiz lagen, gerettet und verwandelte sie in galante Abenteuer im Westen Berlins. An diesen Mann also geriet Henriette und plünderte ihn aus. Ihr früherer Freund Eugen sollte nicht umsonst Technik studiert haben. Er hatte, als diese Geschichte passierte, schon lange ausstudiert, lebte in Stuttgart und leitete das Konstruktionsbüro einer aufstrebenden Maschinenfabrik. An die Weinstraße und an Henriette dachte er nicht gern zurück.

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