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ZWEITES KAPITEL

Wer ist der dritte Mann?

In Astrachan gibt es viel zu sehen. An manchen Tagen schwimmt diese graue Stadt an der unteren Wolga wie ein riesenhafter Fisch stromaufwärts und hat leuchtende Augen. An anderen Tagen aber wieder ist Astrachan eine schwarzvermummte mohammedanische Frau und entschwebt wie eine flüchtige Wolke. Und dann wieder sieht der Fremde nur trostlose Wohnquartiere, Trümmerhaufen des Bürgerkriegs, schmutzige Kinder, melancholische Kalmücken, schlaue Perser und Juden, geschäftige Armenier und schone Tscherkessen. Wilde Schweine wühlen im Abfall der Märkte, die gefangenen Fische verpesten die Luft, wankend und schwankend trottet eine Kamelkarawane in die Steppe hinaus.

Sawatkin hatte seinen Fieberanfall gut überstanden und fuhr am zweiten Tag nach dem Begräbnis nach der Fischereisiedlung. Glarus wollte am nächsten Tag folgen. Aber an diesem Tage wurde er verhaftet. In das Kontor der ausländischen Kompanie kamen zwei junge Leute, zeigten einen Befehl vor und führten Glarus durch die Stadt. An der ersten Straßenkreuzung schlossen sich zwei bewaffnete Soldaten an. Die Leute blickten sich kaum um, als der Aufzug kam. Sie waren an Verhaftungen gewöhnt.

Glarus wurde zum Untersuchungsrichter geführt. Dort wurde er sofort verhört.

Der Richter war ein Mann in den vierziger Jahren und sprach ausgezeichnet deutsch. Er war sehr freundlich und bot dem Verhafteten eine Zigarette an. Er stellte eigenhändig für ihn einen Stuhl zurecht, legte seine Naganpistole auf den Tisch und lächelte.

»Warum sind Sie aus der Fischerei geflohen?« fragte er dann.

»Geflohen? Ich bin nicht geflohen! Bitte, da ist ein Bericht vom Genossen Kasandroff. Wir hatten einen ertrunkenen Fischer, den brachte ich in die Stadt. Wir haben ihn hier begraben. Was ist das für ein Unsinn: ich sollte geflohen sein?« antwortete Glarus.

Der Untersuchungsrichter blieb ungerührt, er nahm den Bericht von Kasandroff und steckte ihn ungelesen ein.

»Nur keine Aufregung«, sagte er. »Ich werde schon alles herausbekommen.«

»Kann das nicht sofort geschehen? Ich habe wenig Zeit und will noch heute nach dem Blockhaus fahren. Das Boot ist schon bestellt.«

»Natürlich. Sie können noch heute abfahren. Aber zuvor eine Frage: kennen Sie einen David Lautenspieler?«

»Das wissen Sie doch selbst. Ja. Ich kenne Lautenspieler«, antwortete Glarus ärgerlich. Der Untersuchungsrichter nickte.

»Kennen Sie ihn schon lange?« fragte er dann. »Bitte, überlegen Sie sich jedes Wort und erzählen Sie, wo Sie den David Lautenspieler kennenlernten.«

Glarus stutzte, dann sagte er:

»In Minsk lernte ich Lautenspieler kennen. Im Jahre zwanzig. Da wurde eine internationale Brigade aufgestellt. Ich wurde mit dem Genossen Merkel nach Minsk geschickt, um die über die Grenze strömenden Deutschen militärisch zu erfassen. Wir hatten ein Büro, selbstverständlich, in dem Büro war als Vorsteher der David Lautenspieler beschäftigt. Aber was soll diese ganze Komödie?« brauste er auf. »Ich will wissen, warum ich wie ein Verbrecher durch die Stadt geschleppt wurde. Wessen werde ich beschuldigt? Wie lautet die Anklage?«

»Die Anklage?« wiederholte erstaunt der Untersuchungsrichter. »Sie waren für gestern zu einer Zeugenaussage geladen und nicht erschienen. Aus dem Blockhaus waren Sie auch verschwunden, nun, da mußten wir Sie eben vorführen lassen!«

»Und da schickten Sie zwei Soldaten mit? Ich bekam keine Vorladung, hier sind meine Mandate aus Moskau, ich protestiere gegen diese Zwangsvorführung! Über meine Person können aussagen die Genossen Kasandroff, Sawatkin und Siebenhaar! Ich verlange, sofort entlassen zu werden!«

Der Untersuchungsrichter lächelte immer noch verbindlich.

»Warum sind Sie so aufgeregt? Ich bitte um Ihre Mandate! Es ward sich ja alles aufklären. Dazu sind wir ja da.«

Glarus händigte die Papiere aus.

»Ja, und was ich noch fragen wollte: Kennen Sie eine Bürgerin namens Katja?« Glarus erschrak. Ja, er kannte Katja.

»Nun«, sagte der Untersuchungsrichter, »Katja behauptet, Ihr Mandat sei gefälscht.«

»So ein Blödsinn!« knurrte der Deutsche.

»Das Mandat sei gefälscht, behauptete Katja«, wiederholte langsam und genießerisch der Untersuchungsrichter. »Und das werden wir herausfinden. Ich habe mit Siebenhaar gesprochen, er kennt Sie, ist Ihnen gut gesinnt, kann Sie aber nicht entlasten.« Seine Stimme verdüsterte sich nun, und er fragte drohend: »Und nun sagen Sie bitte, warum haben Sie von dem Geheimdokument, das man in der Uhr fand, eine Abschrift gemacht? Und wo ist diese Abschrift?« Glarus lachte.

»Das Geheimdokument? Aber das ist ja ein Witz! Das Geheimdokument existiert ja gar nicht! Ich will Ihnen gern erklären, was die Buchstaben und Zahlen bedeuten sollen.«

»Zuerst: wo ist die Abschrift?«

»Die Abschrift? Die habe ich zerrissen und verbrannt!« »Warum?« fragte der Untersuchungsrichter und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Weil sie wertlos, Unsinn und lächerlich ist. Genosse Untersuchungsrichter«, brauste er wieder auf, »was soll diese Komödie? Lautenspieler spielt Schach. Seine Geheimdokumente sind einfach Abschriften von Meisterpartien. Das ist das ganze Geheimnis!« Nun lachte der Untersuchungsrichter. »Das haben wir auch herausbekommen! Aber sagen Sie uns: Wie ist der Schlüssel für dieses System?«

»Der Schlüssel?« fragte Glarus erstaunt. »Der Schlüssel? Was für einen Schlüssel suchen Sie? Was habe ich damit zu tun?«

»Das wollen wir ja gerade herausbekommen!« antwortete der Richter heiter. »Diese Aufzeichnungen haben einen Schlüssel. Wir sind doch keine kleinen Kinder, die einfach glauben, was da erzählt wird, Genosse. Es tut mir leid, aber Sie werden wohl heute nicht mehr nach dem Blockhaus zurückfahren können. Wir müssen Ihre Angaben genau überprüfen. Die Katja ist unsere Agentin und für die Meldung verantwortlich. Wir müssen ihr mehr glauben als Ihnen. Es war ein großer Fehler, lieber Freund, daß Sie die Abschrift ... nun, verbrannt haben. Haben Sie einen Zeugen dafür? Nein? Das ist schlimm. Ich bin kein Barbar. Sie bekommen ein freundliches Zimmer, können lesen, rauchen, schreiben und, wenn Sie wollen, sich selbst verpflegen. Ich nehme Sie in Arrest. Es ist schade, daß Sie nicht alles gestanden haben. Sie machen uns viel Arbeit. Nun, nun, vielleicht klärt sich alles in einer Woche auf.« Glarus lächelte nicht mehr.

»Genosse Untersuchungsrichter«, sagte er, »kann ich Siebenhaar oder Kasandroff sprechen? Ich muß den Vorfall nach Moskau und Berlin melden. Und was nun Katja betrifft: sie ist in meiner Sache nicht objektiv. Ich protestiere gegen den Arrest und werde mich über Sie beschweren.«

Der Untersuchungsrichter nahm seine Naganpistole, spielte damit, steckte sie in die Tischlade und bot dem Verhafteten eine neue Zigarette an. Er war immer noch freundlich.

»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er. »Aber Sie dürfen jetzt Kasandroff nicht sprechen. Und Siebenhaar ist abgereist und kommt erst in einer Woche zurück. Schreiben Sie, bitte, die notwendigen Berichte. Ich werde sie weitergeben. Über Katja wollen wir nicht sprechen. Wir haben immer noch Krieg, und im Krieg sind alle Mittel erlaubt... Ich habe nicht die Absicht, Sie in das Attentat auf Martynoff zu verwickeln, Sie waren damals in Moskau, und Lautenspieler war in Kiew, das steht fest, aber Sie haben sich verdächtig gemacht, und den Verdacht wollen wir nun zerstreuen. Sagen Sie, spielen Sie Schach?«

»Schach?« fragte Glarus verwundert und dachte über das nach, was er eben gehört hatte. »Ja, ich spiele Schach, aber nicht besonders gut.«

»Haben Sie Lust auf eine Partie?«

»Ob ich Lust auf eine Partie Schach habe? Ob ich jetzt eine Partie Schach spielen will?«

»Ja, jetzt«, lächelte der Untersuchungsrichter.

»Also schon«, lächelte Glarus zurück, der plötzlich wußte, warum er auf seine Schachkenntnisse geprüft werden sollte, »also schön, spielen wir zusammen eine Partie Schach!«

Sie spielten die erste Partie.

Glarus gewann.

Sie spielten die zweite Partie.

Der Untersuchungsrichter gewann.

Sie spielten die dritte Partie.

Glarus gewann.

Er spielte mit großem Eifer und vergaß seinen Arrest. Der Untersuchungsrichter verlor seine Kühle, hatte sich aber bald wieder in der Gewalt und lachte dem Sieger zu. Der Sieger spielte noch einige Trümpfe aus, erzählte von seinen Reisen in Deutschland und Frankreich, die Zeit ging pfeilgeschwind dahin, die beiden Männer rauchten und tranken Tee.

»Ja, nun werden Sie wohl in das neue Quartier übersiedeln müssen«, sagte der Untersuchungsrichter. »Ich kann da gar nichts machen. Befehl ist Befehl. Und Sie meinen wirklich, Lautenspieler sei nicht der dritte Mann? Das haben Sie ja auch schon im Blockhaus vertreten«

»So? Davon weiß ich nichts«, sagte Glarus vorsichtig. »Vielleicht ist er der dritte Mann, aber erzählten Sie nicht, er sei während der Zeit des Attentats in Kiew gewesen? Aber vielleicht war er trotzdem dabei. Man kann keinen Menschen ins Herz schauen.«

Der Untersuchungsrichter verlor seine Spannung und nickte gelangweilt. Dann klingelte er. Zwei Agenten erschienen. Es waren dieselben, die Glarus gebracht hatten.

»Führen Sie den Bürger in den Kreml. Er bekommt dort ein Zimmer und kann sich frei verpflegen. Der Kommandant ist schon benachrichtigt.« Er wandte sich an Glarus und sagte: »Ja, wir werden uns wohl morgen nachmittag noch einmal unterhalten müssen, lieber Freund.«

»Über die Geheimschrift und den Schlüssel?« gab Glarus lachend zur Antwort.

»Ja, auch darüber. Und vergessen Sie nicht, die Berichte für Moskau und Berlin fertig zu machen. Auf Wiedersehen!« »Auf Wiedersehen, Genosse Untersuchungsrichter!« Diesmal gingen keine bewaffneten Soldaten mit, aber einer von den Agenten hielt in seiner Rocktasche den Browning umklammert. Glarus kaufte sich unterwegs Tabak, Brot und Obst und wurde dann im Kreml von dem Kommandanten in Empfang genommen. Ein Soldat brachte ihn nach einigen Formalitäten in ein kleines Zimmer im letzten Stockwerk. Von dort oben aus konnte er einen Teil der Stadt und den Hafen sehen. Auch die Wolga war sichtbar. Das Zimmer war wenig möbliert, an den weißen Wänden hingen die Bilder von Marx, Lenin, Trotzki und Klara Zetkin. Eine Lampe stand auf dem Tisch, zwei zerlesene Bücher lagen auf dem harten Bett. Die Lampe wurde angezündet, die Tür geschlossen: er war nun gefangen. Einige Minuten lief er in dem Zimmer hin und her, dann setzte er sich an den Tisch, nahm die beiden Bücher und las darin. Das eine Buch war ein Bändchen Gedichte, und das andere Buch enthielt eine Sammlung politischer Manifeste.

»Zuerst las er die Gedichte. Er las:

Sie haben mich gepeinigt, weil ich zu denken wagte, Sie haben mich gesteinigt, weil ich mein Denken sagte, Weil ich es sang in Liedern Voll Wahrheit und voll Glut: Sie konnten nicht erwidern, Daher die ganze Wut!

In dem politischen Buch standen Aufrufe und Manifeste aus dem Jahre zwanzig. Lenin, Trotzki und Sinowjew führten das große Wort, und der Verhaftete erlebte noch einmal die berühmte Sitzung im Taurischen Palais. Das Bild stand ganz klar vor seiner Seele, als er las, was Lenin damals gesprochen hatte:

»Wir verteidigen ... die Massen der Werktätigen und Ausgebeuteten ... Wir warfen ins Proletariat die Grundidee, den Aufruf zum Kampf ... Und wenn unsere internationalen Genossen uns helfen, eine proletarische einheitliche Armee zu schaffen, dann kann uns nichts mehr am Siege hindern.« Glarus lächelte bitter.

Damals in Minsk wurden ja die Kader der internationalen roten Armee gebildet, und jetzt nach drei Jahren war nichts davon übriggeblieben als die eindringlichen Fragen des Untersuchungsrichters nach dem David Lautenspieler, der in dem Büro der internationalen Brigade Vorsteher war. Das Gedicht machte ihn fröhlich, trotzdem es nicht auf sein heutiges Schicksal gemünzt war. In diesem Gedicht war mehr Blut und Stoßkraft als in dem politischen Manifest.

Am nächsten Tag wurde Glarus wieder von den beiden Agenten zur Vernehmung geführt Am Abend hatte er noch die Berichte für Berlin und Moskau geschrieben. Er trottete durch die Stadt, kaufte sich Weintrauben und Granatäpfel und war guten Mutes. Der Untersuchungsrichter war nicht guten Mutes. Er nickte nur mit dem Kopf, als Glarus eintrat und grüßte.

»Setzen Sie sich«, sagte der Russe mürrisch. »Warum haben Sie mich gestern belogen? Sie haben gesagt, Sie hätten Lautenspieler nur einmal in Minsk und dann in Smolensk gesehen, das ist nicht wahr. Ich kann beweisen, daß Sie ihn auch noch später in Moskau gesprochen haben.«

»In Moskau? Daran entsinne ich mich nicht. Wann soll das gewesen sein?« fragte Glarus.

»Vor zwei Jahren, als Sie aus dem Ural zurückkamen.«

Glarus schüttelte den Kopf und dachte nach. Dann sagte er:

»Vielleicht habe ich ihn auch in Moskau getroffen, ich weiß es nicht mehr, aber in was für einen Zusammenhang steht dieses Zusammentreffen mit meiner heutigen Verwahrung? Hier sind meine Berichte für Berlin und Moskau, ich bitte, sie weiter zu geben.«

Der Russe nahm die Berichte.

»Gestehen Sie doch«, sagte er ärgerlich. »Gestehen Sie doch! Sie sind Ausländer und kommen frei, wenn Sie uns alles sagen. Was wissen Sie von Petrenko und Grammatikoff?«

»Von Petrenko und Grammatikoff? Nichts! Nur das, was ich von ihnen im Blockhaus hörte!«

»Gut, gut. Aber nun erzählen Sie mir, was hat Ihnen Lautenspieler berichtet? Wir wissen alles. David hat gestanden. Wir haben sein Geständnis in der Hand!«

»Dann habe ich nichts mehr zu gestehen«, antwortete Glarus. »Lautenspieler kann erzählt haben, was er will, ich habe nichts mit ihm zu tun.«

Der Russe machte ein betrübtes Gesicht.

»Schade«, sagte er, »sehr schade, wir hätten Sie laufen lassen, wenn Sie gestanden hätten, aber so ... müssen wir Sie wohl in die Tscheka einliefern. Gefällt Ihnen das Zimmer im Kreml nicht?«

Nun wurde Glarus wild.

»Ich bin Mitglied der Partei«, brüllte er, »ich verbiete mir diese Anschuldigungen! Was ist das für ein Blödsinn! Ich verlange, den Vorsitzenden der Tscheka zu sprechen!«

»Zuerst sprechen Sie mit mir!« schrie der Russe zurück. »Ich frage nicht aus Vergnügen, oder weil ich neugierig bin, verehrter Genosse, ich frage, weil ich die Wahrheit erforsche! Warum haben Sie die Abschrift des Geheimdokuments verbrannt? Haben Sie einen Zeugen, der gesehen hat, wie Sie die Abschrift vernichteten?«

»Nein, ich habe keinen Zeugen, das habe ich schon gestern gesagt. Ich habe erklärt, die Wahrheit zu sagen, und wenn Ihnen diese Wahrheit nicht gefällt, kann ich nichts dafür! Ich habe keine Angst. Machen Sie mit mir, was Sie wollen und verantworten können. Ich werde mich über Sie und über Ihre Methoden bei dem Vorsitzenden der Tscheka in Moskau beschweren!«

»Bitte, beschweren Sie sich«, antwortete der Russe kühl. »Hier ist Tinte, Feder und Papier. Also, Sie bleiben bei Ihren gestrigen Aussagen?«

»Ja. Ich bleibe dabei.«

»Und Lautenspieler ist nicht der dritte Mann?« »Das habe ich nicht gesagt!«

»Schön. Morgen werde ich Ihnen den David Lautenspieler gegenüberstellen. Und Sie gehen wieder nach dem Kreml zurück. Wollen Sie, bitte, Ihre Beschwerde über mich schreiben?«

»Nein«, antwortete Glarus zögernd. »Ich schreibe nicht. Ich weiß, daß es noch viele Banditen im Lande gibt und daß Sie nur Ihre Pflicht erfüllen. Aber eine Bitte habe ich doch: Ich ersuche um eine Gegenüberstellung mit Katja, Genosse Untersuchungsrichter!«

»Nein, es tut mir leid, das kann ich nicht gestatten«, antwortete der Russe. »Ich lege keinen Wert mehr auf diese Aussage. Ihr Mandat wird hier von der Partei anerkannt, das genügt mir. Und wegen der Zusammenkunft mit David in Moskau – nun, das fällt nicht ins Gewicht. Das kann man auch vergessen.«

»Also das Mandat wird endlich anerkannt? Na, das ist ja prachtvoll von Ihnen! Wann komme ich nun endlich frei?«

»In einer Woche. Wir haben einen Kurier nach Moskau geschickt, es müssen noch einige unbedeutende Kleinigkeiten geklärt werden. Sind Sie mit dem Zimmer im Kreml zufrieden?«

»Ja, ich bin zufrieden. Und werde ich morgen dem David gegenübergestellt?«

»Wir werden sehen«, sagte der Russe, und Glarus war entlassen.

Als er auf die Straße trat, stieß er mit einer jungen Frau zusammen. Sie hob den Kopf und schrie auf. Es war Katja! Sie war immer noch schön wie damals in Petrograd und Moskau, sie war schön und verführerisch: die Blutströme kaukasischer Stämme hatten in Katja ihre schönste Blüte und Krönung gefunden. Glarus erkannte sie und streckte die Arme aus. Aber sie hetzte davon und verschwand in einem benachbarten Haus.

Der junge Deutsche stöhnte.

Katja!

Dann stöhnte er nicht mehr.

Das alles war ja nun vorbei und tot.

Er richtete sich auf, und als er dann in dem kleinen Zimmer im Kreml saß, dachte er an die alten Zeiten und beschloß, seine Erlebnisse und Abenteuer niederzuschreiben.

Er ließ sich Tinte, Feder und Papier geben und saß in den folgenden Tagen zehn Stunden an jedem Tag über seinem Bericht, in dem sich Dichtung und Wahrheit glühend verschmolzen. Am Ende wußte er selbst nicht mehr, was er erlebt und was er erdichtet hatte, aber das wußte er, daß auch in der Dichtung Wahrheit sein konnte. Zuerst hielt er sich beim Schreiben an den glatten Verlauf der vielen Monate, aber diese Monate trampelten langweilig oder pathetisch nach den Salzwüsten politischer Begebenheiten. Und nun erlebte er endlich die Sprengung der gepanzerten Dinge und ihre große Vermenschlichung.

Der Kommandant des Kremls kam manchmal in die stille Stube und ließ sich von Deutschland erzählen. Zuerst kreisten seine Fragen um politische Verhältnisse, aber bald stiegen sie auf die Erde und wollten von deutscher Kunst und Landschaft wissen, von deutschen Mädchen, von deutscher Dichtung und von deutschen Witzen. Glarus berichtete und erzählte zum Schluß deutsche Witze. Der Russe revanchierte sich und erzählte die Geschichte von dem kleinen Bauern, der zur Arbeiter- und Bauerninspektion kommt und sie mit »Duraki« (Dummköpfe) begrüßt. Die Leute springen auf, sind wütend und fragen: Duraki, wieso Duraki? Sollen wir die Tscheka anrufen, Hurensohn? Sagt der Bauer: Brüder, beruhigt euch, das ist doch nur das neue Russisch! Fragen die andern: Was heißt hier neues Russisch? Sagt das Bäuerlein: Heißt es doch Komintern, Profintern, Meschrabpom, Nep und so weiter, gut, da habe ich auch im Telegrammstil gesprochen. Fragen die Leute von der Inspektion: Wieso? Erkläre, schwarzhaariger Teufel! Und der Bauer erklärt: Duraki, nun, das sind doch die Anfangsbuchstaben von: Dobre utom, rabotschi-kristianski-inspektsi! (Guten Morgen, Arbeiter- und Bauern-Inspektion!)

Von seinem Zimmer aus sah Glarus die alte Stadt. Die Bratskaja, die Bruderstraße, ging wie eine tiefe Rinne durch das Gewirr vieler Gassen. Das Haus der Kalmückischen Regierung war zu sehen, die berühmte persische Moschee funkelte aus der Tiefe. Dann kam aus der Wüste der Burun, der Sandsturm, und verhüllte alles. Glarus setzte sich wieder an den Tisch und schrieb. Zwölf Tage hatte er schon geschrieben und ganz vergessen, daß er Gefangener war. Am vierzehnten Tag wurde er zum Untersuchungsrichter geführt. Als er in das Zimmer trat, stand Kasandroff vor ihm. »Kasandroff!« »Glarus!«

Der Russe stürzte ihm entgegen und küßte ihn. »Kasandroff, Kasandroff! Warum haben mich die Brüder verhaftet? Wann komme ich frei? Was ist das für eine Dummheit?« fragte Glarus.

»Du kommst bald frei, Glarus. Ich habe die Abschrift von dem Geheimbericht gefunden, das heißt: Dunja hat ihn gefunden, als sie sich des schmutzigen Zimmers erbarmte. Der Zettel lag unter deinem Bett. Ich habe ihn dem Untersuchungsrichter gegeben. Bin sofort vom Blockhaus hergefahren. Auch nach Moskau ist schon lange telegraphiert.«

»Und wo ist Siebenhaar, der feige Hund? Er hat mich mit dem verdammten Stück Papier hereingerissen. Und das soll ein berühmter Tschekist sein! Der Teufel hole ihn, den Landsmann, den elenden ... Er kennt mich doch schon lange, aus Minsk und aus dem Ural.«

»Ich kenne dich noch länger, Otto, ich kenne dich von Odessa her. Ich habe keinen Augenblick gezweifelt. Ich habe dir das Zimmer im Kreml verschafft, daß du's nur weißt. Die Idioten wollten dich in die Tscheka sperren. Siebenhaar? Nun, der ist wieder nach Moskau gefahren und hat keinen Finger krumm gemacht.«

»Kasandroff, lieber Freund, sage mir: ist Lautenspieler der dritte Mann? Ist er in das Attentat auf Martynoff verwickelt?«

»Nein. Vor vier Tagen wurde in Odessa ein Bettler verhaftet. Das soll der dritte Mann sein.«

»Ein Bettler?« staunte Glarus.

»Ja, ein Bettler. Das heißt, der Mann war früher einmal General gewesen, Martynoff hat seine Villa beschlagnahmen lassen, Grammatikoff hatte eine Tochter von ihm, der Petrenko war sein Bursche, siehst du, so hängt das zusammen.«

Nun kam der Untersuchungsrichter.

Er lachte.

Glarus lachte nicht.

»Haben Sie nun den Schlüssel für die Geheimschrift gefunden?« fragte er voller Hohn. »Hat David gestanden, daß er Martynoff erschossen hat? Und glauben Sie Katja immer noch mehr als mir? Ja, ich habe Sie einmal belogen, ich log, als ich Ihnen sagte, ich hätte die Abschrift verbrannt. Ich hatte sie nur unter das Bett geschmissen, so wichtig war sie nämlich. Nun ist wohl alles klar? Wann komme ich frei?«

»Noch einige Tage, lieber Freund. Wir haben Katja eingesperrt, wenn Sie sich dafür interessieren«, antwortete fröhlich der Russe. »Sie können bald wieder nach dem Blockhaus zu den Fischen an die wirtschaftliche Front fahren. Lautenspieler? Nein, er hat nicht gestanden, er wird morgen frei, aber er muß Astrachan verlassen, er kann reisen, wohin er will... Heute haben Sie Urlaub in die Stadt. Kasandroff wird Sie begleiten, aber am Abend müssen Sie sich wieder im Kreml melden. Rauchen Sie?«

»Sehr liebenswürdig«, sagte Glarus und nahm die Zigarette. »Aber was soll ich an der wirtschaftlichen Front bei den Fischen? Die großen Fischzüge sind nun vorüber. Ihr habt mich auch gefangen wie einen wilden Stör.«

»Aber wir haben Sie nicht geschlachtet wie einen Stör«, sagte der Untersuchungsrichter lächelnd. »Wir haben Sie auch nicht geschunden, lieber Freund! Haben Sie besondre Wünsche?«

»Ja. Ich will bald frei sein. Sonst bin ich zufrieden. Und Lautenspieler reist ab?«

»Morgen mit dem ersten Zug Nach seiner Heimatstadt. Nach Fastow.«

»Wir haben in den letzten Wochen sehr gute Fänge gehabt, Otto«, erzählte Kasandroff. »Ich habe dir frischen Kaviar mitgebracht. Sawatkin und Dunja lassen schön grüßen. Du wirst über das Blockhaus staunen ... Und wenn der Genosse Untersuchungsrichter gestattet, wollen wir uns jetzt verabschieden. Ich kenne auf der Bratskaja eine kaukasische Küche mit herrlichem Reis und Schaschlik. Die ewigen Fische hängen mir zum Halse heraus.«

Der Untersuchungsrichter nickte gnädig, und die beiden Männer gingen in die Stadt. Zuerst besuchten sie den Markt. Dort dampften viele Küchen. Lastträger aus dem nahen Hafen saßen in den offnen Zelten. Bettelkinder umschwärmten die Essenden. Ein Milizionär, ein »Mil-ton«, wie Kasandroff sagte, ging vorüber. Sein Gewehr hatte keinen Riemen, es hing an einem Strick über der Schulter. Dann kamen viele Kalmücken. »Wo ist Narau-Kusch?« fragte Glarus. »Narau-Kusch?« antwortete Kasandroff und lachte. »Narau-Kusch hat sich unsichtbar gemacht. Er traf hier in der Stadt auf dem Bazar kurz nach dem Begräbnis von Babuschkin den Mann, den er totgeschlagen hatte.« »Den er totgeschlagen hatte? Bist du verrückt?« »Er hatte ihn gar nicht totgeschlagen bei der Weibergeschichte. Die Kalmücken sind zähe Teufel... Sie haben sich nun versöhnt, er hat zwei Kamele zahlen müssen. Er ist wieder in der Steppe bei seiner jungen Frau«, erzählte Kasandroff.

Sie saßen in einer offenen Küche und betrachteten die vorüberwandelnden Kalmücken. Sie gingen in geschlossenen Gruppen, trugen lehmbraune Mäntel und sahen mit den schrägen Augen gleichgültig in den Markt Sie gingen wie lebendige Götzenbilder vorbei. Glarus hatte auf der Fahrt nach Astrachan einmal einen Kalmückentempel gesehen. Er erinnerte an japanische und chinesische Bauten. Um den Tempel lagen Gräber. Die Kalmücken waren die einzigen Buddhisten in Europa.

Er kannte auch den Rand der großen Steppe, in der sie hausten. Die Steppe war trostlos und ohne Bäume, war gelber Sand und hartes Gras mit Salzseen, Sand stürmen, wilden Pferden, Wölfen, Schlangen und giftigen Spinnen. In diesem armen Lande lebten die Kalmücken.

Der Besitzer der Küche, in der Glarus mit Kasandroff saß, war ein Perser.

Die Frau, die alle Gäste bediente, war eine Deutsche.

Die große Hungersnot hatte sie aus einem deutschen Dorf bei Saratow nach Astrachan getrieben. Sie erzählte von ihrem Dorf und war glücklich, wieder einmal deutsch sprechen zu können.

»Wie gefällt es Ihnen hier?« fragte Glarus.

»Ich habe zu essen und zu trinken«, sagte sie.

»Und haben Sie auch eine Wohnung?«

»Ja. Ich schlafe in der Küche.«

»Und der Perser?«

»Er ist mein Mann«, sagte sie gleichgültig und schenkte neuen Tee in die Gläser.

Der Perser war ein Mann, aber auch die beiden Freunde waren Männer. Sie verließen den Markt an der Börse, stiegen die Bratskaja entlang und saßen dann in einem kaukasischen Keller, aßen Reis und Schaffleisch, sprachen von Odessa und dem ermordeten Martynoff. Sie erinnerten sich an die Nacht vor drei Jahren, an Sonja und an die junge Griechin, sie sprachen auch von Katja, und dann kamen drei Zigeunermädchen und tanzten. Eine Zigeunerin kam an ihren Tisch und wollte aus den Handlinien die Zukunft lesen. Kasandroff war herzlos, aber Glarus streckte die Hand aus.

»Oh«, sagte das Mädchen, »ich sehe Glück und Unglück, aber das Unglück wendet sich und eine junge Frau wartet auf dich, Fremder. Du wirst bald einen großen Brief von ihr bekommen.« Glarus dachte an die junge Frau, die in der Fremde auf ihn wartete, und schenkte der Zigeunerin einen Rubel. Dann kamen auch die beiden anderen Mädchen, und Kasandroff ließ sich aus der Hand lesen. Er wurde blaß, als die braune Frau erklärte:

»Du hast viel Unglück gehabt in einer Stadt am Meer. Aber das Wasser bringt dir auch Glück. Ein schöner Mann – ein schönes Mädchen! Halte das Glück fest, du starker Bär!«

Diese Botschaften nun waren keine Zaubereien. Bei Glarus sah man, daß er Ausländer war. Irgendeine Frau würde schon auf ihn warten. Kasandroff verriet sich durch seinen Dialekt von Odessa, und da er noch jung war, mußte er schon verschiedene Liebesabenteuer hinter sich haben, glückliche und unglückliche, das neue Wasser war einfach die Wolga, und an der Wolga gab es auch schöne Mädchen.

Mit zwei Zigeunerinnen spazierten dann die beiden los und saßen noch lange in einem anderen Keller zusammen. Dort gab es Selbstgebrannten Wodka. Sie tranken, lachten und küßten ihre Mädchen. Gegen Mitternacht trennten sie sich. Die Mädchen suchten neue Freunde, Kasandroff fuhr nach den Fischgründen, Glarus spazierte nach dem Kreml. Er schlief bald ein. Am nächsten Tag saß er wieder bei seiner Arbeit. Manchmal seufzte er. Manchmal lächelte er.

Im Herbst 1919 war er nach Berlin gekommen. Dort hatte er auch den alten Moll kennengelernt, der mit einer russischen Dame in einem der besten Hotels nahe am Tiergarten zusammenlebte. Er war Schweizer Bürger, hatte im Krieg die Russen im Exil unterstützt und war auch an den Verhandlungen über ihre Reise in dem plombierten Wagen durch Deutschland nicht unbeteiligt. Nach dem Sieg seiner Freunde fuhr er selbst nach Rußland hinüber, wurde sehr gefeiert, und als er nach drei Monaten wieder zurückkehrte, erzählten sich die ganz klugen Leute, daß er Spion für das neue Rußland sei.

Die Dame, mit der er zusammenlebte, war von jener vorgestrigen Schönheit, die nach Juchten riecht. Ihr Mann war, wie sie gern erzählte, von den Bolschewiki verhaftet und saß in einem dunklen Keller der Tscheka. Sie war mit dem alten Moll geflohen und hatte ihre Kinder und, was noch wichtiger war, ihre Brillanten gerettet.

Aus Zarskoje Selo hatte der alte Herr verschiedene Andenken mitgebracht. Sein Paradestück und sein Stolz war eine geschnitzte Meerschaumpfeife, die er mit Vorliebe rauchte. Diese Pfeife gehörte dem letzten Zaren. Moll erzählte ausführlich ihre Geschichte. Er konnte gut erzählen, sah viele Gäste bei sich, und aus ihren Fragen und Antworten schöpfte er das Material für seine ausführlichen Berichte. Mit diesem Menschen also kam Glarus zusammen. Er kam überhaupt mit den sonderbarsten Menschen zusammen, mit wahrhaftigen und lügnerischen, die von der Revolution wie Treibholz angeschwemmt wurden. Die Posten im kommenden Rätedeutschland wurden damals von ihnen verteilt. Sie sahen sich schon im schwarzen Purpur der Macht. Sie wollten barmherzig sein oder unbarmherzig, je nach ihrem persönlichen Temperament. In den vielen Besprechungen, die in dunklen Hinterzimmern ebenso leidenschaftlich geführt wurden wie in den prachtvollen Salons am Kurfürstendamm, wurde festgestellt, daß damals in Deutschland die Kerenskiperiode war, jener fatale Mischmasch, der von dem Gewaltmarsch der Arbeiter zertrampelt werden mußte.

Glarus war drei Jahre au der Front gewesen. Der Krieg hatte auch ihn entwurzelt und heimatlos gemacht wie viele junge Menschen, die mehr in der Idee als in der Wirklichkeit lebten. Sein Herz hatte sich dem Osten, der großen Revolution, zugewandt. In den Monaten des deutschen Umsturzes war auch er wild, kämpfte und saß in den Gefängnissen. Im Sommer 1920 glückte ihm die Reise nach Rußland.

An das alles dachte er, als er seine Erlebnisse niederschrieb. Viele Menschen waren gestorben, die damals in jenen Jahren jung und glühend waren. Einige waren in den politischen Wirbelströmen untergegangen, lautlos oder tierisch brüllend. Andere hatten sich behutsam in der Niederung eines geruhsamen Daseins niedergelassen. Wieder andere standen immer noch im Aufruhr oder waren vergessen.

Der Lebende hat recht, und aus dem Rechte des Lebenden heraus schrieb Otto Glarus im Kreml zu Astrachan seine Geschichte.


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