Ernst Barlach
Ein selbsterzähltes Leben
Ernst Barlach

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Ich fühle mich sehr

Meine Mutter zog im Herbst 1884 mit uns nach Schönberg zurück, ich war vierzehn Jahre. Sie ging täglich und stündlich gefaßt und tapfer den Witwenweg der sorgenvollen Alltäglichkeit – ich, als Schüler nichts Ganzes, weder gut noch schlecht, spitzte die Ohren und horchte seitwärts und aufwärts nach all den neuen Tönen, die meinen Flegeljahren gepfiffen wurden. Da fand ich als erstes und Hauptstück die wuchernde, sozusagen aus dem Rinnstein und dem holperigen Pflaster des Nestes sprießende blaue Blume einer waschechten Romantik ohne Hemmung, Hut und Üblichkeit, in die ich, noch mit kurzen Hosen angetan, hineintaumelte.

Dazumal litt ich obendrein hart an dem Begehr nach Bewunderung und Geltung und ergab mich weidlich dem Kultus des falschen und erschwindelten Bestauntwerdens – so malte ich mir aus dem Tuschkasten eine rotklaffende Wunde auf die Stirn, ging auch gehoben von der eingebildeten Würde als Sozius eines wüsten Abenteuers damit auf die allerdings nicht mehr taghelle Straße, weiß aber nicht, ob irgend jemand von dieser Mordgeschichte Notiz genommen hat.

Zugleich rüttelte ich die Schwingen und warf mich in den Äther, wo er sich am grenzenlosesten breitet. Mein Raptus einer ungeschorenen Reim- und Versschreiberei regte sich bald in wutartigem Schuß, bald gefiel er sich in einem vertrackten Zuschnitt von Putzigkeit.

Ich hatte vom Vater einen Westentaschen-Seume, enthaltend den Spaziergang nach Syrakus, geerbt, und dieses Dingchen von Buch, dessen Besitz mich seltsam befriedigte, als ob ein Leitfaden zum Leben als Wanderer, Schriftsteller und Sonderling ganz eigen für mich zugerichtet sei, ließ mir keine Ruhe, bis ich ihm ein Gegenstück leiblich gleicher Beschaffenheit erstellt hatte, aus der eigenen Feder mit mikroskopisch kleinen Schriftzeichen – schrieb und schrieb ohne Rücksicht auf die Augen und erlaubte obendrein meinen drei Brüdern, sich mit Zuhören abzuquälen, wie das trächtige Bäuchlein von Buch immer voller wurde.

Dann wurde mir eine Tür geöffnet, und ein sanfter Schub ermunterte mich einzutreten in ein Werkstübchen, von dem ich nicht wissen konnte, daß es sich zur Lebenswerkstatt auswachsen würde. Ich erhielt von der Frau Schuldirektor durch Vermittlung meiner Mutter die Aufforderung, für ein so oder so geartetes Brettspiel ein Dutzend Vögelchen zu kneten, ein Klümpchen Ton in die Hand zu nehmen und – nun als Anfang – einen Kiebitz zu formieren. Es wurde einer, und das andere Geflügel folgte, bis das Dutzend voll war.

Halt, dachte ich, die Art Hantierung tut gut, – – die blaue Blume wucherte lustig weiter drauflos, irgendwo bei einem Schulausflug goß ich mir ahnungslos eine Feldflasche voll Branntwein auf Anraten eines Mitschülers in den Hals und kam mit dem Leben davon, ich weidete weiter durch Wald, Wiesen und Felder mein Dasein im Ausgleich von Tun und Lassen, Versorger meines Hanges zum ziellosen Schweifen, meine mir genehmste Art, auf der Welt mit der Welt zu sein, ich hockte in den Klassen, rutschte von den Bänken der unteren auf die der oberen – Edmund Steffan, dessen Mund noch immer nicht weiträumig genug war, um alle heiseren Wortklumpen halbwegs geordnet oder gegliedert auszuscheiden, fing an, für mich in ein Nichtsein zu gleiten, die alte Hörigkeit war längst verdorrt, ich trug meines Vaters solide Schoßröcke auf – und war bei allem einer geheimen Sicherheit wo nicht stolz, so doch froh, wo nicht froh, so doch zufrieden, wie wenn sich ein schwaches Bewußtsein regte, als ob ich in meiner Tasche einen Heckpfennig trüge, ein so zauberhaftes Stück Eigentum, daß mit dem Wechsel der Taschen gleichwohl keine Änderung seiner Zugehörigkeit, kein Wechsel im Bewußtsein unserer tröstlichen Gemeinschaft miteinander stattgefunden hätte.


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