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XXI.

Der Verbandplatz.

Von hier ab ist man den feindlichen Beobachtungsposten ausgesetzt und darf den Graben nicht mehr verlassen. Zuerst geht's an der Pylônesstrasse entlang. Der Schützengraben ist längs der Strasse eingegraben worden, aber die Strasse selbst ist weggewischt; ihre Bäume sind abgehauen, und der Graben hat sie auf ihrem ganzen Verlauf halb abgenagt und verschluckt; was von ihr übrig blieb, liegt unter der Erde und dem Gras verschüttet und geht im Laufe der Zeit in den Feldern auf.

An gewissen Stellen, dort wo in einem geplatzten Erdsack ein kotiges Loch klafft, erkennt man auf Augenhöhe die Steingrundlage der wundgenagten Exlandstrasse, oder die Wurzeln der Randbäume, die abgehauen und dem Böschungskörper einverleibt worden sind. Die Böschung ist ausgefranzt und ungleichmässig wie eine Erdwelle, eine Schuttwelle mit düsterm Schaum, die die grenzenlose Ebene ausgespuckt und bis an den Grabenrand gestossen hat.

Wir erreichen den Knotenpunkt. Im aufgeschütteten Erdhügel, der sich in dem grauen Dunst abzeichnet, steckt eine finstere Tafel schief im Wind. Das Grabennetz wird immer enger; die Leute, die von allen Punkten des Sektors nach dem Verbandplatz hinströmen, laufen zusammen und häufen sich in den tiefen Wegen an. Die trostlosen Gässchen sind mit Leichen bedeckt. In unregelmässigen Abständen sind frische Löcher bis unten in die Wand eingehauen; es sind frische Erdtrichter, die vom kranken Boden abstechen; dort hocken erdbeschmutzte Leiber, die Knie an den Zähnen, oder aufrecht und stumm an die Wand gelehnt wie ihre Gewehre, die wartend an ihrer Seite stehn. Einzelne jener stehn gebliebenen Toten wenden den Ueberlebenden ihr blutbespritztes Gesicht zu oder schauen sonst irgendwohin und tauschen Blicke mit der Leere des Himmels aus.

Joseph bleibt stehn und schöpft Atem. Ich muntre ihn auf wie ein Kind:

– Wir sind gleich da, wir sind gleich da.

Der Trübsalweg zwischen den finsteren Erdwällen wird noch enger. Man hat ein Gefühl der Beklemmung und ein böser Traum des Tiefersinkens schnürt und würgt einem die Kehle zusammen; in diesen Tiefgründen, deren Mauern scheinbar aneinanderrücken und sich schliessen, muss man stehn bleiben, sich durchwinden, sich abschinden und die Toten stören, man wird angerempelt von der regellosen Prozession derer, die unaufhörlich die hintere Front überschwemmen: Boten, Verstümmelte, Jammernde in rasender Hast und Schreiende, rot vor Fieber oder blass und vom Schmerze sichtbar geplagt.

*

Dieser Menschenhaufe rollt und staut sich und stöhnt am Kreuzweg, wo sich die Höhlen des Verbandspostens auftun.

Ein Arzt schwingt die Arme, schreit und verteidigt ein freies Plätzchen gegen die wachsende Flut, die an die Stelle des Unterstandes schlägt. Draussen vor dem Eingang legt er Notverbände an; es heisst, er und seine Assistenten hätten die ganze Nacht und den ganzen Tag ununterbrochen gearbeitet und Uebermenschliches geleistet.

Ein Teil der Verwundeten verschwindet, wenn er sie freigegeben hat, in den Schacht des Verbandpostens; ein anderer Teil kommt hinter die Front, in ein grösseres Feldlazarett, das in den Schützengräben auf der Strasse von Béthune eingerichtet wurde.

In der engen Mulde jener Grabenkreuzung warten wir, wie in einem Wunderhof (cour des miracles), zwei Stunden, hin und her gestossen, gequetscht, erstickt, geblendet, hocken wir aufeinander wie das Vieh in einer Stickluft von Blut und Schlachtfleisch. Gesichter verändern sich und fallen ein von Minute zu Minute. Einer der Patienten kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, lässt sie kopfschüttelnd laufen und übergiesst damit seinen Nachbar. Ein anderer blutet wie ein Brunnen und schreit: »He da! Vergesst mich nicht!« Ein junger Mensch mit flackernden Augen, hebt die Arme hoch und brüllt wie eine verdammte Seele: »Ich brenne!« und er flucht und faucht wie ein Scheiterhaufen.

*

Joseph ist verbunden. Er drückt sich durch zu mir und reicht mir die Hand.

– Es ist nicht schlimm, haben sie gesagt; leb wohl, sagt er zu mir.

Im gleichen Augenblick trennt uns das Gedränge voneinander. Der letzte Blick, den ich ihm zuwerfe, zeigt mir noch sein abgezehrtes Gesicht; er ist zerstreut und völlig in seinen Schmerz versunken; er liess sich von einem Divisions-Wärter fuhren, der ihm die Hand auf die Schulter legte; plötzlich aber sehe ich ihn nicht mehr.

Im Kriege trennt einen das Leben wie der Tod, ohne dass man nur Zeit hätte, es zu merken.

Man sagt mir, ich solle nicht hier bleiben, sondern in den Verbandposten hinunter gehn und mich dort zuerst ausruhn, bevor ich zurückkehre.

Im Boden selbst öffnen sich zwei sehr niedrige, sehr enge Eingänge; durch diese gleitet man in eine schiefe Galerie; sie ist eng, wie eine Kloake. Will man hineinsteigen, so muss man sich zunächst kehren und rücklings mit gebücktem Oberkörper in diese enge Leitung schlüpfen; dabei fühlt der Fuss Tritte unter sich, alle drei Schritt eine hohe Stufe.

Steckt man schliesslich drin, so ist man wie gefangen und hat das Gefühl, dass es aus dieser Enge weder nach unten noch nach oben mehr einen Ausweg gibt. Je tiefer man dann in den Schlund untertaucht, um so erstickender wird der Traum, der den Eintretenden schrittweise befallen hatte, als er in diese Eingeweide drang, und endlich hier unterging. Nach allen Seiten hin schlägt man an, streift die Wand, und es packt einen die Enge des Durchganges; man kommt nicht mehr vorwärts, man ist eingekeilt. Man muss die Patronentaschen verrücken, indem man sie über den Gurt zieht; dann nimmt man die Brotbeutel in die Arme und drückt sie an die Brust. Bei der vierten Stufe wird es noch enger; ein beklemmendes Gefühl würgt die Kehle: hebt man das Knie und will man rückwärts vor, so stösst man mit dem Rücken an die Decke. An dieser Stelle muss man auf allen Vieren kriechen, immer rücklings. Je tiefer man aber rutscht, um so erdrückender lastet auf einem die verpestete Luft, schwer wie die Erde. Die Hand fühlt die kalte, klebrige und grabhafte Berührung der Lehmwand. Die Erde hüllt einen von allen Seiten, schaurig einsam, in ihr Todeslaken und haucht einem ihren blinden und vermoderten Atem ins Gesicht. Erreicht man schliesslich nach langer Anstrengung die letzten Stufen, so faucht einem das verhexte Geräusch aus dem Loch warm entgegen, wie aus einer Küche.

Ist man endlich unten angelangt in diesem Treppendarm, der einem bei jedem Schritt Püffe versetzt und den Leib würgt, so ist der böse Traum noch nicht zu Ende; man steht in einem sehr langen, aber engen und finstern Keller, der nichts anderes als ein Gang von einem Meter fünfzig Höhe ist. Richtet man sich auf und streckt die Knie, so stösst man mit dem Kopf heftig an die Balken, die den Unterstand bedecken. Jeden Ankömmling, ohne Ausnahme, hört man fluchen, mehr oder weniger heftig, je nach Laune und Zustand: »Ein Glück, dass ich den Helm aufhab!«

In einer Ecke sieht man ein Wesen hocken, das die Arme bewegt: »Schabt den Dreck von den Schuhen, bevor ihr rein geht.« So häuft sich unten an den Stufen, an der Schwelle jener Unterwelt ein Kothügelchen an, in das man stolpernd hineinglitscht.

*

Zunächst suche ich mich zurechtzufinden in diesem flutenden Geräusch von Klagelauten und Flüchen, in dieser beissenden Stickluft, die ein wimmelnder Herd von Wunden nährt und in dieser flackernden Höhle, die ein verworrenes und unfassbares Durcheinander bevölkert. Schwache Kerzenlichter blinzeln durch den Unterstand und verwischen die Dunkelheit nur gerade an dem Punkte, in den sie hineinstechen. Im fernen Hintergrund scheint wie am Endloch eines unterirdischen Verliesses ein schwaches Tageslicht herein; dieses trübe Kellerloch lässt grosse Gegenstände, die an der Wand des Ganges angereiht sind, erkennen: Tragbahren wie niedrige Särge; gebückte und gebrochene Schatten stehn herum oder liegen darüber; an den Wänden aber drücken sich Gespenster in langen Reihen oder hocken wie Trauben aufeinander.

Ich drehe mich um. Dem fernen, durchsickernden Licht gegenüber staut sich am entgegengesetzten Ende ein Gedränge vor ein Zelttuch, das vom Gewölbe zum Boden hängt. Dieser Vorhang schliesst einen Raum ab, dessen Beleuchtung durch die ölige Ockerfarbe des Tuches schimmert In diesem Raum werden beim Schein einer Azetylenlampe Einspritzungen gegen den Starrkrampf vorgenommen. Und jedesmal, wenn sich der Vorhang lüftet, um einen Patienten heraus und den nächsten hinein zu lassen, sieht man das Licht herzlos auf die zerlumpten und zerfetzten Kleider der Verwundeten fallen, die davor stehn und auf die Einspritzung warten; sie hocken, gebückt unter der niederen Decke, knien oder kriechen und drängen sich vor, um ihre Reihe nicht zu verpassen oder sich an die Stelle eines andern zu drücken; dabei rufen sie: »Ich!«, »ich!«, »ich!«. Es klingt wie ein Gebell. In dem Winkel, in welchem sich dieser unaufhörliche Ringkampf bewegt, muss man den schrecklichen lauen Gestank des Azetylens und der blutenden Menschen hinunterschlucken.

Ich drücke mich und suche einen andern Platz zum sitzen. Ich mache einige Schritte, taste mich gebückt und zusammengeschrumpft, mit vorgestreckten Händen weiter.

Am Scheine einer Pfeife, die ein Rauchender in Brand steckt, sehe ich vor mir eine mit Menschen belastete Bank.

Meine Augen gewöhnen sich an das Halbdunkel, das in jenem Keller wie stehendes Wasser stockt; dann unterscheide ich ungefähr diese Menschenreihe, denen die Verbände und die Wickel Kopf und Glieder bleich verhüllen.

Da hocken sie, verstümmelt, verwundet, missgestaltet, regungslos oder unruhig und klammern sich wie an ein Boot. So bilden sie, festgenagelt, eine zusammengeworfene Leiden- und Jammerschau.

Plötzlich schreit einer unter ihnen, steht halb auf und setzt sich wieder. Sein Nachbar, der einen zerrissnen Mantel trägt und barköpfig ist, schaut ihn an und sagt zu ihm:

– Schreien nützt dir 'n Teufel, was!

Und er wiederholt diesen Satz mehrere Male in den Raum hinein, mit vorwärts starrenden Augen, die Hände auf den Knien.

Ein junger Mann, der in der Mitte sitzt, spricht ganz allein für sich. Er sagt, er sei Flieger. An der einen Körperseite und am Gesicht hat er Brandwunden. Im Fieber brennt er weiter, und ihm ist, als bissen ihn noch die scharfen Flammen, die aus dem Motor schlagen. Er murmelt deutsch: »Gott mit uns!« und dann: »Dieu est avec nous!«

Ein Zuave, der den Arm in einer Binde trägt und der seitwärts gebeugt seine Schulter wie eine schmerzvolle Last trägt, spricht ihn an:

– Bist du der Flieger, der gestürzt ist, was?

– Ich hab Dinge gesehn ... antwortet der Flieger mühevoll.

– Ich auch! unterbricht ihn der Soldat; anderen würde 's Herz still stehn, wenn sie gesehn hätten, was ich gesehen habe.

– Setz dich her, sagt mir einer, der auf der Bank sitzt, und rückt einen Platz frei. Bist du verwundet?

– Nein, ich hab einen Verwundeten hergeführt und geh jetzt wieder.

– Dann bist du noch mehr als verwundet. Komm, sitz her.

– Ich bin Bürgermeister in meinem Dorf, sagt einer auf der Bank, aber wenn ich nach Haus zurückkomme, kennt mich kein Mensch wieder, so lange bin ich traurig gewesen.

– Jetzt hock ich schon vier Stunden auf der Bank, jammert eine Bettlergestalt, der die Hand zittert, und die mit gesenktem Kopf und rundem Rücken, den Helm wie einen bebenden Kübel auf den Knien hält.

– Wir warten, dass wir abtransportiert werden, weisst du, erklärte mir ein dicker, schnaufender Verwundeter: er schwitzt und sieht aus, als ob er koche an seinem ganzen, dicken Leib; sein Schnurrbart hingt herab, als sei er durch die Feuchtigkeit seines Gesichtes halb aus dem Leim gegangen.

Er hat zwei breite, undurchsichtige Augen; man sieht seine Wunde nicht.

– Eben gerade, meint ein anderer. Alle Verwundeten der Brigade hocken, einer nach dem andern hier her, abgesehn von denen, die anderwärts herkommen. Jawohl, schau dir mal das an: das Loch hier, das ist die Kehrichtkiste der ganzen Brigade.

– Ich bin inwendig brandig, zerquetscht, in Fetzen, leierte ein Verwundeter, der seinen Kopf in den Händen hielt und durch die Finger sprach. Und doch war ich bis vorige Woche noch jung und sauber; sie haben mich anders gemacht, jetzt hab ich nur noch einen alten Dreckleib, den ich rumschleppen kann.

– Ich, sagt ein anderer, war gestern sechsundzwanzig Jahre alt und jetzt wie alt bin ich?

Er versuchte aufzustehn, und zeigt sein wackeliges und welkes Gesicht, das eine Nacht zerstört und zum Skelett hat einfallen lassen, mit seinen Augen- und Wangenhöhlen und einem Tranflämmchen im öligen Auge.

– Es tut weh! sagt eine schlichte und unsichtbare Stimme.

– Das Klagen hilft dir kein Teufel was! wiederholt der andere automatisch.

Ein Schweigen trat ein. Dann schrie der Flieger auf:

– Die Messpriester dämpften ihre Stimme, so gut sie konnten.

– Was hat der? fragte ein Zuave verwundert.

– Dein oberstes Stockwerk zieht wohl aus, du armer Teufel? meinte ein Jäger; er hatte eine Handwunde und den Arm am Körper festgebunden; er schaute einen Augenblick von seiner Mumienhand weg und betrachtete den Flieger.

Dieser schaute verstört vor sich hin und versuchte das geheimnisvolle Bild zu erklären, das ihm nicht mehr aus den Augen wollte.

– Von oben, am Himmel, sieht man nicht sehr viel, wisst ihr. In den Ackerviereckchen und den kleinen Dorfhäufchen schlängeln sich die Wege durch wie weisse Fäden. Man entdeckt auch gewisse hohle Fasern, die aussehn, als seien sie mit einer Stecknadel in den Sand eingeritzt. Dieses Netz, das einen regelmässig zittrigen Strich an den Saum der Ebene hinzeichnet, ist der Schützengraben. Sonntag morgen flog ich über die Feuerlinie. Zwischen unserer ersten Linie und ihrer ersten Linie, zwischen den äussersten Rändern, dem Saum jener zwei ungeheuren Armeen, die einander gegenüberstehn und sich anglotzen, ohne sich zu sehn, und abwarten, ist kein grosser Zwischenraum: manchmal vierzig Meter, manchmal sechzig. Mir kam's nur eine Schrittbreite vor, so ungeheuer hoch war ich aufgestiegen. Plötzlich unterscheide ich bei den Deutschen und bei uns, in diesen Parallelen, die sich scheinbar berühren, ein gleiches Gedränge auf beiden Seiten: in der Mitte eine Masse, ein beseelter Kern und um diesen herum schwarze Sandkörner auf grauem Sand zerstreut. Das alles bewegte sich kaum; es sah nicht nach Alarm aus! Dann bin ich ein paar Kehre runter, um den Vorgang zu verstehn.

Und ich habs verstanden: Es war ein Sonntag und es wurden gerade zwei Messen unter meinen Augen abgehalten: der Altar, der Priester und die Landserherde drum herum. Je tiefer ich flog, desto deutlicher sah ich, dass beide Gruppen gleich waren, so genau gleich, dass es an Blödsinn grenzte. Die eine Zeremonie war das Spiegelbild der andern und umgekehrt. Es war mir, als ob ich doppelt sähe. Dann bin ich noch tiefer hinunter; angeschossen wurde ich nicht. Warum? Weiss ich nicht. Dann hab ich was gehört. Ein Murmeln hab ich vernommen, ein einziges. Als einziges Gebet stieg es auf, wie ineinandergeschmolzen, das Geräusch eines einzigen Liedes flog an mir vorbei zum Himmel. Ich ging und kehrte in der Luft, um diese verschwommene Vermengung zweier Lieder zu vernehmen, die gegeneinander gerichtet waren und sich doch mischten – und je mehr sie einander überholen wollten, desto inniger verschlangen sie sich in den Höhen des Himmels, in denen ich hing.«

»Im Augenblick aber, als ich in sehr geringer Höhe flog und das zweifache Erdengejammer hörte, wobei sie auf der einen Seite »Gott mit uns« schrien und auf der andern »Dieu est avec nous«, da hab ich Schrapnells erwischt und bin fortgeflogen.

Der junge Mann schüttelte den Kopf, der in Tücher gewickelt war. Wie besessen war er noch vom Eindruck seiner Erinnerungen.

– In dem Augenblick hab ich mir gesagt: »Bist verrückt!«.

– Die Wirklichkeit ist verrückt, sagte der Zuave.

Mit Augen, die vor Wahnsinn leuchteten, versuchte der Erzähler den grossen, erschütternden Eindruck wiederzugeben, der ihn beklemmte und gegen den er sich wehrte.

– Stellt euch den Schwindel vor! machte er, seht ihr die beiden identischen Gruppen, die identisches Zeug brüllen, was doch gegeneinander gerichtet ist, diese feindlichen Ausrufe, die doch dieselbe Form haben. Was sagt denn der liebe Gott eigentlich dazu? Ich weiss schon, er weiss alles; aber wenn er auch allwissend ist, in dem Fall wird er auch nicht wissen, was er anstellen soll.

– Das ist 'ne Geschichte! rief der Zuave.

– Er futiert sich schon um uns, hab nur keine Angst.

– Und dann ist das gar nicht so merkwürdig; die Gewehrschüsse reden auch die gleiche Sprache, nicht? und die Völker schnauzen sich doch damit an, und wie!

– Schon wahr, sagt der Flieger, aber es gibt doch nur einen Gott. Nicht der Abgang der Gebete ist mir unverständlich, aber die Ankunft.

Darauf verstummte die Unterhaltung.

– Ein Haufen Verwundeter liegt da drin, sagte mir ein Mann mit matten Augen. Ich frage mich, ja, ich frage mich, wie man sie überhaupt hier hinunterbrachte. Schrecklich muss diese Rutschpartie für sie gewesen sein.

Zwei harte, dürre Kolonialsoldaten stützten sich gegenseitig wie zwei Betrunkene, stiessen an uns, stolperten zurück und suchten auf dem Boden einen Platz, wo sie sich hinfallen liessen.

– Jawohl Alter, schloss der eine mit heiserer Stimme, in dem Schlauch, wo ich dir gesagt habe, waren wir drei Tage ohne Futter, drei volle Tage ohne etwas, rein nichts. Unsern eignen Urin haben wir getrunken; was willst du machen? Fett wirst du allerdings nicht dabei.

Der andre erkürt als Antwort, dass er früher mal Cholera gehabt hatte:

– Ha! 'ne Sauerei ist das! Fieber hast du, erbrechen musst du und Durchfall kriegt man: krank bin ich geworden davon.

– Was denkt eigentlich, fluchte plötzlich der Flieger, der sich in das Riesenrätsel eingebissen hatte und es nicht mehr loslassen wollte, an was denkt denn dieser Gott; lässt einfach die ganze Welt glauben, dass er's mit allen hält? Warum lässt er uns alle, alle nebeneinander wie's tolle Vieh brüllen: »Gott ist mit uns!« »Nein, bewahre, ihr irrt euch, Gott ist mit uns!«.

Ein Stöhnen ging von einer Tragbahre aus und flog einen Augenblick ganz allein über die Lautlosigkeit, als wäre es die Antwort.

*

– Ich, sagte dann eine Schmerzensstimme, ich glaube nicht an Gott. Ich weiss, dass er nicht existiert – wegen der Schmerzen. Sie können uns lang ihre Sprüche herleiern, und alle Worte hineinschmuggeln, die sie finden und erfinden: All diese Schmerzen, die unschuldigen, die kämen von einem vollkommenen Gott? das ist nur ein verdammtes Hirngespinnst.

– Ich, meinte ein anderer auf der Bank, ich glaube nicht an Gott wegen der Kälte. Ich habe gesehn, wie Leute ganz allmählich zu Leichen wurden, nur durch die Kälte. Gäb's einen gütigen Gott, so gäb es keine Kälte; da hilft alles reden nichts.

– Wenn man an Gott glauben sollte, da dürfte es, von allem was existiert, nichts geben; und drum kannst du lange warten!

Mehrere Krüppel schütteln gleichzeitig, ohne einander zu sehn, den Kopf als gemeinsames Zeichen der Verneinung.

– Recht habt ihr, meint ein anderer, recht habt ihr. In diesem Menschenschutt, in diesen einsamen, zerstreuten und besiegten Siegern dämmert langsam eine Offenbarung. Es gibt Minuten in der Tragödie der Geschehnisse, da die Menschen nicht nur offen sind, sondern auch die Wahrheit aussprechen, und die Wahrheit leuchtet in ihnen und man sieht ihr in's Auge.

– Ich, meinte noch einer, wenn ich an Gott nicht glaube, so hat das seinen Grund ...

Der Satz aber erstickt in einem furchtbaren Hustenanfall. Als er ausgehustet hatte, waren seine Wangen violett, die Augen feucht und der Atem beklommen; da fragte ihn einer:

– Wo bist du verwundet, du?

– Ich bin nicht verwundet, ich bin krank.

– Ja so! klang es zur Antwort, als solle es heissen: du bist nicht interessant.

Er verstand es und pries seine Krankheit an:

– Verratzt bin ich. Blut spucke ich und hab keine Kräfte mehr; und weisst du, wenn's mal da hinausläuft, kommt's nicht wieder.

– Ja, ja, murmelten die Kameraden unentschlossen; aber trotzdem waren sie von der Minderwertigkeit der Zivilkrankheiten den Wunden gegenüber überzeugt.

Er aber schickte sich drein, senkte den Kopf und wiederholte ganz leise für sich:

– Ich kann nicht mehr laufen, wo willst du, dass ich noch hin soll?

*

In diesem horizontalen Schacht, der sich von Tragbahre zu Tragbahre hinzieht und sich, so weit das Auge reicht, bis zur fahlen Oeffnung hin verkleinert, in diesem wirren Gang, in welchem hie und da armselige Kerzenlichter rötlich und fiebernd blinzeln und wo von Zeit zu Zeit Schattenflügel durchfahren, bewegt sich ein Strudel, man weiss nicht weshalb. Man sieht wie das Durcheinander der Glieder und der Köpfe in Bewegung gerät und hört Rufe und Klagen, die sich gegenseitig wecken und sich fortbewegen, wie unsichtbare Gespenster. Die Leiber auf dem Boden wellen sich, klappen zusammen und kehren sich.

Ich unterscheide in dieser Art Spelunke, mitten in der Menge unfreier Menschen, die der Schmerz erniedrigt und straft, die mächtige Gestalt eines Wärters, dessen schwere Schultern schwanken wie ein quer aufgeschulterter Sack, und dessen Stentorstimme im Galopp durch den Keller hallt:

– Hast deinen Wickel wieder angerührt, du Kalbskopf, Ungeziefer du! brüllt er. Ich will dir's noch mal wickeln, weil du's bist, aber lass ein andermal die Finger weg, sonst kannst du was erleben!

Und er wickelt im grauen Kellerlicht eine Binde um den Schädel eines ganz kleinen Menschen; dieser steht fast aufrecht, hat Stachelhaar auf dem Kopf und einen nach vorn geblasnen Bart; die Arme hängen ihm am Leib herunter und er lässt sich behandeln, ohne ein Wort zu äussern.

Dann lässt ihn der Wärter stehn, schaut zu Boden und schreit, dass es schallt:

– Was fällt dir denn ein! He da, alter Freund, bist du verrückt? Legt der sich auf einen Verwundeten! Was ist das nur für ein Benehmen?

Und seine fasskräftige Hand schüttelt einen Leib und befreit schnaufend und fluchend einen zweiten, schlaffen Körper, auf dem der erste, wie auf einer Matratze, ausgestreckt lag; unterdessen hatte der verbundene Knirps, ohne ein Wort zu sagen, die Hände schon wieder am Verband, der ihm den Schädel quetschte, und suchte ihn wieder abzunehmen.

... Ein Gedränge, Schreie werden laut und Schatten auf einem lichten Hintergrunde sichtbar; sie scheinen im Dunkeln der Krypta wie aus dem Häuschen geraten. Es stehn mehrere beieinander im Kerzenlicht um einen Verwundeten, den sie schwankend und mit grosser Mühe auf eine Bahre drücken. Der Mensch hat keine Füsse mehr. An den Beinen hat er schreckliche Verbände mit Knebeln, die den Blutfluss aufhalten. Seine Stummel haben in den Tuchverband hineingeblutet, so dass es scheint, als ob er eine rote Hose an hätte. Sein Gesicht ist teuflisch, leuchtend und finster; er phantasiert im Fieber. Sie drücken ihm auf die Schultern und auf die Knie, denn dieser Mensch, dem die Füsse abgeschnitten sind, will von seiner Bahre springen und davonlaufen.

– Lasst mich los! röchelt er mit einem atemlosen und zornigen Gemäcker und mit einer tiefen, geräuschvollen Stimme, die wie eine Trompete tönt, in die man zu leise bläst. Herrgott, lasst mich los, wenn ich euch sage. Auf! ... Was meint ihr denn? Glaubt ihr, ich bleib hier liegen! Vorwärts, Platz, sonst tret ich euch auf die Pfoten!

Er zieht sich zusammen und fährt so heftig auseinander, dass er die andern hin und her reisst, die sich mit ihrer ganzen Last an ihn klammern und ihn zur Unbeweglichkeit zwingen wollen; dabei wackelt die Kerze hin und her, die ein Kniender in der einen Hand hält, während er mit der andern den verstümmelten Wahnsinnigen festschnallt; dieser aber schreit so laut, dass er die Schlafenden weckt, und die Betäubung der Andern erschüttert. Von allen Seiten kehrt man sich nach ihm um, stützt sich halb auf oder horcht nach diesem abgebrochenen Jammergeschrei hin, das schliesslich doch in der Dunkelheit erstickt. Im gleichen Augenblick zanken sich zwei Verwundete, die in der andern Ecke gekreuzigt auf dem Boden liegen; man muss den einen forttragen, um dem tobsüchtigen Zwiegespräch ein Ende zu setzen.

Ich entferne mich und gehe nach dem Punkte, der das Tageslicht durch das verzwickte Gebälk wie durch ein zerstörtes Gitter durchlässt. Ich schreite über die endlose Reihe der Tragbahren, die die ganze Breite dieses unterirdischen, niederen und zu engen Ganges ausfüllen; ich ersticke. Die menschlichen Gestalten, die hingeschmissen auf den Bahren liegen, regen sich kaum mehr im Schein der Kerzen, die wie Irrlichter flackern, und erstarren im dumpfen Gejammer ihres Röchelns.

Einer hat sich auf den Rand einer Bahre gesetzt und an die Wand gelehnt; aus den Schatten seiner halbgeöffneten, abgerissenen Kleider scheint eine weisse, vom Martyrium abgezerrte Brust durch. Der Kopf hängt nach rückwärts, vom Schatten verschleiert; aber man sieht sein Herz klopfen.

Das Tageslicht, das tropfenweise am Ende des Ganges durchsickert, rührt von einem Zusammensturz her: Mehrere Geschosse schlugen an derselben Stelle ein und stiessen schliesslich das Erddach des Verbandpostens durch.

Hier schimmern weisse Lichtflecken auf dem Blau der Mäntel an den Schultern und längs der Falten. Jetzt drückt sich, wie ein Trupp halberwachter Leichen, eine Männergruppe aus der Nacht dieser Todesstätte an das Schlupfloch heran, um ein wenig blasses Licht zu gemessen; sie sind gelähmt vom Schatten und von der Müdigkeit. Am Ausgang der schwarzen Nacht flackert diese Stelle wie ein Ausblick, eine Oase, in der man aufrecht stehn kann, und wo einen das Himmelslicht engelhaft bestreicht.

– Es waren dort Leute, die sind ausgeweidet worden, wie die Granaten reinpfefferten, erzählt mir einer, der beschienen von diesem armseligen Lichtstrahl mit offenen Munde auf etwas wartete. Das war ein Gulasch, sag ich dir! Da, das ist der Pfarrer, der angelt alles herunter, was davon in die Luft geflogen ist.

Der mächtige Sanitätssergeant in einer braunen Jagdweste sieht aus wie ein Gorillatorso. Er entfernt die Gedärme und Eingeweide, die dort an den Balken des eingestürzten Holzgerüstes hängen. Er bedient sich dabei eines Gewehres mit aufgestecktem Bajonett, denn er konnte keinen Stock finden, der für diese Arbeit lang genug wäre; jener dicke, kahle, bärtige und asthmatische Riese aber handhabte die Waffe mit Ungeschicklichkeit. Er hat einen sanften, gutmütigen und unglücklichen Gesichtsausdruck. Indem er so in den Ecken nach Darmfetzen hascht, murmelt er mit einer bestürzten Miene einen Rosenkranz von Seufzern vor sich hin. Seine Augen bedeckt eine blaue Brille; er atmet geräuschvoll. Er hat einen kleinen Schädel und einen masslos dicken, kegelförmigen Hals.

Wenn man ihn so stehen und aus der Luft Gedärmelappen und Hautfetzen abhängen sieht, die Füsse im emporstarrenden Schutt, so glaubt man einen Metzger vor sich zu haben, der am Ende dieses langen, jämmerlichen Sackgewölbes steht und sich irgend einer teuflischen Verrichtung hingibt.

Aber ich habe mich in irgend eine Ecke geworfen, habe die Augen halb geschlossen und sehe kaum mehr, was sich zitternd um mich herum auf dem Boden ausstreckt und niederfällt.

Ich vernehme nur einzelne, verworrene Bruchstücke. Immer dieselbe schreckliche Eintönigkeit der Geschichten von Verwundungen.

– Gottverdammich! Ich glaub an der Stelle waren die Kugeln alle dicht aneinander.

– Er hatte 's Gesicht durch, von einer Schläfe zur andern. Hättest eine Schnur durchziehn können.

– Eine Stunde hat's gedauert, bis die verreckten Kerle ihre Schussweite in die Länge zogen und uns nicht mehr alle niederknallten ...

Näher zu mir zittert der letzte Satz einer Geschichte.

– Und wenn ich schlafe, träume ich, dass ich ihn nochmal töte!

Andere Erinnerungen summen durch die Reihen der Verwundeten, die hier begraben liegen; und es schnurrt wie die zahllosen Räder einer Maschine, die in einem fort weiter surrt, ununterbrochen weiter läuft ...

Und auf der Bank sitzt immer noch derselbe und wiederholt in einem fort: »Das Klagen nützt dir 'n Teufel was!« Er sagt es in allen Tonarten, gebieterisch oder klagend, bald wie ein Prophet, bald wie ein Schiffbrüchiger; und er skandiert mit seinem Ausruf jenen erstickten und klagevollen Chor, der in schrecklichen Tönen seine Schmerzen singen möchte.

Jetzt sehe ich einen Blinden, der die Mauer betastet und an einem Stock auf mich zukommt. Es ist Farfadet! Ich rufe ihn an. Er kehrt sich langsam nach mir um und sagt, er habe ein Auge verloren. Auch das andere Auge ist verbunden. Ich stehe von meinem Platz auf und setze ihn hin und halte ihn dabei an den Schultern. Er lässt es ruhig geschehn und wartet am Fuss der Mauer mit seiner Beamtenbescheidenheit, geduldig wie in einem Wartezimmer.

Ich lass mich etwas weiter weg an einem leeren Platze nieder. Dort sprechen zwei ausgestreckte Männer leise zueinander; sie liegen ganz in meiner Nähe, so dass ich sie verstehe ohne hinzuhorchen. Es sind zwei Fremdenlegionäre mit dunkelgelbem Helm und Mantel.

– 's hat keinen Wert lang zu reden, spottet der eine. Diesmal hat's mich. Totsicher: hab den Darm durch. Wenn ich in einem Spital war, in einer Stadt, würde man mich rechtzeitig operieren und die Sache könnte klappen. Aber hier! Gestern hat's mich erwischt. Von hier ist es zwei oder drei Stunden bis zur Strasse von Bethune, nicht? Und von der Strasse, weisst du, wie lange man braucht bis zu einer Ambulanz, wo man operieren kann? Und wann heben sie uns hier überhaupt auf? Da ist freilich niemand dran schuld, verstehst du, aber es ist doch so. Augenblicklich geht's mir ja nicht allzuschlecht, allerdings; aber von einem Augenblick auf den andern kann's umkippen; ich hab doch ein Loch der Länge nach am ganzen Darmpaket. Deine Pfote, die wird wieder gut, oder sie schrauben dir 'ne neue an. Aber ich werde sterben.

– So! sagte der andre, dem die Logik seines Genossen einleuchtete.

Dann fuhr dieser wieder fort:

– Hör mal, Dominique, du hast ein schlechtes Leben geführt. Gestohlen hast du, und der Wein bekam dir schlecht. Hast ein dreckiges Strafregister.

– Ich könnte nicht behaupten, dass es nicht wahr sei, wenn's doch wahr ist, meinte der andere. Aber das kann dir ja doch schnuppe sein!

– Nach dem Krieg wirst du dein schlechtes Leben wieder weiter führen, was denn sonst? Und dann kriegst du noch Scherereien wegen der Küfergeschichte.

Die Bemerkung bringt den andern in Wut und er antwortet bissig:

– Halt's Maul, das kann dir doch scheissegal sein!

– Ich hab nicht mehr Familie als du. Nur die Luise – die keine Familie für mich ist, weil wir nicht verheiratet sind. Ich hab nichts auf dem Kerbholz, ausser ein paar Militärlappalien. Mein Name ist noch nicht belastet.

– Na, was denn? Ist mir doch Wurst!

– Hör nur zu: Nimm du meinen Namen. Nimm ihn, ich schenk ihn dir; weil wir ja doch keine Familie haben.

– Deinen Namen?

– Du heisst dann einfach Leonard Carlotti, und fertig. Was ist da weiter dabei? Kann dir doch egal sein. Dann bist du dein Strafregister los. Sie werden dich in Ruh lassen und du kannst glücklich werden, wie ich's gewesen wäre, wenn mir die Kugel die Bauchkommode nicht eingerannt hätte.

– Gottverdammich noch einmal! Ist das dein Ernst? Na, weisst du, da war ich platt!

– Nimm ihn nur. Er ist dort in meinem Militärbuch, dort im Mantel. Geh, hol ihn und gib mir dein Militärbuch – dass ich den ganzen Schwindel mitnehme! Dann kannst du leben, wo's dir passt, nur nicht bei mir zu Hause in Longueville, in Tunesien; dort kennen sie mich ein bisschen. Vergiss das nicht, steht übrigens im Buch. Lies es mal durch, das Buch. Ich sag's niemand; damit so was klappt, heisst es: Maul zu! J

Dann sinnt er über etwas nach und sagt bebend:

– Vielleicht sag ich's doch der Luise, damit sie weiss, dass ich anständig gewesen bin und sie besser an mich denkt – wenn ich ihr den Abschiedsbrief schreibe.

Aber er überlegt es sich noch einmal und schüttelt mit einer wunderbaren Willensgebärde den Kopf:

– Nein, ich werd's ihr doch nicht sagen, obwohl sie es ist, aber die Weiber, die schwatzen so viel!

Der andre staunt ihn an und wiederholt:

– Gottverdammich!

Dann habe ich mich unbemerkt entfernt von jenem Drama, das sich in der Enge jener armseligen Ecke, mitten im lärmenden Hin und Her des Verkehrs, abgespielt hat.

Die friedvolle, genesende Unterhaltung zweier armer Teufel bestreift mein Ohr.

– Wie der seine Reben besorgt, weisst du! Ueberall zwischen jedem Rebstock ist was angepflanzt.

– Mein Kleiner, mein ganz Kleiner, wenn ich mit ihm ausging und seinen kleinen Schädel in der Hand hielt, da meinte ich, ich hätt' ein kleines, warmes Schwalbenhälschen in den Fingern, weisst du?

Und neben diesen weichen Gefühlen, die zur Aussprache kommen, offenbart sich mir dort im Vorübergehn eine ganze Geistesart:

– Das 547. Regiment? und ob ich's kenne! Allerdings. Hör mal zu: es ist ein komisches Regiment, das Regiment. Da hat's 'n Haufen Kerle, die heissen Petitjean, ein anderer Petitpierre und noch ein anderer Petitlouis ... also Tatsache. Jetzt kannst dir vorstellen, so'n Regiment.

Als ich mich aber aus dem Gedränge dieser Tiefgründe hinausarbeitete, hörte man plötzlich ein lautes, fallendes Geräusch und gemeinsam ausgestossene Schreie.

Der Sanitäts-Sergeant ist umgefallen. Durch die Bresche, aus der er jene weichen und blutigen Ueberreste holte, ist ihm eine Kugel in den Hals gefahren. Dann hat er sich der Länge nach auf die Erde gestreckt. Er rollt ein Paar dicke, verblüffte Augen, schnauft und schäumt.

Um den Mund und die untere Gesichtspartie legt sich bald ein Wölkchen rötlicher Luftblasen. Man legt ihm den Kopf auf eine Verbandtasche. Im Augenblick ist die Tasche mit Blut überschwemmt. Ein Krankenwärter schreit, es mache die Verbände kaputt, die man brauche. Dann sucht man eine Unterlage für diesen Kopf, der ununterbrochen einen leicht gefärbten Schaum von sich gibt. Man findet nur ein Brot und schiebt es ihm unter die schwammigen Haare.

Während man den Sergeant bei der Hand fasst und ihn ausfragt, geifert er nur in einem fort neue Blasen, die sich aneinander setzen, und sein dicker, schwarzbärtiger Kopf schimmert durch das rötliche Wölkchen hindurch. Während er so daliegt, sieht er aus wie ein schnaufendes Meerungeheuer; der durchsichtige, rötliche Schaum bläst sich auf und bedeckt ihm sogar die beiden verworrnen Augen, die ihre Brillen verloren haben.

Dann röchelt er. Er röchelt wie ein Kind und stirbt; er bewegt dabei den Kopf nach rechts und nach links, als ob er leise nein sagen möchte.

Ich betrachte die ungeheuere, erstarrte Masse und denke dran, dass dieser Mensch ein guter Mensch war. Er hatte ein reines und gefühlvolles Herz. Und ich mache mir bittere Vorwürfe, ihn manchmal angefahren zu haben, wegen der naiven Engherzigkeit seiner Ideen und wegen einer kirchlichen Naseweisheit, die bei jeder Gelegenheit zum Vorschein kam. Wie glücklich bin ich angesichts dieses Unglücks, ja, glücklich, überglücklich bin ich, dass ich mich eines Tages beherrscht habe, als er von der Seite einen Brief, den ich schrieb, beschielte; glücklich, dass ich damals meinen Zorn an ihm nicht ausgelassen und ihn nicht ungerechterweise verletzt habe! Ich erinnere mich, wie er mich damals mit seinen Ausführungen über die heilige Jungfrau und Frankreich ausser Rand und Band brachte. Damals schien es mir unmöglich, dass er ehrlich an seine Ausführungen glaubte. Und warum sollte er nicht ehrlich gewesen sein? War er heute nicht wirklich gefallen? Ich denke auch daran, dass er sich öfters aufgeopfert hatte und dass dieser dicke Mann, der im Krieg wie im Leben nicht daheim war, eine dienstfertige Geduld an den Tag gelegt hatte – alles andere war doch nur Nebensache. Selbst seine Ideen sind nur Nebensache im Vergleich zu seinem Herzen, das nun in diesem Höllenwinkel zerschmettert auf dem Boden lag. Wie heftig hab ich um diesen Menschen getrauert, von dem mich alles trennte!

... Dann fuhr der Donner hinein. Die fürchterliche Erschütterung des Bodens und der Mauern warf uns wuchtig gegeneinander. Es war, als sei die gewölbte Erde über uns zusammengestürzt. Die eine Wand des Balkengerüstes brach zusammen, und riss das Loch, das im Untergrunde klaffte, noch weiter auf. Dann gab es einen zweiten Ruck und eine zweite Wand platzte dröhnend zu Staub. Die Leiche des dicken Sergeanten rollte wie ein Baumstamm gegen die Wand. Das ganze Kellergebälk knackte in allen seinen schwarzen Rippen, dass uns die Ohren barsten, und alle Gefangenen dieses Kerkers gleichzeitig einen Schreckensschrei ausstiessen.

Andre Explosionen dröhnen Schlag auf Schlag und jagen uns nach allen Seiten. Die Beschiessung zerfetzt und verschlingt das ganze Rettungsasyl, durchbohrt und zerstückelt es. Während jener pfeifende Niederschlag von Geschossen mit Blitzschlägen das klaffende Ende des Postens behämmert und zermalmt, bricht das Tageslicht durch die Risse. Und sie erscheinen klarer und übernatürlicher, die flackernden, todesblassen Gesichter, die Augen, die im Todesröcheln erlöschen oder sich im Fieber entzünden, die weiss eingewickelten, geflickten Körper mit den ungeheuerlichen Verbänden. Alles das verschwand im Schatten und steigt jetzt ans Tageslicht. Die Verwundeten stehn auf, fahren auseinander und versuchen zu fliehn; sie haben starre Blicke und blinzeln gebückt unter der überschwemmenden Eisen- und Rauchsalve, die ein Lichtsturm begleitet. Und diese verstörte Bevölkerung wogt in dichten Massen durch die niedere Wölbung, als rollte sie auf dem schwankenden Grund eines grossen, berstenden Schiffes.

Der Flieger streckt sich, so hoch er kann, wirft den Nacken an die Wölbung und die Arme hoch, ruft Gott an und fragt ihn, wie er heisse und welches sein wahrer Name sei. Dann sieht man einen vom Winde umgeschleudert sich auf die andern hinwerfen; zerlumpt und mit offenen Kleidern, die wie eine breite Wunde klaffen, zeigt er wie Christus sein Herz. Der Mantel dessen, der vorhin eintönig wiederholte: »Da nützt dir's Klagen den Teufel was«, richtet sich auf; er ist giftig grün, wahrscheinlich von der Pikrinsäure der Explosion, die sein Hirn erschüttert hat. Die Uebrigen, die Gelähmten und die Krüppel, winden sich, kriechen und schlängeln sich wie arme, verwundbare Tiere, die die schreckliche Meute der Geschosse hetzt.

Die Beschiessung lässt nach und endet mit einer Rauchwolke, in der ein Krachen durch die zuckende und heisse Gasluft nachhallt. Ich steige durch die Bresche hinaus; ich gelange gelähmt und umbrüllt vom wahnsinnigen Lärm, unter freien Himmel, auf die weiche Erde, wo Balken ertrinken und Beine ineinander verschlungen liegen. Ich klammere mich an Trümmerstücke fest und erblicke die Böschung des Laufgrabens. Während ich dann in die Laufgräben einbiege, sehe ich in der Ferne immer noch das düstere Fluten jener Menge, die aus dem Schützengraben fliesst und endlos nach den Verbandstellen strömt. Tage lang, Nächte lang wird man sie noch fluten und zusammenfliessen sehn, die endlosen Bäche jener Menschen, die den Schlachtfeldern entrissen werden und den Eingeweiden der Ebene, die dort in der unendlichen Ferne blutet und verfault.

*


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