Herman Bang
Michael
Herman Bang

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Der Meister blieb einen Augenblick auf dem Trittbrett des Kupees stehen, als suche er jemand in dem Gewimmel des Perrons.

Dann aber senkte er die Augen und stieg hinunter, während der wartende Majordomus sein Gesicht betrachtete: ja, des Meisters Gesichtsfarbe war noch immer gelb.

Herr Adelsskjold hatte nach ihm das Kupee verlassen, und vor dem Bahnhof bestiegen sie den Wagen. Sie waren eine Weile gefahren, als Adelsskjold sagte: »Diese drei Wochen in Versailles haben Ihnen doch gut getan.«

Der Meister nickte.

»Jetzt kommt es nur darauf an, sich einige Tage ruhig zu Hause zu halten. Und dann den Stoß entgegennehmen.«

»Ja,« antwortete Adelsskjold wie jemand, der bereits vergessen hat, wovon die Rede war.

Der Meister hatte ihm das Gesicht zugewandt.

»Aber Sie hätten sich mehr als drei Tage gönnen sollen.«

Adelsskjold antwortete nicht. In stummem Starren ruhte sein Blick auf der Menschenmenge, die sich auf den Fußsteigen des Boulevards drängte.

»Adelsskjold,« entfuhr es dem Meister, fast so laut, als riefe er ihn an. Dann aber brach er jäh ab und rief dem Majordomus zu: »Wir fahren zu Adelsskjolds.« 182

Es war, als erwache Adelsskjold beim Wenden des Wagens.

»Wo wollen Sie hin?« fragte er.

»Ich will Sie nach Hause fahren,« antwortete der Meister.

»Danke,« sagte Adelsskjold.

Seine müde Zunge fand fast nie ein anderes Wort als »danke«.

Aber Claude Zoret, der mit ihm sprechen wollte, reckte sich im Wagen und sagte: »Wie ist die Luft heut milde. Man könnte glauben, wir wären im April. Man kann schon merken, wie die Hecken duften.«

»Es ist ja März,« sagte Adelsskjold, der nur den Namen des Monats in Claude Zorets Worten aufgefangen hatte.

Sie fuhren auf den Triumphbogen zu, der seine mächtige Pforte vor ihren Augen auftat.

Claude Zoret betrachtete den Bogen und plötzlich begann er zu lachen.

»Ja,« sagte er, »man hat seltsame Ideen, wenn man jung ist. Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, ging ich jeden Abend oder jede Nacht hierher, den ganzen Weg vom Quartier Latin, und wanderte dreimal um diese Steine herum, bis ich wieder nach Hause trabte und ins Bett kroch.«

Adelsskjolds Gesicht leuchtete plötzlich auf, und er hob den Kopf.

»Dies war auch die erste Stelle, die wir aufsuchten, Alice und ich, als wir hierher kamen,« sagte er.

Er schwieg einen Augenblick und fügte dann im selben Ton hinzu: »Das war im Mai.«

Und wie immer in den letzten Monaten, begann er von alten Erinnerungen zu erzählen, Erlebnissen aus den ersten Jahren ihrer Ehe.

»Das war damals, als wir uns unseren Hausstand 183 zusammenkauften,« sagte er. »Wie billig Alice zu kaufen verstand, sie, die doch so reich gewesen war!«

Der Meister hatte wohl nicht gehört, was Adelsskjold erzählte, denn er sagte plötzlich – es ging übrigens beiden oft so, daß der eine im Osten und der andere im Westen war: »Aber es ist ein schlechtes Zeichen, wenn das Frühjahr erst anfängt uns Schmerz zu bereiten.«

Adelsskjold wandte ihm das Gesicht zu.

»Ja,« sagte er, und sie schwiegen wieder.

Sie bogen in eine Seitenallee ein, wo Adelsskjolds Haus lag, und Adelsskjold rückte unruhig auf seinem Platz hin und her und nahm seine Reisetasche auf den Schoß. Er sprang aus dem Wagen, fast ehe er hielt.

»Zu Hause ist doch zu Hause,« sagte er und ergriff hastig des Meisters Hand. »Adieu.«

»Ich warte,« sagte der Meister, »um zu hören, wie es Ihrer Frau geht.«

Adelsskjold ging durch den kleinen Garten, am Haupteingang vorbei, um das Haus herum – und die Treppe zur Veranda hinauf.

Die englischen Fenster waren geöffnet und nur die Läden deckten die Fensteröffnungen, so daß er drinnen sprechen hören konnte – ja, es wurde drinnen gesprochen..

Es war Monthieu, der sprach . . .

Monthieu sprach, und Alice antwortete.

Monthieu sagte »du« und Alice . . . Alice antwortete ihm mit »du«. . . .

Adelsskjold klammerte sich an die Läden. Die Sprossen schlugen klappernd zusammen und klemmten seine Finger wie Schrauben, und er merkte es nicht, sondern taumelte zurück gegen eine Säule der Veranda und schwankte die vier Stufen hinunter, wie ein Betrunkener, der aus dem Wirtshaus kommt. Er gelangte durch den Garten und starrte auf den Wagen des Meisters, und sich mit Mühe entsinnend, wer es sei, sagte er leise: »Es geht ihr gut.« 184

Des Meisters Hand aber packte Adelsskjolds Arm wie eine Kralle, und er sagte: »Adelsskjold, fahren Sie mit mir nach Hause.«

Aber wie ein angeschossenes Tier riß Adelsskjold sich los. »Was wollen Sie von mir, Mensch – fahren Sie zu.«

»Adelsskjold, Adelsskjold,« sagte der Meister wieder. Aber plötzlich hielt er inne – der Majordomus hatte den Kopf gewandt. »Vorwärts,« rief er, und der Wagen rollte davon.

Adelsskjold blieb stehen, gegen sein eigenes Gitter gestützt. Dann fing er an zu gehen und wußte nicht wohin. Als er aber plötzlich den Triumphbogen sah, ging er über den Platz und setzte sich auf einen der Steine, an denen die Ketten befestigt sind, und mit seinem verstörten Gesicht – seinen Hut hatte er auf die Erde gestellt – sah er aus wie ein verkommener Bettler, der um ein Almosen bittet.

Plötzlich aber stand er auf, und wie ein Mensch, der geradeaus geht, auf einen eingerammten Pfahl zu, ging er nach Hause.

Er klingelte, und rot im Gesicht und dann wieder blaß bei den Blicken seines eigenen Dieners, fragte er: »Ist die gnädige Frau zu Hause?«

»Ja, gnädiger Herr,« antwortete der Diener, der keine Miene verzog, »die gnädige Frau ist im Wohnzimmer.«

Adelsskjold ging durch das Vorzimmer, aber vor der Wohnstubentür blieb er stehen. Er wagte es nicht, sie zu öffnen.

Aber dann öffnete er sie, und er sah Alice, die am Fenster stand, den Rücken ihm zugewandt, und sie drehte sich nicht um, und sie grüßte ihn nicht.

Und auch über seine Lippen kam kein Wort – bis er in Tränen ausbrach.

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, immer auf demselben kleinen Fleck, auf und ab, bis er ihr, die sich nicht gerührt und nicht umgewandt hatte, plötzlich ganz 185 sinnlos und nur von einem Schmerz übermannt, der keinen Ausweg fand, zurief: »So setz dich doch.«

Und Alice setzte sich, ohne ein Wort, mit schlaffen Händen, weiß im Gesicht, weiß wie vor Entsetzen.

Adelsskjold aber wanderte weiter hin und her, bis er plötzlich vor ihr stehen blieb, dicht vor ihren Knien, und mit bebender Stimme sagte: »Sprich doch, Mensch.«

Und von der schrecklichen Eifersucht des Leibes in der Nähe ihres Körpers ergriffen, rief er wieder, während seine Hände zitterten: »Sag doch etwas.«

Und entfernte sich wieder, aus Furcht vor dem, was seine Hände verüben könnten.

Frau Alice rührte sich nicht.

»Was soll ich sagen?« fragte sie. Und noch leiser fügte sie hinzu: »Was könnte ich dir jetzt sagen . . . was dir nicht weh tun würde?«

Adelsskjold war beim Klang ihrer Stimme stehen geblieben. Auf einen Stuhl, der hinter zwei Palmen verborgen war, warf er sich nieder und schluchzte wie jemand, der alles weiß und es doch nicht fassen kann.

Plötzlich aber erhob er sich, und es war, als ob das Soldatenblut seiner Rasse ihn aufrichtete oder ihm doch wenigstens die Fähigkeit des Denkens zurückgab. Nur der Anblick ihres Körpers schmerzte ihn, so daß er ins Leere blickte, als er sagte: »Ich verreise also.«

Er blieb stehen, seine heimlichen Gedanken fortsetzend, alles ordnend, wie es sich für ihn als Soldatenkind von selbst verstand, bis er wieder sagte: »Und du empfängst morgen wie gewöhnlich.«

Er atmete tief, als sei keine Luft mehr in seinen Lungen.

»Und Freitag gehst du zu Claude Zorets Ausstellung und entschuldigst mich mit Kranksein.«

Frau Adelsskjold saß auf dem Sofa, die Arme gegen die Lehne gedrückt, als wolle sie ihren schlanken Körper stützen. 186

Mit den geschlossenen Augen glich sie einer aufrecht sitzenden Toten.

Adelsskjold sagte im selben Ton wie vorher: »Entschuldigst mich bei allen.«

Frau Adelsskjold öffnete die Lippen, und während sie plötzlich die gefalteten Hände vor ihrer Brust auf- und niederbewegte, nannte sie Adelsskjolds Namen zweimal.

»Alexander, Alexander.« Ohne Klang, fast ohne Laut.

Aber Adelsskjold, dessen Gehirn nur für den einen Gedanken Raum hatte, den er nicht loslassen durfte, ging auf die Tür zu, die sich seinem Blick zu entrücken schien – und war fort.

Als der Meister die Halle betrat, fragte er, indem er sich mit der Hand über die Stirn strich: »Ist Herr Michael hier gewesen?«

»Ja,« antwortete der Majordomus, »jeden Tag.«

Claude Zoret machte einige Schritte.

»War er oben im Atelier?« fragte er.

»Ja, Meister.«

Und mit abgewandtem Gesicht, während ihm eine Röte ins Gesicht stieg, sagte Claude Zoret: »Hat er etwas über meine Bilder gesagt?«

Des Majordomus Lippen zitterten.

»Herr Michael spricht nie mehr mit uns.«

Und der Meister ging.

 

Der Meister, der am Fuße der Treppe des Wohnzimmers stand und jedem seiner Gäste die Hand gab, ging mit zwei Schritten der Herzogin-Witwe von Monthieu entgegen und bot ihr den Arm.

Indem sie ihren Arm in Claude Zorets legte, sagte sie hastig: – »Haben Sie meinen Sohn gesehen?«

Und der Meister antwortete, indem dieselbe Unruhe durch seine Stimme zu klingen schien: »Nein, noch nicht.« 187

Doch im nächsten Augenblick fügte er hinzu: – »Aber er wird wohl gleich kommen.«

Sie kamen nur langsam die Treppe hinauf, auf der die Seidenschleppen der Damen wie ein bunter Strom ineinanderglitten und auf der die Herren, indem sie stehen blieben, um Platz zu machen, das Gedränge noch verschlimmerten.

Alles sprach, oben und unten, nickte und grüßte; die französische Sprache übertönte wie eine hohe Woge singend alle anderen Mundarten, und ein brausendes Summen schwoll ihnen aus der Tür des Ateliers, fast wie das Brausen einer Hymne, entgegen.

Charles Schwitt kam ihnen auf der Treppe entgegen, weiß im Gesicht, mit geblähten Nasenflügeln, aufgeregt wie an seinen eigenen Vorlesungstagen in der Sorbonne, und er sagte, indem er sich an den anderen vorbeidrängte und die Herzogin ganz vergaß: »Claude, Claude, es ist erreicht,« und er preßte des Meisters Arm mit seiner linken Hand wie in einem Schraubstock.

Frau Morgenstjerne, die immer einen Ton lauter sprach als alle anderen, rief mitten auf der Treppe einem Sekretär von der österreichischen Gesandtschaft zu: »Können Sie begreifen, wo Toll bleibt? Er sollte mich doch Punkt zwei im Vestibül erwarten.«

Und indem sie plötzlich Claude Zorets ansichtig wurde, der seinen Kopf gewandt hatte, platzte sie heraus: »Da ist der Meister.«

Alle wandten den Kopf nach Claude Zoret um und drückten sich zusammen, so daß ein Weg für ihn und die Herzogin zur Tür des Ateliers frei wurde, wo zwei Amerikanerinnen, die bereits am Vormittag Brillanten trugen, sich plötzlich vordrängten und den Eingang sperrten, indem sie Claude Zoret und die Herzogin mit ihren kleinen Apparaten, die sie unter den Spitzen ihrer Taillen verborgen hielten, photographierten. 188 Der Meister hatte die Schwelle seiner Werkstatt erreicht, und während er sich vor der Herzogin von Monthieu verneigte und alles sich reckte und streckte, um zu sehen, wurde es eine Sekunde ganz still im Raum, bis sich aus dreihundert Kehlen ein einziger, schwellender Vivatruf erhob, wie die Ouvertüre zu Claude Zorets Triumph.

Der Meister hatte den Kopf gebeugt, so wenig, daß man es kaum sah. Nur das Herz klopfte ihm in der Brust, unregelmäßig und heftig.

Der Vivatruf erhob sich von neuem, während der Schwarm wieder zur Tribüne hindrängte, von wo aus die Bilder gesehen werden sollten, und zwei Reporter, die ihre Notizbücher gegen die Bretter der Estrade hielten, notierten sich Namen. Herr Leblanc, der mit einem Ausdruck von fast bestürzter Untertänigkeit umherlief, stolperte beinahe über die Herren von der Presse und sagte: »Nicht wahr, nicht wahr, das ist eine Überraschung. Eine ungeheure Überraschung.

Aber,« sagte er, »Claude Zoret wird uns noch mehr Überraschungen bereiten, bis –« und sein Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich – »bis er eines Tages verrückt wird.«

Claude Zoret ging an zwei belgischen Malern vorbei, die in die Betrachtung von »Hiob« versunken waren, als starrten sie auf einen Altar. Und den nicht erkennend, der ihn gemalt hatte, wiederholten sie unablässig: »Wo hat er das Graugelb her, wo hat er nur dieses Graugelb her, womit er es gemalt hat?«

Die Herzogin von Monthieu war vor dem österreichischen Minister stehen geblieben, und nach der Begrüßung fragte sie, während ihre Augen beständig durch den Saal schweiften: »Haben Sie meinen Sohn nicht gesehen? Ich begreife nicht, wo er bleibt.«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen,« sagte der Minister und verneigte sich vor Frau de Monthieu, wie er sich vor 189 einer Frau verneigt haben würde, die über Frankreich herrscht.

Und indem er sich zu den Bildern des Meisters wandte, fügte der Minister hinzu: »Herzogin, Frankreichs Genie ist doch unüberwindlich.«

Frau de Monthieu richtete ihre Augen auf Hiob, der sich unter seinem Tuch zu bewegen schien, und sie sagte, als ob die Stimme ihr den Dienst versagte: »Ja, Windischgrätz, es ist entsetzlich.«

Der Minister, der mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sein Geschlecht dahingemäht wurde wie grünes Korn, betrachtete noch immer das Bild: »Dieses Tuch,« sagte er, »bedeckt einen Mann, der alles verloren hat.«

Frau de Monthieu durchschauerte es eiskalt: »Ja,« sagte sie fast unhörbar, und sie blieb neben dem Minister stehen, die Augen zu »Hiob« erhoben, während ihr Witwenschleier sie fast wie ein Mantel umhüllte.

Alles rings umher sprach und alle Sprachen flossen ineinander.

Zwei Ungarn, die vor Jesaias standen, gestikulierten mit den Händen und sprachen von Munkaczy und von seinem »Christus vor Pilatus«, während die Damen, die bis auf die Balustrade gelangt waren, mit halbgeöffneten Lippen hinter den paillettenbesetzten Schleiern die herrlichen Körper der »Wahrheit« betrachteten.

Skandinavier standen mitten im Saal und die Norweger sprachen am lautesten, den Raum mit ihren schallenden Stimmen erfüllend, während Frau Morgenstjerne, die in ihrer goldgestickten Taille fast alle Herren überragte, lachte und sagte: »Ja, Kinder, wir anderen können alle einpacken.«

Und ein Däne, dessen dünner spanischer Bart ausgerissenen Nervenfäden glich, sagte, während er seine Hände zusammenpreßte, die kalt waren vor Ergriffenheit: »Der Mann hat ja bis heute nie gemalt.«

Frau Morgenstjerne hatte den Kopf gewandt, und ihr 190 Blick fiel auf Frau Adelsskjold, die am Arm des österreichischen Gesandtschaftssekretärs durch die Tür trat.

»Da ist Frau Adelsskjold,« sagte sie und ging ihr ein paar Schritte entgegen.

Frau Adelsskjold grüßte die Herren aus dem Norden, indem sie den Kopf seltsam automatisch neigte wie königliche Herrschaften, die aus ihrem Wagen grüßen, während Frau Morgenstjerne sie fragte: »Haben Sie Graf Toll nicht gesehen?«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen,« antwortete Frau Adelsskjold und reichte Frau Morgenstjerne eine Hand, die kalt war wie Eis, – bevor sie am Arm des Österreichers weiterschritt.

Als sie fort war, sagte ein kleiner Däne, der sich immerfort den Mund leckte: »Wo ist Adelsskjold denn heute?«

»Ja, zum Teufel, wo ist Adelsskjold?« sagten einige andere und riefen seinen Namen ganz laut.

»Schreien Sie doch nicht so,« sagte Frau Morgenstjerne und faßte den einen am Arm.

Im selben Moment dachte sie: Gestern war er auch nicht zu Hause – gestern am Empfangstage war er auch nicht da.

Und sie machte einige Schritte, als wolle sie Frau Alice folgen, und – blieb wieder stehen, indem sie mit ganz abwesendem Blick zu dem jungen Bergener sagte: »Hier können Sie ganz Paris kennen lernen.«

Frau Adelsskjold war auf die Prinzessin von Sagan zugegangen, die, ihre Unterhaltung mit dem Gesandtschaftssekretär unterbrechend, plötzlich mit einem Lächeln, das ihre Lippen kaum streifte, zu Frau Adelsskjold sagte: »Wo ist denn Herr de Monthieu? Seine Mutter hat eben nach ihm gefragt.«

Die Prinzessin sah Frau Adelsskjold unentwegt an, während Frau Adelsskjold mit einem Lächeln antwortete: »Ist die Herzogin wirklich von Versailles hereingekommen? Wie das den Meister freuen wird.« 191

Und indem sie den Kopf wandte und »Hiob« mit Augen betrachtete, die genau so viel sahen wie die eines Blinden, sagte sie: »Was für wundervolle Farben.«

Charles Schwitt kam auf sie zu, nach rechts und nach links grüßend, Hände schüttelnd, atemlos von dem Triumph, als wäre es sein eigener Sieg: »Wollen Sie nicht auf die Tribüne hinauf?« sagte er und führte die Damen durch das Gedränge, während Frau Morgenstjerne, unbeweglich inmitten der Gruppe von Skandinaviern, den Blick nicht von Frau Adelsskjolds Nacken abwandte.

Das Gedränge wurde dichter, während alle Mundarten der Welt sich in der heißen Luft des Ateliers kreuzten. Zwei Spanier küßten mitten im Zimmer den Meister auf beide Wangen, während sie sagten: »Benlliure y Gil ist überwunden, Ulpiano Checa ist tot,« und sie küßten Claude Zoret wieder, während sie von der »Wettfahrt in Rom« sprachen.

Charles Schwitt konnte auf der Tribüne nicht vorwärts kommen, wo alles sich zusammenstaute und alle sehen wollten. Drei Amerikanerinnen sperrten den Aufgang zur Treppe, während ein Zeichner aus Chikago hinter ihrem Rücken eine Skizze für seine Zeitung stahl.

Endlich kam Herr Schwitt durch, und mitten auf der Tribüne, vor den anderen, blieb er stehen und sagte: »Ja, von hier aus muß man sie sehen.«

Und gegen das Geländer gelehnt, sagte Frau Adelsskjold, die beständig auf dieselbe Weise lächelte, als wenn sie nicht imstande wäre, ihr eigenes Lächeln zu verwischen: »Ja, von hier aus muß man sie sehen;« nur die Worte wiederholend, die sie kaum verstanden hatte.

Charles Schwitt hatte bei dem seltsamen Klang ihrer Stimme den Kopf gewandt: »Kommen Sie, gnädige Frau,« sagte er, »hier können wir nicht bleiben.

Frau Adelsskjold blieb stehen. Ihre Hände griffen nach dem Geländer. Unten im Saal, mitten im Gedränge sah 192 sie die Herzogin von Monthieu, deren Augen noch immer vergeblich und angstvoll durch den Raum spähten.

»Kommen Sie?« wiederholte Schwitt.

Und Frau Adelsskjold setzte ihre Füße in Bewegung.

Charles Schwitt hatte den Kopf gehoben und blickte über die Hunderte hin, die im Saal versammelt waren; Claude Zoret überragte sie alle, unbeweglich, mit dem weißen Bart auf der gewaltigen Brust. Eine junge Dame, die seinem Blick gefolgt war, legte unwillkürlich ihre Hand auf den Arm des Kritikers: »Wie muß er glücklich sein, wie muß er glücklich sein,« sagte sie und schlug vor Freude ihre Hände gegeneinander, fast als applaudiere sie.

»Frankreich muß glücklich sein,« antwortete Schwitt.

»Ja, das ist wahr,« sagte das junge Mädchen und riß plötzlich die Augen weit auf.

Eine junge Engländerin war auf den Meister zugetreten, und indem sie sich auf die Zehenspitzen erhob, küßte sie schnell wie ein Blitz einen goldenen Lorbeerzweig und heftete ihn dem Meister an die Brust: »Seht, seht nur,« rief man von der Tribüne, und Bravorufe schallten durch den Saal.

Charles Schwitt aber wandte sich wieder zu Frau Adelsskjold, und als sie die Treppe der Estrade hinuntergekommen waren, sah er sie an und sagte: »Wissen Sie, Frau Adelsskjold, ich kann nie an Sie denken, ohne mich Ihrer Angst vor dem Tode zu erinnern.«

Frau Adelsskjold öffnete die Lippen und fand nicht gleich Worte oder Laute: »Denken Sie so viel an mich?« sagte sie dann; und sie wandte sich einem russischen Diplomaten zu, der gerade aus Wien gekommen war und sie von ihrem Vetter, dem Fürstbischof von Prag, grüßen sollte, vielvielmals.

»Ja,« sagte Frau Adelsskjold, deren Mundwinkel bebten, »wir haben als Kinder oft zusammen gespielt.«

»Er ist einer der ersten Prälaten Österreichs geworden,« sagte der russische Gesandte. 193

»Ja, er hat Trost im Glauben gefunden,« antwortete Frau Adelsskjold, die eine Sekunde die Augen schloß.

Plötzlich aber hatten sie beide den Kopf gewandt: alle Gäste huldigten wie im Sturm dem Meister mit ihren Rufen, in denen das Eljen sich mit Evviva, Hoch und Cheers und Hurra vermischte, während Charles Schwitt zwischen den Schleppen der Damen sich durchwand und die Herren mit dem Ellbogen stieß, auf Claude Zoret zu, dessen Hand er ergriff: »Claude, Claude,« sagte er.

Mehr konnte er nicht sagen.

Der Meister aber hob den Blick vom Boden, während die Huldigungsrufe von der Decke und den Wänden zurückgeworfen wurden: »Wo ist Michael?« fragte er kurz und sah wieder zu Boden.

Charles Schwitt ließ seine Hand los, während ein langer Engländer, im grauen Anzug, vor den Meister hintrat und mit einer trockenen Stimme sagte, indem er sich verneigte: »Herr Claude Zoret, heute schämen wir uns, daß Herr Pinero ein Engländer ist.«

Claude Zorets Gesicht verzog sich, als fühle er einen körperlichen Schmerz, und als er Frau Adelsskjold sah, die im selben Augenblick auf ihn zukam, sagte er mit einem Ausdruck, der plötzlich erkennen ließ, wen er als Jesaias gemalt hatte: »Sie hier, Madame?«

Eine Blutwelle schoß Frau Adelsskjold ins Gesicht.

Aber indem sie den Nacken beugte, wie die Prinzessin von Rohan ihn auf einem Ball in der Hofburg vor dem Monarchen gebeugt haben würde, antwortete sie ruhig und nur ihre Hände bebten: »Ja, Herr Zoret, um Ihnen Grüße von meinem Mann zu überbringen.«

Frau Morgenstjerne aber, die Frau Adelsskjold in dem Gedränge nicht aus den Augen gelassen hatte, drängte sich plötzlich vor und nahm ihren Arm: »Du,« sagte sie, – und zum erstenmal nannte sie Alice Adelsskjold »du« – »wir wollen zusammenbleiben.« 194

Auf einmal drängte der Majordomus sich bis zum Meister durch, breit, mit der Hauskette über der Brust, und flüsterte ihm etwas zu.

Und der Meister folgte ihm, mit unbeweglichem Gesicht, aufrecht durch die Menge schreitend, bis zur Tür, wo Seine kaiserliche Hoheit bereits an der Schwelle wartete.

Der Meister grüßte, indem er die Augen senkte, und der junge Großfürst sagte mit einem Lächeln, das fast die Wehmut aus seinem Gesicht vertrieb: »Erlauben Sie, Meister, daß ich nähertrete, obwohl ich nicht eingeladen bin? Der Herr Minister –« und er zeigte auf den Kultusminister der Republik – »war so gütig, zu glauben, daß es gestattet sein würde.«

Claude Zoret senkte von neuem die Augenlider vor dem jungen Mann und sagte: »Es freut mich, Hoheit, wenn meine Bilder von allen gesehen werden, die sie verstehen.«

Und während sich alle, grüßend und sich verneigend, zusammendrängten, so daß ein schmaler Weg frei wurde, führte Claude Zoret den jungen Mann und den Minister auf die Erhöhung hinauf – während langsam alle Stimmen auch in den Ecken erstarben.

Der junge Fürst ließ die dunkelblauen Augen lange von Hiob zu Jesaias und zum goldenen Triumphwagen der Wahrheit wandern, während seine weißen Zähne unwillkürlich in die tiefrote Lippe bissen.

Dann sagte er, sehr leise: »Meister, gestatten Sie mir zu schweigen?«

Und durch etwas in des jungen Mannes Stimme plötzlich gerührt, ergriff Claude Zoret seine Hand und sagte: »Ja.«

Und plötzlich, während aller Köpfe ihm zugewendet waren, ergossen sich wie ein einziger Jubelschrei alle Hurras der Welt zum Meister hinauf, brachen sich an den Wänden, überfluteten sein Werk – während Jesaias' 195 verkündender Mund in der vibrierenden Luft Leben erhielt und der goldene Wagen der Wahrheit aus der Leinwand heraus und über die Köpfe der huldigenden Masse hinwegzusprengen schien . . . während Hiob seinen Aussatz verhüllte.

Plötzlich von dem einzigen Gedanken ergriffen, daß Michael, der Sohn, seinen Sieg teilen sollte, beugte der Meister sich zu Charles Schwitt herab, der am Fuße der Tribüne stand, und flüsterte: »Hol Michael.«

Charles Schwitt rief durch den Lärm zu dem jungen Montequiou hinüber: »Holen Sie Michael.«

Und während die Hurrarufe anschwollen, riefen die Freunde des Hauses durch den Saal, die Treppe hinunter, laut und immer lauter: »Michael, Michael,« so daß der rufende Laut durch den Jubel schnitt, wie ein hastig geführtes Messer eine Leinwand zerfetzt.

Der Meister hielt die Augen auf die Tür geheftet. Dann beugte er zum Gruß den Körper so tief, daß niemand sein Gesicht sehen konnte.

Im wogenden Gedränge des Saales stand Frau Adelsskjold, die sich auf Frau Morgenstjernes Arm stützte, plötzlich vor der Herzogin von Monthieu.

Die Herzogin berührte leicht Frau Adelsskjolds Hand: »Wissen Sie nicht, liebe Frau Adelsskjold,« sagte sie, und sie sprach wie ein Mütterchen, »wo mein Sohn ist?«

Frau Adelsskjold schwieg eine Sekunde, und hinter ihrem hohen Spitzenkragen schien ihre Kehle sich zu bewegen, als schluchze sie.

Dann sagte sie und schlug die Augen nieder: »Ich weiß es nicht.«

Und während die Hurrarufe hinstarben, standen sie Aug in Auge inmitten der Menge wie zwei Säulen.

Der junge Großfürst war in den Saal hinuntergegangen. Zur Seite des Ministers schreitend, sprach er mit einem Mitglied der Akademie. 196

Und mit einem Lächeln, wie jemand, der allzu jung schon allzuviel gesehen hat, sagte er: »Heut hat die Welt den Maler der Schmerzen gekrönt.«

 

Die Gäste waren fort.

Der Meister stieg in den Wagen – allein.

»Nach den Champs Elysees,« sagte er.

Unter den Bogen der Rue de Rivoli wurden die Laternen angezündet. Auf dem Place de la Concorde standen Frankreichs Städte wie große Schatten in der Dämmerung.

Der Wagen rollte weiter, nach den Champs Elysees.

Zu beiden Seiten auf den Trottoiren wurden die Laternen angezündet, eine nach der anderen, als eilten Fackelträger hastig dem rollenden Wagen voraus.

Der Meister saß aufrecht da. Nie war ihm Herz und Gemüt so leer gewesen.

Die Abendröte flammte wie ein glühendes Feuermeer hinter dem Triumphbogen und lag wie eine Flut von blutigem Gold hinter seiner Toröffnung.

Der Meister starrte auf die goldenen Farben, und seine Augen sahen sie nicht.

Da wurde er durch seinen eigenen Namen geweckt. »Claude Zoret – der Maler der Schmerzen – Claude Zoret, Frankreichs Ruhm . . . .

Le Petit Parisien – Maler der Schmerzen – Claude Zoret, Frankreichs Ruhm.«

Es waren die Zeitungsjungen, die die dichtbelebten Trottoire entlang liefen, seinen Namen rufend, ihn der Menge zurufend, lauter und lauter, einander überbietend: »Claude Zoret – Frankreichs Ruhm – Claude Zoret, Maler der Schmerzen . . .«

An der Ecke der Avenue kamen noch mehr hinzu, schreiend, während sie die Zeitungen in den emporgereckten Armen schwenkten: Les Débats – Claude Zoret – Les Débats das Urteil der Welt . . . 197

Das Gesicht des Majordomus bebte, und Denis faßte unwillkürlich die Zügel der Pferde fester.

Les Débats, Claude Zoret . . .

Die Rufe der Zeitungsjungen klangen wie ein einziger Schrei, in dem alle Tonarten sich vereinigten.

Le Journal, Claude Zoret, Frankreichs Genie, Claude Zoret . . .

Die Herren kauften die Zeitungen und lasen sie unter den elektrischen Ständern, und die Damen sahen, gegen ihre Schultern gelehnt, mit hinein.

Le Petit Parisien – Der Maler der Schmerzen – Claude Zoret . . .

Oben auf den schwankenden Omnibussen hatten die Passagiere die Zeitungen auf den Knien ausgebreitet oder hielten sie in den erhobenen Händen.

Claude Zoret, Frankreichs Ruhm . . .

Die Verkäufer schwenkten die Zeitungen wie Flaggen über der wandernden Menge auf den Trottoiren: Claude Zoret . . .

Der Meister hatte die Augen geschlossen. Sein blutloses Gesicht war bei diesem Siegesjubel tiefer erblaßt, als Cäsars bei dem Schrei der Legionen hätte erbleichen können.

Le Journal, Claude Zoret, Frankreichs Genie, Claude Zoret.

Der Meister erhob sich im Wagen: »Nach Hause,« rief er seinem Kutscher laut zu.

Während der Wagen wendete und ein Zeitungsjunge ihm ein Blatt wie eine Fahne entgegenschwenkte: Les Débats – Claude Zoret . . . sah er in dem Restaurant des Eckhauses hinter der großen Fensterscheibe Michael der Prinzessin Zamikof an einem Tisch gegenübersitzen.

Sein Gesicht blieb unbeweglich, und der Wagen war weitergerollt.

Aber rings umher auf den Trottoiren, in allen Straßen klang es wieder und wieder, den Lärm der Wagen 198 übertönend, weit über das Gewimmel der Menge hinweg: Claude Zoret, Frankreichs Ruhm, Claude Zoret – Maler der Schmerzen – –

Michael hatte von seinem Platz hinter dem Fenster des Restaurants den Meister gesehen.

»Da war er,« sagte er.

»Wer?« fragte Frau de Zamikof.

»Claude Zoret,« antwortete Michael.

Sie schwiegen einen Augenblick, während sie unausgesetzt die Rufe der Zeitungsjungen hörten. Dann sagte Frau de Zamikof: »Was wird er wohl dazu sagen, daß du heut nicht dagewesen bist?«

Michael schob die Lippen vor: »Er sagt gar nichts. Er vernichtet am besten, wenn er schweigt.«

Sie saßen wieder eine Weile schweigend da, während die Zeitungsjungen unablässig schrien.

»Lassen Sie Zeitungen holen,« sagte Michael zum Kellner.

Der Maler der Schmerzen, Claude Zoret, Claude Zoret, Maler der Schmerzen.

Michaels Gesicht war fast verzerrt, ohne daß er selbst es wußte. Die Prinzessin aber beobachtete unverwandt die Furchen, die sich in seine Wangen gruben.

Der Kellner brachte die Zeitungen und Michael entfaltete »Les Débats« auf dem Tisch.

Er begann zu lesen – und eine rote Flamme schlug ihm plötzlich ins Gesicht.

»Endlich ein Tag des Sieges« stand da: »Wäre Claude Zoret wirklich tot gewesen, heut ist er wieder auferstanden.«

Frau de Zamikof betrachtete ihn unausgesetzt: »Was steht da?« fragte sie.

»Du kannst es selbst lesen,« sagte Michael und schob ihr die Zeitungen hin, ohne aufzusehen. Die Prinzessin las eine Weile. Dann sagte sie: »Wie kannst du eigentlich auf den Mann neidisch sein?« 199

Michael sah hastig zu ihr hinüber: »Neidisch? Ich glaube, du bist verrückt,« sagte er. »Weshalb sollte ich neidisch sein, wo ich nicht einmal versuche, etwas zu schaffen.«

Die Prinzessin sah vor sich hin: »Und doch bist du neidisch,« sagte sie langsam.

Draußen riefen die Jungen noch immer: »Claude Zoret, Frankreichs Ruhm . . .«

Plötzlich legte Frau de Zamikof die Hände auf die aufgeschlagene Zeitung: »Weißt du,« sagte sie und lachte leise, »daß es eine Zeit gegeben hat, in der ich die Absicht hatte, ihn zu heiraten?«

Michael wandte den Kopf mit einem Ruck.

»Wen?« fragte er.

Lucia antwortete so leichthin, als spräche sie vom Wetter: »Claude Zoret.«

Michael antwortete nicht gleich. Nur eine Ader schwoll quer auf seiner Stirn.

»So,« sagte er.

Frau de Zamikof fuhr im selben Ton fort: »Gleich zu Anfang, als ich gemalt wurde. Der erste Krach hing mir ja über dem Kopf. Und ich dachte, die ganze Geschichte könne vielleicht noch ins Geleise kommen, wenn ich mich mit Claude Zoret verheiraten würde.«

»So,« sagte Michael wieder.

Und Lucia fragte lachend: »Glaubst du, daß er gar kein bißchen in mich verliebt war?«

Michael antwortete nicht.

Kurz darauf sagte er ebenso gleichgültig wie sie, aber die schwarzen, weitgeöffneten Augen fest auf ihr Gesicht gerichtet: »Hast du andere Liebhaber gehabt, seit wir uns kennen?«

Frau de Zamikof schwieg einen Augenblick. Dann antwortete sie: »Ja, einen – zu Anfang.«

Und einen Augenblick nachher fügte sie, noch immer, 200 als spräche sie von etwas ganz Gleichgültigem, hinzu: »Damals liebten wir uns ja noch nicht.«

Michael rührte sich nicht.

»Und später?« fragte er.

Der Gesichtsausdruck der Fürstin veränderte sich: »Das weißt du ja sehr gut,« sagte sie, und indem sie ihre Hand auf seine legte, sagte sie sehr weich: »Oder weißt du es nicht? Ich lüge nicht mehr, Michael. Das hast du mich gelehrt.«

Michael antwortete ihr nicht.

Seine noch immer weitgeöffneten Augen sahen ins Leere.

»Claude Zoret, Maler der Schmerzen – Claude Zoret, Frankreichs Ruhm . . .«

Frau de Zamikof saß eine Weile nachdenklich, bis sie sagte: »Aber die Menschen wissen so wenig von der Liebe, und wir geben so vielen Gefühlen denselben Namen.«

Sie hob plötzlich ihr leuchtendes Gesicht zu ihm empor: »Die Liebe,« sagte sie und lächelte, »ist der große Goldwäscher.«

Michael hatte den Kopf über die aufgeschlagene Zeitung gebeugt, so daß ihm das schwarze Haar wie eine schützende Wolke über die Stirn fiel.

Seine ganze Verwirrung, seine heimliche Reue und all sein brünstiger Haß gegen die, die sie vor ihm und mit ihm besessen – brachen sich in einer ganz unsinnigen Wut Bahn gegen den Meister, den »Wiedererstandenen«, ihn, das Genie, ihn, seinen »Wohltäter«, den »Maler der Schmerzen«, ihn, dem Lucia sich angeboten hatte – gegen den Meister, den Meister, Claude Zoret . . .

Er sprach nicht.

Er wußte selbst nicht, daß er von neuem in der aufgeschlagenen Zeitung las, deren Buchstaben so groß wurden, wie es manchmal geschieht, wenn man durch Tränen liest.

»Vielleicht ist, technisch gesehen, nichts so bewunderungswürdig wie die Luft auf dem Gemälde ›Hiob‹. Kein 201 Landschaftsmaler hat darin je Höheres erreicht als Claude Zoret.«

Michael las halb in Gedanken weiter, las all die Namen der Gäste: Ja, es fehlte keiner – Herzöge und Gesandte der Großmächte – – und Herr Leblanc . . .

Frau de Zamikof hatte eine Weile geschwiegen, während Michael las. Dann sagte sie vor sich hinblickend: »Jetzt wissen wir doch, daß der Kaiser uns nicht hilft.«

Michael hob den Kopf – er dachte: er hat die Studien aus Algier für die Luft auf dem Bild von »Hiob« verwendet – und sagte geistesabwesend: »Hilft er nicht?«

Und er wiederholte: »Hilft der Kaiser nicht?«

»Nein,« sagte Lucia, »ich hatte heut morgen einen Brief aus St. Petersburg.«

Sie saß eine Weile nachdenklich: »Dann gibt's also (und sie lachte) keinen anderen Ausweg, als sich mit Claude Zoret zu verheiraten.«

Wie eine Flamme schlug es aus Michaels Augen: »Wir müssen gehen,« sagte er.

Sie zogen ihre Mäntel an, und draußen auf der Straße pfiff Michael einem Wagen.

Aber drinnen in der Dunkelheit des Wagens bedeckte Michael Lucia mit wilden Küssen, wie einer küßt, der gebunden ist und nie mehr los kann.

Plötzlich hob er den Kopf und sagte: »Ich gehe zum Mittagessen zu ihm.«

»Weshalb?«

»Doch,« antwortete Michael und sein Gesicht leuchtete durch die Dunkelheit des Wagens.

Claude Zoret, Maler der Schmerzen – Le Petit Parisien – Claude Zoret . . . klang es noch immer um den Wagen herum, während sie fuhren.

Der Meister war nach Hause gekommen.

Der Majordomus folgte ihm mit den Augen, während er schweren Schrittes mühsam die hohe Treppe hinaufstieg. 202

Claude Zoret war schon bei der Suppe, als Michael kam.

»Guten Tag,« sagte er und gab Michael die Hand, und eine Weile aßen sie schweigend, bis der Meister sagte: »Du bist heut nicht hier gewesen?«

»Nein,« sagte Michael, »ich war auf dem Lande.«

Und gleich darauf fügte er in dem gleichen Ton von unterdrückter Erbitterung, der vielleicht nur seine Verwirrung verbergen sollte, hinzu: »Und deine Bilder kannte ich ja schon.«

»Ja,« antwortete der Meister.

»Aber die Zeitungen hab ich gelesen,« sagte Michael noch immer im selben Ton.

»Ich nicht,« sagte der Meister.

Sie schwiegen wieder eine Weile, bis Claude Zoret – es war, als wolle er Michael nicht verletzen oder sein Unrecht nicht größer machen, oder vielleicht war es ihm auch selbst ein Bedürfnis, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben – mit einem plötzlichen Übergang von Reisen, von fremden Ländern und Gegenden zu sprechen begann, wo sie zusammen gewesen waren, von den Brücken in London und von Westminster, wo er einmal Studien gemacht hatte, und von den beiden Wintern in Rom.

»Den ersten Winter in Rom,« sagte der Meister und lachte, »kamst du abends nie nach Hause, sondern saßest die langen Nächte hindurch im Kolosseum, bis du Fieber bekamst von der Kälte auf den Steinbänken.«

Michael begann mitzureden.

»Aber weißt du noch in Norwegen,« sagte er, »wo du krank wurdest, weil du acht Stunden auf dem Eis des Fjords gestanden und gemalt hattest und deine Beine waren doch in weiße Socken eingepackt gewesen.«

Der Meister lachte.

»Herrgott, was man in dem Land zusammen ißt,« sagte er. Er schwieg einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Da war es doch besser, sich seine Kost selbst zu bereiten 203 – wie in Algier, weißt du noch, wenn wir unser Fleisch am Spieß brieten.« – –

Der Meister schwieg wieder, bis er vor sich hinblickte und sagte: »Es ist doch nichts so schön wie die Wüste.«

»Nein,« sagte Michael, dessen Miene sich auf einmal verändert hatte.

Der Meister sah plötzlich, während er weiter von Algier und Ägypten sprach, daß der kleine goldene Lorbeerzweig noch in seinem Knopfloch steckte, und er zog ihn heraus und reichte ihn Michael.

»Willst du ihn haben?« fragte er.

Michael aber, der von neuem vor sich nieder auf das Tischtuch starrte, sagte: »Was soll ich damit? Er ist ja für dich bestimmt.«

»Ja, das ist wahr,« sagte der Meister und der goldene Lorbeerzweig mit seinen Perlen glitt aus seiner Hand lautlos auf das Tischtuch.

Jacques brachte den Kaffee.

»Stell meine Tasse beim Kamin hin,« sagte der Meister, »mir frieren die Füße.«

»Du entschuldigst,« sagte er zu Michael, der sich noch eine Frucht schälte, und er erhob sich von seinem Platz, um sich ans Feuer zu setzen.

»Meister, Sie sollten die Stiefel ausziehen,« sagte der Majordomus, »dann hole ich die Pantoffel.«

»Danke,« sagte Claude Zoret, und der Majordomus brachte ihm die Pantoffel und war ihm behilflich.

Auch Michael hatte sich erhoben. An die Platte des Kamins gelehnt, ließ er die Blicke durch das Zimmer schweifen, bis seine Augen auf dem Meister haften blieben. Sein Gesicht erschien so fahl im Licht der Kandelaber, während er am Kamin saß, die Füße gegen den Rost gestemmt.

Und plötzlich sagte Michael – als wäre er im Laufe von 204 Minuten allen möglichen Stimmungen unterworfen –: »Laß mich deine Füße wärmen.«

Und er beugte sich nieder, und auf dem Fußboden knieend, »rollte« er des Meisters Füße zwischen seinen beiden Händen, wie er es früher so oft getan.

»Danke, mein Freund,« sagte der Meister.

»Das wärmt,« sagte Michael und rieb weiter.

»Ja,« antwortete der Meister, und gleich darauf sagte er: »Wenn ich jetzt den Sand der Wüste unter meinen Sohlen hätte.«

»Ja,« sagte Michael und ließ plötzlich des Meisters Fuß los.

»Ich will etwas ruhen,« sagte der Meister. »Ich glaube, ich bin übermüdet.« Und zum Majordomus gewandt, sagte er: »Mache in der Bibliothek Licht. Adieu, mein Freund,« sagte er und ging mit dem Majordomus.

Michael stand noch im Eßzimmer, als Jacques zurückkam.

»Von wem ist dieser Lorbeerzweig?« fragte Michael.

»Ich glaube von einer Engländerin,« antwortete der Majordomus.

Eine hastige Röte flog über Michaels Gesicht: »Hm,« sagte er. »Ja, schön ist er nicht.«

Und er ging ins Wohnzimmer.

Er durchmaß das Zimmer hastiger und hastiger: Nein, es half nichts. Geld mußte geschafft werden. Jetzt, wo alle Welt erfahren würde, daß der Kaiser nicht half. Und was schadete es auch – oder wem? Claude kümmerte sich nie um seine gebrauchten Studien. Und die Studien aus Algier waren kostbar jetzt – ungeheuer kostbar. Das wußte Leblanc. Auf seine eigenen Augen und Ohren würde der Mensch sich schon verlassen, und er war ja heute während des »Jubels« hier gewesen.

Und Leblanc war schlau. Leblanc machte keine Dummheiten. Leblanc würde mit einem Verkauf warten, und müßte er bis zu Claudes Tod warten – bis zu seinem Tode. 205

Michael war plötzlich wie angewurzelt unter dem elektrischen Kronleuchter stehen geblieben: Ja, wenn Claude stürbe – –

Michael lief die Treppe hinauf. Mit einem Druck entzündete er alle Lampen des Ateliers.

Richtig, da waren die Studien. Da lag die Mappe.

Und sie waren alle da. Er zählte sie und zählte sie doch nicht . . . denn, wie immer, wenn er ihr etwas gab oder ihr half, wurde er von dem Begehren nach Lucia wie von einem Brand durchglüht.

Dann klappte er die Mappe zu und ging.

Eine Stunde später kam Charles Schwitt.

»Wie geht es?« fragte er den Majordomus im Vestibül.

»Der Meister ruht,« antwortete Jacques.

»Aber ich werde Sie melden.«

Charles Schwitt ging ins Wohnzimmer und Claude Zoret kam herein.

»Ich wollte dich heut gern noch einmal sehen,« sagte Schwitt und nahm seine Hand.

»Und du bist allein?« sagte er und setzte sich.

»Ja,« sagte der Meister und entzündete das Licht in dem ganzen Raum, »ich bin allein. Wer sollte wohl bei mir sein?«

Charles Schwitt strich sich mit der Hand übers Gesicht: »Du bist wohl auch müde?« sagte er.

Und dann begann er vom heutigen Tage zu sprechen, was dieser gesagt habe und jener und wer alles dagewesen sei. »Es fehlte ja keiner, kein einziger,« sagte er, »ganz Paris war da.«

»Aber wo war Adelsskjold?« fragte er plötzlich.

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Meister.

»Und die Engländer,« fuhr Charles Schwitt fort, »waren am meisten begeistert. Sie waren ganz außer sich, sage ich dir, geradezu wild.«

Charles Schwitt hielt einen Augenblick inne, während 206 seine Gedanken weiterarbeiteten: »Technisch hast du, glaube ich, nie etwas so Herrliches geschaffen, wie die Luft auf dem Gemälde ›Hiob‹.«

»Ich habe meine Studien aus Algier dazu verwendet,« sagte der Meister.

»Ja, das sagtest du schon,« sagte Schwitt. »Die Luft ist ganz prachtvoll. Wo sind die Studien? Ich habe sie nie gesehen.«

»Wir können sie ja suchen,« sagte der Meister.

Und sie gingen ins Atelier hinauf.

»Hier ist Licht,« sagte der Meister.

Alle elektrischen Flammen brannten noch.

»Hier müssen sie liegen,« sagte er und ging auf ein Regal zu, wo er zwischen einigen Mappen suchte, während Charles Schwitt ihm gefolgt war.

»Nein, sie sind nicht da,« sagte Claude Zoret, der weiter suchte: »Und hier auch nicht . . .«

»Nein, auch nicht . . .«

Des Meisters Hände fingen plötzlich an zu zittern, während er Mappe um Mappe ergriff.

»Und hier auch nicht,« sagte er, und seine Hände ließen plötzlich die Mappe, die er hielt, los.

»Aber sie müssen doch da sein,« sagte Charles Schwitt, der ebenso wie der Meister suchte.

Aber Claude Zoret rührte sich nicht. Dann sagte er, und er sprach, als wolle die Zunge ihm nicht recht gehorchen: »Ich will Jacques fragen.«

Und er ging hinunter.

Jules erschien auf sein Klingeln.

Der Meister fragte: »Wann ist Herr Michael fortgegangen?«

»Die Uhr mag wohl neun gewesen sein,« sagte Jules, und er fügte hinzu: »Herr Michael ist mit einer großen Mappe fortgegangen.«

Der Meister stützte die Hand auf die Lehne eines Stuhles: »Es ist gut,« sagte er und Jules ging. 207

»Sie sind nicht da, Claude,« sagte Schwitt, der die Treppe hinunterkam.

Der Meister stand noch auf derselben Stelle: »Ich werde Jacques danach suchen lassen,« sagte er.

»Aber jetzt gehe ich,« sagte Schwitt, »du bist müde.«

»Ja,« sagte der Meister, der ins Licht starrte: »jetzt bin ich müde.«

Charles Schwitt ergriff seine Hand.

»Lebwohl,« sagte er. »Wie kalt deine Hände sind.«

»Das sind sie oft,« sagte der Meister. »Lebwohl.«

Als Charles Schwitt gegangen war, kehrte der Meister in sein Atelier zurück und löschte alle Lichter.

 

Der Majordomus wollte gerade das Licht im Vestibül auslöschen, als an der Haustür geklingelt wurde und der Pförtner öffnete.

Herr Adelsskjold stand draußen. Er hatte einen wunderlichen, dicken Mantel um, dessen Kragen hochgeschlagen war, so daß er wie ein seltsamer Sack aussah, dem ein hoher Hut aufgestülpt ist.

»Ich bin es,« sagte er und stützte sich gegen das Tor.

Drinnen im Vestibül sagte er wieder mit einer Stimme, als schlüge seine Zunge gegen die Zähne: »Ich bin es nur,« und setzte sich auf einen Stuhl.

Der Majordomus sah ihm ganz erschreckt ins Gesicht, das aus dem hochgeschlagenen Kragen hervorsah: »Sind Sie krank, Herr Adelsskjold?« fragte er.

Aber Adelsskjold sagte nur wie vorhin: »Sagen Sie, daß ich es bin.«

Und er blieb sitzen.

Als der Majordomus ins Wohnzimmer kam, saß der Meister am Tisch.

Es war, als würde er aus dem Schlaf geweckt und hätte doch nicht geschlafen.

»Was willst du?« sagte er und wendete jäh den Kopf. 208

»Herr Adelsskjold ist da,« sagte der Majordomus, der zitterte, ohne zu wissen weshalb.

Der Meister war aufgestanden. »Adelsskjold,« sagte er, »führe ihn herauf.«

Der Meister blieb stehen, die Augen auf die Tür geheftet, bis er Adelsskjold sah, der wie ein schwankendes Bündel hereinkam und beide Arme hochhob und wie einer, der nicht mehr stehen kann, auf einer Ruhebank zusammenbrach und schluchzte, schluchzte, – als schluchze sein ganzer Körper mit, seine ganze Seele und sein ganzer Körper.

»Was ist geschehen,« sagte der Meister, »Mensch, was ist geschehen?« sagte der Meister.

Als Antwort bekam er nur dasselbe Schluchzen (als wenn einem Tier die Fähigkeit zu weinen gegeben wäre), das den ganzen Raum bis in alle Ecken mit seinem hilflosen Klang erfüllte.

»Aber Mensch.

Aber Mensch,« sagte der Meister und fügte hastig hinzu: »Adelsskjold, Adelsskjold, legen Sie ab, legen Sie ab.«

Und Claude Zoret rüttelte ihn, und es gelang ihm, ihn halb aufzurichten, und er knöpfte ihm den Mantel auf, als entkleide er ein kleines Kind.

Adelsskjolds Schluchzen hörte nach und nach auf oder es wurde lautlos, und er saß auf der Kante der Ruhebank, den Kopf sonderbar bewegend, wie ein Tier, dessen Gehirn von der Sonne versengt wird.

Der Meister sprach mit ihm und wußte selbst nicht, was er sagte.

Plötzlich fragte er und seine Stimme klang heiser: »Wer war dabei?«

Er hatte ein anderes Wort brauchen wollen, aber er sagte »dabei«.

Adelsskjold sah ihn zum erstenmal an. »Toll,« sagte er, »Toll und Ehrenswärd.« 209

»Aber wenn Sie ihn gesehen hätten,« sagte er, und es war, als verwirre sich sein Gesichtsausdruck von neuem, »wenn Sie ihn gesehen hätten –«

Plötzlich hielt Adelsskjold den Kopf still und heftete die Augen auf den Meister. »Er ließ die Arme sinken – verstehen Sie – er ließ die Arme sinken – so (und Adelsskjold machte die Bewegung nach) so, bevor ich schoß . . . bevor ich schoß, verstehen Sie – – und ich schoß . . . Ich hatte es gesehen und schoß –wie nach einer Scheibe . . . gerade auf seine Brust.«

Der Meister starrte in eine Lampe. Einen Moment war es, als flimmere ihm ihr Licht vor den Augen.

»Mitten durch die Brust,« wiederholte Adelsskjold.

Und auf schwedisch, auf deutsch, auf französisch, alle Sprachen der Länder, die er bereist hatte, durcheinanderwerfend, begann er wieder zu erzählen, wieder zu zeigen, so, so habe er geschossen und so sei Monthieu gefallen, »ja, der Länge nach, platt auf die Erde, das Gesicht nach unten, mit dem Gesicht zur Erde – mit dem Gesicht platt zur Erde – zur Erde, verstehen Sie, auf die gefrorene Erde.«

Und er wiederholte ins Unendliche, wieder und wieder: »Verstehen Sie – auf die gefrorene Erde, verstehen Sie, die hartgefrorene Erde.«

Der Meister aber, der seinen Gedanken eine andere Richtung geben wollte, als wolle er einen Nagel aus einer Mauer reißen, sagte: »Wo ist Frau Adelsskjold?«

Es war, als stutze Adelsskjold.

»Zu Hause,« sagte er.

Plötzlich stand er auf und trat vor den Meister.

»Und was nützt es,« sagte er, »sagen Sie mir, was nützt es?«

Während er vor dem Meister stand, liefen ihm die Tränen über die Backen.

Nach und nach wurde er ruhiger. Er setzte sich aufs 210 Sofa. Hin und wieder ging ein Zittern durch seinen Körper.

Der Meister saß unbeweglich und schweigend da.

Wenn Adelsskjold wieder zu schluchzen begann, ging ein Zittern über Claude Zorets Gesicht.

Das Wasser rieselte leise in den Bassins.

Dann sagte Adelsskjold still, wie man von etwas Verlorenem spricht: »Ich habe sie besessen und werde sie nie mehr besitzen.«

Der Meister sprach nicht.

Plötzlich aber fragte Adelsskjold und sah über den Tisch zu Claude Zoret hinüber: »Haben Sie je einen Menschen verloren, der Ihnen alles war?«

Der Meister antwortete nicht. Seine schweren Lider hielt er gesenkt.

»Denn sonst,« sagte Adelsskjold und griff sich mit der Hand an die Stirn, »glaube ich nicht, daß man erfassen kann, was das heißt.«

Kurz darauf sagte er: »Wenn ich etwas frische Luft bekommen könnte. Wollen wir nicht auf den Balkon gehen?«

»Ja, kommen Sie,« sagte der Meister.

Sie gingen nebeneinander die Treppe hinauf, und der Meister öffnete die Balkontür. »Es ist nebelig geworden,« sagte er.

»Ja, es ist nebelig geworden,« wiederholte Adelsskjold in genau demselben Ton.

Und sie standen beide gegen das Geländer gelehnt. Der Meister starrte durch den Nebel. Die Lichter des Platzes warfen einen matten Schein durch die Nacht und das Geräusch der Straße schwand dahin, als vergehe es in der schweren Luft.

Da sagte Adelsskjold, und seine Stimme klang, als glitte sie ineinander mit dem Nebel: »Claude,« sagte er, »und wenn alles vorbei ist, kommt das Schlimmste.«

»Was denn?« fragte der Meister. 211

»Zuletzt fragt man sich selbst,« und Adelsskjolds Stimme brach, »ob man sie auch wirklich geliebt hat . . . oder ob sie einem nur notwendig war?«

»Notwendig?«

Claude Zoret hatte nach dem Geländer gegriffen.

»Ja,« flüsterte Adelsskjold durch den Nebel.

Der Meister hatte die Augen geöffnet, weit – als sähe er entsetzt in einem einzigen Blitzstrahl sein ganzes Leben.

Notwendig – notwendig.

Adelsskjold aber sagte wieder: »Wenn man in sich selbst hineinsieht . . .«

»Ja,« antwortete der Meister, und seine Gedanken wiederholten: Notwendig, nur notwendig . . .

»Wenn man tief in sich selbst hineinsieht,« sagte Adelsskjold, der in den Nebel starrte.

»Ja,« antwortete der Meister und rührte sich nicht, während seine Gedanken sagten: Notwendig – nur notwendig.

Notwendig, das war es – notwendig . . . die Gattin seiner Jugend, die Frau von Montreuil, sie war ihm notwendig gewesen – nur notwendig, um ihm die Zeit des Unglücks tragen zu helfen . . .

Adelsskjold sprach nicht mehr, während der Meister gleich einer Säule im Nebel stand.

Und Michael – – ja, Michael, auch Michael . . .

Ein Beben ging durch Claude Zorets Körper.

Ja, auch er war ihm notwendig gewesen, nur notwendig, als alles vorbei war und nichts mehr ihn sättigte, notwendig in seiner Zelle und in seinem Gefängnis – notwendig, damit er ihm die Ketten seines Ruhms tragen helfen konnte. Notwendig, ja, auch Michael . . . nur notwendig. Ihm notwendig.

Adelsskjold rührte sich nicht. Sein Körper wurde von einem letzten Schluchzen geschüttelt. 212

Der Meister aber sagte in den Nebel hinein: »Und wenn man sich selbst gesehen hat . . .«

»Ja« – und Adelsskjold wandte ihm sein zuckendes Gesicht zu – »ja, Meister, ja, was dann?«

Der Meister antwortete nicht.

Sein steinernes Gesicht starrte in den Nebel.

»Kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen,« sagte er, »die Nacht ist kalt.«

Und sie stiegen hinab.

Der Meister war in seinem Schlafzimmer. Der Majordomus war ihm behilflich. »Dies,« sagte Jacques, »ist doch des Meisters größter Tag gewesen.«

Der Meister sah dem Majordomus ins Gesicht. »Vielleicht hast du recht,« sagte er.

Und die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände in den weißen Bart vergraben, blieb er auf dem Rande seines Bettes sitzen.

»Meister, es friert Sie,« sagte der Majordomus, der sah, wie ihm die Glieder zitterten.

»Ja,« antwortete der Meister. »Gute Nacht.«

Der Majordomus ging.

Claude Zoret mußte sich wieder im Bett aufrichten. Atemnot überkam ihn. Es war, als wolle sein Herz stillstehen, während seine geöffneten Lippen nach Luft rangen.

 

Der Majordomus öffnete den drei Ärzten, die aus dem Schlafzimmer kamen, die Tür, während Charles Schwitt seine Blicke auf ihre Gesichter richtete.

Die drei Herren sprachen in einer Ecke des Zimmers hastig und leise miteinander. Schlank, in den schwarzen Röcken, mit den glatten Gesichtern, sahen sie aus wie drei Geschworene in einem Gerichtssaal. 213

Als zwei von ihnen gegangen waren, trat Charles Schwitt auf den dritten zu und fragte ihn: »Wie steht es?«

Der Arzt antwortete: »Ebenso.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Ebenso, das heißt – das Ende.«

Eine Sekunde war es ganz still, und die beiden Männer waren gleich blaß.

Dann sagte Charles Schwitt, der sich auf den Tisch stützte, an dem er stand, und seine Stimme war fast tonlos: »Wird es schwer werden?«

Herr Brouart sah ihn nicht an.

»Wir wissen es nicht,« sagte er, »aber Claude Zoret ist stark.«

Und in etwas leiserem Ton fragte er: »Wann kommt der Notar?«

»Wir erwarten ihn jeden Augenblick.«

»Das ist gut.«

Und etwas lauter oder etwas härter fragte der Arzt: »Und wo ist Herr Michael? Der Meister fragt nach ihm. Es macht ihn unruhig.«

Charles Schwitt antwortete, die Augen auf den Boden geheftet: »Es ist ein Bote nach ihm geschickt worden – wieder.«

Herrn Brouarts Gesicht verzog sich.

»In zwei Stunden komme ich wieder,« sagte er und ging.

Als der Arzt ins Vestibül kam, klingelte das Telephon von neuem mit einem schrillen Ton durch das Haus, das so still war, als sei es unbewohnt.

»Sorgen Sie für absolute Ruhe,« sagte er zum Majordomus, der ihm Hut und Mantel reichte.

»Ja, Herr Doktor,« sagte der Majordomus, »aber die Zeitungen fragen unablässig durchs Telephon an, wie es geht . . .«

»Welche Zeitung?« fragte der Arzt den Majordomus, der ans Telephon getreten war.

»Le Temps« antwortete Jacques. 214

Und Herr Brouart, dessen Gesicht einen anderen, einen gleichsam geschäftsmäßigen Ausdruck bekommen hatte, ging, als er den Namen der Zeitung gehört hatte, selbst ans Telephon und sprach in den Apparat hinein, lange und ausführlich, als hielte er einen Vortrag in der Fakultät – während der Majordomus, der seine Worte hörte, plötzlich seine Lippen zu bewegen begann, als murmele er ein ganz mechanisches Gebet.

Der Arzt sprach noch immer am Telephon: »Ja, es scheint eine plötzliche Lähmung der Herzklappen eingetreten zu sein. Ich wurde um zwei Uhr gerufen. Ich hatte die Katastrophe vorausgesehen und darum vor Aufregungen gewarnt.«

»Adieu,« Doktor Brouart klingelte ab. »In zwei Stunden bin ich wieder hier,« sagte er und stieg vor der Haustür in seinen Wagen.

Denis kam ins Vestibül, vorsichtig die Treppen hinaufschleichend. »Wie geht's?« fragte er und sah den Majordomus an. Seine Kutschermaske war gleichsam von ihm abgefallen und er hatte durch die Angst sein besorgtes Bauerngesicht wiederbekommen.

»Wie geht's?« wiederholte er, als der Majordomus nicht antwortete. »Was hat er gesagt?«

Der Majordomus antwortete noch immer nicht. Er stand mit gefalteten Händen mitten in der Halle.

Und Denis setzte sich, ohne weiter zu fragen, auf eine Stufe der Treppe, seltsam fröstelnd, in einer wunderlichen Stellung, als säße er vor einem Feuer, das ausgegangen war – bis er schließlich zum Majordomus aufsah, der sich mit unablässig murmelnden Lippen auf seinen Stuhl gesetzt hatte, und sagte: »Die Pferde wollen nicht fressen,« worauf er wieder in seine frühere Stellung zurückfiel.

Es wurde heftig an der Haustür geklingelt. Jules kam hereingestürzt.

»Herr Michael war nicht zu Hause,« sagte er. 215

Der Majordomus hatte sich plötzlich erhoben. Man sah einen Augenblick, was für ein Riesenkerl er war.

»Melde es,« sagte er.

Und ohne es selbst zu wissen hatte er den gotischen Stuhl in seinen Armen hochgehoben und ihn wieder sinken lassen.

Jules stieg die Treppe hinauf und ging dorthin, wo Charles Schwitt vor der Schlafstubentür einsam und zusammengesunken auf einem Stuhl saß.

»Herr Michael war nicht zu Hause,« sagte Jules schon von weitem. Charles Schwitt hatte den Kopf gehoben. Jules hätte sein Gesicht kaum wiedererkannt.

»Es ist gut,« sagte Schwitt.

Als Jules auf die Treppe hinaus kam, traf er den jüngsten Koch, der in seinem weißen Anzug aus dem großen Speisesaal kam.

»Wie steht es?« flüsterte der junge Mann, dessen Gesicht unter dem in die Stirn gekämmten Haar bleich war.

»Es ist wohl bald zu Ende,« flüsterte Jules, dessen Augen vor Angst blank waren.

Und sie blieben dicht aneinandergedrängt auf dem dunklen Absatz stehen, während das Telephon unten von neuem klingelte.

Charles Schwitt öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer.

Doktor Brouarts Assistent erhob sich aus dem Halbdunkel im Schatten des großen Bettes.

»Der Meister schlummert,« flüsterte er.

Charles Schwitt sagte nichts. Sie saßen schweigend jeder in seiner Ecke und lauschten den stoßweisen Atemzügen des Meisters.

Plötzlich öffnete der Meister die Augen und wollte den Kopf wenden: »Wer ist hier?« fragte er.

»Ich bin es,« sagte Schwitt, der sich erhoben hatte.

Der Kranke bewegte den Kopf.

»Danke,« sagte er und schloß die Augen wieder. 216

Sie schwiegen einen Augenblick. Dann flüsterte der Assistent: »Der Meister wartet.«

Schwitt beugte den Kopf.

»Aber der Notar kommt wohl bald,« sagte der Assistent wieder.

Charles Schwitt war aufgestanden und stand am Fußende des Bettes, den Blick auf des Meisters Brust geheftet.

Man hörte in der Stille eine Tür gehen, und der Meister hob jäh den Kopf.

»Wer ist gekommen?« sagte er und starrte Charles Schwitt an.

»Niemand.«

»Niemand,« sagte der Meister, und sein Kopf fiel zurück. Nur die langen Wimpern zitterten auf den gelben Wangen. Plötzlich aber schlug er wieder die Augen auf, und furchtsam, oder als ob der Laut ihn schmerze, sagte er: »Kommt Michael?«

»Ja, er kommt.«

»Danke.«

Schritte tönten durch das Haus, viele Schritte auf allen Treppen.

»Claude,« sagte Schwitt, als wolle er ihn rufen, »Claude. Der Notar.«

»Es ist gut,« sagte er.

»Gut,« flüsterte der Meister.

Er wollte sich aufrichten, aber sein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

»Laß Jacques kommen,« sagte er.

Der Majordomus legte die Kissen zurecht, damit der Meister halb aufgerichtet sitzen konnte.

»Danke,« sagte er, »mach Licht.«

Der Majordomus drückte auf den Knopf und alle Lampen flammten auf.

»Führe sie herein,« sagte der Meister.

Herr Roux trat ein. Ihm folgten zwei andere Herren.

Der Meister beugte den Kopf und alle betrachteten ihn, 217 wie er weiß unter dem dunkelroten Betthimmel in dem starken Licht dalag.

»Bringen Sie das Dokument?« fragte er und seine Stimme war ganz klar.

»Ja, Meister,« antwortete der junge Advokat, der das Notariat von seinem Vater geerbt hatte und unter dem frisierten Haar ganz bleich war.

Und er fragte, während seine Stimme leicht zitterte: »Soll ich es Ihnen vorlesen, Meister?«

»Nein,« antwortete der Meister, »ich will es selbst lesen.«

Die Finger des jungen Mannes konnten kaum das Schloß der Mappe öffnen.

»Hier, Meister,« sagte er und reichte Claude Zoret das Dokument.

Der Meister nahm es, und plötzlich richtete er sich ganz in seinem Bett auf, und aufrecht sitzend – entweder weil diese Stellung ihn weniger schmerzte oder aus der Ehrfurcht des Bauern vor einer gerichtlichen Handlung – las er die Worte des Testamentes. Alle hatten die Köpfe geneigt. Nur Charles Schwitt betrachtete ihn unverwandt.

»Ich, Claude Zoret, dessen Gattin verstorben und der auf der Welt vereinsamt ist, verfüge hierdurch als meinen wohlüberlegten und letzten Willen, daß bei meinem Tode alles was ich hinterlasse . . .«

Die Stimme des Meisters wurde deutlicher, als wäre jedes Wort eine Schraube, die er in einen Stein bohre, während die Notare gesenkten Hauptes warteten und Charles Schwitt so weiß war wie das Bettuch, das er unbewußt umkrampfte.

Der Meister aber fuhr fort zu lesen: ». . . meine ganze bewegliche und unbewegliche Habe, sowie Effekten aller Art, meinem Pflegesohn Eugene Michael, geboren zu Prag den 8. Februar 1880, zu Recht und Eigentum zufallen sollen; so daß der genannte Eugene Michael meine ganze Hinterlassenschaft antreten soll . . .« 218

Der Meister hielt eine Sekunde inne, und Charles Schwitt hatte den Blick starr auf ihn gerichtet.

»Als mein alleiniger Erbe.«

Der Meister hielt inne – alle schwiegen.

»Ja,« sagte der Meister: »So ist es richtig.«

Und zum Majordomus gewandt sagte er: »Reich mir die Feder.«

Der Majordomus gab sie ihm und, das Dokument gegen die Mappe des Notars gestützt, während die beiden roten Siegel wie zwei leuchtende Blutflecke auf der Decke lagen, schrieb Claude Zoret seinen Namenszug – während die Notare erhobenen Hauptes dabei standen.

»Gut,« sagte der Meister. »Nun Sie.«

Und seine Augen folgten einem jeden, der als Zeuge unterschrieb, mit den Blicken des Bauern, der bis zum Letzten mißtraut.

»Jetzt kann nichts mehr daran geändert werden?« fragte er und stützte sich plötzlich auf den Bettrand.

»Nein, Meister.«

»Danke,« sagte der Meister.

Und er verabschiedete die Herren, indem er die Hand hob. Der Majordomus begleitete die drei Herren hinaus, während Charles Schwitt neben dem Bett stehenblieb.

Die Augen des Meisters ruhten auf dem Bettuch.

»Jetzt steht es geschrieben,« sagte er, und plötzlich lösten sich zwei Tränen aus seinen Augen, die im Leben so selten weinen konnten. Er sank in seine Kissen zurück. Seine Augenlider waren geschlossen. Er atmete mühsam. Nur wenn eine Tür ging oder Schritte ertönten, glitt ein Zucken über sein Gesicht, wie bei jemand, der lauscht und wartet. Plötzlich richtete er sich halb im Bett auf.

»Lösch das Licht,« flüsterte er und fiel wieder zurück.

Charles Schwitt löschte das elektrische Licht und der Meister lag im Dunkeln.

Als die Notare hinunterkamen, war das Vestibül voller 219 Menschen, einige zwanzig Leute, die laut durcheinander sprachen und abwechselnd ans Telephon gingen. Zwei Herren, mit offenstehenden Überziehern und Zylindern auf dem Kopf gingen auf Herrn Roux zu und sagten: »Endlich erfährt man doch etwas. Lieber Freund, hier ist ja keine Seele, die den Zeitungen Aufschluß geben kann.«

Drei Herren, die aus dem Theater kamen und im Frack waren, interviewten Herrn Brouarts Assistenten, der eine Zigarette rauchte und fortwährend wiederholte: »Ein sehr interessanter Fall . . . Die Herzklappen versagen den Dienst. Wir wurden um zwei Uhr zwanzig gerufen.«

Und indem der Assistent sich geschäftig zu einem anderen Herrn von der Presse wandte, sagte er: »Mein Name ist Fabre, Fabre,« wiederholte er und fuhr fort: »Wir wurden um zwei Uhr zwanzig gerufen. Aber Herr Claude Zoret war schon heute nacht krank geworden.«

Ein Zeichner vom Matin hielt Jules in einer Ecke fest und fragte ein Mal über das andere: »Wo steht das Bett, wo im Zimmer steht das Bett?«

Und zu einem Kollegen gewandt, sagte er: »Wir ätzen unsere Klischees innerhalb zwei Stunden.«

Wieder klingelte es an der Haustür.

Es war ein Korrespondent des »New York Herald«. Er war dünn wie ein Rosenstock und sagte zu seinem Kollegen: »Das Kabel wartet bis Mitternacht.«

Der Majordomus hatte Herrn Roux zu seinem Wagen geleitet. Der Wagen des Notars konnte wegen der Fahrzeuge all der Journalisten nicht von der Stelle kommen.

Als Jacques zurück kam, fragte ein Herr vom Temps ihn, ob Herr Charles Schwitt nicht anwesend sei.

Der Zeichner vom Matin lachte, daß es laut durch den Raum schallte: »Ja, fragen Sie den nur. Da bekommen Sie sicher was zu wissen. Der wird sich hüten, seine eigenen ›Erinnerungen‹ zu plündern.« 220

Der Majordomus hatte nicht geantwortet.

Als aber einer der Befrackten, dicht bei der Treppe, mit dem Telephonhörer am Ohr stand, ergriff der Majordomus plötzlich den Hörer, daß der Herr ihn loslassen mußte.

Jacques ging weiter, indem er alle Türen so fest hinter sich zuzog, als wolle er sie verriegeln.

Der Meister drehte mühsam den Kopf, als er eintrat.

»Wer ist da?« fragte er leise.

»Ich bin es nur, Meister,« antwortete Jacques.

»Du?«

Der Meister biß sich auf die Lippe.

»Richte mich auf,« sagte er plötzlich.

Die Atemnot kam wieder.

Schwitt und Jacques hoben den stöhnenden Körper, während des Meisters gelbes Gesicht blau wurde.

»Den Doktor, den Doktor,« rief Schwitt.

Jacques stürzte vom Bett fort und rief durch die Zimmer: »Doktor, Doktor . . .«

»Ja, ja,« antwortete der Arzt unten.

»Doktor, Doktor . . .«

»Ja.«

Der Arzt war die Treppe hinaufgeeilt. Der Ruf aber tönte noch immer angstvoll durch die Türen, die Treppen hinunter, wo die Journalisten sich drängten, während der Herr vom »Herald« bedächtig ans Telephon ging, um mit dem Recht des Besitzers der erste Mann zu sein.

Der Anfall war vorüber.

Der Doktor stand am Bett des Meisters, als er seine Augen öffnete.

»Macht auf,« flüsterte er.

»Macht auf – – macht die Tür zum Badezimmer auf.«

»Ja, Meister«

»Schafft mehr Luft. Mehr Luft.

»Ja, Meister.« 221

Der Majordomus öffnete die Tür zum Badezimmer, und der Meister blickte wieder zum Arzt auf.

»Wer ist hier?« fragte er.

»Wir,« antwortete der Arzt.

Claude Zorets Lippen preßten sich aufeinander.

»Wo ist Schwitt?« sagte er.

»Ich bin hier,« sagte Schwitt, der gegen das Bett gelehnt stand.

Der Meister richtete die Augen auf ihn: »Setz dich hierher,« sagte er. »Und schick die andern hinaus.«

Der Arzt und der Majordomus gingen hinaus, während Charles Schwitt sich auf den Bettrand setzte. So in nächster Nähe des Meisters fühlte er dessen Körper unter der Decke beben.

Der Meister hatte den Kopf gewandt und sprach langsam. Sein Gesicht leuchtete durch das Halbdunkel.

»Charles,« sagte er, »willst du mir versprechen, daß du mich daheim begraben läßt, wenn ich tot bin, daheim bei den ›Quellen‹, woher ich stamme? Dort inmitten der Äcker will ich ruhen, dort, wo die Saat keimt und das Gras grünt. Dort will ich einsam ruhen. Und bald wird niemand mehr wissen, wo das verborgen liegt, was sich einst Claude Zoret nannte.«

Der Meister hatte die Augen geschlossen.

Im Badezimmer hörte man einen vereinzelten Tropfen langsam fallen.

»Versprichst du es mir?« sagte der Meister.

»Ja, Claude, ich verspreche es dir.«

Der Meister blickte ihm fest ins Gesicht, als wolle er ihm einen Eid abnehmen.

»Und ihr sollt mich an einem Morgen begraben, wenn die Sonne aufgeht, und niemand soll den Ort kennen, wo ich begraben ward.«

»Ich verspreche es dir.«

»Und niemand soll einen Stein mit meinem Namen 222 setzen, so lange dein Wort etwas gilt – versprichst du mir das?«

»Ich verspreche es dir.«

Ein Schluchzen drängte sich über Charles Schwitts zusammengepreßte Lippen. Der Meister aber sagte ruhig: »Denn Menschen sollen nicht Gedenksteine errichten für jemand, den sie nicht kannten.«

Charles Schwitt hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt, aber die Tränen, die seinen Augen entströmten, quollen zwischen den Fingern hervor.

»Claude, du weißt doch, wer du warst.«

Der Meister aber öffnete seine zuckenden Lippen und sagte: »Ich war nichts. Wer zählt, Charles? Keiner von uns.«

Und während ein furchtbarer Ruck seinen Riesenkörper zum Zittern brachte, sagte er: »Mein Leben waren einige Bilder . . . die ich mit dem Blut einiger Herzen gemalt habe.«

Die Tür wurde geöffnet, und der Meister wandte hastig das weiße Gesicht.

»Wer ist da?« fragte er schnell.

»Ich bin es nur,« antwortete Jacques.

»Du bist es,« flüsterte der Meister und schloß die Augen. Fassungslos, von einem Schmerz durchwühlt, der sein ganzes Gesicht verzerrte, hatte Charles Schwitt sich vom Bettrand erhoben und ging hinaus. Auf dem Wohnzimmertisch nahm er ein Stück Papier, und mit Bleistift schrieb er, mit einer Schrift, die kaum zu lesen war:

»Claude Zoret liegt im Sterben. Charles Schwitt.«

Er steckte das in ein Kuwert und schrieb die Adresse, bevor er klingelte. »Für Herrn Michael,« sagte er zu Jules, der hereinkam. »Und sofort.«

Als Charles Schwitt hinausgegangen war, hatte der Meister den Kopf gehoben.

»Jacques,« rief er.

»Ja, Meister.« 223

»Komm hierher.«

Der Majordomus trat ans Bett.

»Hier bin ich, Meister,« sagte er.

Plötzlich schlang Claude Zoret seine Arme um den Hals des Majordomus.

»Jacques,« sagte er und starrte seinem Diener ins Gesicht, als wolle er dessen Mund die allerletzte Wahrheit entringen. »Ist nach Michael geschickt worden?«

»Ja, Meister.«

Die Arme fielen schlaff herab und der Meister sank in die Kissen zurück.

»Bist du es, Charles?« fragte er, als Schwitt wieder hereinkam.

»Ja, Claude.«

Der Meister lag eine Weile mit geschlossenen Augen. Dann sagte er: »Wo ist meine Uhr?«

Schwitt nahm sie.

»Hier,« sagte er.

»Häng sie dorthin,« sagte der Meister, »wo ich sie sehen kann.«

»Ja.«

Charles Schwitt hängte sie an die bezeichnete Stelle.

»Danke,« sagte der Meister.

Er sprach nicht mehr. Seine Augen folgten unverwandt dem vorwärtsschreitenden Zeiger der Uhr.

Charles Schwitt hatte seine Hand um die Kante des Stuhles gepreßt.

Er las des Meisters Gedanken.

 

Michaels Wagen fuhr vorm Gartengitter vor, und Michael sprang heraus, um Frau de Zamikof beim Aussteigen behilflich zu sein.

Der junge Diener öffnete die Tür und sagte: »Es ist ein Bote von Herrn Claude Zoret dagewesen und Jules hat einen Brief gebracht.« 224

Michael machte eine ungeduldige Bewegung.

»Wo ist er?« fragte er.

»Ich habe ihn oben hingelegt,« sagte der Diener mit einer Verbeugung.

Frau de Zamikof und Michael gingen hinauf. Der Brief lag auf dem Toilettentisch.

»Er ist von Schwitt,« sagte Michael, nachdem er die Aufschrift gelesen hatte.

Und vielleicht aus Furcht oder von einem plötzlichen Unwillen ergriffen, der seine Angst verbarg, sagte er zu Lucia: »Öffne du ihn!« . . . und er öffnete ihn trotzdem selbst und las ihn und stand starr, während der Schweiß ihm in Perlen auf die Stirn trat.

»Was ist?« fragte Lucia und schob hastig ihren Nacken zwischen Michaels Gesicht und den Brief, den er in der Hand hielt.

Und angesichts des Todes oder vielleicht vom Tode getrieben, drückte Michael seine Lippen unter Lucias hochgekämmtes Haar.

Aber indem er von neuem vor sich hinstarrte und sich selbst belog – denn seine Furcht galt etwas anderem – sagte Michael: »Lucia, ich habe nie jemand sterben sehen.«

Lucia hatte schon ihren Mantel geöffnet.

»Soll ich dich begleiten?« sagte sie und nestelte die Spange wieder zu: »Ich kann mir in der Rue de Rivoli einen Wagen nehmen und zurückfahren.«

Sie war schon einige Schritte vorangegangen und Michael folgte ihr.

Sie gingen die Treppe hinunter und traten in den Garten hinaus, dicht aneinandergeschmiegt.

»Wie die Veilchen duften,« sagte Lucia.

»Ja.«

»So früh im Jahr.«

»Ja.« 225

Sie gingen am Kai entlang, dann über die Brücke.

»Sieh, es ist Vollmond,« sagte Lucia.

»Ja,« sagte Michael und hob das Gesicht. »Er stirbt bei Vollmond.«

Sie traten in die Dunkelheit des Louvre-Tores, als Michael plötzlich fragte: »Lucia, wie denkst du eigentlich über den Tod?«

Lucia wandte ihm rasch ihr leuchtendes Gesicht zu: »Daß wir leben,« sagte sie.

Und wie berauscht vom Siegesschein des Glückes in ihrem Gesicht, von dem Klang ihrer Stimme und dem Zittern ihrer Schultern, das er durch ihren Mantel hindurch spürte, beugte Michael sich über sie und flüsterte ihren Namen: »Lucia, Lucia, Lucia,« ohne Aufhören.

Sie kamen in den Hof der Tuilerien.

Der ganze mächtige Platz mit seinen Statuen lag im weißen Mondlicht. Kein Mensch weit und breit. Die beiden waren allein. Kein Laut war zu hören. Sie waren ganz allein.

»Wie ist es schön hier,« flüsterte Lucia.

»Ja, es ist schön,« antwortete Michael flüsternd wie sie.

Sie waren mitten auf dem Platz stehen geblieben.

Die goldenen Spitzen des Gitters leuchteten im Mondschein wie hunderte von Freudenkerzen, die angezündet sind, und die goldenen Kugeln der Säulen schienen wie neue Weltkörper durch die nächtliche Luft zu gleiten.

»Lucia, Lucia, meine Geliebte.«

Und mitten im Mondlicht, während die Gitter wie Flammen leuchteten, schlang Michael seine Arme um Lucias Hals.

»Lucia, Lucia,« rief er, »bin ich jetzt dein Gatte?«

»Ja, mein Geliebter.«

»Dein Mann?«

»Ja, mein Geliebter.«

»Der einzige Mann für dich?« 226

»Geliebter.«

»Der einzige Mann auf der ganzen Welt?«

»Ja – so lange ich dich liebe.«

»Du Ehrliche, du Ehrliche,« flüsterte Michael ihr unter dem Regen seiner Küsse zu.

Und in einem Jubel, der sein ganzes Wesen zu sprengen schien, stürmte er über den Platz hin, rief ihren Namen, schleuderte ihren herrlichen Namen heraus, Mauern, Steinmassen, Dächer in den Klang ihres geliebten Namens einfangend: »Lucia, Lucia.«

Und plötzlich reckte er die Arme im Licht des Mondes in die Höhe – und es war, als hielte er ein flammendes Schwert in der Hand: »Lucia, Lucia, sieh . . .«

Er zeigte auf die Mauer des Louvres.

»Sieh, wie die Steinmänner die Augen aufreißen – Lucia,« und er lief zurück und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Sie haben noch nie – noch niemals zwei Menschen gesehen, die sich lieben.«

Sie blieben einen Augenblick stehen.

Dann fuhr ein Wagen über den Platz. Und alles vergessend, alle, die lebten, und alle, die sterben sollten – riefen sie den Wagen an und sprangen hinein.

»Nach Hause,« rief Michael, »nach Hause.«

 

Der Meister hatte nicht gesprochen.

Der Majordomus öffnete die Schlafstubentür. Der Meister aber rührte sich nicht. Unverwandt betrachtete er den vorwärtsschreitenden Zeiger der Uhr, während Charles Schwitt an seinem Bett saß.

Sie hörten lange das Fallen der Tropfen und das Ticken der Uhr, während des Meisters Brust nur schwach atmete.

Plötzlich wollte Claude Zoret den Kopf wenden.

Aber er vermochte es nicht mehr.

»Was willst du, Claude?« flüsterte Schwitt und beugte sich über den Meister. 227

»Nimm die Uhr fort,« sagte der Meister. »Ich kann sie nicht mehr erkennen.«

Charles Schwitt erhob sich und wollte die Uhr nehmen. Aber sie entglitt ihm und fiel auf die Bettdecke.

»Wo ist sie?« fragte der Meister und Charles legte die Uhr in Claude Zorets eiskalte Hand. »Sie soll dir gehören,« sagte der Meister und drückte die Uhr dem Freunde in die Hand.

Er lag eine Weile still.

Dann sagte er: »Jacques, wo bist du?«

»Ich bin hier, Meister,« antwortete der Majordomus, der ans Bett trat. Er konnte seinen großen Körper kaum aufrecht halten.

»Dank, mein Freund, Dank für alles,« sagte der Meister und tappte nach seiner Hand, während es sich wie ein leises, letztes Schluchzen aus seiner Kehle rang: »Und vergiß mich nicht.«

Die Tränen rannen dem Majordomus über die Backen und fielen auf des Meisters Hand.

»Jacques, mein Freund,« sagte der Meister, »um mich mußt du nicht weinen. Ich gehe dorthin, wo das Herz Ruhe hat.«

Er lag mit halb gebrochenen, aber noch immer offenen Augen. Weiß und unbeweglich unter seiner Decke sah er aus wie eine Steinfigur auf einem Sarkophag.

Plötzlich ging ein Lächeln über sein Gesicht, ein Lächeln von Wehmut oder von mildem Schmerz.

»Weshalb lächelst du, Claude?« fragte Schwitt leise.

»Ja, Charles,« sagte der Meister und sprach ganz deutlich: »jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich habe eine große Liebe gesehen.«

Charles Schwitts Kopf sank auf seine Brust herab.

Der Meister aber hatte die Augen geschlossen und sprach nicht mehr. Die Tür ging. Es war Brouart. Am Bette stehend, betrachtete er das Gesicht des Meisters. 228

Er fühlte den Puls. Er war nicht mehr zu spüren.

»Den Spiegel,« sagte er und wandte sich dem Assistenten zu.

Der junge Mann reichte ihm den Spiegel, und der Arzt hielt ihn vor die Lippen des Sterbenden.

Der Majordomus war in einer Ecke des Zimmers niedergesunken und betete seine lautlosen Gebete.

Charles Schwitt hatte sich erhoben. Ausdruckslos starrten seine Augen ins Leere.

Der Arzt hob den Spiegel. Mit einem seidenen Tuche wischte er den Hauch ab, der ihn bedeckte, und hielt ihn von neuem vor des Meisters Lippen.

Keine Bewegung ging mehr durch den stillen Körper.

Jacques hatte sich erhoben, und Charles Schwitt drehte plötzlich den Kopf, als der Arzt den Spiegel von neuem hob. Die Fläche zeigte nicht den geringsten Hauch.

»Es ist vorbei,« sagte der Arzt leise und legte den Spiegel fort. Der Majordomus schluchzte laut, während Charles Schwitt, weiß, mit zusammengepreßten Händen, zu Füßen des Toten stehen blieb.

Der Assistent aber war, mit der Uhr in der Hand, bereits hinuntergegangen, um die Herren Journalisten zu benachrichtigen.

Als Charles Schwitt hinunter kam, war das Vestibül leer. Nur einige vergessene Abendzeitungen und ein paar Zigarrenstummel lagen hier und da umher.

Als Charles Schwitt aber auf die Straße hinauskam, hielt eine Droschke vor der Tür und ein Herr sprang aus dem Wagen: »Lieber Kollege,« sagte er und reichte Charles Schwitt eine Visitenkarte, »es ist selbstverständlich, daß ein Gentleman Sie nicht in Ihrem Schmerz stören will, in Ihrem tiefen Schmerz . . . Aber eine Frage werden Sie mir erlauben: Wer, mein Herr, wird die Totenmaske nehmen?«

Charles Schwitts Gesicht bebte: »Mein Herr, jetzt soll 229 hier endlich Ruhe sein,« sagte er und hob die Hand wie zum Schlage.

Der pelzgekleidete Herr von der Presse erschrak und zog sich einige Schritte zurück.

Aber mitten auf dem Trottoir drehte er sich wieder um und sagte mit einer halben Verbeugung: »Gestorben ist er doch um zwölf?« und er fügte hinzu: »Sie wissen doch, mein Herr, daß das Publikum unterrichtet werden muß.« Der Journalist sprang in seinen Wagen. Sein Gesicht war ganz verzerrt vor Wut. Er wollte es ihm gedenken, diesem Reklamehelden, diesem Herrn Charles Schwitt. Als ob das Publikum nicht ein Recht hätte, unterrichtet zu werden.

Als der Journalist über den Place de la Comedie fuhr, streckte er plötzlich den Kopf aus dem Fenster.

Er hatte Herrn Leblanc über den Platz stürzen sehen, und er rief den Kunsthändler an.

Herr Leblanc kam mit ganz verstörtem Gesicht auf den Wagen zugelaufen: »Wissen Sie es schon, Verehrtester,« sagte er: »Wissen Sie es schon . . .«

»Ja,« antwortete der Herr von der Presse. »Ich komme eben daher. Er starb um zwölf Uhr.«

Herr Leblanc war mit in den Wagen gestiegen: »Um zwölf,« wiederholte er ganz verwirrt.

Der Herr von der Presse aber sagte, wie einer, der seinen Vorteil an der Börse wahrt: »Haben Sie etwas von ihm an der Hand?«

Herr Leblanc war ganz benommen: »Aber Bester,« sagte er, »aber Bester, ich habe ja gerade heut alle seine Studien aus Algier erworben.«

Der Journalist sah ihn an. »Das ist ein Vermögen,« sagte er.

Und indem er in Gedanken eiligst drei Reklameartikel für seine Zeitungen zusammenstellte, fügte er hinzu, wie jemand, der bereits seinen Anteil an einem Unternehmen einstreicht: »Auf mich können Sie sich ganz verlassen.« 230

Charles Schwitt ging durch den Hof des Louvres, über die Brücke, am Kai entlang, in Michaels Garten hinein.

Alles war dunkel.

Einen Augenblick stand Charles Schwitt vor dem schweigenden Hause.

Dann rief er zum Balkon hinauf: »Herr Michael, der Meister ist tot.«

Es klang wie ein Steinwurf gegen die geschlossenen Fenster.

Dann ging er.

Michael hatte sich im Bett aufgerichtet. Er zitterte am ganzen Körper.

Lucia aber umschlang ihn mit ihren Armen.

»Sei ruhig,« flüsterte sie und drückte seinen Kopf in die Kissen zurück.

»Sei still. Ich bin bei dir.«

 


 


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