Herman Bang
Michael
Herman Bang

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1

Der Meister öffnete die Tür zum Balkon und trat hinaus. Seine Augen waren leicht zusammengekniffen, entweder weil sie das Werk, das seine Gedanken endlich verlassen wollten, noch zu sehen sich bemühten, oder vielleicht nur, weil sie vom Tageslicht geblendet wurden.

Er setzte sich in den gewohnten Stuhl. Sein mächtiger Bart, dessen weiße Streifen wie seltsame Wellen durch das Schwarz rannen, reichte fast bis zum Geländer hinab, und er drückte nach beendetem Tagewerk seine Hände einen Augenblick gegen das Eisen des Gitters, als stemme er sie gegen einen unerschütterlichen Felsen.

Michael saß wie gewöhnlich, das schlanke Kinn gegen die Balustrade gestützt, und starrte in die Luft. Einige Skizzen lagen in seinem Schoß, als wären sie vergessen.

Der Diener erschien in der Tür mit der Post und Visitenkarten, die er dem Meister auf einem Tablett reichte. Der Meister las die Karten und ließ sie auf das Tablett zurückgleiten, als hätte keine von ihnen einen Namen getragen. Er behielt eine einzige, die er oben in seine Weste hineinschob.

Dann griff er nach den Zeitungen. Die meisten waren unter Kreuzband, mit blau eingerahmten Spalten.

»Was schreiben sie?« fragte Michael und hob den Kopf. 10

»Von der Ausstellung in Melbourne.«

»Was?« fragte Michael und sah Claude Zoret ins Gesicht.

»Was sie immer schreiben,« sagte der Meister, der die Lippen nur ganz wenig öffnete, wenn er sprach, und schob die Zeitungen beiseite.

Michael richtete sich in seinem niedrigen Stuhl auf und breitete die Zeitungen vor sich auf dem Geländer aus, während er im Eifer jeden Augenblick sich das lange, dunkle Haar aus der Stirn strich, als hindere es ihn am Lesen.

Der Meister rührte sich nicht. Ruhevoll lag sein Blick auf dem Garten der Tuilerien, wo der beginnende Abend seine rieselnden Schleier bereits über die Schultern der Statuen herabsenkte und die Schatten der Lorbeerbäume vertiefte, und in seinem Blick war ein Ausdruck, wie seine Bauernvorfahren ihn gehabt hatten, wenn sie am Abend vor ihren Äckern saßen.

Claude Zoret wandte den Kopf.

»Du kannst ja gar nicht Englisch lesen,« sagte er.

»Doch, etwas,« sagte Michael und blieb über die Zeitungen von Melbourne gebeugt sitzen.

Der Meister hob die Skizzen auf, die von Michaels Schoß herabgeglitten waren, und er betrachtete sie: Wieder ein paar hingestreckte Frauenkörper. Bei der einen Skizze war der Kopf nicht vollendet oder vergessen. Die andere zeigte nicht viel mehr als eine Hüfte.

Weiter kam Michael nie. Ihm gelang eine Brust, eine Lende, ein Nacken, ein Hals, aber nie erfaßte er den ganzen Körper.

Aber – und der Meister hielt die Skizzen etwas von sich ab – die Linien waren gut.

Ja, sie waren gut.

Der Meister lächelte.

Natürlich, die Skizzen waren schon signiert. Unter jeder 11 Studie stand stets in seiner wunderlich verschwimmenden, oder vielleicht eher verwickelten Handschrift, denn jeder Buchstabe griff fest in den andern: Eugene Michael, und der Strich unter dem Namen war wie gestickt mit seinen drei Punkten.

Claude Zoret hob wieder den Kopf, und ohne daß er es selbst wußte, saugten seine Augen die Farbe des Himmels ein, die in dem zunehmenden Abend blasser und blasser wurde, von einem eigenartigen, weißlichen Blau, ähnlich dem allerersten Schimmer vom allerersten Licht eines Sommermorgens.

Auch Michael hatte den Kopf gehoben und betrachtete den Himmel. Wenn er so aufrecht saß wie jetzt, hob sein dunkles Haar sich fast wie ein Helm über seinem Kopf.

»Wie seltsam der Himmel gefärbt ist,« sagte er; und er versuchte wieder zu lesen, während der Lärm der Rue de Rivoli zu ihnen heraufstieg wie ein brausender Strom von Lauten, in dem man keine einzelnen Töne unterschied.

Ein paar Augenblicke sprach niemand, bis Michael von neuem die Augen hob und lange zum Himmel hinaufsah: »Weißt du,« sagte er, »ist es nicht seltsam? Diese Farben habe ich zu Hause über dem Hradschin an Maimorgen gesehen.«

Der Meister lachte kurz auf: »Bist du so zeitig aufgestanden?«

»Ja, damals,« sagte Michael und las weiter.

Der Meister rollte, ohne es zu wissen, Michaels Skizzen zusammen und hielt sie in seiner geschlossenen Hand, während er den Lesenden betrachtete:

Seine Glieder waren so stark geworden. Sein Körper bekam Muskulatur. Er wuchs sich aus. Diese Linien – und unwillkürlich führte Claude Zoret die Skizzenrolle durch die Luft – hatten sich verändert, seit er ihn als »Alkibiades« und als »Sieger« gemalt hatte. 12

Aber das war auch fünf Jahre her – und die Augen des Meisters bekamen einen Ausdruck, als läsen sie die fortschreitenden Jahreszahlen auf seinen eigenen Bildern – ja, wirklich fünf Jahre, seit er den Sieger gemalt, und über fünf Jahre, seit er die Studien im Hradschin gemacht hatte.

Wie deutlich er sich jener Zeit entsann. Die Atmosphäre von Prag, wie merkwürdig sie der Atmosphäre von Montmartre glich, dieselben Farbentöne, ganz dieselbe Stimmung. – – Und in Prag war dann Michael zu ihm gekommen.

Jeden Abend, wenn er vom Hradschin nach Hause kam, hatte der Portier des Hotels zu ihm gesagt: »Der junge Mensch ist da,« und jeden Abend hatte er geantwortet: »Morgen.« Bis er schließlich eines Abends, halb in Wut, gesagt hatte: »Wieder, na, meinetwegen, lassen Sie ihn kommen.« Und Michael war in sein Zimmer getreten und an der Tür stehen geblieben, die Knie leicht gebeugt, das regelmäßige Gesicht ganz weiß, die Stirn von Schweißtropfen bedeckt, Perle an Perle. »Na, was wollen Sie?« – »Ihnen etwas zeigen, Meister.« – »Was?« – »Ein paar Zeichnungen, Meister.« – »So. Zeichnet man in Ihrem Alter? Geben Sie her.«

Und er hatte das Machwerk, die Strichelei, etwas anderes war es nicht, betrachtet. Aber dazwischen waren einige Frauenstudien, die trotzdem . . .

»Setzen Sie sich,« hatte er gesagt: »Ja, wenn Sie Maler werden, werden Sie jedenfalls nichts als Weiber malen lernen.«

Er hatte Michael angesehen, der sich nicht gesetzt, sich nicht gerührt hatte. Noch immer bleich, das Antlitz von Schweiß wie von einem Schleier bedeckt, stand er da – und über dieser Statue der Angst mußte wohl etwas gelegen haben, etwas, das sein Auge fesselte, denn er sagte plötzlich, wie man ein Lebewohl sagt, das man freundlich 13 gestalten möchte: »Hm, Sie, wenn Sie mir in einem Jahr ein Bild bringen, eine Frau, die gemalt ist, richtig gemalt – – dann können wir ja weiter reden.

Im übrigen bin ich kein Mr. Bonnat, ich gebe keine Stunden.«

Und er hatte, als Michael, noch immer bleich, mit weit aufgerissenen Augen, bereits die Tür geöffnet hatte, noch gefragt: »Wie alt sind Sie?« – »Siebzehn Jahr, Meister.« – »Und wie heißen Sie?« – »Michael,« hatte er geantwortet und den Kopf gesenkt.

Nein, er hatte nie einen Menschen gesehen, der so voll und ganz, so bis in die Fingerspitzen hinein der Ausdruck des einen Gefühls war: der Angst. Er hatte ihm die Hand gereicht: »Adieu,« hatte er gesagt und Michaels Hand gefühlt, die eiskalt war wie sein ganzer Körper.

»Adieu, Meister,« hatte Michael geantwortet und hatte wieder den Kopf gesenkt, bevor die Tür zufiel.

Claude Zoret betrachtete noch immer den verblassenden Himmel.

Wo mochten jene Studien vom Hradschin eigentlich sein? Er hatte nie Gebrauch davon gemacht. Als er von Prag heimkehrte, hatte er plötzlich, er erinnerte sich dessen, ganz ohne Grund, ohne greifbare Ursache, einen jener sinnlosen, geistesleeren Anfälle bekommen, in denen er Monate, Tage und Tage, in seiner eigenen Ohnmacht wie ein Bär im Käfig umherirrte oder sich in eine ungeheure Betäubung stürzte, die Wochen zu einer einzigen Nacht machte, aus der ihm nur die Erinnerung an den dumpfen Drang nach Bewußtlosigkeit oder Schlaf zurückblieb.

Ja, gerade damals hatte er solch einen Anfall gehabt, solch verfluchten Anfall. Fast ein halbes Jahr hatte er gedauert. Michael war inzwischen mit seinem Bild gekommen, ein nacktes Weib auf einer Wiese hingestreckt. Viele Monate hatte die Apathie gewährt, bis er plötzlich, fast ohne zu denken, ohne zu überlegen, ohne zu wissen, 14 er, in dessen Gehirn Gedanken und Gestalten sonst halbe Jahre zu lagern pflegten, ganze Jahre, viele Jahre und all seine Gedanken aufsogen, wie ein Schwamm Blut aufsaugt, und ihn quälten, bis er sie wie einen Mühlstein von sich schleuderte – sich unvermittelt über das große Gemälde hergemacht hatte: »Die Athener erwarten die Antwort des Orakels,« bei dem es ihm endlich einmal geglückt war, die elende Todesangst der Menschen zu malen, und wo er Michael in den Hintergrund gestellt hatte, die Knie leicht gebeugt, gerade so wie er damals in Prag an der Tür gestanden hatte.

Und nach der »Angst« hatte er den »Sieger« gemalt.

Michael hatte das Gesicht gehoben.

»Weißt du, was hier steht?« fragte er.

Der Meister antwortete nicht.

Durch die bleiche Luft fiel die Röte des westlichen Himmels wie der Widerschein eines Feuers auf die Dächer des Louvres.

»Weißt du, was hier steht?« wiederholte Michael.

Und als hätte er es auswendig gelernt, sagte er in die Luft hinein: »Hier steht: Es bleibt der Eindruck, daß hoch über alle hinaus Frankreichs Name sich wie ein Banner erhebt, von Claude Zorets mächtigen Händen getragen.«

Der Meister verzog keine Miene, Michael aber stützte den Kopf in die Hände, während er in den Abend hinein sagte: »Wenn so etwas von einem geschrieben würde.«

Der Meister lächelte: »Ja, Michael, der Mann muß malen können,« sagte er und schleuderte die letzten Worte wie im zornigen Hohn heraus.

Plötzlich änderte er den Ton: »Du solltest über dieses Gitter hinunterspringen,« sagte er und schlug mit seinen Händen auf das Geländer.

»Weshalb?«

Das Geklingel der Fahrräder klang zu ihnen herauf, während sie beide schwiegen. 15

»Weshalb,« fragte Michael, und er sprach ganz leise, »sagst du mir immer dasselbe?«

Der Meister antwortete nicht.

Michael aber sagte und sprach noch immer leise, während eine plötzliche Röte sich über das gesenkte Gesicht breitete: »Darf ich dir etwas sagen?«

»Was du willst.«

»Begreifst du nicht . . . kannst du denn nicht begreifen, daß ich . . . daß, wenn ich lese, was hier steht, wie deine Bilder, gleich denen der großen Meister, Jahrhunderte überdauern und daß Menschen sie noch ansehen werden nach einer Zeit, die wir gar nicht ausdenken können . . .«

Claude Zoret schüttelte den Kopf: »Niemand,« sagte er, »weiß, wie lange etwas besteht.«

Und indem er seine behaarte Hand hob und zum Louvre hinüberzeigte, sagte er, und seine Stimme hatte denselben Tonfall wie vorhin: »Geh dort hinüber und sieh zu, wie viele von den Unsterblichen bereits tot sind.«

Michael hob den Kopf: »Du weißt, daß du leben wirst. Wenn ich dich ansehe, während du malst, seh ich deinem Gesicht an, daß du weißt, du malst nicht für die, die jetzt leben.«

Der Meister lachte: »Wie seh ich denn aus, wenn ich male?«

»Du lächelst,« sagte Michael.

Claude Zoret lachte von neuem mit dem kräftigen Lachen des Bauern, das ihm bisweilen eigen war: »Ja, weil ich weiß, daß die Leute nichts verstehen werden.«

»Nein,« sagte Michael und schüttelte den Kopf, »du lächelst, weil du weißt, daß welche kommen werden, die dich verstehen.«

»Aber,« und er senkte die Stimme, »kannst du dann nicht begreifen, daß ich – daß ich mir sage . . .«

»Was?« fragte der Meister.

»Daß ich mir sage,« und plötzlich sprach Michael sehr 16 schnell, fast wie einer, der sich schämt, »es ist dein Körper, den er malt.«

Er erhob sich mit einem Ruck, als müsse er seiner Gemütsbewegung Luft machen: »Du bist es, den er verewigt,« sagte er.

Er schwieg einen Augenblick, und während er sich wieder setzte, sagte er: »Und dann mußt du auch begreifen, daß mit meinem Körper« (er suchte nach einem Wort und verfiel auf das wunderlichste) »nicht wie mit anderen verfahren werden darf.«

Michael schwieg und auch der Meister sagte nichts. Das schwere Dröhnen der elektrischen Wagen drang wie das Geräusch eines gewaltigen Pfluges, der die Erde spalten will, zu ihnen herauf.

Da sagte der Meister in die Dämmerung hinein: »Du wirst eines Tages mehr geben als deinen Leib.«

»Was?«

»Alles,« klang die Stimme des Meisters durch das Dunkel.

Sie schwiegen wieder, bis Michael flüsternd sagte, während er seinen Kopf bis fast auf das Geländer herabbeugte: »Sag mir, wie war sie?«

»Wer?«

Michael zögerte einen Augenblick, bis er ebenso leise sagte: »Deine Frau.«

Die Züge des Meisters veränderten sich nicht.

»Du hast sie ja gesehen,« sagte er und rührte sich nicht.

Michael starrte in die Dämmerung hinein.

»Ja,« sagte er und bewegte den Kopf ganz wenig, er wagte ihn nicht zu wenden. Und er fühlte von neuem dieselbe Scheu oder beinahe Angst, die er empfunden hatte, und deren Grund er sich nicht erklären konnte, als der Meister ihn damals in Montreuil auf den Kirchhof geführt und er vor dem Denkmal, vor der Statue gestanden hatte, der einzigen, die der Meister in seinem ganzen 17 Leben geschaffen: Eine Frau, die gebeugt und starren Auges mit einem zerbrochenen Krug in der Hand dasaß. Neben ihrem Fuß – wie war er müde – stand ein »Maria« eingeritzt.

»Aber,« sagte Michael, und seine Stimme zitterte leicht, während er beständig das Antlitz der weißen Frau vor sich sah: »Wie war sie?«

Claude Zoret saß unbeweglich und seine Stimme klang wie vorhin: »Sie war aus meiner Heimat,« sagte er und schwieg wieder.

Michael wußte selbst nicht, wie weiß sein Gesicht war und daß seine Hände zitterten.

»Aber,« fuhr der Meister immer in demselben Ton fort, »hier ist nicht von mir die Rede.«

Claude Zoret erhob sich und ging an seinem Pflegesohn vorbei, der wie in einer Ideenverbindung leise sagte:

»Wer ist eigentlich glücklich?«

Der Meister antwortete: »Ja, wer? Der empfängt, weil er gibt.«

Michael schaute zum Meister auf.

»Du hast ja alles gegeben,« sagte er.

Der Meister blieb stehen. Der Wind, der vom Tuileriengarten herübergestrichen kam, bewegte seinen wogenden Bart.

»Ich gab dem Leben nichts,« sagte er.

Michael hörte nicht. Unablässig sah er das Grabmal vor sich, die Frau und ihr Starren auf das zerbrochene Gefäß und ihre todesmüden Arme.

Der Meister aber wiederholte seine Worte, und plötzlich fing Michaels Ohr eines davon auf.

Und tief aufatmend – er wußte nicht weshalb, oder welche Bürde er heimlich abwälzte – sagte er und lächelte, daß man seine weißen, kräftigen Zähne sah: »Ja. Das Leben.«

Der Meister hatte beim Klang von Michaels Worten jäh den Kopf gewandt, und er blieb stehen, während 18 der Ausdruck seines Gesichts sich plötzlich veränderte, und betrachtete den Pflegesohn mit Augen, die immer größer wurden. Er sah ihn von der rechten Seite. Die Lippen des Profils waren begehrlich geöffnet oder als atmeten sie stark, und die Stirn – der Meister sah es zum erstenmal – trat nach oben zu seltsam schroff zurück.

»Michael,« sagte er – und es war nicht zu erkennen, ob der Mensch oder der Maler sich wunderte, »du hast ja zwei Gesichter.«

Eine tiefe Röte flog über Michaels Züge.

»Das weiß ich wohl,« sagte er und lachte verlegen.

»Nein, bleib sitzen,« sagte Claude Zoret, und während er fortfuhr Michael zu betrachten, kam plötzlich jene Schärfe in seinen Blick, die darin aufblitzte, wenn er angestrengt arbeitend vor seinen Bildern stand.

»Das habe ich noch nie gesehen,« sagte er.

Und kurz darauf: »Sonderbar.«

Michael hatte seinen Kopf abgewandt, und keiner von ihnen sprach. Auf dem weiten Platz wurden jetzt ringsherum die elektrischen Lampen angezündet. Es sah aus, als hüpften Irrlichter hervor, wenn sie aufflammten. Der Lärm der Straße rauschte wie ein Strom, der gegen seine Ufer schwillt, zu ihnen herauf.

Der Meister stand noch mit demselben Ausdruck in den Zügen am Geländer.

Der Diener erschien in der Tür.

»Es ist bereit,« sagte er.

»Danke.«

Claude Zoret ging an Michael vorbei, um sich hineinzubegeben.

»Wirf den Ruhm ins Feuer,« sagte er, indem er auf die Zeitungen zeigte, und er bückte sich, um die eine aufzuheben.

»Du hast eine Karte verloren,« sagte Michael und nahm die Visitenkarte von der Erde auf, die der Meister hinter seine Weste geschoben hatte. 19

»Ja,« sagte der Diener, der an der Tür wartete, »Madame wollte Bescheid haben.«

»Ach so,« sagte der Meister, »die ist es. Sagen Sie, daß ich heut abend zu Hause bin.«

Der Diener verschwand.

Michael hielt die Karte so, daß das Licht aus der Tür darauf fiel.

»Fürstin Lucia Zamikof.«

»Ja,« sagte der Meister, »ein Frauenzimmer, das gemalt werden will.«

Michael lachte, während er den fremden Namen noch einmal spöttisch wiederholte. Die Zeitungen in der Tasche, ging er dem Meister voran die Stufen zum Atelier hinunter, wo er den Zeitungshaufen in den großen Kamin warf, während er sich selbst auf einen Schemel davor setzte. Die Flammen des brennenden Papiers warfen einen roten Schein auf sein Gesicht.

Der Meister zögerte einen Augenblick.

»Kommst du?« sagte er. »Adelsskjolds essen heute hier.«

Der Meister ging.

Michael saß noch auf seinem Schemel. Über den Kohlen im Kamin lag es von dem verbrannten Papier wie ein grauer Schleier von Asche oder von Staub.

 

Claude Zoret führte Frau Adelsskjold die drei weiß lackierten Stufen zum Speisesaal hinunter. Ihnen folgten Adelsskjold und Herr de Monthieu.

Charles Schwitt, der neben Michael ging, sagte, indem er einen Ring an dessen Finger betrachtete: »Was ist das für ein Ring?«

»Ein ägyptischer,« antwortete Michael und hob die Hand, »es ist ein Geschenk des Meisters.«

»Natürlich,« sagte Schwitt, »er wird Ihnen wohl nächstens noch ein paar Beinspangen verehren.«

Sie nahmen alle Platz, während die beiden 20 Stubenmädchen mit den weißen Hauben die Suppe herumreichten, und es wurde wieder von Schmucksachen gesprochen, antiken Schmucksachen, von einem syrischen Gefäß, das der Herzog von Rochefoucault angekauft hatte, und von einigen Neuerwerbungen des Louvres, über die alle lachten.

Frau Adelssjkold hob ihre Hände, die schwer von Diamanten waren, ein wenig vom Tisch und sagte: »Ich mag keine antiken Ringe. Man weiß nie, an wessen Händen sie gesessen haben. Ich glaube, sie bringen Unglück.«

Charles Schwitt lachte und sagte: »Glauben Sie, daß so ein Ring zweitausend Jahre lang in der Erde gelegen und Unglück eingesogen hat?«

Frau Adelsskjold antwortete: »Ich weiß nicht. Es ist so eine Idee. Und außerdem habe ich Furcht vor Leichen.«

Adelsskjold, der trotz seines fünfzehnjährigen Aufenthaltes in Paris die Sprache mühsam sprach, wie etwas, das sich schwer handhaben läßt, sagte: »Alice ist abergläubisch wie die Wirtin vom Grauen Bären.«

Der Meister lachte beim Gedanken an die alte Wirtin vom Bären in St. Malo, wo er, der sonst immer allein arbeitete, der Künstlerkolonien scheute und gewöhnlich nur von Michael begleitet war, sich einen einzigen Sommer mit Adelsskjolds eingemietet hatte – bis der Ausdruck seines Gesichtes sich plötzlich veränderte und er sagte: »Sie war ebenso abergläubisch wie meine alte Mutter.«

Der junge Herzog beugte den Kopf, der ein zartes Aroma ausströmte, wie Salben und Essenzen es hervorbringen, und sagte: »In unserer Familie glauben wir alle an Weissagungen.«

»Ja, es ist unglaublich,« sagte Herr Schwitt, der immer merkwürdig stoßweise sprach und mit vielen eigenartigen Handbewegungen, wie die meisten Männer jüdischer Abstammung, »der Aberglaube verbreitet sich buchstäblich in ganz Paris und am stärksten in unseren Kreisen.« 21

Der Herzog wandte den Kopf und sagte zu Herrn Schwitt, während seine Stimme sehr ehrerbietig klang: »Ist das nicht ganz begreiflich? Ich meine, daß die, die überhaupt einen Zusammenhang suchen, dem Unerklärlichen in die Arme fallen?«

Der Meister wandte den Kopf und sah den jungen Mann an.

»Sie haben recht, Monthieu,« sagte er kurz, »um das Unerklärliche zu erklären, sucht man das Unerklärliche auf.«

»Nein, das geht doch zu weit,« sagte Herr Schwitt und gestikulierte vor seinem Gesicht herum, »schließlich wirst du auch noch Sterndeuter. Es gibt in Paris kaum noch eine Stelle, wo nicht in den Sternen gelesen oder aus der Hand geweissagt wird.«

»Ich habe nicht gesagt, daß man einen Zusammenhang suchen soll,« sagte der Meister.

Frau Adelsskjold aber beugte hastig ihre Brust über den Tisch und sagte: »Sie wollen doch wohl nicht Chiromantie als Aberglauben bezeichnen?«

Alle lachten über den Eifer, ja fast Ärger in ihrer Stimme (ausgenommen der Herzog, dessen blaue Augen weniger als eine Sekunde auf Frau Adelsskjolds entblößter Brust ruhten), und Herr Schwitt sagte: »Als was sollte ich es sonst wohl bezeichnen?«

Frau Adelsskjold sagte in demselben Ton wie vorhin: »Mit Ihnen kann man nicht disputieren, denn Sie glauben ja überhaupt an nichts. Daß man aber aus der Hand weissagen kann, ist doch wirklich bewiesen.«

Und sie erzählte eine Menge Geschichten von Bekannten, denen aus der Hand geweissagt worden war. »Die Leute haben Geheimnisse herausgelesen, die sie unmöglich wissen konnten,« sagte sie. »Sie haben gelesen, was geschehen war und was geschehen würde – alles, und es ist eingetroffen.«

»Haben sie auch die Zukunft vorausgesagt?« fragte Herr de Monthieu und hob eine Sekunde seine Augen. 22

»Ja, alles, auch die Zukunft . . . und es ist eingetroffen.«

Der Meister lächelte ganz wenig.

»Ich würde mir nie aus der Hand weissagen lassen, selbst wenn ich daran glaubte.«

»Weshalb?«

»Ach,« sagte der Meister, »in meinem Alter besteht das Geheimnis, was geschehen wird, nur darin, daß nichts geschieht.«

Herr de Monthieu senkte den Kopf. »Es wird doch geschaffen

»O ja,« antwortete Claude Zoret, dessen Stimme etwas lauter und ungeduldiger klang, »man malt ja etliches.«

»Ich,« sagte Michael, der oft so seltsam mit seinen Bemerkungen herausplatzte, »möchte mir schrecklich gern aus der Hand weissagen lassen.«

»Um was zu erfahren?« fragte Herr Schwitt.

Michaels Wangen wurden rot. »Um zu erfahren, was kommt.«

Herr Schwitt lachte über den Ton seiner Worte, Adelsskjold aber hob den großen Kopf. »Alice hat sich übrigens nie weissagen lassen.«

»Nicht?« – fragte der Herzog.

»Nein,« sagte Frau Adelsskjold, »ich wage es nicht.«

Und mit einem kleinen Lachen, das plötzlich um den Mund die allerersten Falten ihrer zweiunddreißig Jahre zeigte, sagte sie: »Ich habe Angst, daß man etwas über meinen Tod herauslesen könnte.«

»Sie?« sagte Herr Schwitt und ließ seine Augen auf ihrer kräftigen Erscheinung ruhen, wo der schöne, weiße Busen von Adern wie von einem halb unsichtbaren Spitzenschleier durchwebt war.

»Ja,« sagte Frau Adelsskjold und sagte in einer unwillkürlichen Gemütsbewegung vielleicht mehr als sie wollte, »es ist seltsam, aber ich kann plötzlich von einer solchen Todesangst ergriffen werden, daß ich nicht weiß, 23 wo ich vor Entsetzen hinflüchten soll. Ich muß manchmal« – und sie lachte ein bißchen – »den armen Alexander mitten in der Nacht wecken, und dann zünden wir alle Lampen im ganzen Hause an, und er spielt mir etwas vor . . . denn ich wage geradezu nicht, in meinem Bett zu bleiben.«

Alle hatten Frau Alice angesehen. Eine matte Blässe hatte sich von ihrem Gesicht über ihre Brust bis an die Kante ihres rotbraunen Kleides ergossen.

»Ja,« sagte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn, während sie den Ton wechselte, »es ist direkt lächerlich.«

Herr Schwitt, der sie noch immer betrachtete, sagte mit einem kaum merklichen Lächeln: »Das kommt davon, daß Sie so kräftig sind.«

Herr de Monthieu, der so weiß war, als hätte Frau Alices Blässe ihn angesteckt, sagte halblaut, indem er in das Licht der Kandelaber sah: »Ich weiß eigentlich nicht, ob es so schwer wäre, an dem Abend eines Tages zu sterben, an dem man gelebt hätte.«

Frau Alice sah ihn plötzlich an und schlug die Augen wieder nieder.

»Oder, Monthieu,« sagte der Meister, »an einem Abend, an dem man nur die andern hat leben sehen.«

Adelsskjold saß da, als hörte er nichts. Sein ganzes Leben war in seinen Augen konzentriert, die auf Frau Alice ruhten. Dann sagte er: »Wir reisen bald nach der Normandie.«

Herr de Monthieu wandte sich hastig zu ihm. »Wirklich?« sagte er.

»Ja,« sagte Adelsskjold, »das ist gut für die Nerven.«

Herr Schwitt aber, der noch bei dem Thema Tod war, sagte: »Für mich ist der Tod ganz einfach der letzte Abschnitt des Lebens;« während Michael, der unausgesetzt Frau Adelsskjold ansah, sagte: »Ich habe mich nie vor 24 dem Tode gefürchtet, selbst damals nicht, als ich Typhus hatte und alle meinten, daß ich sterben würde.«

»Weshalb nicht, Michael?« fragte der Herzog, dessen Augen gleichsam aus ihrer Schwermut zu erwachen schienen, wenn Michael plötzlich sprach.

Michael warf den Kopf zurück, so daß sein reiches Haar sich wie eine Krone über seinem Kopf erhob. »Weil ich genau wußte, daß ich nicht sterben würde,« sagte er.

Herr de Monthieu lachte, Frau Alice aber, die dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte, sagte, während sie die Augen zur Decke erhob, wo weiße Fayencelilien sich über ein einziges mächtiges Spiegelglas ergossen: »Wie schön die Lilien doch sind.«

Der Meister, der sich noch immer, nach zwanzig Jahren des Weltruhmes, geschmeichelt fühlte, wenn jemand das Haus bewunderte, das er sich für einige Millionen geschaffen hatte, um nicht hinter »den anderen« zurückzustehen, zeigte auf sein Glas, das das Stubenmädchen gerade mit Champagner füllte. »Das ist schön,« sagte er und hob das Glas, wo der gelbe Wein in dem englischen Schliff funkelte. Er behielt es einen Augenblick in der Hand. Zuzeiten besaß er noch den Drang seiner Vorfahren, ihren Besitz zu zeigen.

Die Stubenmädchen fuhren fort, Champagner zu schenken, den Herr Schwitt mit Selters vermischt trank, und Michael setzte mit Bezug auf die Gläser rasch und laut hinzu: »Sie sind aus London, nach einem Entwurf von Jones.«

Frau Adelsskjold hob das Glas mit ihrem Arm, dessen Ellenbogen von blutrotem Chiffon verschleiert war, um den Schliff gegen das Licht der Kandelaber zu betrachten, als ihr Blick auf Michael fiel und sie lachend zu dem Meister sagte: »Michael gehen allmählich die Augen auf.«

»Wieso?« fragte Michael, während alle lachten und Herr Schwitt sagte: »Ja, er wächst heran.« 25

Der Meister lächelte und sagte: »Für Frauen hat er immer den richtigen Blick gehabt.«

Und zu demselben Gedankengang zurückkehrend, dem er vorhin auf dem Balkon gefolgt war, sagte er: »Haben Sie nie seine Skizzen gesehen?«

»Nein, nein,« rief Michael und sprang vom Stuhl auf.

Der Meister aber sagte zum Majordomus gewendet, der breit und wie eine Bildsäule vor dem mächtigen, weißen Büfett stand: »Hole sie her.«

»Nein, nein,« rief Michael wieder.

»Hole sie her.«

Alle lachten über Michael, der vor Angst glühte.

»Also Michael, jetzt bekommen wir Ihre Werke zu sehen,« sagte Frau Adelsskjold, während alle immer noch lachten. Adelsskjold lachte immer so dröhnend, als lache sein ganzer gewaltiger Körper – was gewöhnlich Frau Adelsskjolds Lachen zum Verstummen brachte.

»Wir bekommen vielleicht noch mehr zu sehen,« sagte Schwitt.

Der Majordomus kam mit Michaels Mappe unterm Arm zurück.

»Nein, es hilft Ihnen nichts, es hilft Ihnen nichts,« sagte Herr de Monthieu, »jetzt wollen wir sie sehen.«

Michael wollte ihm die Skizzen entreißen, aber Monthieu hielt die Mappe fest.

Die Blätter gingen von Hand zu Hand, während aller Augen, indem sie sie betrachteten, einen anderen Ausdruck annahmen. Adelsskjold streifte unwillkürlich seinen Frackärmel über die Manschette zurück. Er mußte stets, wenn er beschäftigt war, seinen starken Körper von Kleidungsstücken befreien; er malte immer halb angezogen.

»Wo zum Teufel hat der Junge dies alles gesehen?« sagte er und sah Michael an.

Er führte seine großen Hände im Bogen über eine neue Skizze. 26

»Wo zum Teufel hat er das gesehen,« sagte er zum Meister gewendet, der aufrecht auf seinem Stuhl saß, während der mächtige Bart fast den Tisch erreichte.

»Wahrscheinlich in Böhmen,« sagte der Meister, während seine Augen auf Michael ruhten, in dessen schmalem Gesicht die dunkelblauen Augen vor Erregung feucht waren.

»Im Traum hat er es jedenfalls nicht gesehen,« sagte Herr Schwitt, der eine Skizze ein Stück von sich ab hielt, während der Herzog den Blick von dem Blatt, das er in der Hand hielt, erhoben hatte und Frau Adelsskjold betrachtete, die die Blätter etwas hastig auf das Tischtuch gleiten ließ.

»Ich habe mir immer gedacht, Michael,« sagte Herr Schwitt und betrachtete Michael mit jenem Blick, der seine Rasse zu den größten Kritikern der Welt gemacht hat, »daß Sie Frauen gefährlich werden können.«

»Weshalb?« fragte Michael und lachte in seiner Verlegenheit.

Herr Schwitt legte das Blatt aus der Hand und sagte in dem Ton von Zynismus, mit dem er den Menschen ins Gesicht schlug: »Weil Frauen stets wissen, wer bereit ist, ihnen alles zu geben.«

»Und,« fuhr er fort, »es gibt immer weniger Männer, die alles geben.«

Der Herzog wandte langsam den Kopf.

»Glauben Sie?« sagte er.

»Ich weiß es. Und der Grund ist sehr einfach. Die Männer heutzutage,« sagte Herr Schwitt, »müssen vor allen Dingen an das Geld denken. Der Rest bleibt dann für die Frauen.«

»Das glaube ich nicht,« sagte Adelsskjold, der den Kopf hob und seine Frau ansah.

»So?« sagte Herr Schwitt und seine Augen streiften Adelsskjold flüchtig. »Wahr ist es aber trotzdem. Ja, einige Männer schuften natürlich, weil sie lieben, und 27 wenn sie schuften, wird man sie nicht mehr lieben, weil sie geschuftet haben. Das haben sie davon.«

Es wurde während einer Sekunde still am Tische, während Adelsskjold sich unwillkürlich mit der Serviette über die Stirn strich, als wäre sie feucht, bis Frau Alice lachend sagte: »Sagen Sie mal, Herr Schwitt, wieviel Paradoxen schleudern Sie eigentlich täglich in einer Stunde heraus?«

Entweder hatte Herr Schwitt die Frage überhört oder er wollte sich nicht weiter darauf einlassen, denn er wendete sich an Michael und sagte: »Was meinen Sie dazu, Michael?«

Michael lachte und antwortete: »Ich versteh mich nicht darauf.«

Herr de Monthieu hatte sich hastig zu Frau Adelsskjold gewandt und sprach über ein Buch von Anatole France, während der Meister, der eine von Michaels Skizzen in der Hand hielt, zu Frau Adelsskjold sagte: »Sehen Sie Michael mal an – – jetzt . . . wie er da sitzt. Der Junge hat zwei Gesichter.«

»Ja, eines im rechten Profil und eines im linken,« antwortete Frau Adelsskjold, die wieder den Kopf drehte, »das hab ich immer gewußt. Haben das nicht eigentlich alle Menschen?«

»Zwei Ausdrücke, ja,« und der Meister betrachtete seinen Pflegesohn wieder mit demselben Blick wie vorhin auf dem Balkon, »aber nicht zwei Gesichter.«

Er rollte etwas Brot zwischen seinen Fingern, daß es wie Krumen oder wie Sand auf das Tischtuch fiel, während er sagte: »Allerdings sehen wir alle das Gesicht eines Menschen nur alle fünf Jahre, und dann sehen wir, daß es ein anderes geworden ist.«

»Ja,« sagte Frau Adelsskjold, indem sie den Meister plötzlich ansah, »das ist wahr.«

Und kurz darauf wiederholte sie und nickte mit dem Kopf, während sie in die Kerzen sah: »Das ist wahr.« 28

Der Meister hatte es nicht gehört. Er hatte die Serviette fortgeschoben und stützte den Kopf in die Hand, als er plötzlich zu Herrn Schwitt hinüber sagte: »Charles, weißt du, ich hab eine Idee zu einem Bild bekommen – – heut – – vorhin – –«

Die ganze Tafelrunde verstummte. Es geschah sonst nie, daß Claude Zoret mit anderen als mit Michael über seine Bilder sprach – niemals, selbst nicht mit Charles Schwitt, dem ersten Kritiker, der sein Genie erkannt hatte.

Claude Zoret nahm, halb unbewußt, die Seemannspfeife, die neben seinem Teller lag und die er stets bei Tisch rauchte, auch wenn er Gäste hatte.

»Weißt du, ich will Cäsar malen – – den Menschen habe ich immer malen wollen. Jetzt aber« – und er sah dem Rauch der Pfeife nach, die er angezündet hatte – »jetzt weiß ich, wie . . . ich will den Augenblick wählen, wo er verwundet wird – – von einem germanischen Soldaten, – einem unwissenden, gemeinen, barbarischen, jungen Soldaten.«

Er schwieg eine Weile, bis er hinzufügte: »Am Fußgelenk soll er ihn verwunden.«

Alle sahen Claude Zoret an. Seine diamantgleichen Augen leuchteten, als sähen sie bereits Form und Haltung der Gestalten.

Michael starrte den Meister mit einem Blick an, als säße er zu seinen Füßen.

»Wie soll er aussehen?« sagte er so leise, als wären sie beide allein.

Der Meister aber brach plötzlich ab und sagte munter zu Frau Adelsskjold: »Diese Idee ist schuld, daß ich solch schlechter Wirt bin.«

Und seinen Gedankengang schroff verlassend, von dem Drang beseelt, anderen Freude zu bereiten, der ihn bisweilen überkam – vielleicht auch, weil er selbst dabei 29 ausruhte –, fing er an von dem Präsidenten der Republik zu sprechen, den er bei einem Gartenfest im Elysee gesehen hatte, und winkte dem Majordomus, dem er einen Befehl zuflüsterte.

Es wurde jetzt allgemein vom Präsidenten gesprochen, lustig, mit hellen Stimmen, wie Leute zu sprechen pflegen, deren Gedanken ruhen.

Die Gattin des Präsidenten habe ein Gesicht wie ein glühendes Plätteisen, so sei sie geschnürt.

»Aber das lächerlichste sind ihre Hüte,« sagte Frau Adelsskjold.

»Die wehen wie der Schwanz des gallischen Hahnes,« sagte Herr de Monthieu.

Herr Schwitt sagte: »Ich habe sie Prämien an französische Mütter austeilen sehen, die sieben Kinder bekommen haben. Dazu ist sie wie geschaffen.«

Der Majordomus kam mit zwei Körben zurück, in denen er ein paar bestaubte Flaschen trug, aus welchen er selbst den Wein in die inzwischen hingestellten Pokale, ein Geschenk des Prinzen von Wales, schenkte.

»Das ist der Burgunder,« sagte Adelsskjold und hob den Pokal, während seine kleinen hellblauen Augen vor Freude über die Farbe des Weins größer wurden.

»Ja, der ist alt,« sagte der Meister, »und echt. Darin ist Kraft.«

Glas und Teller hatte er fortgeschoben und saß an seinem Tischende, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, breit wie einer seiner Bauernvorfahren beim Gastmahl am Namenstag.

»Prost,« sagte er und hob sein Glas.

Sie tranken.

Frau Adelsskjold hatte den Kopf leicht zurückgebogen, während sie den duftenden Wein auf der Zunge behielt, bis Charles Schwitt aufsprang und sagte: »Also trinken wir auf Cäsar, der von dem Germanen verwundet wird.« 30

Alle standen auf und wandten sich dem Meister zu, Adelsskjold schlug mit seinem Messer gegen seinen Teller und Monthieu rief mit gesenktem Kopf: »Cäsar vivat!«

»Cäsar vivat,« riefen die anderen, während Michael sich den vollen Strom des Weines die schwellende Kehle hinabgoß.

»Cäsar vivat,« rief er und schwang sein Glas, »vivat Cäsar

»Michael, du kriegst einen Schwips,« rief der Meister.

Und alle lachten, während sie durcheinandersprachen.

Frau Adelsskjold fragte – in einer Ideenverbindung – Herrn de Monthieu nach einer Luxusausgabe von Paul Bourgets Büchern über Italien, und Adelsskjold sprach von einer Ausstellung, die bei Georges Petit eröffnet werden sollte.

»Wird sie nicht von Herrn Leblanc arrangiert?« fragte Schwitt.

»Ja, ich glaube,« sagte Adelsskjold.

»Ich kenne keinen größeren Lumpen als Leblanc,« sagte Schwitt, »oder höchstens Mr. George Pinero.«

Der Meister saß einen Augenblick schweigend da. Dann sagte er, die Hand gegen die Tischkante gestemmt: »Sind die beiden gemeiner als all die anderen, die den Erdboden flach treten?«

»Leblanc,« fuhr er fort, »ist nur das Abbild der Menge, und wir bedienen uns seiner, weil er uns gut bedient.«

»Ja,« sagte Adelsskjold, der den Meister vielleicht nicht recht verstanden hatte, »ich habe mich bei meinem Arrangement mit Herrn Leblanc immer gut gestanden.«

Herr de Monthieu sprach über »Le Disciple«. Frau Adelsskjold aber sagte: »Von allen Büchern schätze ich ›Le Mensonge‹ am höchsten.«

Herr de Monthieu hob den Blick. »Le Mensonge

Es kam etwas zu hastig oder vielleicht überrascht heraus, 31 denn Frau Adelssjkold sagte, während eine fast unsichtbare Röte ihre Wangen überflog: »Von allen neuen Büchern.«

»Ich,« sagte der Herzog, »lese am häufigsten ›Peints par eux-mêmes‹.«

Und leiser fügte er hinzu: »Weil ich den Einsatz des ›Helden‹ so gut verstehe.«

Frau Adelsskjold antwortete nicht, aber am Meister vorbei warf sie einen raschen Blick auf Herrn de Monthieus Gesicht, während Claude Zoret sagte: »Ich lese nie mehr.«

»Wir lesen die Bibel,« rief Michael.

»Ja,« sagte der Meister, »die Gestalten der Bibel sieht man vor sich.

»Aber,« fuhr er fort und wandte sich an den Herzog, »ich habe gelesen. Ich habe gelesen und gelesen, wenn ich nicht malen konnte, um etwas zu sehen, verstehen Sie, um Bilder mit meinen zwei Augen zu sehen. Aber die Leute heutzutage zeigen uns nichts – sie schaffen weder Menschen noch Leben.«

»Wir Böhminnen,« sagte Frau Adelsskjold und lachte – sie war eine geborene Rohan von der österreichischen Linie –, »sind von jeher dem Lesen verfallen gewesen.«

Claude Zoret tat einen Zug aus seiner Pfeife.

»Lesen verdünnt das Blut,« sagte er.

»Ja,« sagte der Herzog und saß einen Augenblick mit weit geöffneten Augen.

»Wovon sprecht ihr?« sagte Claude Zoret zu Herrn Schwitt hinüber.

Sie sprachen wieder von Ausstellungen.

Herr Schwitt antwortete: »Von Melbourne.«

»Ja,« sagte der Meister, »nun soll man auch in Australien verkauft werden.«

Michael sagte zu Herrn Adelsskjold: »Die Kritiken sind da, wir haben sie heut bekommen.« 32

»Aus Melbourne? Wirklich?« Adelsskjolds Worte stolperten fast übereinander –, »ich habe keine bekommen.«

Und die Stirn feucht von Schweiß, fiebernd, sagte er, der tagüber stundenlang die Zeitungsausschnitte zweier Weltteile studierte (von der Angst gepeinigt, daß das darin stehen könne, was sein ganzes Denken ausfüllte, daß er sich wiederhole, daß er zurückgehe): »Was stand darin?«

Und Michael, der rot wurde, weil er sie kaum gelesen hatte, sagte: »Eine ganze Menge. Aber am Schluß stand: Es gibt keinen größeren Virtuosen in der Schilderung der französischen Landschaft als diesen Mann aus dem Norden.«

Adelsskjold hatte seine Serviette zerknüllt.

»Virtuos, Virtuos,« sagte er, den nichts empfindlicher traf als dieses eine Wort, das die Kritiker immer häufiger zu wiederholen begannen und das ihm wie das erste Alarmsignal des Rückschrittes klang, »Technik wird nächstens noch als Verbrechen gestempelt.«

»Wo sind sie?« fragte er Michael, und zu Schwitt gewendet fuhr er fort: »Wenn man diese Leute liest, sollte man glauben, Talent bestehe darin, nichts zu können.«

»Wo sie sind?« sagte der Meister über den Tisch hinüber, »sie sind verbrannt. Ich mag nicht all diese Papiere im Hause herumliegen haben. Ich lese sie doch nie. Michael füttert mich genug mit solchem Zeug.«

Adelsskjold sagte: »Man muß doch wissen . . .«

Der Meister stopfte mit dem Daumen langsam den Tabak fester. »Was muß man wissen? Der Alten ist man sicher und die kennt man. Deren Leier geht wie geschmiert.«

Plötzlich lachte er, und mit jenem Hohn, der seine Nächsten wie ein Peitschenschlag treffen konnte, sagte er: »Ich weiß sehr wohl, daß Schwitt mich für ein Genie hält.«

Und etwas leiser fügte er hinzu: »Von dieser Ansicht lebt er sogar teilweise.« 33

Schwitt war weiß geworden unter seinem Bart und bog die Menükarte, daß sie durchbrach.

»Ja, ich schrieb über dich, als die anderen dich verhöhnten,« sagte er.

Einen Augenblick wurde das Gesicht des Meisters glühend rot, Adelsskjold aber sagte, ohne an Herrn Schwitts Alter zu denken: »Man liest wohl auch mehr die Jüngeren.«

»Von den Jungen,« antwortete der Meister und seine Stimme klang wieder wie gewöhnlich, »lernt man auch nichts. Die sagen ebensowenig die Wahrheit. Und das können wir auch nicht verlangen; die wollen ja auch Platz haben für sich und die Ihren.«

Er lachte plötzlich wieder, breit und von ganzem Herzen.

»Die Jungen müssen unser Blut sehen, damit das Publikum sie sehen kann.

Na,« sagte er mit veränderter Stimme, während Michael ihn mit seinen großen Augen ansah, »wenn man nicht mehr malen kann, hat man wohl aufgehört zu malen.«

Herr Schwitt stieß sein Glas gegen das Michaels, während auch seine Augen auf Claude Zoret geheftet waren.

Frau Adelsskjold sagte zum Meister: »Ist es wahr, was Frau Simpson sagte, daß Sie in diesem Jahr endlich einmal ausstellen wollen?«

»Wo?« fragte der Meister.

»Hier, in Ihrem Atelier.«

»Nein,« sagte Claude Zoret, der nie wieder in Paris ausgestellt hatte, seit die Pariser ihn in seiner Jugend verschmäht hatten, und er legte die Pfeife auf den Tisch, »das werden Sie nicht erleben.«

Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Es ist schlimm genug, daß man verkaufen muß.«

»Na, aber,« rief Adelsskjold, »das verstehe ich wahrhaftig nicht.«

Und während er seinen großen Körper aufrichtete und sein Gesicht fast jung wurde, sagte er: »Ich finde, so ein 34 Scheck« – und er schlug die flachen Hände gegeneinander, daß es knallte – »ist wie ein gewisses Siegel, daß man da ist und etwas taugt.«

»Ja,« sagte Michael, als sähe er einer Seifenblase nach, »Geld.«

Schwitt wendete ihm fast überrascht das Gesicht zu. »Machen Sie sich etwas aus Geld?« sagte er und sah ihn an.

»Ja,« antwortete Michael etwas hastig, »denn ich hab ja nie was gehabt.«

Aber der Meister sagte am Tischende: »Hm, ich kann Ihnen versichern, wenn diese Amerikaner« – und es war, als koche ein plötzlicher Aufruhr in seiner Brust – »herkommen um zu kaufen, dann möchte ich ihnen am liebsten ins Gesicht schlagen und ihnen mit ihren eigenen Dollars den Rücken peitschen.

Ach ja,« sagte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, »es ist herrlich, im Museum in St. Louis zu hängen und von ein paar Viehhirten aus Illinois beglotzt zu werden.«

Adelsskjold sagte mit einer großen Handbewegung: »Aber von ihnen leben wir doch, leben, wie wir es tun. Sie sind die Käufer. Dort drüben ist der Markt.«

»Ja,« sagte der Meister, »und wir sind die Gaukler, die sich die bemalte Leinwand aus dem Mund ziehen.«

Schwitt lachte. »Das war fein,« sagte er und notierte in Gedanken den Lauf der Unterhaltung für die Tagebücher, die er über den Meister führte und die das Hauptwerk seines Lebens werden sollten. »Jetzt fallen dir die Siegel von den Lippen.«

Der Meister hörte ihn nicht.

»Nein, das waren andere Zeiten,« sagte er, »als man einem guten Freund, der etwas davon verstand, ein Bild für zweihundert Franken verkaufen konnte.«

Er schwieg, während Herr de Monthieu sehr leise sagte: »Wie gut ich Sie verstehe.« 35

Frau Adelsskjold beugte den Kopf. »Ich auch,« flüsterte sie.

Der Meister sagte plötzlich, einem anderen Gedankengang folgend, zu Michael gewandt: »Was stand da über Ulpiano Checa?«

»Wo?«

»In den Zeitungen.«

»Ich weiß nicht,« antwortete Michael, »ich habe es nicht gesehen.«

Schwitt hatte den Blick gehoben und sah den Meister an.

»Sonst siehst du doch immer alles,« sagte Claude Zoret und blies den Rauch aus seiner Pfeife in den Duft der Veilchen, der fast wie eine Wolke über dem Tisch lag.

Herr de Monthieu sagte: »Ja, seine ›Wettfahrt‹ vergißt man nicht.«

»Er beherrscht aber nie seine Farbe,« sagte der Meister, den Schwitt noch immer betrachtete.

»Noch nicht,« sagte der Kritiker kurz und beugte sich vor, um die afrikanische Traube in seinen Wein zu tauchen.

Der Majordomus schenkte Madeira ein, der wie eine gelbe Flamme in den Gläsern leuchtete.

Adelsskjold sagte: »Diese Spanier werden immer maniriert,« während Frau Adelsskjold zum Meister sagte: »Ist es wahr, daß Sie die Prinzessin Lucia Zamikof malen wollen?«

Man hörte die Antwort des Meisters nicht, weil Adelsskjold fortfuhr, mit lauter Stimme und mit roten Flecken auf den Wangen, von Benlliure y Gill und den Spaniern zu sprechen, während Herr Schwitt den Namen Zamikof aufgriff und sagte: »Wie ist die eigentlich? Ich habe in Petersburg so viel Geschichten über sie gehört.«

Frau Adelsskjold antwortete: »Ich kenne sie nur flüchtig.«

Michael, der eine Handvoll Veilchen vom Tisch genommen hatte, um sein Gesicht darin zu kühlen, schnarrte das Wort »Zamikof« zu Monthieu hinüber, während Herr 36 Schwitt den Kopf vorstreckte und sagte: »Aber sie ist doch immens reich.«

»Vielleicht,« sagte Frau Adelsskjold, eben das Äußerste ihrer Lippen bewegend.

Herr Schwitt begann, zurückgelehnt, von Petersburg zu sprechen, von der Eremitage und von den slawischen Frauen. Es ginge doch nichts über slawische Frauen. Allein ihre Haltung in einem Wagen, die Bewegungen ihrer Arme, die Biegung ihres Nackens . . .

Alle schwiegen, während Herr Schwitt weiter sprach, mit Augen, als sähe er die Frauen vor sich, und indem er seine Hand durch die Luft führte, als wolle er ihre Linien nachzeichnen: »Und wie sie gehen,« sagte er, »wie Perserinnen.«

Er sprach von der Fürstin Ruschewkin.

»Haben Sie sie gesehen?« fragte er Herrn de Monthieu, der nicht antwortete, sondern nur unter den halbgesenkten Lidern die Rubinstickerei auf Frau Adelsskjolds Brust anstarrte. Charles Schwitt fuhr fort, von Prinzessin Demidoff zu sprechen, von den Schönheiten des Hofes, als leuchteten ihre Glieder vor seinen Augen – während Michael, vergnügt vor sich hinlächelnd, die Veilchen gegen seine Wangen drückte, und Adelsskjold, seine große Hand auf eine der hohen Karyatiden der silbernen Jardiniere stützend, seine Frau unausgesetzt mit Augen betrachtete, die nichts weiter sahen als ihr schönes Gesicht, das sie plötzlich unter Herrn de Monthieus Blick gesenkt hatte.

Der Meister saß unbeweglich da und blies große Ringe aus seiner Pfeife in die Luft, die sich in bläuliche Schlangen auflösten und davonzogen.

Der Majordomus hatte die große Tür geöffnet und Claude Zoret stand auf, während Herr Schwitt schwieg, und der Meister sagte: »Also heben wir die Tafel auf?«

Und eine alte Gastmahlsformel aus seiner Heimat benutzend, fügte er hinzu: »Und danken, daß wir leben.« 37

Er leerte sein Glas.

Und indem er Frau Adelsskjold den Arm bot, sagte er zu Herrn Schwitt hinüberzeigend: »Der wird doch nie alt.«

Er fing an zu lachen.

»Meinen Frieden wird Frau Lucia jedenfalls nicht stören.«

Adelsskjold aber blieb plötzlich auf der mittleren Stufe stehen und sagte zu Herrn de Monthieu, indem er ihm gerade ins Gesicht sah: »Gott steh mir bei, wie ist meine Frau schön.«

 

Herr de Monthieu stand neben Michael auf dem Absatz der Treppe, die zum Atelier führte, und sah über das Wohnzimmer hin. Frau Adelsskjolds Schleppe hatte fast dieselbe Farbe wie der Teppich. Jetzt nahm sie neben dem Meister Platz. Und Herrn de Monthieus Blicke wanderten zu Herrn Schwitt hinüber, der, gegen das Postament der »Dame mit der Maske« gelehnt, die ihren Bronzekörper unter zwei Palmen erhob, sich so laut mit Herrn Adelsskjold unterhielt, daß man es hier oben hörte.

Herr de Monthieu sagte: »Weshalb will der Meister eigentlich Prinzessin Zamikof malen?«

Michael, der mit den Beinen gegen das vergoldete Geländer der Treppe schlug, sagte: »Wer hat gesagt, daß er sie malen will? Sie kommt nur heut abend her.«

Und indem er fortfuhr, mit den Beinen gegen das Geländer zu schlagen, sagte er: »Wir haben sie ja noch nie gesehen.«

Herr de Monthieu lächelte. »Sie sind ihr hundertmal begegnet, Michael,« und er fügte hinzu, während das Lächeln von seinen Lippen verschwand, die etwas zu voll waren, wie bei allen Monthieus: »Aber wir sehen ja alle nur das Eine – –.«

Michael hatte wohl überhaupt nicht hingehört. Er sagte, während er noch immer wie ein großer Junge auf dem 38 Geländer saß und mit den Beinen baumelte: »Wie ist Frau Adelsskjold schön.« »Ja,« sagte Herr de Monthieu und wußte selbst nicht, daß er es gesagt hatte.

»Michael,« rief der Meister zum Treppenabsatz hinauf, »weißt du, wo meine Studien vom Hradschin sind?«

»Ja,« antwortete Michael und sprang vom Geländer herab.

Er war feuerrot geworden, wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt wird: er hatte sie eines Tages zwischen anderen Studien gefunden und sie versteckt.

»Wo sind sie denn?« fragte der Meister.

»Ich hole sie,« antwortete Michael und lief die Treppe hinauf ins Atelier, wo er aus einem Schrank in einer Ecke eine Mappe aus einer halbverborgenen Schublade hervorholte.

»Er hebt schließlich noch seine Mallappen auf,« sagte Herr Schwitt halblaut zu Adelsskjold.

Michael kam mit der Mappe und der Meister löste die Bänder. Sie traten alle an den Tisch, wo Claude Zoret die Studien ausbreitete, eine nach der anderen wiedererkennend.

»Ja, da ist das,« sagte er und erinnerte sich plötzlich wieder seines eigenen Werkes, das er fast vergessen hatte.

»Aber eine war da« – und er suchte zwischen den Skizzen – »von den Sarkophagen.«

»Die kommt jetzt,« sagte Michael und griff mit sicherer Hand die richtige heraus.

»Aber es ist noch eine andere vom Chor da,« sagte er und suchte danach.

Der Meister betrachtete die Studie prüfend, und als sei sie von einem Fremden, einem andern, gemalt, sagte er: »Ja, sie ist gut – sie ist gut;« und er schob sie Frau Adelsskjold zu, die jede Skizze lange in der Hand behielt, bevor sie sie langsam an Herrn de Monthieu weiterreichte.

»Ja,« sagte sie, »das sind die Sarkophage.« Und mit 39 einer Stimme, die so klang, als wanderten ihre Gedanken zu lang entschwundenen Dingen, sagte sie: »Wie schön war es dort.«

»Hier ist die andere,« sagte Michael und zog ein neues Blatt hervor.

Der Meister sah plötzlich auf und sagte: »Wo hast du die Blätter seit Jahr und Tag gehabt?«

»Ich,« sagte Michael, und mit einer hastigen Bewegung verbarg er sein Gesicht hinter einer Skizze, bevor er fortfuhr, »ich habe sie nicht gehabt. Ich habe sie erst neulich gefunden,« sagte er, und belog den Meister gewiß zum erstenmal.

»So, so,« sagte der Meister und sah ihn weiter an.

Schwitt, der die Skizzen mit einem eigenen Blick betrachtete, wie Gerard Dows Arzt die Flüssigkeit in dem erhobenen Glas betrachtet, sagte, während er die »Sarkophage« in der Hand hielt: »Diese Schweden haben trotz allem der Menschheit einen Dienst geleistet.«

Und als Adelsskjold lachte, sagte er: »Ja, die Zerstörung durch Ihre lieben Landsleute hat das alles sehr viel schöner gemacht.«

Und er begann, während er noch immer die Studien betrachtete, die, plötzlich und unwillkürlich, eigene und weitreichende Gedanken in ihm anregten, von historischen Verstümmelungen zu sprechen, durch die die Barbarei unbewußt neue Schönheit geschaffen habe.

Michael hatte eine andere Skizze ergriffen.

»Das ist die ›Mauer‹,« sagte er und behielt die Studie einen Augenblick in der Hand, bevor er sie Frau Adelsskjold reichte.

Es war das Bild von der »Mauer«, über dem er in den drei Jahren, seit er die Studien vom Hradschin gefunden, am häufigsten gesessen hatte, wenn er in einsamen Stunden von einer Stimmung überfallen wurde, die er für Heimweh hielt. 40

»Kennen Sie die ›Mauer‹ wieder?« fragte er. Frau Adelsskjold nahm die Studie mit ihrer langen, schmalen Hand, die, wenn sie sie hob, seltsam ermüdet schien von ihrer eigenen Diamantenlast.

»Ja,« sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich ganz ähnlich wie die Michaels, »das ist die Mauer vom Hradschin.«

Adelsskjold hatte sich genähert – unwillkürlich und mit zwei Schritten – und berührte ihre Schulter mit seiner warmen Hand, sehr weich, aber etwas hastig. Frau Adelsskjold aber zog, ohne es zu wissen, ihre Schulter um eine Haaresbreite zurück, während sie die Studie Herrn de Monthieu weiterreichte.

»Ist sie nicht schön?« sagte sie.

»Herrlich,« sagte der Herzog, und er nahm die Skizze, während seine und Frau Adelsskjolds Hand eine Sekunde lang dasselbe Bild hielten.

Frau Adelsskjold blieb mit zurückgebogenem Kopf sitzen. Dann sagte sie zum Meister gewandt mit derselben Stimme wie vorhin: »Haben Sie je das Schloß der Rohans in Böhmen gesehen?«

»Nein,« antwortete Claude Zoret, der die Skizzen nicht mehr betrachtete, als hätte ihn der Anblick des vor Jahren Geschaffenen bereits ermüdet, »ich hatte nie Gelegenheit dazu.«

Frau Adelsskjold verharrte noch in derselben Stellung.

»Ich glaube, es ist der schönste Punkt in Böhmen.«

Und kurz darauf fügte sie in verändertem Ton hinzu: »Ein Flügel des Schlosses ist von den alten böhmischen Königen erbaut.«

»Ich habe so viel von dem Rittersaal gehört,« sagte Herr de Monthieu.

»Wirklich?« sagte Frau Adelsskjold und sah ihn an, erfreut, als wenn man einem Menschen begegnet, der etwas kennt, das man lieb hat. 41

Der Meister aber sagte mit einer Stimme, als bärgen seine Worte einen heimlichen, unwillkürlichen Groll: »Ja, solche alten Steine, die zusammengeschleppt worden sind, verschönern eine Landschaft.«

Frau Adelsskjold hatte es wohl nicht gehört. Sie sah zu ihrem Mann auf und sagte sehr sanft: »Alexander, du müßtest einen Sommer an der Moldau malen!«

»Ja,« sagte Adelsskjold, dessen Gesicht beim Klang ihrer Stimme plötzlich aufleuchtete, »du weißt, das habe ich schon lange gewollt.« In Wahrheit hatte er es nie gewollt, aus heimlicher Eifersucht oder vielleicht aus Angst vor der Heimat seiner Frau.

Der Herzog hatte sich abgewandt und hörte Herrn Schwitt zu, der vom Agramer Dom sprach.

Niemand betrachtete mehr die Skizzen außer Michael, der sie beim Schein einer Stehlampe nah vor Augen hielt, wobei in seinem bleichen Gesicht der Mund, dessen Form beständig wechselte, von einem Lächeln gekräuselt wurde, als verweile er bei glücklichen Erinnerungen.

Der Meister war aufgestanden und sah Michael an.

»Leg die Skizzen weg,« sagte er, und durch seine Stimme klang es von neuem wie plötzlicher Groll.

»Ja,« sagte Michael, dessen Gesicht sich veränderte, als würden die Züge von einem unsichtbaren Faden dirigiert.

Adelsskjold, den es immer rasch ermüdete, anderer Arbeiten zu betrachten, von Ungeduld betreffs seiner eigenen ergriffen, sagte mit ganz veränderter Stimmung zu Michael: »Haben Sie alle verbrannt?«

»Was?« fragte Michael.

»Die Zeitungen? Aus Melbourne?«

»Ja,« sagte Michael und lachte (er hatte die Angewohnheit, Adelsskjold häufig ins Gesicht zu lachen, vielleicht weil er des Meisters geheime Meinung über »Adelsskjolds Farben« kannte), »ja, ich habe sie leider verbrannt.«

»Und was stand eigentlich drin?« fragte Adelsskjold. 42

Und auf Michaels Antwort begann er wieder von der Technik zu sprechen.

»Weshalb nennen sie uns nicht einfach Handwerker?« sagte er. »Rund heraus Handwerker – weshalb nicht? Das ist doch ihre Meinung von allen, die was können.«

Frau Adelsskjold, die die Worte ihres Mannes hörte und ihn vielleicht unterbrechen wollte, sagte ziemlich laut zu Herrn de Monthieu: »Wir gehen wirklich diesen Sommer in die Normandie.«

Herr de Monthieu beugte den Kopf und sagte halblaut: »Ich habe es nicht geglaubt.«

»Weshalb nicht?« fragte Frau Adelsskjold, ohne zu begreifen. Herr de Monthieu sagte verwirrt: »Ich weiß es nicht.«

Und mit Anstrengung fügte er einen Augenblick nachher im konversierenden Ton hinzu: »Wir haben ein Gut dort.«

»So?« sagte Frau Adelsskjold. »Ja, richtig, das weiß ich ja.«

Und als wollte sie die Gleichgültigkeit wieder gutmachen, mit der sie, wie sie selbst fühlte, gesprochen hatte, sagte sie: »Was ist Ihnen eigentlich prophezeit, Herzog?«

Herr de Monthieu blickte geradeaus und sagte, während seine Lippen sich kräuselten: »Etwas sehr Glückliches.«

»Ah . . .«

»Und,« fuhr der junge Herzog in demselben Ton fort, »etwas, das nie eintreffen wird.«

Frau Adelsskjold betrachtete, wie bereits einmal bei Tisch, das gesenkte Antlitz des Herzogs – vielleicht wurde sie durch den Klang seiner Stimme dazu veranlaßt – und sagte: »Warum sollte es denn nicht geschehen? Sie glauben doch sonst an Prophezeiungen.«

Des Herzogs Lippen zitterten, so wenig, daß man es kaum sehen konnte. »Weil es Dinge gibt, von denen man weiß, daß sie nie geschehen können.«

Und fast wie um ihm über einen Kummer wegzuhelfen, der 43 ihr unbekannt war, sagte Frau Alice, dem Gespräch eine andere Wendung gebend: »Wo liegt eigentlich Ihr normannisches Gut?«

Herr de Monthieu, der sich gesetzt hatte, nannte den Ort.

Er hatte nach dem Tode seines Vaters seine Kindheit fast ausschließlich dort verlebt, allein mit seiner Mutter und seiner Schwester. Im Park gab es Eichen, fast die einzigen in Frankreich. Es ging die Sage, sie würden ausgehen, wenn der letzte Monthieu stürbe. Es war seltsam, der Blitz hatte nicht weniger als fünf dieser Eichen in dem Sommer gespalten, als seine einzige Schwester, die Marquise von Beaupaire, starb.

»Ist es nicht fünf Jahre her, seit Ihre Schwester starb?« sagte Frau Adelsskjold.

»Ja, fünf Jahre.«

»Und sie war doch noch so jung . . .«

Frau Adelsskjold hatte ihre Schultern hochgezogen, als ob der Zug einer offenstehenden Tür sie gestreift hätte.

»Ja, so jung,« sagte der Herzog, und, den sehr schlanken Körper ehrerbietig vorgebeugt, erzählte er wieder von dem heimatlichen Schloß. Kein Baum sei ihm so teuer wie die Eiche. Sie sei so stark. Und mit einem Lächeln, so wehmütig, wie man es nur bei Menschen aus alten Geschlechtern findet, die alles gesehen und alles erlebt zu haben scheinen, was ihre achtzehn Ahnen zusammen hier in der Welt gesehen und erlebt haben, sagte er plötzlich, aus einer Gedankenverbindung heraus, die Frau Adelsskjold verstand: »Als Kind hat man so viele Träume.«

»Ja.«

Frau Adelsskjold hatte den Kopf zurückgebogen, so daß ihr Gesicht im Schatten der großen Palmen lag, die hinter ihrem Stuhl standen, und bei dem einen Wort hatte ihre Stimme ganz leise gebebt.

»Aber der Stolz meiner Mutter,« fuhr der Herzog fort, 44 »ist eine Akazienallee, die an ihrem Hochzeitstage gepflanzt wurde.«

Frau Adelsskjold saß einen Augenblick unbeweglich. Dann sagte sie, noch immer mit emporgewendetem Gesicht: »Nirgends sind die Akazien so schön wie in Böhmen.«

Der Meister und Schwitt, die seit dreißig Jahren einander unentbehrlich waren und sich selten etwas zu sagen wußten, hatten fünf Worte miteinander gewechselt und waren vor einer Konsole mit Sevres-Porzellan stehen geblieben, während Adelsskjold, der in Gesellschaften, wo es sich nicht um eventuelle Aufträge handeln konnte, leicht schläfrig wurde, mit seinem Riesenkörper auf einem Stuhl zusammengesunken war.

Herr de Monthieu erzählte von der Klosterschule für Waisen, die seine Mutter daheim gestiftet hatte, und er sagte nach einem Augenblick des Schweigens: »Wie alle diese Erinnerungen einen Menschen doch binden.«

Frau Adelsskjold beugte den Kopf wie zu einem stummen Ja, und plötzlich sagte sie, ohne ihre Stellung zu verändern: »Es ist seltsam. Sich in einer anderen Gesellschaftsklasse einleben ist fast dasselbe wie ein Vaterlandswechsel.«

Es war, als hätte sie ihre eigenen Worte am liebsten zurückgenommen, als sie sie bereits ausgesprochen hatte, während Herrn de Monthieus Gesicht von einer hastigen Röte übergossen wurde und er mit einem Ruck den Kopf hob.

»Ja,« klang es unvermittelt hinter ihnen.

Es war Michael, und sie fuhren beide zusammen. Sie hatten nicht gewußt, daß jemand so nah bei ihnen stand. Michael aber sagte verwirrt, vielleicht um einen Ausweg zu finden: »Können Sie nicht auch aus der Hand lesen, Frau Adelsskjold?«

»Nur ganz wenig,« sagte Frau Adelsskjold, die bereits ihrem Gesicht durch ein Lächeln einen anderen Ausdruck gegeben hatte. 45

»Dann lesen Sie bitte aus meiner,« sagte Michael und streckte ihr die Hand hin.

Frau Adelsskjold nahm sie und betrachtete die Handfläche einen Augenblick beim Schein der Lampe.

Dann ließ sie die Hand so hastig los, daß der ganze Arm gegen Michaels Körper zurückfiel.

»Wie brutal Ihre Hand ist, Michael,« sagte sie.

Und da ihr das Unbehagen bewußt wurde, das durch ihre Worte geklungen hatte, fügte sie hinzu und lachte: »Ich kann ja gar nicht aus der Hand lesen, Michael.«

Michael hatte den Mund geöffnet, aber er schloß ihn wieder, es war, als hätte sich alles Blut seines Gesichts in seinen tiefroten Lippen gesammelt.

»Was hat sie gelesen?« fragte plötzlich der Meister.

Aber Michael antwortete nicht.

Er entfernte sich.

Frau Adelsskjold sagte, vielleicht um das unbestimmte Mißbehagen loszuwerden, das sie noch immer empfand: »Aber was ist Ihnen denn eigentlich prophezeit, Herr de Monthieu?«

Der junge Herzog hob seine Augen fast unmerklich. »Daß der letzte Monthieu,« sagte er und sah sie an, »ein großes Glück teuer bezahlen wird.«

Frau Adelsskjold lachte eine Sekunde, bevor sie den Fächer zusammenschlug. »Das ist keine hübsche Prophezeiung,« sagte sie und sprach auf einmal so kühl, als empfinge sie eine steinreiche Amerikanerin in ihrem Salon.

Sie saßen eine Weile schweigend da, bis der Herzog sagte – vielleicht hatte er Frau Adelsskjolds veränderten Ton nicht beachtet, oder er hatte furchtsam zu erraten versucht, was er enthalten mochte –: »Wenn Sie nach der Normandie kommen, wird es meiner Mutter ein Vergnügen sein, Sie und Herrn Adelsskjold bei sich zu sehen.«

Frau Adelsskjold schien zerstreut und sagte: »Wir 46 kommen vielleicht gar nicht hin. Wir kommen nie dahin, wohin wir eigentlich wollen.«

Und in einem abermals veränderten Tonfall, der fast gereizt klang, fügte sie hinzu: »Wir gehen dahin, wo mein Mann ein Motiv findet. Unser Leben ist eine Eisenbahnfahrt, bei der Alexanders Motive die Haltestellen bilden.«

Herr Schwitt kam durch das Zimmer auf sie zu.

»Ich habe Sie schon seit geraumer Zeit betrachtet,« sagte er, und seine Augen funkelten wie die eines Nagetieres, während er Herrn de Monthieu ins Gesicht sah. »Sie sind wirklich ein schönes Werk von sechs Jahrhunderten.«

Herr de Monthieu, der bisweilen über Herrn Schwitts gesellschaftliche Freimütigkeiten ganz verwirrt wurde, sagte nach einem sekundenlangen Schweigen: »Die Jahrhunderte, Herr Schwitt, verschönern nicht immer die Rassen.«

Und nachdem er noch einige Worte gesagt hatte, entfernte er sich, während Herr Schwitt, dessen Gesicht eine Sekunde unter dem Bart gezittert hatte, sich setzte und sagte: »Ich kann nicht vergessen, gnädige Frau, daß Sie sich so vor dem Tode fürchten.«

Frau Adelsskjold bewegte den Fächer und sagte: »Warum wundert Sie das – gerade bei mir?«

»Weil,« sagte Herr Schwitt (und in seinen Augen leuchtete jener herausfordernde Hohn, der ihn seit vierzig Jahren für so viele Frauen unwiderstehlich gemacht hatte), »weil die Todesangst nur ein Symptom der Leute zu sein pflegt, die noch nicht genug bekommen haben . . . vom Leben.«

Frau Adelsskjolds Nagelspitzen bohrten sich durch ihre Handschuhe. Aber ihre Stimme klang ganz ruhig, als sie antwortete: »Man müßte Ihnen eigentlich gar nicht gestatten, über unsere Schwelle zu kommen, Herr Schwitt. Sie beobachten wirklich allzu scharf.«

Der Diener meldete den Wagen des Herzogs, und Herr 47 de Monthieu verabschiedete sich, indem er sich vor dem Meister verneigte.

»Wollen Sie nicht noch bleiben und sehen, wie sie sich benimmt?« fragte Claude Zoret.

»Wer?«

»Die Russin. Sie rückt uns ja heut abend auf die Bude.«

»Ich habe die Fürstin Zamikof bereits früher gesehen,« sagte Herr de Monthieu und verneigte sich wieder.

Schwitt, der mit Adelsskjold sprach, wandte sich um, und die Lippen auf eine besondere Weise bewegend, sagte er: »Kommt Fürstin Zamikof heut?«

»Ja,« antwortete der Meister, »sie hat die Absicht.«

Herr de Monthieu verbeugte sich vor Frau Adelsskjold, die vielleicht halb gegen ihren Willen sagte: »Was haben Sie gegen die Fürstin Zamikof?«

Herr de Monthieu verharrte in der gebeugten Stellung.

»Was ich gegen sie habe?« sagte er, und etwas leiser, die Augen auf den Teppich geheftet, fügte er hinzu: »Der Letzte des Geschlechts muß wohl seinen Wahlspruch am stolzesten tragen.«

Herr de Monthieu ging, während Adelsskjold zu seiner Frau trat. »Du weißt, wir müssen zu Dawis. Es ist Zeit.«

»Ja,« antwortete Frau Alice, die einen Augenblick stehen geblieben war.

»Ja, mein Freund,« sagte sie und legte hastig und fest ihren Arm in den ihres Mannes.

Der Meister behielt Frau Adelsskjolds dargebotene Hand in der seinen, während seine klaren Augen auf ihrem Gesicht ruhten.

»Ich weiß,« sagte er, »es liegt Ihnen nichts daran. Aber so schön wie heut abend habe ich Sie noch nie gesehen.«

»Nicht wahr,« sagte Adelsskjold, dessen Gesicht strahlte.

»Haben Sie mich überhaupt gesehen?« sagte Frau Alice und lachte. 48

»Auch ich sehe bisweilen,« sagte Claude Zoret und ließ ihre Hand los.

»Wo wollen Sie hin?« fragte Schwitt.

»Mrs. Dawis hat Empfangsabend,« antwortete Adelsskjold, und es war, als würde seine Brust noch breiter, indem er den Namen der »Silberkönigin« nannte – wie immer geblendet von ungeheurem Reichtum, da er selbst aus einem Lande der Seen und Steine stammte.

Die Tür hatte sich kaum hinter Adelsskjolds geschlossen, als Herr Schwitt lachend sagte: »Guten Handel.«

Und plötzlich gepackt, teils von des Kritikers wunderlichem und eifersüchtigem Groll gegen einen Ruhm, den er selbst geschaffen, teils von des Parisers immer lebendigem und heimlichem Zorn gegen alles Fremde, sagte er: »Wie sind wir Franzosen dumm.«

Er schlug die Beine übereinander und fuhr fort: »Wir schaffen aus Eitelkeit den Ruhm dieser Barbaren und sie lachen uns aus – und verdrängen uns.«

Der Meister lachte mit seinem breiten Lachen.

»Charles,« sagte er, »laß uns unsere schöne Gastfreiheit nur behalten.«

Aber Schwitt, der noch immer das Opfer seiner eigenen Gereiztheit war, ergriff einen Pfeil, von dem er wußte, daß er treffen würde, und sagte: »Ulpiano Checa hat hunderttausend Franken für seinen ›Mauren‹ bekommen.«

Es verging vielleicht eine Sekunde, bevor der Meister von seinem Platz hinter einer Lampe antwortete: »Das ist ja erfreulich; Spanien ist arm.«

Schwitt schwieg einen Augenblick.

»Und Frankreich wird es,« sagte er plötzlich mit ganz veränderter Stimme.

Es wurde still in dem hohen, schönen Gemach.

Der Meister hatte die Augen geschlossen.

»Uns beiden, Charles,« sagte er dann, und diesen Ton seiner 49 Stimme kannte nur Michael, »wird es wohl vergönnt sein, zuvor zu sterben.«

Es wurde wieder still, während Michael unter der Lampe, wo er saß, den Kopf zum Meister emporhob. Auf dem weißen Gesicht lag ein Ausdruck, wie der heilige Johannes ihn hatte.

Kurz darauf sagte Schwitt, der jede Stimmung immer mit einigen Worten gleichsam festnageln mußte: »Wie still ist es hier.«

Der Meister, der wieder seine Pfeife genommen hatte und mit dem wallenden, ergrauenden Bart in seinem Stuhl zurückgelehnt saß, sagte: »Wir werden alt, Charles, und freuen uns der Ruhe.«

Schwitt aber, dessen Entsetzen die dahingehenden Jahre waren, veränderte seine Stellung und antwortete: »Du sprichst, als wärst du tausend Jahre.«

Der Meister antwortete und rührte sich nicht: »Manchmal hat man das Gefühl, man ist hundert.«

Herr Schwitt aber sagte plötzlich und lachte: »Armer Adelsskjold.«

»Weshalb?« fragte Michael, der gegen das Geländer der Treppe gelehnt saß, als wäre er mit einem Ruck erwacht.

Herr Schwitt lachte weiter. »Weil das Schicksal ihm über dem Kopf hängt,« sagte er.

Und er begann von einigen Radierungen zu sprechen, die er kürzlich erworben und seiner Sammlung einverleibt hatte. Er habe sie billig gekauft. Er habe sie gegen ein paar Raffaels eingetauscht, die ihm »gefährlich« vorgekommen seien.

Der Diener öffnete die Tür und machte drei Schritte auf den Meister zu: »Prinzessin Zamikof.«

»Ich lasse bitten,« antwortete der Meister, und rührte sich nicht.

Auch Michael stand nicht auf, während Herr Schwitt bereits halbwegs an der Tür war. 50

Prinzessin Zamikof war hereingekommen und wie verlegen dicht an der Schwelle unter einer Lampe stehen geblieben, deren Licht einen roten Schein über ihr sehr blondes Haar warf.

Der Meister hatte sich endlich erhoben und auch Michael stand auf und blieb auf der unteren Stufe der Treppe stehen.

»Ich danke Ihnen, Meister,« sagte Lucia, deren Hände, die ohne Handschuhe waren, leicht die silberglänzende Boa umklammerten, die von ihrem schlanken, jungfräulichen Hals herabglitt, »daß Sie mir erlaubt haben, zu kommen.«

Der Meister antwortete: »Schließlich gibt man nach, Fürstin.«

Und mit einer sehr kurzen Handbewegung fügte er hinzu: »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Herr Charles Schwitt,« sagte er, noch immer stehend, »Eugene Michael.«

Die Fürstin beugte den Kopf vor Herrn Schwitt und vor Michael, ohne sie anzusehen, während Herr Schwitt sagte, er wisse nicht, ob die Prinzessin Zamikof sich seiner erinnere. Und etwas zu hastig begann er, während er sich neben sie setzte, die Orte aufzuzählen, wo sie einander begegnet waren.

»Ich liebe das große Rußland,« sagte er.

Die Fürstin, die den Kopf gesenkt hielt, und die, wenn sie überhaupt aufsah, ihre Blicke nur auf den Meister heftete, sagte mit einer Stimme, die sehr jung klang: »Ich verkehre in Paris sehr wenig mit Landsleuten.«

Herr Schwitt, den der Anblick einer neuen Frau immer in einen plötzlichen Rausch versetzte, sprach vom Kreml und schilderte das Bild von dessen Kuppeln und von Moskaus Schönheit in zehn farbenprächtigen Sätzen, während seine weit geöffneten Nasenlöcher den Duft von Frau de Zamikofs Frauenkörper einzusaugen schienen.

Fürstin Lucia, die ihn noch immer nicht ansah, hob ihren 51 Arm, von dem Perlenreihen herabflossen, und sagte, während sie den Arm wieder in ihren Schoß, gegen den dichten Paillettenflitter des Kleides zurückfallen ließ, der ihren Körper wie in einen funkelnden Silberregen einhüllte: »Jeder Russe muß Ihnen für Ihre ›Tagebücher aus Rußland‹ dankbar sein.«

Weder der Meister noch Michael hatten ein Wort gesagt. Michael stand so dicht neben dem goldenen Bassin an der Treppe, daß die äußersten Spritzer des Springbrunnens seine Wange wie Tau streiften.

Herr Schwitt sagte in einem Ton, der kürzer klang: »Ich schrieb, was ich sah.«

Er begann aber wieder zu erzählen, bis er plötzlich innehielt, vielleicht aus einem Gefühl männlichen Grolls gegen eine Frau, die ihm ihre Aufmerksamkeit versagte, und er fügte nur noch hinzu: »Aber ich vergesse ganz, daß ich in die Oper wollte.«

Die Fürstin sagte mit derselben jungen Stimme: »Und ich,« sagte sie (sie kam direkt von Hause, aber vielleicht wollte sie ihre Toilette erklären), »ich komme eben daher.«

Herr Schwitt verbeugte sich hastig. »Adieu, Claude,« sagte er.

Und als er ins Vestibül kam, sagte er mit geschürzten Lippen zu Michael, der ihn hinaus begleitete: »Was will sie hier? Sie ist höchst unsympathisch.«

Michael, der noch immer lachte, mit einem jungenhaften Lachen, sagte: »Ich wünschte nur, sie ginge bald, denn ich bin unglaublich müde.«

Der Majordomus, der seit elf Jahren im Dienst des Hauses stand, reichte Herrn Schwitt seinen Hut und sagte – er war in alle Geheimnisse eingeweiht, die in dem festen Personalring aller großen Häuser ihre Runde machten –: »Vielleicht stärkt es Madames Kredit, wenn sie vom Meister gemalt wird.«

Michael war zurückgekehrt, während Herr Schwitt noch 52 neben dem Majordomus stand. Als Michael die Tür öffnete, hörte er den Meister sagen: »Und was wünschen Sie denn eigentlich, gnädige Frau?«

Fürstin Zamikof antwortete mit einer Stimme, die vielleicht verschüchtert klang: »Ich glaube, Meister, Sie wissen es,« und schlug die tiefschwarzen Augen zu ihm auf.

»Ja,« antwortete Claude Zoret und blickte ihr gerade ins Gesicht, während Michael zu seinem Platz an der Treppe zurückkehrte.

»Aber,« fuhr der Meister fort, und er sprach, wie er mit den Amerikanern sprach, die seine Bilder kaufen wollten, »ich male nun einmal keine Porträte. Ich gebe mich nicht damit ab, fremde Gesichter auf eine Leinwand zu klecksen.«

Frau de Zamikof war blaß geworden, aber sie lächelte trotzdem, mit einem Lächeln, durch das man plötzlich bemerkte, daß ihre Unterlippe etwas üppig war.

»Aber Sie haben doch schon öfter Porträte gemalt, Meister?«

»Ja,« und Claude Zoret veränderte keine Miene, »Frau Carnot, die meine Freundin war.«

Eine Weile war es still, bis der Meister hinzufügte: »Und Frau Sarah Bernhardt, die ein Genie ist.«

Der Meister senkte seinen Blick in ihren, während Michael, der wieder gegen das Bassin gelehnt stand, eine fast jungenhafte Schadenfreude empfand, und die Fürstin sagte, indem sie sich erhob, mit einer Stimme, die ihre junge Ehrerbietung bewahrte: »Dann bitte ich wegen meines Kommens um Verzeihung.«

Claude Zoret stand einen Augenblick still, bis er, mit einem der jähen Übergänge, die ihm eigen waren und die vielleicht ihren Grund in seiner gesellschaftlichen Unsicherheit hatten, sagte: »Na, da Sie nun mal da sind, kann ich Sie meinetwegen auch malen.«

Weniger als eine Sekunde überflog eine Röte die 53 Wangen der Prinzessin, bevor sie sich ein wenig zu tief vor Claude Zoret verneigte.

»Danken darf man wohl nicht,« sagte sie.

Der Meister lachte. »Doch, das dürfen Sie,« sagte er, »wenn Sie erst mal gemalt sind.«

Und plötzlich aufgeräumt, vielleicht in dem Gedanken an das Bild, das er bereits vor sich sah, begann er nach einigen von Wereschtschagins Werken zu fragen, und seine Lippen etwas vorschiebend, sagte er: »Ihr Landsmann, Fürstin, war ein großer Zeichner des Elends.«

Und indem er auf eine der Wände zeigte, sagte er: »Der Kosak ist von ihm.«

»Michael,« fuhr er fort, »zünde den Scheinwerfer an.«

Michael eilte herbei und drehte einen Scheinwerfer auf Wereschtschagins Bild.

»Ja,« sagte Frau de Zamikof, »mich hat sein vieler Schnee nun eigentlich nie begeistert.«

Der Meister lachte von neuem.

»Er und Herr Munkaczy hätten Cantu illustrieren müssen,« sagte er.

Frau de Zamikof lachte und sagte: »Das ist ein Meissonnier.«

Aber als Michael, der dicht neben ihr stand, die Lampe dahin drehen wollte, fiel ihr Schein plötzlich auf den »Sieger«, der in der Mitte der Wand hing, und beleuchtete die palmentragende Gestalt des Atheners.

»Das sind Sie,« sagte die Prinzessin und wandte sich jäh zu Michael um.

Michaels Hand glitt von der Lampe herab. Es war, als wenn all sein Blut plötzlich sein weißes Gesicht färbte, er, dessen Nacktheit doch von Tausenden gekannt war.

»Ja, das ist der Athener,« sagte der Meister.

Während Michael in seiner Verwirrung die Lampe zu wenden vergaß, die den schimmernden Körper des Siegbringers beleuchtete, betrachtete Frau de Zamikof den 54 Athener, und es zeigten sich plötzlich zwei Grübchen in ihren Wangen.

Sie wandte sich wieder zu Michael und sagte, während ein hastiger Blick ihres Auges das seine traf: »Es erinnert mich an ein russisches Gedicht.«

»An welches?«

Aber Frau Zamikof lachte.

»Es würde Sie zu eingebildet machen,« sagte sie und wandte sich an den Meister, um mit ihm über Meissonnier zu sprechen.

Michael lenkte, vielleicht aus knabenhaftem Übermut, den Scheinwerfer einen kurzen Augenblick auf ihren Rücken. Wie eine Silberflut fielen die Perlen blitzend von den gewölbten Schultern herab.

»Wo bleibst du mit dem Licht?« sagte der Meister.

»Hier,« sagte Michael und lenkte hastig den Schein der Lampe auf Meissonniers Bild.

Frau de Zamikof fragte, während sie den Kopf beugte, mit einer Frage, die sie vielleicht in einem Buch gelesen hatte und die der Instinkt ihr eingab: »Aber, Meister, kann man . . . kann man eigentlich« (und sie suchte, oder tat als suche sie nach einem Wort) – »das ›Entscheidende‹ innerhalb eines so kleinen Rahmens schaffen?«

Der Meister sah hastig auf: »Man meint es,« sagte er.

Und entweder heimlich geschmeichelt oder weil er dachte, daß sie zu denen gehöre, die wirklich Verständnis haben, zeigte er ihr, plötzlich angeregt und gesprächig, Bild auf Bild: die Corots, Manets, Besnards – alle seine Schätze, während Frau de Zamikof, deren Gesicht einen seltsamen Ausdruck trug, als hätte sie plötzlich vor einem neuen und verwirrenden Gedanken halt gemacht, ihre Augen über die Bilder gleiten ließ, ohne sie zu sehen.

»Licht,« sagte der Meister.

»Ja,« antwortete Michael geistesabwesend wie vorhin.

Die Fürstin begann wieder plötzlich zu sprechen, sehr 55 dicht neben dem Meister, mit ihrer ganz jungen Stimme, ehrerbietig, als umschmeichelten ihre Worte Claude Zoret, der heiter plauderte, um zehn Jahre verjüngt.

»Licht,« rief er wieder, während seine strahlenden Augen von den Bildern zu Frau de Zamikofs Gestalt wanderten, die er malen wollte.

Michael, dessen Blässe wie von einem Strom von hellrotem Blut durchglüht war, führte immer wieder, halb scheu, halb hitzig, die Lampe auf die eigenen Bilder des Meisters, auf den »Alkibiades auf dem Marktplatz von Athen« und auf den »jungen Brutus«.

Während Frau de Zamikof beständig daran vorbeischritt, als verbiete ihre Bescheidenheit ihr, über die eigenen Werke des Meisters zu sprechen.

Plötzlich blieb sie stehen.

»Das ist ja Eros,« sagte sie, und sie blieb stehen, während der Scheinwerfer, von Michaels Hand geführt, sein volles Licht über ein Gemälde ergoß, auf dem Eros, auf sein Schwert gestützt, nackt, schlank, den Kopf auf königlichem Halse, den Garten der Seligen bewacht.

»Ja, das ist Eros,« sagte der Meister gleichgültig, als sei von dem Werke eines andern die Rede.

Frau de Zamikof hatte sich halb zu Michael gewendet, als wolle sie sprechen. Aber ihr Blick streifte nur die Rundung seiner Wange.

Der Meister, der sie unablässig betrachtete, befestigte in seinem Gedächtnis, das bereits ihr Wesen, das er auf die Leinwand bannen wollte, einsog, diesen neuen, zitternden Ausdruck ihres Gesichtes, während die Prinzessin, halb ihm zugewandt, sagte: »Wie schön, Meister, müssen erst die Seligen sein, die er bewacht.«

Der Meister sagte: »Die habe ich nicht gemalt.«

Und kurz darauf fügte er hart hinzu: »Denn ich habe sie nie gesehen.«

Weniger als eine Sekunde hatte Michael – und wußte 56 es kaum – sein leuchtendes Gesicht Frau de Zamikofs Gesicht zugewandt, das wie das seine strahlte.

Dann senkte sie die Augenlider und es war, als glitte bei dieser einen Bewegung ein Schleier von Leid über ihr Gesicht.

»Wer hat die wohl gesehen?« sagte sie, und sie schwiegen eine Weile.

»Ich werde Ihnen Bescheid schicken, Fürstin,« sagte der Meister, der gewohnt war, seine Gäste zu verabschieden.

Frau de Zamikof verbeugte sich tief, während sie ihre Augen zu ihm aufschlug.

»Man darf Ihnen also nicht danken,« sagte sie.

»Michael,« sagte der Meister, »begleite die Fürstin hinaus.«

Der Majordomus wartete im Vestibül.

Michael aber legte selbst (während Frau de Zamikof mit einem einzigen Blick den ganzen Reichtum der Säulenhalle zu umfassen und zu messen schien) den Mantel um ihre Schultern.

»Danke,« sagte sie, ohne ihn anzusehen, und sie ging, vom Majordomus geleitet, zu ihrem Wagen.

Die Tür wurde zugeschlagen und der Wagen fuhr davon.

Frau de Zamikof zog die Gardinen vor, als wolle sie nicht gesehen werden und ganz allein sein.

. . . Michael kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Der Meister saß auf seinem Lieblingsplatz unter einem der goldenen Bassins. Michael wanderte im Zimmer auf und ab und blieb jedesmal vor dem »Sieger« stehen.

»Setz dich,« sagte der Meister.

»Ja,« und Michael setzte sich.

Sie saßen beide schweigend, während das Wasser plätschernd in die Bassins rann.

Der Meister reckte die starken Glieder und sagte aus einem unbekannten Gedankengang heraus: »Michael, ich bin doch noch nicht alt. Ich kann noch sehen57

Michael hörte nicht. Er saß noch immer, den Blick auf sich selbst gerichtet, auf die palmentragende Gestalt des Atheners.

Der Meister hatte sich erhoben und legte den Arm um Michaels Schultern.

»Ich schenke ihn dir,« sagte er. »Das hatte ich mir schon lange vorgenommen.«

»Das darfst du nicht,« sagte Michael, und fast heftig: »Das sollst du nicht. Das habe ich nicht verdient.«

Der Meister strich mit seiner Bauernhand sanft über Michaels Haar.

»Es wird ja doch einmal,« sagte er und seine Stimme klang weich, »alles dein sein.«

Tränen waren Michael in die Augen getreten, und er hielt des Meisters Hand fest in seinen beiden.

»Wie gut du bist,« sagte er, »danke.«

»Hol mir einen Pinsel,« sagte der Meister, »ich will deinen Namen unter das Bild setzen.«

»Danke,« flüsterte Michael wieder und konnte kaum sprechen.

Er ging ins Atelier hinauf. Er wußte, nein, er wußte nicht, welche Farbe die Augen der Fürstin hatten.

Er kehrte mit dem feuchten Pinsel zurück, und auf einem Stuhl stehend, schrieb der Meister am Fuße des »Siegers«: »Für Michael«.

Sie standen beide einen Augenblick vor dem herrlichen Gemälde.

»Jetzt gehört es dir,« sagte der Meister.

Und wieder war es still.

Auf einmal aber hob Claude Zoret seine Augen und schaute umher im Saal, von Bild zu Bild.

»Und wer weiß schließlich,« sagte er, »was das alles wert ist?«

Er stand eine Weile nachdenklich, und es war, als sänken seine Schultern zusammen. 58

»Manchmal will es mir scheinen, als hätte ich das einzige, was wert zu malen wäre, nie gemalt.«

»Welches einzige?« fragte Michael.

»Das Leben,« sagte der Meister, und die letzten Worte verschwanden unter dem Geräusch des schweren Stuhles, den er plötzlich beiseite schob, »das Leben, das ich nie gelebt habe.« Und mit vorgeschobenen Lippen sagte er: »Mir wird einst eine Wand neben David eingeräumt werden.«

Michael hatte sich nicht gerührt. Nur seine Augen waren blitzschnell über die Bilder hingefahren – mit einem seltsamen Aufleuchten.

Dann sagte er und er schrie es fast: »Claude, der ›Sieger‹ kann nie sterben.«

Der Meister lächelte.

»Nein,« sagte er, »der gehört ja dir.«

Sie schwiegen wieder.

Dann sagte Michael merkwürdig kurz: »Adieu.«

»Gehst du?« fragte der Meister und wandte den Kopf. Michael pflegte immer im Hause des Meisters zu schlafen, wenn Gesellschaft gewesen war.

»Ja, ich gehe nach Hause,« antwortete Michael. »Gute Nacht.«

»Lebwohl,« antwortete der Meister und setzte sich wieder unter das Bassin.

Michael ging.

»Gehen Sie fort, Herr Michael?« fragte der Majordomus.

»Ja,« sagte Michael und wurde plötzlich ganz verwirrt, »ich gehe . . . nach Hause.«

Plötzlich blähte er seine Nasenflügel. Ja, das war der Duft von Frau de Zamikofs Mantel.

»Gute Nacht, alter Jacques,« sagte er und lachte, als er ging.

. . . Michael trat in den Hof der Tuilerien. Die Nacht lag silberweiß unter dem gleitenden Mond, und die 59 goldenen Spitzen des Gitters leuchteten wie kleine, eben angezündete Kerzen.

Michael ging weiter. Unter ihm ergoß die Seine ihre dunkelblauen Wasser durch die Bogen der Brücke. Die Kühle des Stromes schlug zu ihm herauf und streifte seine heißen Wangen.

Als er den Kai erreicht hatte, blieb er unter den Bäumen plötzlich vor Herrn de Monthieu stehen.

»Wandern Sie hier umher?« fragte er.

»Ja,« antwortete der Herzog, der verwirrt schien, »die Nacht war so schön.«

»Ja, wunderbar schön,« sagte Michael, der tief, mit weit geöffneten Lippen atmete.

Und sie trennten sich wie zwei, die einander nichts zu sagen haben.

Michael ging über seinen Hof, durch den Garten seines Hauses.

Der Diener, der im Vestibül wartete, zündete das elektrische Licht an.

»Sie können zu Bett gehen,« sagte Michael und ging hinauf.

Er öffnete im Wohnzimmer die Balkontür, und gegen die Mauer gelehnt, blickte er über die Bäume des Gartens in die weiße Nacht hinaus. Der Duft der Veilchen mischte sich stark mit dem der kürzlich erblühten Akazien.

Michael rührte sich nicht.

Der Mond stieg herauf und glitt wieder fort.

 


 


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