Matteo Bandello
Novellen
Matteo Bandello

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Romeo und Julia

(Shakespeare, Romeo und Julia)

Zu den Zeiten der Scaliger bestanden zu Verona die zwei an Adel und Reichtum über andere ragenden Familien der Montecchi und Capelletti, zwischen denen, gleichviel aus welchen Gründen, eine so grausame und blutige Feindschaft sich entsponnen hatte, daß in dem wiederholten Handgemenge, welches sie zu ihrem immer ärgeren Entflammen nach sich zog, nicht nur der eigenen Angehörigen, sondern auch der Anhänger beider Geschlechter die Menge getötet wurde. Als nun vorzeiten Bartolomeo Scala Herr von Verona war, bemühte sich derselbe zwar, sie miteinander auszusöhnen, kam aber nimmer damit zustande, weil ihr gegenseitiger Haß zu tief gewurzelt hatte. Nichtsdestoweniger bewirkte er so viel, daß er, wenn auch nicht den Frieden stiftete, so doch den immerwährenden tätlichen Ausbrüchen ihres Unfriedens steuerte, demzufolge schon allmählich wieder viele von den beiden feindlichen Parteien anfingen, miteinander zu reden.

Da geschah es, daß dereinst zur Karnevalszeit in dem Hause des gastfreien und lebensfrohen Antonio Capelletto, des Hauptes seiner Familie, ein glänzendes Fest gefeiert werden sollte, zu dem eine große Anzahl edler Männer und Frauen eingeladen war, und daß unter anderen Jünglingen auch Romeo Montecchio, etwa zwanzig bis einundzwanzig Jahre alt, und wohl der schönste und gesittetste von allen, hinging.

Romeo war damals in heftiger Liebe zu einem jungen Fräulein entbrannt, dem er schon seit zwei Jahren sein Herz ergeben hatte und tagaus, tagein allerwärts, in die Kirche oder wo sie sonst hinging, folgte, obgleich sie ihn noch keines einzigen Blickes gewürdigt hatte. Er hatte ihr viele Briefe geschrieben und Botschaften gesendet; aber ihre Härte und Strenge gegen ihn blieb sich immer gleich und bewog den leidenschaftlichen Jüngling am Ende, da sie ihm immer schwerer zu ertragen fielen, und nachdem er unendliche Klagen ausgestoßen hatte, zu dem Entschlüsse, Verona zu verlassen und ein oder zwei Jahre auf Reisen im übrigen Italien zuzubringen, um sich seines ungezügelten Verlangens also womöglich zu entledigen. Jedoch von seiner heißen Liebe zu ihr überwunden, machte er sich dagegen wieder selbst Vorwürfe, einen so törichten Gedanken gefaßt zu haben, und wußte auf keine Weise fortzukommen. Zuweilen sagte er zu sich: »Warum liebe ich sie nur, da ich doch aus tausend Anzeichen erkennen kann, daß meine Dienstbarkeit ihr nicht angenehm ist? Warum verfolge ich sie denn wie ihr Schatten überallhin, da ich weiß, daß es mich zu nichts führt? Vielleicht erlischt, sobald ich sie nicht mehr sehe, dieses Feuer meiner Leidenschaft allmählich, wenn es aus ihren schönen Augen weiter keine Nahrung zieht?«

Aber all sein Sinnen und Trachten war vergebens; denn es nahm den Anschein, daß, je spröder sie ihm begegnete und je weniger sie ihn hoffen ließ, desto mehr seine Liebe zu ihr anwüchse, so daß er keinen Tag mehr Ruhe hatte, ohne sie gesehen zu haben. Indem er nun so standhaft und inbrünstig an dieser Liebe hing, befürchteten einige seiner Freunde, sie würde ihn zugrunde richten, und mahnten ihn viele Male liebreich davon ab; aber er beachtete ihre heilsamen Ratschläge ebensowenig, als die Dame seines Herzens sich um sein Tun und Lassen kümmerte. Unter anderen hatte Romeo einen Genossen, dem es über die Maßen leid war, ihn ohne die Hoffnung auf Erfolg die Zeit seiner Jugend und die Blüte seiner Jahre an diese Dame verschwenden zu sehen, und er sagte daher eines Tages gesprächsweise zu ihm: »Romeo, mir, der ich dich wie einen Bruder liebe, ist es gar zu empfindlich, dich also wie Schnee an der Sonne schmelzen zu sehen! Du siehst und erkennst ja, daß es dir mit nichts gelingt, ihre Liebe zu erwerben: was mühst du dich so unnützerweise ab? Es ist die äußerste Torheit, nach etwas Unmöglichem zu streben. Wahrscheinlicherweise hat sie ihren Liebhaber schon, um dessentwillen sie nichts von dir wissen mag. Du aber bist vielleicht der schönste unter den Jünglingen dieser Stadt. Du bist, erlaube mir, dir die Wahrheit unter die Augen zu sagen, gesittet, anmutig, höflich, und, was der Jugend zur höchsten Zierde gereicht, du hast deinen Geist mit edlem Wissen gebildet. Überdies bist du der einzige Sohn deines Vaters, dessen große Reichtümer allbekannt sind, und der ja nicht etwa dich knapp hält und über dich Klage führt, wenn du zu viel verschwendest. Er ist dir ein Verwalter, der sich für dich abmüht und dich tun läßt, was du willst. Besinne dich also jetzt und erkenne den Irrtum, worin du lebst! Lüfte von deinen Augen den Schleier, der sie umdämmert und dich den Weg, den du einzuschlagen hast, nicht wahrnehmen läßt! Entschließe dich, deinen Sinn auf eine andere zu richten, die deiner wert ist! Die Zeit der Karnevalsfreuden und der Feste beginnt. Nimm teil an allen, und wenn du dabei zufällig einmal in die Nähe derjenigen kommen solltest, der du so lange Zeit vergebens dientest, so schaue nicht auf sie, sondern in den Spiegel deiner seitherigen Liebe zu ihr, wodann du gewißlich insofern einen Ersatz für deine Leiden findest, als der gerechte Zorn, der dich darob ergreifen muß, deine blinde Leidenschaft aufhebt und dich der Freiheit wiedergibt.« Der getreue Freund suchte seinen Romeo auch noch mit anderen Gründen zu seiner Meinung zu überreden, und so entschloß sich derselbe zuletzt, nachdem er ihn ruhig angehört hatte, ihm zu folgen. Er fing an, Feste zu besuchen, und wo er irgend seine Spröde ersah, wendete er den Blick von ihr ab und auf andere Schönen, um eine zu suchen, die ihm gefiele, gleich als ob er auf den Markt gegangen wäre, um Tuch oder Pferde zu kaufen. Als er nun dieser Tage, wie schon gesagt, auf Capellettos Fest gegangen war, mit dem er allerdings nicht befreundet war, jedoch sich auch gerade nicht absichtlich anfeindete, so blieb er eine Weile daselbst mit der Maske vorm Gesicht und nahm sie alsdann ab, indem er sich in einen Winkel niedersetzte, wo er alle Anwesenden in dem großen Saale übersehen konnte, dessen heller Kerzenschimmer gleichsam mit dem Tageslichte wetteiferte. Jedermann und zumal die Damen sahen auf Romeo und verwunderten sich, daß er, und zwar zur Nachtzeit, so sorglos in diesem Hause weilte; indessen wurde er wegen seiner guten Eigenschaften allgemein gern gesehen, und seine Feinde achteten eben nicht so sehr auf ihn, als sie vielleicht würden getan haben, wenn er älter gewesen wäre. So betrachtete denn Romeo im stillen die schönen Frauen des Festes, die eine mehr, die andere weniger, je nachdem ihre Reize seine Aufmerksamkeit erregten, und erlustigte sich auf diese Weise, ohne zu tanzen, als er mit einem Male ein außermaßen schönes Mädchen wahrnahm, das er nicht kannte. Sie gefiel ihm so unendlich wohl, daß er dafür hielt, niemals eine schönere und anmutvollere Jungfrau gesehen zu haben; ja es wollte ihm sogar scheinen, als ob ihre Reize ihm immer bedeutender in das Auge fielen, je länger und angestrengter es auf ihnen ruhte. Er begann mit ihr zu liebäugeln, vermochte immer weniger seine Blicke von ihr abzuwenden und gelobte sich in der ungewohnten Freude, die sein Herz über ihren Anblick empfand, alles aufzubieten, um ihre Gunst und Liebe zu erlangen. Also wurde denn seine bisherige Liebe zu jener anderen Jungfrau von dieser neuen Flamme überwunden, die nicht eher als mit seinem Tode erlosch. In dieses schöne Labyrinth eingegangen, wagte Romeo nicht, den Namen seiner süßen Augenweide zu erfragen, sondern sog aus ihr das Gift der Liebe mit jeder Gebärde und von jedem Reize des schönen Mädchens ein, das er in seinem Winkel immerdar an sich vorübertanzen sah. Julia – denn so lautete ihr Name, die die Tochter des Hauses war – kannte zwar auch ihrerseits Romeo nicht; aber er erschien ihr als der ausgezeichnetste und schönste Jüngling der festlichen Versammlung, und sie fand eine so wundersame Befriedigung darin, ihn zuweilen mit einem verstohlenen süßen Blicke anzusehen, daß ihr Herz ihr von unbeschreiblichem Entzücken anschwoll. Die Jungfrau wünschte sehnlich, daß Romeo zum Tanze antreten möchte, damit sie ihn besser sähe und sprechen hörte; denn es wollte ihr bedünken, daß seine Rede ebenso viele Süßigkeit aushauchen müßte, als ihre durstigen Blicke aus seinem Anschauen sogen; nur blieb er allein unbeweglich sitzen und schien keine Lust zu bezeigen, zu tanzen, weil sein ganzer Sinn sich auf die Erscheinung des schönen Mädchens richtete. So verloren sich beide in ihren gegenseitigen Anblick, und wenn sich dabei zuweilen ihre Augen begegneten und deren feurige Strahlen ineinanderflossen, so versah sich ein jedes von ihnen der Verliebtheit des anderen leicht: denn sie erfüllten dann die Luft mit schweren Seufzern und gaben durch sie zu verstehen, daß sie damit nichts Ferneres ersehnten, als ihre heißen Liebesflammen einander zu offenbaren.

Mittlerweile kam die Mitternacht und das Ende des Balles heran, und man bereitete sich, ihn mit dem Fackeltanze, den andere den Tanz mit dem Hute nennen, zu beschließen. Romeo wurde zu dieser Belustigung von einer Dame aufgefordert, trat also mit im Kreise an und gab, nachdem er seine Pflicht getan hatte, die Fackel einer Dame, worauf er, wie es ihm die Regel des Tanzes gestattete, sich neben Julia stellte, die er zu unsäglichem Vergnügen beider bei der Hand faßte. Neben Julia stand auf der anderen Seite einer, namens Marcuccio, der Schielende, der ein großer und allgemein beliebter Hofmann war, weil er immer einen witzigen Einfall oder eine launige Geschichte in Bereitschaft hatte, um die Gesellschaft damit zu unterhalten oder lachen zu machen. Er hatte jederzeit, winters und sommers, so wie das kälteste Alpeneis, kalte Hände, die immer noch frostig blieben, wenn er auch schon die längste Weile am Feuer gesessen und sie gewärmt hatte. Wie nun Julia fühlte, daß er ihre linke Hand ergriff, so wendete sie sich, deren Rechte Marcuccio hielt, wohl begierig, ihn sprechen zu hören, heiteren Angesichtes ein wenig nach ihm hin und sagte mit bebender Stimme: »Gesegnet sei mir Eure Ankunft an meiner Seite!«, indem sie seine Hand liebevoll drückte. Der Jüngling, der aufgeweckten Geistes und nichts weniger als blöde war, erwiderte zärtlich ihren Händedruck und sagte: »Madonna! In welcher Weise wird mir Euer Segen zuteil?«, wobei sein um Erbarmen flehendes Auge an ihrem Munde hing. Süß lächelnd antwortete sie ihm: »Verwundert Euch nicht, junger Herr, daß ich Eure Ankunft neben mir segne: denn Herr Marcuccio hat mich schon seit langer Zeit mit der Eiseskälte seiner Hand erstarrt, und es erwärmt mich nun die Zartheit der Eurigen wieder.«

Hierauf sprach Romeo sogleich: »Mein Fräulein! Es ist mir unendlich lieb, gleichviel auf welche Art, Euch einen Dienst zu erweisen, und ich versichere Euch, daß ich ganz der Eurige bin. Wofern Euch aber meine Hand erwärmt, wie Ihr mir sagt, so verbrennen mich, das glaubt mir, Eure schönen Augen und werden mich bald ganz und gar zu Asche verwandelt sehen, wenn Ihr mir nicht hilfreich beistehen wollt, diese Flamme auszuhalten.«

Er hatte diese Worte kaum gesprochen, so war auch der Fackeltanz zu Ende, und die liebeglühende Julia hatte nur noch so viel Zeit, mit einem abermaligen Seufzer und einem Drucke der Hand ihm zu entgegnen: »Ich weiß Euch, meiner Treu, nichts weiter zu sagen, als daß ich Euch mehr als mir selbst zu eigen bin.« So schieden sie voneinander, und es blickte Romeo ihr mit spähendem Auge nach, wo sie hinginge, bis er dann bald erkannte, daß sie die Tochter des Hausherrn sei, und ein wohlwollender Mann, den er nach ihr und anderen Frauen befragte, ihm diese erlangte Kenntnis bestätigte. Er wurde nun zwar darüber auf das übelste gelaunt, indem er einsah, wie gefährlich und schwer es für ihn sein würde, diese Liebe zu einem glücklichen Ausgange zu führen; aber die Wunde war einmal offen, und das verderbliche süße Gift drang in sie hinein. Auf der andern Seite trug Julia sehnliches Verlangen, zu wissen, wer der Jüngling sei, dem sie sich schon so gänzlich hingegeben fühlte, und sie rief ihre alte Amme und fragte sie, mit ihr in ein Zimmer gehend und an ein Fenster tretend, das von den auf der Straße brennenden vielen Fackeln ganz erhellt war, bald, wer der in dem und dem Kleide, bald, wer jener, der den Degen in der Hand trüge, und endlich auch, wer der mit der abgenommenen Maske sei? Die gute Alte, die fast alle Leute kannte, nannte ihr den einen wie den anderen, und also auch Romeo, dessen Namen sie recht wohl wußte.

Als die Jungfrau den Zunamen Montecchio aussprechen hörte, wurde sie vor Schrecken halb betäubt und verzweifelte, bei der zwischen beiden Familien herrschenden Feindschaft, ihren Romeo jemals zum Gatten zu erhalten; jedoch verriet sie ihr Mißvergnügen darüber durch kein einziges Zeichen. Sie ging zu Bette und konnte freilich in dieser Nacht wenig oder gar nicht schlafen, weil die verschiedenartigsten Gedanken ihr durch den Sinn zogen; aber Romeo zu lieben konnte und wollte sie nicht aufhören, so heftig war sie für ihn und seine Schönheit entbrannt, welche letztere alle Hoffnungslosigkeit ihrer Vernunft überwältigte. Indem sie so ein Spielball der entgegengesetztesten Gedanken und Gefühle war, sprach sie des öfteren zu sich selbst: »Wohin lasse ich mich nur von meinem unablässigen Verlangen irreleiten? Weiß ich Törin denn schon, ob mich Romeo liebt? Vielleicht hat der Verschlagene jene Worte nur gesagt, um mich zu täuschen und mir etwa meine Ehre zu rauben, über deren Verlust er mich dann bei dem wilden Hasse verspotten möchte, der unsere beiderseitigen Verwandten alle Tage mehr zu entzweien scheint? Aber es verträgt sich doch nicht mit der Hoheit seines Gemütes, daß er diejenige hintergehen sollte, die ihn liebt und anbetet. Und wenn das Antlitz der Spiegel der Seele ist, so kann ja seine Schönheit unmöglich ein so hartes, unerbarmendes Herz verkündigen, sondern es steht von einem solchen Jünglinge vielmehr nichts anderes als Liebe und Edelsinn zu erwarten. Nehme ich nun indessen an, wozu ich allerdings berechtigt zu sein glaube, daß er mich wirklich liebt und zu seinem Weibe erkiesen will, – darf ich mir da wohl auch vernünftigerweise einbilden, daß mein Vater jemals in diese Heirat willigen wird? Jedennoch, wer weiß, ob nicht durch ein solches Verwandtschaftsband eine immerwährende Eintracht und ein sicherer Frieden zu vermitteln wäre ? Ich habe mehrmals sagen hören, daß durch Ehebündnisse nicht allein bei Bürgern und Edelleuten Uneinigkeit geschlichtet, sondern auch unter großen Herren und Königen grausame Kriege beendet und starke Freundschaften, zu männiglich Genügen, gestiftet worden sind. Vielleicht bin ich bestimmt, diese beiden Geschlechter auf ähnliche Weise zu beruhigen?«

Indem sie auf diesem Gedanken beharrte, zeigte sie Romeo jedesmal, wenn er in diese Stadtgegend kam, ein heiteres Angesicht und ermutigte ihn also, der nicht minder wie sie mit sich selbst im Kampfe lag und bald hoffte, bald verzweifelte, allen Gefahren zum Trotz Tag und Nacht vor ihrem Hause zu verweilen oder vorüberzuwandeln und sich an den Äußerungen ihrer Freundlichkeit gegen ihn immer mehr in Liebe zu entzünden.

Julias Zimmer hatte die Aussicht nach einem sehr schmalen Wege, auf dessen anderer Seite ein Gemäuer lag. Wenn nun Romeo, die Straße vorüberwandelnd, an den Eingang dieses Weges kam, so erblickte er von da gewöhnlich die ihm mehr als wohlwollende Julia an ihrem Fenster. Des Nachts betrat er auch wohl diesen Weg, blieb vor ihrem Fenster stehen, weil die Gegend nicht besucht war, und hatte zuweilen die Freude, seine Geliebte reden zu hören. Da geschah es denn auch einmal, daß Romeo daselbst stand und Julia entweder, weil sie ihn hörte, oder aus einer anderen Ursache das Fenster öffnete. Romeo zog sich in das Gemäuer zurück, konnte dies aber nicht so schnell tun, daß sie ihn nicht bei dem hellen Mondschein erkannt hätte. Sie befand sich allein in ihrem Zimmer und rief ihn, leise zu ihm sagend: »Romeo! Was tut Ihr allein zu dieser Stunde hier? Wenn Ihr betroffen würdet, Unglücklicher! Was sollte aus Eurem Leben werden? Bedenkt Ihr nicht die wilde Feindschaft zwischen den Eurigen und den Unseren, die schon so viele getötet hat? Ihr würdet ganz gewiß zu Eurem großen Schaden und zu meiner geringen Ehre von ihnen umgebracht werden!«

»Gebieterin!« antwortete Romeo, »meine Liebe zu Euch ist schuld, daß ich zu dieser Stunde hierhergekommen bin, und ich bezweifle gar nicht, daß mich die Eurigen würden töten wollen, wenn sie mich hier finden; ich würde mich indessen nach meinen besten Kräften wehren und nicht allein erliegen, wenn ich auch von der größten Übermacht bedrängt werden sollte. Da ich denn nun aber in diesem Liebesabenteuer jedenfalls sterben muß, welch seligeren Tod als den an Eurer Seite könnte ich finden? Eure Ehre mag ich so wenig irgend beeinträchtigen, daß ich bereit bin, sie mit meinem Blute zu verteidigen. Aber wenn die Liebe zu mir über Euch ebensoviel vermöchte wie die Liebe zu Euch über mich, und wenn Euch an meinem Leben nicht minder gelegen wäre als mir an dem Eurigen, so würdet Ihr alles Leid von uns abwenden und mich zu dem beglücktesten Mann auf Erden machen.«

»Und was wollt Ihr, daß ich tun soll?« fragte Julia.

»Ich wollte«, erwiderte Romeo, »Ihr liebtet mich so sehr, wie ich Euch, und ließet mich in Euer Zimmer ein, auf daß ich Euch dort gemächlicher und ungefährdeter die Größe meiner Liebe und meine herben Leiden um Euretwillen schildern könnte.« Hierauf entgegnete Julia, ein wenig über ihn zürnend: »Romeo, du kennst deine Liebe, ich die meinige, und ich weiß auch, daß ich dich liebe, so sehr man lieben kann, und vielleicht mehr als meine Ehre zuläßt. Aber ich sage dir, daß du in einem großen Irrtume befangen und nicht eines Sinnes mit mir bist, wenn du vermeinst, mich anders als in der heiligen Vereinigung der Ehe zu besitzen. Du hältst dich hier des öfteren in einer gefährlichen Nachbarschaft auf und könntest einmal in schlimme Hände fallen, worüber ich mich nimmer zufriedengeben würde; wofern du denn aber ebenso sehnsuchtsvoll wünschest, mein zu sein, als ich ein ewiges Verlangen trage, dir anzugehören, so nimm mich zu deinem ehelichen Gemahle: ich werde bereit sein, dir als solches allerwärts zu folgen, wohin es dir gefällt. Wenn du hingegen anderen Sinnes bist, so gehe fürder deine eigenen Wege weiter und überlasse mich in Frieden mir selbst!«

Romeo, der nichts mehr als dies wünschte, wozu sie ihn aufforderte, sprach ihr fröhlichen Mutes diese Gesinnung aus, und sodann fügte Julia noch hinzu: »Nun, so lebe wohl! Damit aber unser Vorhaben nach Würden gut vollbracht werde, so wünsche ich, daß der ehrwürdige Bruder Lorenzo von Reggio, mein geistlicher Vater, uns traue.«

Sie kamen deswegen miteinander überein und beschlossen, daß Romeo, der ihn sehr genau kannte, des nächstkommenden Tages mit ihm Rücksprache nähme. Dieser fromme Bruder gehörte zu dem Orden der Minoriten, war Magister der Theologie, ein großer, in vielen Dingen erfahrener Philosoph und ein sehr geschickter Destillierer und in der Magie bewandert. Da er zu gleicher Zeit diesen seinen Lieblingsbeschäftigungen nachleben und bei dem gemeinen dummen Volke doch in gutem Ansehen bleiben wollte, so betrieb er jene so geheim als möglich und suchte sich desgleichen für alle Fälle an irgendeinem mächtigen Edlen eines Schutzes und einer Zuflucht zu vergewissern, die ihm unter anderen Freunden denn auch Romeos Vater, ein in Verona höchst einflußreicher Mann, verlieh, der den guten Bruder gewissermaßen für einen Heiligen ansah. Auch Romeo liebte ihn außerordentlich und wurde von dem Bruder wiedergeliebt, weil der ihn als einen klugen, hoffnungsvollen Jüngling kannte. Überdies ging Lorenzo nicht bloß im Hause der Montecchi ein und aus, sondern galt auch viel bei den Capelletti und hatte die Hälfte des Adels von Verona, Männer sowohl wie Frauen, zu Beichtkindern.

Nachdem Romeo also mit der besagten Übereinkunft von Julia Abschied genommen hatte, ging er nach Hause und mit dem folgenden Morgen nach dem Franziskanerkloster, wo er dem Bruder den ganzen Verlauf seiner Liebe und seine und Julias gemeinschaftliche Wünsche eröffnete. Bruder Lorenzo hörte ihn an und versprach, alles zu tun, was Romeo verlangte, weil er entweder ihm nichts abschlagen konnte oder durch dieses Mittel die Capelletti und die Montecchi miteinander auszusöhnen und sich bei Herrn Bartolomeo in Gunst zu setzen hoffte, welcher letztere eifrigst wünschte, den durch die gegenseitigen Feindschaften der beiden Geschlechter so oft gestörten Frieden der Stadt endlich einmal auf die Dauer herzustellen.

Das Liebespaar wartete nun auf die Gelegenheit zu beichten, um seinen Entschluß auszuführen; es kam die Fastenzeit heran, und Julia hielt es zu desto größerer Sicherheit für geraten, sich ihrer Amme anzuvertrauen, die mit ihr in einem Zimmer schlief. Sie erzählte ihr einmal die ganze Geschichte ihrer Liebe, und wiewohl die alte Frau sie darüber genugsam ausschalt und ihr von ihrem Vorhaben abriet, so blieb dies doch alles erfolglos, und sie verstand sich am Ende sogar auf Julias Bitten dazu, an Romeo einen Brief zu bestellen. Der Liebende wurde der fröhlichste Mann auf Erden, sobald er ihn gelesen hatte: denn Julia schrieb ihm, er möchte in der fünften Stunde der Nacht unter ihr Fenster, gegenüber dem Gemäuer, kommen und eine Strickleiter mitbringen.

Romeo hatte einen sehr getreuen Diener, den er schon oft in den wichtigsten Dingen in sein Vertrauen gezogen und immer bewährt gefunden hatte. Diesem sagte er jetzt, was er beabsichtigte, und trug ihm die Besorgung einer Strickleiter auf. Pietro befolgte sein Geheiß, und Romeo nahm ihn zu der bestimmten Stunde mit an Ort und Stelle, wo er Julia seiner harrend fand. Sobald Julia ihn erkannt hatte, ließ sie den Bindfaden herunter, den sie in Bereitschaft hielt, und zog daran die Strickleiter empor, welche sie mit Hilfe ihrer Amme an dem Fenstergitter befestigte. Romeo dagegen stieg alsbald zu ihr hinauf und unterredete sich mit ihr durch das Gitter, das so dicht und stark war und kaum eine Hand durchzustecken gestattete.

Nach den ersten liebreichen Begrüßungen sprach Julia zu ihrem Geliebten: »Mein teurer Freund, der mir lieber als das Licht meiner Augen ist, ich habe dich zu mir beschieden, um dir zu sagen, daß ich mit meiner Mutter übereingekommen bin, des nächsten Freitags zur Stunde der Predigt beichten zu gehen. Benachrichtige davon den Bruder Lorenzo, damit er alles vorbereite!«

Romeo entgegnete ihr, der Bruder sei schon vorläufig unterrichtet und ihre Wünsche zu erfüllen willig, und hierauf sprachen sie noch eine Weile miteinander, bis es ihnen an der Zeit zu sein schien, sich zu trennen, und Romeo, herabgestiegen, mit dem die Leiter tragenden Pietro wieder von dannen ging, der inzwischen in dem Gemäuer verborgen gewesen war. Julia blieb im Innersten vergnügt zurück und glaubte, daß es eine Ewigkeit währe, bis sie die Gattin ihres Romeo sei, und auch Romeo plauderte auf dem Heimwege heitersten Sinnes mit seinem Vertrauten über sein ihm bevorstehendes Glück.

Als der Freitag genaht war, ging Frau Giovanna, Julias Mutter, der Abrede gemäß, mit ihrer Tochter und ihren Dienerinnen nach San Francesco, trat in die Kirche ein und fragte nach dem Bruder Lorenzo. Auf alles vorbereitet, hatte der Bruder Romeo bereits in die Zelle seines Beichtstuhles eingeschlossen und kam zu der Dame, die zu ihm sagte: »Mein Vater! Ich bin zur frühen Stunde genaht, zu beichten, und habe Euch meine Julia mitgebracht, da ich weiß, daß Ihr den ganzen Tag über mit Beichten Eurer vielen geistlichen Kinder beschäftigt sein werdet.«

Der Bruder bewillkommnete sie in Gottes Namen, gab ihnen seinen Segen und ging in das Kloster in seinen Beichtstuhl, wohin ihm Julia zuerst folgte, indem sie die Tür hinter sich abschloß und ihm das Zeichen gab, daß sie da sei. Der Bruder machte das Gitter los und sagte zu Julia: »Meine Tochter, nach dem, was mir Romeo versichert hat, war es ebensowohl dein Wunsch, seine Gattin, als der seinige, dein Gatte zu werden. Bist du gegenwärtig noch ebenso gesinnt?«

Die Liebenden erwiderten ihm, daß dies ihr höchstes Verlangen sei, und also sprach der fromme Bruder, nachdem er einige Worte über die Heiligkeit der Ehe vorausgeschickt hatte, die in der christlichen Kirche gebräuchliche Trauungsformel, und Romeo steckte seiner geliebten Julia zu ihrer beiderseitigen unsäglichen Freude den Ring an. Romeo traf sodann mit ihr die Verabredung, in der nächstfolgenden Nacht zu ihr zu kommen, küßte sie durch die Öffnung des Fensterchens und verließ heimlich Zelle und Kloster, indem er wieder an seine Geschäfte ging. Der Bruder befestigte das Gitter von neuem solchergestalt an seinem Ort, daß von dessen geschehener Abnahme nichts ersichtlich blieb, und hörte erst die Beichte des zufriedenen Mädchens und darauf die ihrer Mutter und anderer Frauen an.

Zur anberaumten Stunde der Nacht ging Romeo mit Pietro an eine gewisse Stelle der Gartenmauer des Hauses seiner Neuvermählten, stieg unter dem Beistande seines Dieners darüber hinweg in den Garten und fand Julia darin vor, die mit ihrer Amme auf ihn wartete. Als die Liebenden einander sahen, flogen sie sich mit ausgebreiteten Armen entgegen. Julia warf sich ihrem Romeo an den Hals und vermochte vor übergroßer Seligkeit eine lange Weile kein Wort zu reden, während Romeos Liebesglut ihm dagegen ein Gefühl einflößte, wie er es noch niemals empfunden hatte. Sie fingen an, eines das andere auf das zärtlichste zu küssen und zu liebkosen, und zogen sich dann in die einsamste Gegend des Gartens zurück, um sich ihrer Liebe ungestört zu erfreuen. Nachdem er sich schließlich zu ferneren geheimen Zusammenkünften mit ihr verabredet hatte, küßte Romeo sein geliebtes Weib zu tausend und aber tausend Malen und enteilte aus dem Garten. »Wer lebt gegenwärtig auf Erden, der glücklicher wäre als ich?« sprach er zu sich selbst; »wer vermag sich einer ähnlichen Liebe wie ich zu erfreuen? Wer des Besitzes einer so schönen und so reizenden Braut wie die meinige?« – Auf der anderen Seite pries aber auch die Jungfrau ihr Geschick nicht minder wie er das seinige und zählte sich alle seine schönen oder tugendlichen Eigenschaften auf, indem sie den Himmel bat, ihr den Besitz ihres geliebten Romeo nimmer zu beeinträchtigen.

Es geschah hierauf, daß die jungen Gatten einige Nächte zusammenkamen, andere nicht. Bruder Lorenzo ließ es sich unterdessen angelegen sein, den Frieden zwischen den Montecchi und den Capelletti zu vermitteln, und hatte die Sachen bereits in eine ganz erträgliche Lage, und zwar so weit gebracht, daß er hoffen konnte, beide feindliche Parteien in die Verbindung der Liebenden einwilligen zu sehen. Da begegnete zur Osterzeit plötzlich einmal auf dem Corso in der Nähe des Beutlertores, nach Castelvecchio zu, eine Schar derer, die sich zu den Capelletti hielten, einigen der Montecchi und fielen sie mit blanken Waffen an. Unter den Capelletti war ein leiblicher Vetter Julias, namens Tebaldo, ein Jüngling von sehr heftiger Gemütsart, der die Seinen anfeuerte, wacker auf die Montecchi loszugehen und ihrer keinen zu schonen. Das Handgemenge ward immer wilder, und da den einen wie den anderen Hilfe an Bewaffneten zustieß, so drangen sie immer wütender aufeinander ein und schlugen sich gegenseitig viele Wunden. Da wollte es der Zufall, daß Romeo hinzukam, den eben außer seinen Dienern auch einige seiner jungen Freunde auf einem Spaziergange durch die Stadt begleiteten. Wie er seine Verwandten mit den Capelletti im Kampfe sah, erzürnte er sich sehr, weil er sich allerdings vorstellen konnte, daß dadurch alle die Schritte, die der Klosterbruder zum Frieden getan, vereitelt würden. Um den Aufruhr zu beschwichtigen, rief er seinen Begleitern und Dienern mit lauter Stimme zu, so daß er von vielen, die sich in seiner Nähe befanden, vernommen wurde: »Werft euch zwischen sie, Brüder, und verhütet aus allen Kräften, daß der Kampf länger anhalte! Vermögt sie, die Waffen ruhen zu lassen!« – Ja, er fing nun auch selbst an, die Kämpfenden, sowohl von seiner wie von der feindlichen Partei, zu ermahnen, friedlich auseinanderzugehen, und wehrte ihnen mutig mit Worten und in der Tat. Aber seine Bemühungen blieben dennoch eitel, weil die Gemüter bereits allzusehr erhitzt waren, um auf ihn zu achten.

Schon waren auf beiden Seiten mehrere gefallen, als Tebaldo auf ihn zukam und einen gewaltigen Stoß nach Romeos Seite führte, der indessen an dem Harnische seines Waffenrockes abglitt, ohne ihn zu verwunden. Romeo wendete sich zu Tebaldo und sprach freundlich zu ihm: »Du irrst dich sehr, Tebaldo, wenn du glaubst, daß ich hierhergekommen sei, um mit dir oder den Deinen Händel zu suchen. Ich ging zufällig hier vorüber und verweilte, um zum Frieden zu reden, weil es mein Wunsch ist, daß wir fernerhin wie gute Bürger miteinander leben. Ich ermahne dich also, mir in meiner guten Absicht beizustehen, damit nicht noch mehr Blut vergossen werde und des geschehenen Ärgernisses jetzt genug sei.«

Diese Rede war fast einem jeden vernehmlich; sei es nun aber, daß Tebaldo in der Tat nicht hörte, was Romeo zu ihm gesagt hatte, oder daß er sich den Anschein gab, ihn nicht verstanden zu haben, kurz, er erwiderte ihm: »Ha, Verräter, du bist des Todes!« – indem er ihm wütend nach dem Kopfe hieb. Romeo dagegen, der schon mit den Ärmeln seines Waffenrockes beschützt war, wickelte seinen linken Arm in den Mantel und wehrte damit den Streich vom Haupte ab. Seinerseits aber kehrte er nun die Spitze seines Degens seinem Feinde zu und verwundete ihn gerade in den Hals, den er ihm durch und durch stieß, so daß Tebaldo nach vorn hin tot zu Boden stürzte. Der Lärm, der hierüber entstand, war unendlich; die Scharwache kam dazu, und die Unruhestifter zerstreuten sich nach allen Seiten.

Der über Tebaldos Tod außerordentlich betrübte Romeo flüchtete mit vielen der Seinigen nach San Francesco zum Bruder Lorenzo, und der gute Mönch wollte schier verzweifeln, als er von diesem unerwarteten Unfall Kunde erhielt, der die Feindschaft zwischen den beiden Häusern notwendigerweise neu entflammen mußte. Die Capelletti begaben sich insgesamt zu Herrn Bartolomeo und führten Klage. Auf der anderen Seite bewies jedoch der Vater des verborgenen Romeo nebst den ersten der Montecchi, daß Romeo mit den Seinigen durch die Stadt gelustwandelt und nur zufälligerweise zu dem Streite gekommen sei, den er darauf habe schlichten wollen, bis ihn Tebaldo, trotz seiner gütlichen Abmahnungen, wiederholt angefallen und zur Selbstverteidigung gezwungen habe, die leider einen so üblen Erfolg gehabt. Auf diese Weise klagte die eine Partei die andere höchst erbittert an; da es sich indessen erwies, daß die Capelletti der angreifende Teil gewesen waren, und viele glaubwürdige Zeugen ihre Aussage dahin abgaben, daß Romeo in der Tat die Seinigen aufgefordert hatte, den Streit zu schlichten, sowie auch Tebaldo freundlich angeredet habe, so gebot Herr Bartolomeo allen auf das strengste, die Waffen niederzulegen, und verbannte Romeo nur.

In dem Hause der Capelletti war großes Weinen und Wehklagen über Tebaldos Tod. Julia dehnte sich die Adern durch ihr Weinen aus, das sie gar nicht mäßigen konnte; es war nicht der Tod ihres Vetters, was sie so bitterlich beweinte, und was ihr diese äußerste Betrübnis erregte, sondern die verlorene Hoffnung, nun jemals ihre Eltern ihre Ehe billigen zu sehen, deren möglichen Ausgang sie gar nicht zu ersinnen wußte. Nachdem sie durch den Bruder Lorenzo in Erfahrung gebracht hatte, wo sich Romeo aufhielt, schrieb sie diesem einen ganz mit Tränen getränkten Brief und sendete ihn durch ihre Amme an ihn ab. Sie wußte, daß Romeo verbannt war und sich von Verona entfernen mußte, und bat ihn also darin angelegentlich, sie, wenn es möglich wäre, mit sich zu nehmen. Romeo schrieb ihr wieder, sie solle sich beruhigen, er würde mit der Zeit auf alles bedacht sein; für jetzt wisse er aber noch nicht, wo eine Zuflucht in der Nähe zu suchen sei; auf jeden Fall wünschte er sie noch einmal vor seiner Abreise zu sehen und zu sprechen. Julia bestimmte ihm hierauf zu ihrer letzten Zusammenkunft den verborgenen Ort des Gartens, wo sie in ihrer Hochzeitsnacht beieinander gewesen waren, und so schlich sich Romeo in der nächstfolgenden Nacht unter Bruder Lorenzos Beistande wohlbewaffnet aus dem Kloster und eilte mit seinem getreuen Pietro zu seiner Gattin.

Julia empfing ihn mit unzähligen Tränen. Sie vermochten beide einander lange Zeit kein Wort zu sagen und tranken sich gegenseitig die Tränen von den Wangen, die ihnen daran reichlich hinabflossen. Dann trauerten sie über die ihnen bevorstehende Trennung, brachen in Klagen über das widerwärtige Geschick ihrer Liebe aus und küßten und umarmten sich unablässig auf das innigste. Als die Stunde kam, da sie voneinander scheiden mußten, bat und beschwor Julia ihren geliebten Gatten, so sehr sie es imstande war, sie mit sich zu nehmen. »Ich will mir mein langes Haar abschneiden, teurer Freund«, sprach sie zu ihm, »und mich als Knabe verkleiden, um mit dir zu gehen, wohin du irgend willst, und um dir liebevoll zu dienen. Wer könnte dir denn ein getreuerer Diener als ich sein? Oh, mein bester Mann! Erzeige mir diese Gunst und laß mich ein und dasselbe Schicksal mit dir teilen!«

Hiergegen nun ermutigte sie Romeo mit den freundlichsten Trostworten und sprach ihr seine Überzeugung aus, daß sein Bann gewiß in kurzem widerrufen werden würde, wie der Fürst es bereits auch seinen Vater habe hoffen lassen, ja, daß er auf das längste nur ein Jahr dauern könne, weil, wenn inzwischen die ihre Familien entzweiende Fehde nicht gütlich beigelegt worden sei, der Herr selbst sich darein mischen wolle, um sie ein für allemal zu beendigen. Zuletzt noch sagte er ihr, es möge geschehen, was da wolle, – wenn er die Sachen sich in die Länge ziehen sehe, so würde er einen schnellen Entschluß fassen und sie, nicht als einen Pagen verkleidet, sondern als sein rechtmäßiges Weib und als seine Gebieterin mit sich entführen, da es ihm ja unmöglich sei, lange Zeit ohne sie zu leben. Desungeachtet fühlte sich das trostlose Mädchen unfähig, ihre Tränen zu stillen, und so sagten sie sich endlich, als die Morgenröte anbrach, ein überaus schmerzliches Lebewohl, indem Romeo nach San Francesco, Julia in ihr Zimmer zurückkehrte.

Zwei oder drei Tage später, nachdem Romeo seine Angelegenheiten so weit geordnet hatte, verließ er Verona, als fremder Kaufmann verkleidet, heimlich in sicherer Begleitung und gelangte glücklich nach Mantua, woselbst er ein Haus mietete und auf eine ehrenvolle Weise lebte, da es ihm sein Vater an nichts fehlen ließ. Julia weinte und seufzte indessen unablässig, aß fast gar nicht und schlief noch weniger, weil sie es die Nächte wie die Tage trieb, und wurde deshalb zu wiederholten Malen um die Ursache ihres Kummers von ihrer sie zärtlich liebenden Mutter befragt, die sie ermahnte, sich ihr anzuvertrauen und ihrem Leidwesen doch endlich ein Ziel zu setzen, das eines Vetters wegen etwas allzu weit gehe. Julia erwiderte ihr, sie wisse nicht, worum sie sich so härmen müsse, und fuhr fort, sich, sooft sie es nur imstande war, aus der Gesellschaft der Ihrigen zu stehlen, um ihren düsteren Gedanken nachzuhängen. Sie zehrte sich darüber so sehr ab und wurde so schwermütig, daß ihre Schönheit dem, was sie früher gewesen war, nicht mehr im geringsten ähnlich sah. Romeo schrieb ihr häufige Briefe und vertröstete sie immer mit der Hoffnung, bald wieder bei ihr zu sein. Er bat sie zwar auch inständigst, heiteren Sinnes zu sein und sich zu vergnügen; es blieb aber alles umsonst, weil nichts Geringeres als Romeos eigene Gegenwart sie trösten konnte.

Da wurde Julias Mutter plötzlich der Meinung, die Betrübnis ihrer Tochter möge daher rühren, daß mehrere ihrer Gespielinnen seit kurzem verheiratet worden waren und sie desgleichen nach der Ehe Verlangen trüge. Sie teilte diesen ihren Gedanken ihrem Gatten mit und sagte zu ihm: »Mein lieber Freund! Unsere Tochter führt das trübseligste Leben von der Welt und tut nichts als weinen und seufzen, indem sie jedermanns Gesellschaft flieht. Ich habe sie zwar mehrere Male um die Ursache ihres Mißmutes befragt und diese auf jede Weise zu erforschen getrachtet; jedoch meine Bemühungen darum sind fruchtlos geblieben. Sie antwortet mir standhaft nichts anderes, als daß sie nicht wisse, was ihr fehle, und alle Leute im Hause zucken die Achseln und wissen nicht, was sie dazu sagen sollen. So viel ist sicher, daß irgendeine heftige Leidenschaft sie quält, weil sie sich so wie Wachs am Feuer aufzehrt. Ich habe diese Sache auf tausenderlei Weise bedacht und am Ende eine Möglichkeit als die wahrscheinlichste ihrethalb im Sinne behalten: ich glaube nämlich, daß Julias Niedergeschlagenheit daher kommt, daß alle ihre Jugendgespielinnen in diesem Karneval Gattinnen geworden sind und nur allein von ihrer Verheiratung noch nicht die Rede ist. Da nun unser Kind am bevorstehenden Sankt Euphemientage volle achtzehn Jahre alt wird, so will ich ein Wort, das sie betrifft, mit dir reden, mein lieber Gemahl, weil es mir eben jetzt an der Zeit zu sein scheint, daß du Sorge trägst, ihr einen ihr ebenbürtigen Ehegatten zu verschaffen, die da in der Tat keine immerdar im Hause zu behaltende Ware ist.«

Herr Antonio hatte den Vorschlag seiner Gemahlin angehört und erwiderte ihr, da er ihm nicht zur Unzeit geäußert schien: »Ich will recht gern alles tun, liebe Frau, was geeignet sein mag, unserer Tochter einen ihrem Stande gemäßen ehelichen Gemahl auszufinden, insofern du mir von ihr sagst, daß ihre Traurigkeit aus ihrem Wunsche, vermählt zu werden, entspringe; aber suche du nur mittlerweile von ihr zu erspähen, ob sie etwa gar schon einen Liebeshandel hat, und welcher Mann ihr vorzugsweise angenehm sein dürfte?«

Frau Giovanna versicherte ihm, daß sie das Ihrige tun würde, und ermangelte nicht, ihre Tochter und deren Dienerschaft aufs neue, wiewohl vergebens, auszuforschen.

Zu derselben Zeit wurde in dem Hause des Herrn Antonio der Graf Paris von Lodrone, ein sehr reicher und schöner junger Mann von vier- bis fünfundzwanzig Jahren, bekannt, der sich bei fortgesetztem Umgang um die Hand der Tochter bewarb. Herr Antonio eröffnete dessen Absichten seiner Frau, und diese, der ein solcher Antrag sehr erwünscht und ehrenvoll erschien, sprach deswegen mit Julia, die jedoch zu ihrer großen Verwunderung sich äußerst betroffen und traurig darob erwies. Nachdem nun Frau Giovanna, die dieses Betragen nicht durchschauen konnte, mancherlei Auseinandersetzungen deswegen mit Julia gehabt hatte, sagte sie zu ihr: »Aus dem, was ich sehe, meine Tochter, schließe ich, daß du gar keinen Mann haben willst. Gedenkst du eine Betschwester oder eine Nonne zu werden? Sprich mir deine Gesinnungen aus!«

Julia antwortete ihr, sie wolle weder eine Betschwester noch eine Nonne werden und wisse gar nicht, was sie anderes wolle als sterben.

Die Mutter war über diese Erklärung ebenso unwillig als erstaunt und wußte nicht, was sie darauf sagen oder tun sollte. Die Hausgenossen insgesamt gaben ihr keine andere Auskunft, als daß Julia seit ihres Vetters Tode durchaus niedergeschlagen geblieben sei und nicht aufgehört habe zu weinen, ohne sich etwa auch nur ein einziges Mal wieder am Fenster sehen zu lassen. Frau Giovanna hinterbrachte alles dies dem Herrn Antonio, und er berief seine Tochter zu sich, zu der er nach einigen vorläufigen Worten sagte: »Ich sehe dich, meine Tochter, gegenwärtig in deinem mannbaren Alter, und ich habe dir in dem Herrn und Grafen von Lodrone einen schönen, reichen und edlen Gatten auserwählt. Sei du denn auch bereit, dich meinem guten Willen fügend, ihn als solchen anzunehmen: so ehrenvolle Anträge wie der seinige kommen selten vor.«

Hierauf entgegnete ihm Julia, mit kühnerem Mute als einem Kinde zusteht: daß sie sich gar nicht verheiraten wolle. Der Vater wurde dadurch so entrüstet und erzürnt, daß er drauf und dran war, sie zu schlagen. Er schalt sie mit den härtesten Worten aus und erklärte ihr schließlich: sie möge nun wollen oder nicht, so habe sie sich bereitzuhalten, in drei oder vier Tagen mit ihrer Mutter und anderen Verwandten nach Villafranca zu gehen, wohin auch Graf Paris mit seinem Gefolge kommen würde. Leiste sie hiergegen auch nur den mindesten Widerstand, so könne sie darauf gefaßt sein, daß er ihr den Kopf schon zurechtrücken und sie zu dem unglücklichsten Geschöpf auf Erden machen würde.

Was Julia hierbei denken und fühlen mußte, mag sich ein jeder, der einmal in Liebe befangen war, selbst vorstellen. Sie war wie vom Donner gerührt. Ein wenig wieder zu sich gekommen, benachrichtigte sie durch den Bruder Lorenzo ihren Romeo von dem Vorgefallenen, und Romeo schrieb ihr zurück, sie solle nur gutes Mutes sein, er würde sie binnen kurzem aus dem Hause ihres Vaters nach Mantua entführen. Sie war nun wohl gezwungen, nach Villafranca zu gehen, wo ihr Vater ein schönes Gut besaß; sie ging aber geradeso vergnügt dahin, wie ein gehängt zu werden Verurteilter zum Galgen. Graf Paris war schon dort und sah sie während der Messe in der Kirche, wo sie ihm trotz ihrer Magerkeit, Blässe und Schwermut so wohl gefiel, daß er gleich darauf in Verona mit ihrem Vater den Ehevertrag abschloß. Als nun Julia ebenfalls nach Verona zurückgekehrt war, empfing ihr Vater sie mit dieser Nachricht und ermahnte sie, willigen Gehorsam zu leisten. Julia hatte Kraft genug, die Tränen zurückzuhalten, von denen ihre Augen überflossen, und antwortete nichts. Sodann versichert, daß die Hochzeit in der Mitte des bevorstehenden Monats September stattfinden solle, und unfähig, sich in einer so großen Not zu raten und zu helfen, nahm sie sich vor, selbst zu dem Bruder Lorenzo zu gehen, um seinen hilfreichen Beistand anzusprechen. Da das Fest der Himmelfahrt der heiligen Jungfrau Maria nahe bevorstand, so nahm Julia diesen Vorwand, zu ihrer Mutter zu sagen: »Meine liebe Mutter, ich bin durchaus nicht imstande, zu begreifen, woher die tiefe Schwermut kommt, die mich so zu Boden drückt. Seitdem Tebaldo tot ist, habe ich nicht wieder fröhlich sein können, und es ist mir, als ob es täglich schlimmer mit mir werden wollte, weil mir ganz und gar nichts hilft. Ich habe mir deswegen vorgesetzt, an diesem heiligen Feiertage der Mutter Gottes, unserer himmlischen Fürsprecherin, zu beichten, damit mir vielleicht durch ihre Vermittlung einige Erleichterung meiner Trübsal zuteil werde. Was sagst du dazu, mein süßes Mütterchen? Bedünkt es dir gut, daß ich vollbringe, was mir in den Sinn gekommen ist? Wofern du der Meinung wärest, daß ich anders handeln müßte, so belehre mich eines bessern: denn ich weiß wahrhaftig nicht, wo mir der Kopf steht.«

Frau Giovanna, die eine sehr gutgesinnte und fromme Dame war, billigte den Entschluß ihrer Tochter höchlich und hielt sie allen Ernstes dazu an, ihn auszuführen. Sie gingen beide miteinander nach San Francesco und verlangten nach dem Bruder Lorenzo, den Julia, als sie sich in seinem Beichtstuhle ihm gegenüber befand, solchergestalt anredete: »Es lebt kein Mensch auf Erden, mein Vater, der besser als Ihr wüßte, was zwischen mir und Romeo vorgefallen ist; ich brauche Euch also nicht daran zu erinnern. Ihr werdet desgleichen des Briefes eingedenk sein, den ich Euch lesen ließ und alsdann an Romeo absendete, worin ich diesem schrieb, daß mein Vater mich dem Grafen Paris von Lodrone zur Ehe versprochen habe. Romeo schrieb mir zwar darauf wieder, daß er kommen und handeln würde; aber Gott weiß, wann dies geschieht? So, wie die Sachen jetzt stehen, ist über mich der Beschluß gefaßt worden, daß ich im nächsten Monat September wohl oder übel vermählt werden soll. Die Zeit drängt, und ich sehe keinen Ausweg vor mir, diesem Lodrone, der mir wie ein Räuber und Mörder vorkommt, weil er nach anderer Gute trachtet, zu entfliehen. Helft und ratet nun Ihr mir! Ich kann mich ja in mein Schicksal nicht ergeben, denn ich bin Romeos Gattin, dem ich einzig und allein für immer angehöre, und dessen Ehe mit mir vollzogen ist. Verschafft Ihr mir doch, mein Vater, wenn Ihr es vermögt, etwa einen vollständigen Pagenanzug, in den ich mich kleiden könnte! Ich verließe darin am späten Abende oder am frühen Morgen unerkannt Verona und eilte nach Mantua, wo ich in dem Hause meines Romeo die sicherste Zufluchtsstätte fände.«

Auf diesen nicht eben fein ersonnenen Anschlag, der des Bruders Beifall nicht erlangte, erwiderte derselbe: »Dies ist um deswillen nicht auszuführen, meine Tochter, weil es dich allzu großer Gefahr aussetzen würde. Du bist zu jung und zart, und du würdest die Beschwerlichkeiten einer dir so ungewohnten Reise zu Fuß nicht ertragen. Dann kennst du auch den Weg nicht und würdest nur zwecklos hin und wider irren. Sobald dich dein Vater zu Hause vermißte, sendete er seine Diener gewiß nach allen Seiten hin in der Stadt und auf das Land nach dir aus und würde dich in kurzer Zeit aufgefunden haben, worauf er, wenn du wieder in sein Haus gebracht worden wärest, die Ursache deiner Flucht durchaus würde erfahren wollen. Ich weiß nicht, wie du all die Drohungen und vielleicht sogar die Mißhandlungen, die dir wohl darum von den Deinigen zuteil würden, aushalten möchtest; denn anstatt daß ein solches Wagnis dir hätte helfen sollen, deinen Romeo wiederzugewinnen, würdest du dadurch die Hoffnung verlieren, ihn jemals wiederzusehen.«

Von diesen überzeugenden Worten des Bruders besiegt, entgegnete ihm Julia: »Da Euch denn nun aber mein Vorschlag nicht gut bedünken will, und da ich Euch glaube, so ratet Ihr mir anders und lehrt mich, diesen verwickelten Knoten meines Schicksals zu lösen, damit ich womöglich auf eine andere Weise wieder mit meinem Romeo vereinigt werde, ohne den ich nicht leben kann. Oder wenn Ihr dies nicht vermögt, so steht mir wenigstens bei, daß ich wo nicht Romeo, doch auch keinem anderen zuteil werde! Romeo hat mir gesagt, daß Ihr ein großer Kenner der geheimen Kräfte der Natur sowie imstande seid, ein Wasser zu bereiten, daß binnen zwei Stunden schmerzlos einen Menschen tötet. Gebt mir von diesem Wasser so viel, als hinreicht, mich von dem Grafen zu befreien, da Ihr mich auf keine andere Weise meinem Romeo erhalten könnt! Bei seiner so großen Liebe zu mir wird er mich lieber sterben als lebendig in eines anderen Armen sehen. Ihr würdet mich und mein ganzes Haus also vor einer großen Schande bewahren; denn wenn ich keine andere Rettung aus diesem stürmischen Meere ersehe, auf dem ich jetzt in einem schwachen Kahne unstet umtreibe, so versichere ich Euch, bei meiner Treue, die ich ganz gewiß nicht brechen werde, daß ich gegen mich selbst wüten und mir mit einem scharfen Messer eines Nachts die Pulsader durchschneiden werde. Ich will weit lieber auf mein Leben als auf meine Romeo angelobte eheliche Treue verzichten.«

Der Bruder war ein geschickter Physiker, der zu seiner Zeit viele Länder durchwandert und sich in vielerlei Dingen versucht hatte, so daß er unter anderem auch mit den Eigenschaften von Pflanzen und Steinen vertraut war und aus dem Safte einiger einschläfernder Arzneikräuter einen Teig zu machen wußte, der, getrocknet und zerstoßen, ein mit wunderbarer Wirkung ausgestattetes Pulver abgab, indem es, in ein wenig Wasser aufgelöst und getrunken, den, der es genossen hatte, in ein oder zwei Viertelstunden in so festen Schlaf versenkte und seine Lebensgeister dermaßen betäubte, daß der erfahrenste und beste Arzt ihn hätte für tot ansehen müssen. Ein solcher süßer Schlaf pflegte dann wenigstens vierzig Stunden und zuweilen auch noch länger anzuhalten, je nach der Menge des genossenen Trankes und der eigentümlichen Stimmung des Körpers dessen, der ihn getrunken hatte. Sobald die Wirkung des Pulvers vorüber war, erwachte der Schläfer aus seiner langen Bewußtlosigkeit ohne das mindeste Übelbefinden. Wie nun der Bruder die Entschlossenheit der trostlosen Jungfrau klar erkannt hatte, so vermochte er, von Mitleid mit ihr überwunden, kaum seine Tränen zurückzuhalten, und sprach zu ihr mit bewegter Stimme: »Sieh, meine Tochter! Du mußt mir nicht vom Sterben sprechen. Wer einmal gestorben ist, kehrt nicht früher zurück als an dem Tage des Jüngsten Gerichtes, wenn wir Sterblichen zusammen mit allen Toten auferstehen. Du mußt daran denken, leben zu bleiben, solange es Gott gefällt. Er hat uns das Leben gegeben, erhält es uns und nimmt es uns wieder, sobald es dazu an der Zeit ist. Verscheuche du also die schwermütigen Gedanken von dir! Du bist jung und gegenwärtig noch bestimmt, zu leben und dich der Liebe deines Romeo zu erfreuen. Wir werden für alles Mittel finden, zweifle nicht! Du siehst, ich stehe in dieser schönen Stadt in großem Ansehen und in gutem Rufe. Erführe man, daß ich zu deiner heimlichen Vermählung mitgeholfen habe, so würde mir unendlicher Schaden und Schande daraus erwachsen. Was aber müßte nicht erst geschehen, wenn ich dir Gift gäbe? Ich habe keines, und wenn ich auch welches hätte, würde ich dir es doch um meines irdischen gleichwie um meines himmlischen Wohlergehens willen nicht geben. Du weißt ja wohl, daß im allgemeinen nichts von Wichtigkeit geschieht, was nicht durch meine Hände gegangen wäre. Es sind noch nicht vierzehn Tage her, daß der Herr dieser Stadt mich in einer höchst bedeutsamen Angelegenheit zu Rate zog. Deswegen, meine Tochter, will ich mich zwar gern für dich und Romeo bemühen und dazu mitwirken, daß du ihm am Leben erhalten und doch nicht dem Grafen von Lodrone zuerteilt wirst; aber die Sache muß nur so eingerichtet werden, daß kein Mensch jemals etwas davon erfährt. Höre, wie dies geschehen soll!«

Der Bruder schilderte hier der Jungfrau genau die Eigenschaften seines Pulvers, das er schon viele Male erprobt habe, und fügte die Worte hinzu: »Dasselbe ist so wertvoll und tüchtig, daß es dir, in einem gesunden süßen Schlummer, den entschiedensten Anschein des Todes gibt, der sogar den geschicktesten Arzt, wenn er an deinen Puls fühlte, täuschen würde; obgleich es dich hernachmals, wenn du es verdaut hast, ebenso gesund und schön wie allmorgendlich vorher erwachen läßt. Trinkst du es nun etwa in der ersten Frühe beim Erscheinen der Morgenröte aus, so wirst du bald einschlafen und zu der gewöhnlichen Stunde, wenn deine Dienerinnen zu dir kommen, um dich zu wecken, nicht wieder aufwachen. Du wirst ohne Puls, kalt wie Eis daliegen. Sie werden deine Verwandten und Ärzte rufen, – und kurz, jedermann wird dich für tot ansehen, so daß man sich wird genötigt fühlen, dich am Abende in deiner Familiengruft beizusetzen. Dort wirst du eine Nacht und einen Tag gemächlich ruhen; in der nächstfolgenden Nacht aber kommt Romeo mit mir dahin – denn ich werde ihn durch einen besonderen Boten von dem Anschlage benachrichtigen –, um dich heimlich nach Mantua hinwegzubringen und in dieser Stadt zu verbergen, bis zwischen seinem und deinem Hause der langersehnte Frieden endlich gestiftet sein wird, was da, wie ich hoffe, bald geschehen soll. Willst du diesen Weg der Rettung nicht einschlagen, so weiß ich dir nicht anders zu helfen. Siehe aber auch wohl zu, daß du verschwiegen bist und ja dieses unser Geheimnis gegen niemand ausplauderst!«

Julia, die für Romeo durch einen glühenden Ofen, geschweige denn in eine Gruft gegangen sein würde, maß den Worten des Bruders vollen Glauben bei und willigte in seinen Vorschlag, ohne weiter darüber nachzudenken, indem sie sagte: »Vater, ich werde alles tun, was Ihr von mir fordert, und lege mein Schicksal in Eure Hand; daß ich wissen werde zu schweigen, könnt Ihr von mir versichert sein!«

Nunmehr ging der Bruder in seine Kammer und holte aus ihr so viel, als etwa in einen Löffel gehen mochte, in ein Papier gewickeltes Pulver, das Julia dankbar von ihm annahm und in einem Beutel, den sie bei sich trug, verbarg. Zweifelhaft, ob ein so zartes Kind wirklich kühn und entschlossen genug sein möchte, sich in ein Grabgewölbe mitten unter Tote einschließen zu lassen, sagte Bruder Lorenzo ferner zu ihr: »Gesteh mir, Tochter, wirst du dich auch nicht vor deinem Vetter Tebaldo fürchten, der erst vor so kurzer Zeit getötet und in eben derselben Gruft beigesetzt ist, in der du dich bald befinden wirst, und der schon äußerst stark riechen wird?« – Die heldenmäßige Julia antwortete ihm aber: »Bekümmert Euch deshalb nicht, mein Vater: ich würde die Qualen der Hölle nicht scheuen, wenn ich durch sie zu meinem Romeo gelangen könnte.« – »Nun, so sei es denn in Gottes Namen!« sagte der Mönch schließlich.

Julia kehrte heiter und vergnügt zu ihrer Mutter zurück und sagte zu ihr unterwegs: »Ich versichere dich, liebe Mutter, Bruder Lorenzo ist ein wahrer Heiliger. Er hat mich mit seinen süßen, frommen Worten dergestalt getröstet, daß er mir die Schwermut, die mich niederdrückte, fast gänzlich benommen hat. Er hat mir eine so derbe Bußpredigt gehalten, als sich nur denken läßt.« – Durch die gebesserte Stimmung ihrer Tochter überaus beglückt, erwiderte Frau Giovanna: »Meine Tochter, Gott segne dich! Du machst mir große Freude, daß du wieder heiterer sein willst, und wir sind unserem guten Beichtvater dafür innigen Dank schuldig. Er soll von uns hochgehalten und mit reichlichen Almosen für sein armes Kloster versorgt werden, damit er alle Tage zu Gott für uns bete. Sei auch du seiner oft eingedenk und sende ihm gute Klosterspeisen zu!«

Frau Giovanna glaubte in Wahrheit, der scheinbaren Heiterkeit zufolge, die Julia angenommen hatte, daß alle ihre Schwermut von ihr gewichen sei, und sie teilte ihre Entdeckung ihrem Gatten mit, der nunmehr gleichwie sie selbst seinen früheren Verdacht, sie möge einen anderen lieben, aufgab. Da sie beide immer noch außerstande blieben, die Ursache von Julias bisherigem Kummer zu ergründen, so kehrten sie zu ihrer ersten Vermutung zurück, er möge dem Tode ihres Vetters oder einem anderen, ihnen jetzt gleichgültigen Ereignisse gegolten haben. Sie würden ihr zwar jetzt, um ihrer großen Jugend willen, gern noch eine zwei- bis dreijährige Frist mit ihrer Verheiratung gestattet haben, wenn es sich hätte mit Ehren tun lassen; aber die Sache mit dem Grafen war schon allzuweit gediehen und hätte nicht, ohne großes Aufsehen zu erregen, rückgängig gemacht werden können. Der große Tag der Hochzeit wurde anberaumt und Julia mit kostbaren Stoffen und Kleinodien ausgestattet. Sie war munter und guter Dinge, lachte und scherzte, und es dehnte sich ihr jede Stunde zu tausend Jahren aus, bis der Augenblick nahte, in dem sie den Schlaftrunk einnehmen könnte.

Da kam die Nacht heran, nach der sie als an einem Sonntage öffentlich getraut werden sollte, und die Jungfrau mischte das Pulver in einen mit Wasser gefüllten Becher, den sie, ohne daß ihre Amme es merkte, an das Kopfende ihres Bettes stellte. Sie schlief in dieser Nacht wenig oder gar nicht, und mannigfache Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Als nun der Tag anfing zu grauen, zu welcher Zeit sie das Pulver trinken sollte, stellte sich ihrer Einbildungskraft Tebaldo in eben dem Zustande mit der blutigen Halswunde dar, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie dachte an die Möglichkeit, daß sie an seiner Seite oder vielleicht sogar auf ihm beigesetzt werden könnte, und wie in dem Gewölbe so viele tote Leichname und nackte Gebeine aufgehäuft wären, und es überlief sie kalt, ja alle Haare ihres Hauptes sträubten sich ihr empor, die da, von Entsetzen erfaßt, wie ein Blatt im Winde erzitterte. Überdies bedeckte ihre Glieder ein eiskalter Schweiß, indem es ihr plötzlich vorkam, als ob sie von jenen Toten in tausend Stücke zerrissen würde. Es dauerte eine geraume Weile, daß die Furcht sie in völliger Unschlüssigkeit erhielt. Am Ende ermutigte sie sich wieder ein wenig und sprach zu sich: »Wehe mir! Was will ich beginnen? Wohin will ich mich bringen lassen? Wenn ich nun zufällig eher erwachte, als der Bruder und Romeo kämen, – was würde aus mir werden? Würde ich den scheußlichen Gestank aushalten können, den Tebaldos halbverwester Leichnam um sich ausströmen muß, die ich schon zu Hause kaum den leisesten übeln Geruch vertragen mag? Wer weiß, ob nicht in diesem Gewölbe Schlangen und Tausende von Würmern sind, die ich so sehr fürchte und verabscheue? Und wenn ich es nicht einmal über das Herz bringe, sie anzusehen, – wie vermag ich es zu erdulden, daß sie mich umkriechen und mich berühren? Habe ich nicht so viele Male sagen hören, daß die schauderhaftesten Dinge zur Nachtzeit in Kirchen und auf Gottesäckern, geschweige denn gar in Grüften vorgegangen seien?«

In dieser aufgeregten Stimmung machte sie sich die gräßlichsten Vorstellungen und wurde dadurch beinahe zu dem Entschlusse bewogen, den Trank nicht einzunehmen, sondern ihn auf die Erde auszugießen. Die abenteuerlichsten Gedanken durchkreuzten ihr Gehirn und rieten ihr bald zu, bald ab; am Ende aber, nachdem sie lange genug mit sich phantasiert hatte, trieb die heiße Liebe zu ihrem Romeo sie dennoch an, zur Stunde, als Auroras Haupt bereits durch die Tore des Ostens aufstieg, ihre zaghaften Gedanken sich mit einem Male aus dem Sinn zu schlagen und das aufgelöste Pulver getrost zu verschlucken. Sie legte sich darauf, nachdem sie sich angekleidet hatte, wieder zur Ruhe nieder und brachte nicht mehr lange zu, bis sie entschlummerte.

Die Alte, welche bei ihr schlief, hatte zwar wohl beobachtet, daß die Jungfrau diese Nacht über wenig oder gar nicht der Ruhe genossen; nichtsdestoweniger war es ihr aber entgangen, daß sie den Becher mit dem Tranke ausgeleert hatte. Sie erhob sich zu der gewohnten Stunde von ihrem Lager und ging an ihre täglichen Geschäfte zum Schlafzimmer hinaus. Sodann, als es an der Zeit war, daß Julia hätte aufstehen sollen, kehrte sie zu ihr zurück und rief ihr zu: »Auf, auf! Julia! Es wird Zeit, sich anzukleiden«, indem sie die Fensterladen aufstieß. Da erblickte sie nun Julia, die Arme über der Brust verschränkt, regungslos ausgestreckt, trat zu ihr und rüttelte sie. »Auf! auf! Langschläferin, erwache!« sprach sie weiter. Aber die gute Alte predigte tauben Ohren. Sie fing an, sie heftiger hin und her zu rütteln, sie bei der Nase zu zupfen und sie leicht zu zwicken, – aber alles blieb vergebens. Julias Lebensgeister waren dermaßen tief befangen, daß die geräuschvollsten, entsetzlichsten Töne von der Welt sie nicht aufgeschreckt haben würden; worüber denn die alte Frau auf das äußerste erschrak und bald nicht umhin konnte, überzeugt zu werden, daß die erstarrte Julia gestorben sei. Über alle Maßen betrübt und niedergeschlagen, brach sie nunmehr in die bittersten Tränen aus und lief zu Frau Giovanna, zu der sie ganz außer Atem kam und vor Schmerzen kaum die Worte hervorbringen konnte: »Madonna, Eure Tochter ist tot!«

Die Mutter eilte mit hastigen Schritten weinend und jammernd ebenfalls hinzu, und wie sie ihre geliebte Tochter so bleich und kalt vor sich liegen sah, sendete sie so rührende Klagen zu den Sternen empor, daß sie hätte Steine zu Mitleiden bewegen und wohl sogar die wilden Tiger zähmen können, wenn sie, ihrer jungen Brut beraubt, am wütendsten gewesen wären. Das laute Geschrei der Mutter und Amme durchscholl das Haus und veranlaßte alle seine Bewohner, nach dem Schlafgemache Julias zu eilen. Auch der Vater lief hinzu und wäre vor Schmerz und Schrecken über das vermeintliche Unglück fast gestorben. Die Kunde davon drang von Mund zu Mund und erfüllte bald die ganze Stadt, so daß die Menge der immer neu in das Haus strömenden Verwandten und Freunde das laute Wehklagen darin zuletzt ins unendliche erhöhte. Die berühmtesten Ärzte der Stadt wurden unverzüglich herbeigeholt und wendeten alle die Mittel an, die ihre Wissenschaft ihnen als die heilsamsten und schicklichsten nannte. Da sie indessen wahrnahmen, daß ihre Kunst auch nicht den mindesten Erfolg hatte, und zugleich hörten, wie die Jungfrau schon seit so vielen Tagen gewohnt gewesen war, zu weinen und sich in Seufzern zu ergehen, so wurden sie insgesamt der Meinung, daß sie, an übermäßigem Leidwesen erstickend, in der Tat gestorben sei. Dieser Ausspruch verdoppelte die allgemeine Betrübnis in der Stadt, und es gab wohl keinen einzigen Menschen in Verona, der nicht an diesem unversehenen Todesfalle Anteil genommen hätte. Vor allen anderen aber war es die beklagenswürdige Mutter, die in ihrem herben Schmerze gar keinen Trost finden konnte. Zu dreien Malen sank sie in Ohnmacht, indem sie ihre Tochter umarmte, und erschien sie ebenso leblos wie diese selbst, so daß immer mehr Leid aus Leid und Weinen aus Weinen erwuchs. Eine Menge edler Frauen umgaben sie und bestrebten sich, sie zu trösten, so gut sie es imstande waren; sie hatte jedoch die Schleusen ihrer Tränen so weit geöffnet und sich der Gewalt ihres Schmerzes so rückhaltlos hingegeben, daß sie, fast in Verzweiflung versunken, ihnen keine Grenzen zu setzen wußte und nichts von alledem hörte, was man zu ihr sprach, sondern dann und wann laut aufschrie und sich wie sinnverrückt das Haar zerraufte. Herr Antonio war nicht minder betrübt als sie, und wenn er seinen Schmerz weniger durch Tränen äußerte, so fühlte er ihn im Innern desto stärker, wo er nicht nötig zu haben glaubte, ihn zu mäßigen.

Bruder Lorenzo schrieb diesen Morgen ausführlich an Romeo und unterrichtete ihn von dem Anschlage mit dem Pulver und von dem, was bereits darauf erfolgt war, indem er ihm auch zu wissen tat, daß er Julia in der nächstkommenden Nacht aus der Gruft befreien und nach seiner Zelle bringen würde, und ihn veranlaßte, dazu womöglich selbst verkleidet nach Verona zurückzukehren; er würde seiner bis Mitternacht harren, um die nötigen ferneren Verabredungen mit ihm zu treffen.

Er versiegelte hiernächst diesen Brief und gab ihn einem anderen zuverlässigen Klosterbruder, dem er dringend anempfahl, ja noch desselben Tages nach Mantua zu gehen, Romeo Montecchio daselbst aufzusuchen und ihm und keinem anderen, er möge sein, wer es wolle, das Schreiben einzuhändigen. Der Bruder ging und kam frühzeitig in Mantua an, wo er im Franziskanerkloster einkehrte. Wie er nun aber sein Pferd untergebracht hatte und den Pater Guardian suchte, um sich von ihm einen Begleiter geben zu lassen, mit dem er seinen Geschäften in der Stadt nachginge, erfuhr er, daß unlängst ein Mönch aus diesem Kloster gestorben sei, und daß die Gesundheitsbehörde wegen einiger verdächtiger Anzeichen und weil sich sogar eine Pestbeule größer als ein Ei in der Nähe der Lenden an seinem Körper vorgefunden, erklärt habe, daß er mit der Pest behaftet gewesen sei. Und siehe da! in dem Augenblicke, als man ihm von diesem Vorfalle sprach, kamen die Schergen der Gesundheitsbehörde im Kloster an und befahlen dem Pater Guardian von Seiten des Beherrschers der Stadt, bei schweren Strafen und so lieb ihm dessen Gnade sei, durchaus niemand aus dem Kloster herauszulassen. Der von Verona angelangte Bruder wollte zwar für sich anführen, daß er im Augenblicke erst im Kloster abgestiegen sei und noch mit keinem Menschen darin verkehrt habe; allein er gab sich eine vergebliche Mühe und mußte wohl oder übel bei der Brüderschaft ausharren, so daß er zum größten Unglück weder den Brief an Romeo abgeben noch diesem sonst etwaige Nachricht davon erteilen konnte.

Mittlerweile bereitete man in Verona das feierliche Begräbnis der Jungfrau, die man für tot hielt, vor, und man hatte beschlossen, sie noch desselben Abends in der Gruft ihrer Ahnen beizusetzen. Pietro, Romeos Diener, erschrak höchlich, als er hörte, daß Julia gestorben sei, und nahm sich sogleich vor, nach Mantua zu gehen; jedoch wollte er vorher das Begräbnis der Jungfrau abwarten, um seinem Herrn sagen zu können, daß er sie im Tode gesehen habe, und gedachte sodann, gesetzt, daß er aus Verona herauskäme, die Nacht über zu reiten, damit er in Mantua wäre, sobald man dort die Tore öffnete. Zu Veronas allgemeiner Trauer wurde Julias Totenbahre am späten Abende aufgenommen und unter dem Geleite der ganzen Geistlichkeit und aller Brüderschaften der Stadt nach San Francesco geführt. Pietro war so bestürzt und von Mitleiden mit seinem Herrn, der, wie er wußte, Julia einzig liebte, so übermannt und außer sich selbst geraten, daß es ihm gar nicht einfiel, zu dem Bruder Lorenzo zu gehen und mit ihm, wie er wohl schon öfter getan hatte, zu reden. Unmittelbar nachdem er Julia auf der Bahre gesehen und erkannt hatte, stieg er daher zu Pferde und ritt scharfen Schrittes bis nach Villafranca, wo er sein Pferd erfrischte und sich selbst eine Weile schlafen legte; bis er zwei Stunden vor Tagwerden wieder aufbrach, mit Sonnenaufgang in Mantua ankam und sich auf der Stelle nach der Wohnung seines Gebieters begab.

Julia war indessen in die Kirche gebracht und, nachdem man das gewöhnliche Totenamt für sie abgehalten, etwa um die Mitternachtsstunde in der geräumigen marmornen Gruft der Capelletti, welche sich außerhalb der Kirche auf dem Kirchhofe befand, bestattet worden. Sobald man mit der Jungfrau dabei angekommen war, hatte Bruder Lorenzo unverzüglich Tebaldos Leichnam etwas beiseite schaffen lassen, der, weil er sehr mager gewesen und bei seinem Tode alles Blut verloren hatte, noch wenig angefault war und nicht stark roch, und war desgleichen, als mit dem Amte der Bestattung beauftragt, besorgt gewesen, alles ausfegen und abstauben sowie auch den zarten Körper der Scheintoten sanft niederlegen und ihm ein Kissen unter den Kopf tun zu lassen, worauf das Gewölbe wieder verschlossen worden war.

Sowie nun Pietro zu Romeo kam, den er noch im Bette antraf, und vor ihm stand, vermochte er vor unendlichem Schluchzen und Weinen kein Wort vorzubringen. Darüber äußerst verwundert und nicht im geringsten das Geschehene ahnend, sondern eher anderer Unfälle gewärtig, sprach Romeo: »Pietro, was hast du? Was für Nachrichten bringst du mir aus Verona? Wie geht es meinem Vater und den Meinigen? Sprich! Laß mich nicht länger in Ungewißheit! Was kann es sein, das dich in solche Betrübnis versetzt? Geschwinde, sag es heraus!« – Und so tat Pietro am Ende seinem Schmerze Gewalt an und meldete ihm mit schwacher, oft unterbrochener Stimme den Tod seiner Julia, deren Beerdigung er mit angesehen habe, und von der das Gerücht umliefe, daß sie aus Gram gestorben sei.

Auf diese grausame und entsetzliche Kunde blieb Romeo eine lange Weile seines Bewußtseins beraubt. Dann sprang er wie unsinnig aus dem Bette und rief: »Oh, du Verräter, Romeo! Du Treuloser! Eidbrüchiger! Undankbarster aller Undankbaren! Es ist nicht der Gram, der sie getötet hat, – der tötet niemand; sondern du, Grausamer, selbst, du bist ihr Henker und Mörder geworden. Schrieb sie es dir denn nicht, daß sie lieber sterben als einen anderen heiraten wollte, und daß du sie um jeden Preis aus ihrem väterlichen Hause erretten solltest? Und du Liebloser, Träger, Verachtungswürdiger! Du gabst ihr dein Wort darauf und versprachst ihr, zu kommen und alles zu tun, sie solle nur getrosten Mutes sein, und schobst es doch von einem Tage zum anderen auf, ohne dich zur Tat zu entschließen! Jetzt hast du die Hände noch im Schoße liegen, und Julia ist tot. Julia ist tot! Und du lebst? Oh, Elender! Wie viele Male hast du es ihr gesagt und geschrieben, daß du nicht ohne sie leben könntest? Und desungeachtet bist du noch am Leben! Wo, denkst du, daß sie sei? Sie irrt hier immer umher und erwartet, daß du ihr folgst, indem sie bei sich spricht: ›Siehe da, den lügnerischen, falschen Liebhaber und ungetreuen Gatten, der nach der Kunde von meinem Tode noch leben kann!‹ Oh, verzeih! Verzeihe mir, mein teuerstes Weib! Ich gestehe dir mein schweres Verbrechen ein. Da denn aber der Schmerz, den ich über deinen Verlust empfinde, wie herbe er mir auch sei, mir doch nicht tödlich wird, so will ich selbst sein Amt vollziehen und – ihm und dem Tode, die mich schonen wollen, zum Trotz – mein Leben mit meiner eignen Hand beenden.«

Darauf griff er nach dem Schwerte, das am Kopfende seines Bettes stand, riß es aus der Scheide und setzte sich die Spitze gerade auf sein Herz. Sein getreuer Pietro war jedoch behende genug, ihm die Waffe, ehe er sich damit verwunden konnte, zu entwinden, tadelte ihn sodann bescheidentlich ob seines törichten Beginnens und suchte ihn nach seinem Vermögen zu trösten, indem er ihn ermahnte, sich in das Unwiderrufliche geruhig zu schicken.

Romeo war infolge des über ihn gekommenen plötzlichen Schreckens in seinem Innern fast versteinert und zu Marmor geworden, und es entrann seinen Augen keine einzige Träne. Wer ihm ins Antlitz gesehen hätte, würde zweifelhaft gewesen sein, ob er mehr einer Statue oder einem Menschen gliche. Nicht lange aber währte es, so entströmten ihm seine Tränen in solcher Fülle, daß gleichsam seine Augen zwei natürliche Springquellen zu sein schienen und die Worte, die er unter unablässigem Seufzen und Schluchzen sprach, wohl demantharte Herzen hätten rühren mögen. Als dann sein innerer Schmerz anfing, sich nach außen zu entladen, so ließ Romeo sich wieder von seiner heftigen Leidenschaft überwältigen und begann, bösen, seinem Leben mit Verderben drohenden Gedanken in sich Raum zu gestatten. Allerdings ließ er sich seine wilden Entschließungen vor niemand merken und sprach kein Wort davon aus, sondern verstellte sich, damit ihn Pietro nicht zum zweiten Male in seinem Tun störe oder etwa ein anderer ihm daran hinderlich würde. Er befahl Pietro, der allein bei ihm im Zimmer war, keinem Menschen etwas von dem Tode seiner Gattin zu sagen und noch weniger jemand die Übereilung zu verraten, der er sich durch den eigenen Angriff auf sein Leben schuldig gemacht habe, hieß ihn zwei Pferde bereit zu halten, um nach Verona zu reiten, und sagte: »Ich will, daß du unterderhand wieder von hinnen gehst und, nach Verona zurückgekehrt, meinem Vater kein Wort von meiner bevorstehenden eignen Ankunft sagst, sondern vielmehr Sorge trägst, daß ich Brechwerkzeuge vorfinde, um die Gruft zu öffnen, in der meine gestorbene Gattin ruht, und Stützen, um die Deckplatte abzusteifen: denn ich gedenke diesen Abend in Verona zu sein und werde geradesweges nach dem Häuschen hinter unserem Küchengarten kommen, das du bewohnst, von wo ich mit dir in der dritten oder vierten Stunde der Nacht nach dem Kirchhofe gehen werde, mein unglückliches Weib noch einmal im Tode zu sehen. Des anderen Morgens früh entferne ich mich unerkannt wieder; du folgst mir in einer kleinen Weile, und wir kehren hierher zurück.«

Nach diesen Worten schickte er den getreuen Pietro von dannen, und als derselbe fort war, schrieb Romeo einen Brief an seinen Vater, worin er ihn um Vergebung bat, sich ohne seinen Willen vermählt zu haben, und ihm die Geschichte seiner Liebe vortrug, ihn aber zugleich dringend ersuchte, für Julia als für seine Schwiegertochter ein feierliches Totenamt halten zu lassen und dessen alljährliche Wiederholung aus seinen Einkünften zu stiften, die er von einer kürzlich gestorbenen Tante ererbt hatte. Desgleichen sorgte er für Pietro, damit derselbe in Zukunft ein freies Auskommen hätte, bedachte von dem ersten Ertrage der Hinterlassenschaft seiner Tante die Armen und legte seinem Vater die Erfüllung dieses seines letzten Willens an das Herz. Diesen Brief siegelte er zu und steckte er sich in den Busen. Hierauf nahm er ein Fläschchen mit starkem Gifte, kleidete sich auf deutsche Weise und stieg zu Pferde, indem er den Seinigen, die er zurückließ, zu verstehen gab, daß er nächsten Tages zu früher Zeit wieder bei ihnen sein werde, und niemand zu seiner Begleitung mit sich nahm.

Scharf zureitend erreichte er Verona zur Stunde des Avemaria und suchte unverzüglich Pietro auf, der in allem nach seinem Willen getan hatte, und mit dem er sich zu der vorbestimmten nächtlichen Weile nach der Zitadelle und auf den Kirchhof von San Francesco begab. Hier hatten sie alsbald Julias Gruft ausgefunden und öffneten sie mittelst dazu mitgebrachter Werkzeuge, indem sie die Deckplatte mit festen Stützen offen erhielten. Eine kleine Blendlaterne, die Pietro auf Romeos Geheiß mitgebracht hatte, war ihnen dabei besonders dienlich. Romeo stieg hinein und sah sein geliebtes Weib augenscheinlich tot vor sich liegen. Er sank auf der Stelle bewußtlos an Julias Seite nieder und blieb so eine lange Zeit mehr tot als lebendig in seinem Schmerze liegen. Zu sich zurückgekommen, umschlang er sie mit seinen Armen, küßte sie wiederholt und badete ihr erstarrtes Angesicht mit seinen heißen Tränen, ohne daß ihn deren bittere Flut irgend zu Worten kommen ließ. Zum Sterben entschlossen, zog er endlich sein kleines Fläschchen hervor, setzte es sich an den Mund und trank das tödliche Gift mit einem Zuge aus. Darauf rief er Pietro vom Kirchhofe herbei und sprach zu ihm, sich an den Rand der Gruft lehnend: »Seht hier, o Pietro, meine Gattin, von der du weißt, wie sehr ich sie liebte! Ohne sie fortzuleben, würde mir ebensosehr unmöglich gewesen sein, als ein Körper ohne Seele bestehen kann. Ich habe deswegen von dem Schlangenwasser getrunken, das den Menschen in weniger Zeit als einer Stunde tötet, damit ich an der Seite derjenigen stürbe und begraben würde, die ich im Leben so sehr liebte, ohne für sie leben zu dürfen. Sieh hier das leere Fläschchen, in dem das Wasser war! Du erinnerst dich, daß es mir jener Spoletiner in Mantua gab, der die lebendigen Nattern und andern Schlangen hatte. Gott in seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit verzeihe mir; denn ich habe mich nicht selbst getötet, um ihn zu beleidigen, sondern weil ich nicht ohne meine geliebte Gattin leben kann. Du siehst mir zwar jetzt die Augen voller Tränen stehen; glaube aber ja nicht, daß ich aus Mitleiden mit mir selbst weine, der ich so jung sterbe: meine Tränen fließen nur um ihres Todes willen, die eines langen glücklichen Lebens so würdig war. Du übergibst hier diesen Brief meinem Vater, dem ich geschrieben habe, was ich nach meinem Tode von ihm wünsche. Ich habe darin auch Sorge getragen, deine getreuen Dienste zu belohnen, und bin überzeugt, daß mein Vater meinen letzten Willen achten wird. Nun geh! Ich fühle meinen Tod nahen, denn das grausame Gift durchdringt schon alle meine Glieder und ergreift sie. Zieh die Stütze der Gruft hinweg und laß mich bei meiner Julia sterben!«

Pietro war von dieser Anrede so tief gerührt, daß er meinte, das Herz im Leibe müsse ihm darob bersten. Er ermangelte nicht, seinem Herrn gar viele Worte zu erwidern; aber sie waren vergeblich, denn es gab keine Hilfe mehr gegen die tödliche Wirkung des Giftes. Seine Julia in seinen Armen haltend und sie ohne Unterlaß küssend, erwartete Romeo seinen nahen, unabwendlichen Tod und gebot noch öftere Male seinem Diener, die Gruft zu schließen. Währenddessen erwachte nun aber Julia allmählich wieder, in der die Wirkung des Pulvers aufgehört hatte tätig zu sein, und sprach, als sie fühlte, daß sie geküßt wurde, in der Meinung, sich in den Armen des Bruders Lorenzo zu befinden, der gekommen sei, sie fortzubringen, und sich etwa von einer unlauteren Begierde hinreißen lasse, sie zu küssen: »Ach, ehrwürdiger Pater Lorenzo! Haltet Ihr so das Versprechen, das Ihr meinem Romeo gegeben habt? Laßt mich los!« – Dabei machte sie eine gewaltsame Bewegung, um sich ihm zu entziehen, schlug die Augen auf und erblickte sich in Romeos Armen, den sie wohl erkannte, obgleich er deutsche Kleidung trug. Sie sagte zu ihm: »Wehe mir! Du bist hier, mein süßes Leben? Wo ist Bruder Lorenzo? Warum bringst du mich nicht aus diesem Grabgewölbe hinweg? Oh, laß uns um Gottes willen gehen!«

Als Romeo Julia die Augen öffnen sah und sie reden hörte und sich also überzeugte, daß sie nicht gestorben war, sondern lebte, empfand er mit einem Male unsägliches Vergnügen und unsäglichen Schmerz. Weinend und sein geliebtes Weib an seine Brust drückend, rief er aus: »Ach, du Leben meines Lebens und Seele meines Körpers! Welcher Mann auf Erden hatte jemals eine solche Freude, als mir gegenwärtig zugeteilt wird, der ich, des festen Glaubens, daß du gestorben seiest, dich lebend und gesund in meinen Armen halte! Aber wessen Schmerz kam auch jemals dem meinen gleich, und wer wurde mit einem herberen Herzensleiden heimgesucht als ich, der ich fühlen muß, daß mir das Ende meiner bejammernswerten Tage jetzt genaht ist, und daß gerade zu der Zeit mir das Leben entweicht, da ich den höchsten Genuß in ihm finden könnte! Wenn ich noch eine halbe Stunde am Leben bleibe, so ist dies die längste Frist, auf die ich hoffen darf. Ist wohl ein solcher Zwiespalt schon erhört, wie er sich jetzt in meinem eignen Innern befindet? Zu einer und derselben Zeit genieße ich die höchste Überraschung und Befriedigung, dich, die ich für tot hielt und beweinte, am Leben vor mir zu erblicken, und muß ich doch wieder in den tiefsten Gram versinken, indem ich mir bewußt werde, daß ich dich, du mir über alles teure Geliebte, so bald auf immer verliere. Ganz gewiß freilich waltet in mir die Freude über deinen Anblick vor der peinlichen Ahnung der nahen Trennung von dir vor, und so bitte ich denn auch den Herrgott, all die Jahre, die er meiner unglücklichen Jugend entzieht, der deinigen zu deinem irdischen Glücke hinzuzufügen.«

Als Julia Romeo so reden hörte, sprach sie zu ihm, halbaufgerichtet: »Was für Worte, mein teurer Freund, richtest du da an mich? Ist das der Trost, den du mir geben solltest? Bist du von Mantua herübergekommen, auf daß du mir solche Kunde bringest? Was ist mit dir geschehen? Was empfindest du?«

Hier erzählte ihr der unglückliche Romeo, wie er dazu gekommen war, das Gift zu sich zu nehmen. »Oh, wehe mir!« rief Julia, »was muß ich hören? Was sprichst du da? Ich Unglückliche! Also hat Bruder Lorenzo dir nichts von dem Anschlage geschrieben, den wir miteinander verabredet hatten? Er versprach mir doch, dich von allem zu unterrichten.« – Nunmehr erzählte das trostlose Weib, voll der bittersten Wehmut, weinend, schreiend und schluchzend, ja fast wahnsinnig vor Schmerz, ihrem sterbenden Gatten, was sie in Gemeinschaft mit dem Bruder Lorenzo ersonnen hatte, um sich von der Notwendigkeit zu erretten, sich dem von ihrem Vater ihr aufgedrungenen Verlobten zu vermählen.

Romeo hörte sie, dem wildesten Grame hingegeben, an und sah mit einem Male, während sie sich über Himmel und Sterne und alle Elemente in ihrem Jammer beklagte, den Leichnam Tebaldos liegen, den er wenige Monate vorher im Handgemenge getötet hatte. Er erkannte ihn wieder und sagte, zu ihm hingewandt: »Tebaldo! Wo du auch immer sein magst, du weißt, ich habe dich nicht absichtlich beleidigt, sondern ließ mich in den Streit ein, um ihn zu schlichten, indem ich dich ermahnte, die Deinen zurückzurufen, und die Meinigen wollte die Waffen niederlegen lassen. Du aber überließest dich deiner Wut und deinem alten Hasse gegen mich und kehrtest dich nicht an meine Worte, sondern griffst mich mit dem bösesten Willen an. Am Ende von dir dazu gezwungen, mußte ich wohl die Geduld verlieren und mich verteidigen, und so wollte es mein schlimmes Schicksal, daß ich dich umbrachte. Jetzt bitte ich dich, mir die Kränkung zu vergeben, die ich dir an deinem Körper antat, und zwar habe ich um so mehr Ursache, dies zu tun, als ich ja schon durch meinen Ehebund mit deiner Base Julia dein Verwandter war. Wenn du nach Rache an mir verlangst, siehe, so ist sie dir zuteil geworden. Und welch größere Rache hättest du dir wünschen können, als daß derjenige, der dich tötete, sich in deiner Gegenwart selbst vergiftete und sich freiwillig den Tod gab? Im Leben, Tebaldo, feindeten wir uns an; aber im Tode laß uns gegenwärtig friedsam in einem Grabe nebeneinander ruhen!«

Bei diesen jammervollen Worten des Gatten und den noch viel herzbrechenderen Tränen der Gattin stand Pietro wie eine Bildsäule von Marmor da und wußte nicht, ob er recht sah und hörte oder in der Tat nur träumte; er war davon so betäubt, daß er nicht das mindeste dazu sagte oder tat. Die beklagenswerte Julia dagegen sprach zu Romeo: »Es hat dem Himmel nicht gefallen, uns zusammen leben zu lassen; so gestatte er mir nun, daß ich hier bei dir bleibe! Ich schwöre es dir zu, Romeo, daß ich nicht ohne dich von hinnen gehe, es möge mir geschehen, was da wolle.«

Romeo faßte sie abermals in seine Arme und begann sie inständigst zu bitten, sich zu trösten und zu seiner eignen Beruhigung am Leben zu bleiben. Aber er wurde allmählich immer schwächer und schwächer, verlor schon den Gebrauch seiner Augen und blieb nicht mehr imstande, sich aufrechtzuerhalten. Er ließ sich zu Boden niedersinken, blickte seiner Gattin noch einmal liebevoll ins Antlitz und sagte: »Ach, mein teures Leben, ich sterbe!«

Bruder Lorenzo hatte, was auch immer sein Beweggrund dazu war, Julia nicht in derselben Nacht, da sie begraben worden, in seine Zelle bringen wollen. Wie er nun aber in der nächstfolgenden Nacht sah, daß Romeo nicht erschien, so nahm er einen anderen Klosterbruder, auf den er sich verlassen konnte, sowie die nötigen Brechwerkzeuge mit sich, um nach der Gruft zu gehen, und kam daselbst gerade in dem Augenblicke an, als Romeo völlig zu Boden sank. Den Eingang offen findend und Pietro erkennend, sprach er zu diesem: »Sei mir gegrüßt! Wo ist Romeo?« – Julia vernahm seine Stimme und richtete ihr Haupt empor, indem sie zu ihm sagte: »Gott verzeihe es Euch, Ihr besorgtet den Brief an Romeo wohl!« – »Ich besorgte ihn«, erwiderte der Bruder, »Bruder Anselmo trug ihn hin, den du kennst. Warum sprichst du aber so?« – Bitterlich weinend fuhr Julia zu reden fort: »Tretet hier herein, und Ihr werdet es sehen.« Der Bruder schritt näher zu ihr heran und sah Romeo sterbend am Boden liegen. »Romeo, mein Sohn!« fragte er, »was ist dir?«

Romeo öffnete seine matten Augen noch einmal, erkannte ihn und empfahl Julia seinem Schutze an, indem er mit gebrochener Stimme sprach: er sterbe, seine Sünden bereuend, und bitte Gott und ihn, ihm ihretwegen zu vergeben. Der unglückliche Jüngling vermochte nur mit schwerer Mühe diese letzten Worte hervorzubringen und seine Hand nach der Brust zu führen; von dieser Anstrengung vollends erschöpft, schloß er die Augen und starb.

Was die trostlose Julia darüber empfand, läßt sich nicht beschreiben. In Tränen zerfließend, rief sie seinen geliebten Namen viele Male vergebens aus und sank, vor Todesangst bewußtlos, über den Leichnam Romeos hin, auf dem sie eine gute Weile ohnmächtig liegen blieb. Der Bruder und Pietro brachten es zwar durch ihre Bemühungen so weit, daß sie wieder ins Leben kam; sie war aber nicht so bald zu sich zurückgekommen, als sie, ihre beiden Hände zusammenfaltend, in erneutes unmäßiges Weinen und, Romeos toten Körper mit Küssen bedeckend, in die Worte ausbrach: »Ach! Du süßer Aufenthalt meiner Gedanken, du Quelle aller Freuden, die ich auf dieser Welt genossen habe, du mein einziger wahrer Freund, welch unsägliches Leiden bereitest du mir jetzt! Du hast in der Blüte deiner schönen Jugend deine irdische Laufbahn vollendet und ein all den Deinen so teures Leben von dir geworfen! Du hast schon in einer Zeit sterben wollen, wenn das Dasein noch allen Menschen erfreulich ist, und hast unser aller endliches Ziel erreicht. Du, mein Gebieter, hast im Schoße derjenigen deine Tage beschlossen, die du über alles liebtest, und von der du auch ausschließlich wieder geliebt wirst; du hast dich freiwillig da bestatten wollen, wo, wie du glaubtest, sie bestattet ruhte. Aber du sahest nicht meine Tränen und meinen Schmerz voraus, die dir folgen würden, du ahntest es nicht, daß du, in jener anderen Welt ankommend, mich nicht findest. Ich weiß es, daß du zurückkehren würdest, wenn du mich dort nicht fändest, um zu erforschen, ob ich dir nicht folgte. Mich deucht, ich sehe schon deinen Geist, wie er hier umirrt und über mein langes Zögern trauert. Mein Romeo! Ich sehe dich, ich empfinde dich, ich erkenne dich, und ich weiß es, daß du auf meine Ankunft harrst. Befürchte nicht etwa, daß hier meines Bleibens ohne dich sein könnte! Ein Leben ohne dich würde mir viel angstvoller und peinlicher als der bitterste Tod sein. Ohne dich könnte ich nicht leben, und selbst wenn andere dafür hielten, daß ich lebte, würde mir ein solches Leben ein unablässiger qualenvoller Tod sein. Ja, mein geliebter Gatte! Bald bin ich wieder und auf ewig mit dir vereint.«

Pietro und der Klosterbruder, die sie umgaben, weinten, von tiefem Mitleiden mit ihr ergriffen, und bemühten sich vergebens, sie zu beruhigen. Bruder Lorenzo sagte zu ihr: »Geschehene Dinge, meine Tochter, lassen sich nicht ändern. Wenn dein Romeo durch Tränen wiedererweckt werden könnte, wir würden uns für dich in Tränen auflösen; aber es geht nicht an. Tröste dich und lebe, und wofern du nicht nach Hause zurückkehren willst, so laß dich von mir in ein heiliges Kloster bringen, in dem du, dem Himmel dienend, für die arme Seele deines Romeo beten magst.«

Julia wollte ihn indessen auf keine Weise hören, sondern beharrte auf ihrem grausamen Entschlusse und beklagte nur, daß sie Romeos Leben nicht mit dem ihrigen zurückerkaufen könne, indem sie, mit ihrer ganzen Willenskraft ihren Atem in sich festhaltend, ohne weiter einen Laut von sich zu geben, über Romeos entseeltem Körper, der in ihrem Schoße ruhte, starb.

Derweil die beiden Klosterbrüder und Pietro um die Jungfrau beschäftigt waren, von der sie nicht anders meinten, als daß sie nur in Ohnmacht gesunken sei, siehe, da wollte es der Zufall, daß die Scharwache bei der Kirche vorüberkam, Licht in der Gruft erblickte und eintrat. Die beiden Mönche und Pietro wurden von ihr alsbald festgenommen, und nachdem sich der Führer der Schergen das Schicksal der Liebenden von ihnen hatte erklären lassen, brachte er die Klosterbrüder in gute Haft und führte Pietro vor Herrn Bartolomeo, dem er einen umständlichen Bericht von dem Ereignisse, soweit es ihm bekannt war, erstattete. Herr Bartolomeo ließ sich alles genau vortragen und wollte dann die Leichen der beiden Liebenden selbst sehen, weshalb er sich erhob und mit anbrechender Morgenröte nach der Gruft ging. Die Nachricht von dem verwundernswürdigen Ereignis verbreitete sich durch die ganze Stadt, und vornehm und gering strömte dem Kirchhofe in Menge zu. Pietro und die Mönche erlangten Verzeihung, und zum höchsten Leidwesen der Capelletti und der Montecchi sowie der gesamten Bevölkerung von Verona wurde das unglückliche Liebespaar, dem Willen des Fürsten zufolge, in dieser einen und derselben Gruft auf das prachtvollste zur ewigen Ruhe bestattet. Die Montecchi und Capelletti umarmten sich unter Tränen über den beiden Leichen und stifteten miteinander einen Frieden, der nur, leider!, nicht von langer Dauer war. Der Vater Romeos las den Brief seines Sohnes, und nachdem er ihn innigst beklagt hatte, erfüllte er seinen Willen vollständig. Über dem Grabe der beiden Liebenden ward folgende Grabschrift angebracht:

Hinüber wähnte Romeo gegangen
Sein süß Gemahl und wollte nicht mehr leben:
Da hat er sich in ihrem Schoß vergeben
Mit jenem Gift, das Namen trägt von Schlangen.

Als sie des Irrtums schwere Kund' empfangen,
Beklagt sie weinend ihr geliebtes Leben,
Flucht dem Geschick und klagt mit Widerstreben
Den Himmel an, daß er sich arg vergangen.

Drauf als sie sah, nun hab' er ausgelitten,
Sprach sie, so tot wie er: »Laß dich erbitten,
O Gott, mich nachzusenden seinen Schritten;

Den einz'gen Wunsch laß, Himmel mich erflehen:
Wohin er geht, da will ich mit ihm gehen.«
Bei diesen Worten brach ihr Herz in Wehen.


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