Honoré de Balzac
Die Lilie im Tal
Honoré de Balzac

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An Madame la Comtesse Natalie de Manerville

Ich bin Deinem Wunsche nachgekommen. Es ist das Vorrecht der Frau, die wir mehr lieben als sie uns liebt, daß sie uns bei jeder Gelegenheit zwingen kann, Vernunftgründe außer acht zu lassen. Wir geben unser Blut her, wir verschwenden die Zukunft, nur um nicht sehen zu müssen, wie sich eine Falte in eure Stirn gräbt; wir überwinden wunderbarerweise alle Entfernungen, nur um den schmollenden Ausdruck eurer Lippen zu verwischen, der Lippen, die der geringste Widerstand betrübt. Du wünschst meine Vergangenheit zu kennen; hier ist sie. Aber Du sollst wissen und es bedenken, Natalie: als ich Dir gehorchte, mußte ich einen großen, bis dahin niemals überwundenen Widerwillen besiegen. Sag, warum beargwöhntest Du auch die plötzlichen und langen Träumereien, in die ich manchmal, mitten in unserm Glück, verfiel? Wozu dieser schöne Zorn einer geliebten Frau, der keines andern Vorwandes bedurfte als eines Schweigens? Hättest Du Dich nicht spielend mit den Widersprüchen meines Charakters abfinden können, ohne nach Erklärungen zu suchen? Oder birgst Du in Deinem Herzen Geheimnisse, die Du Dir nicht verzeihen kannst, ohne die meinen zu kennen? Jedenfalls hast Du es erraten, Natalie, und vielleicht ist es besser, Du erfährst alles: ja, mein Leben wird von einem einzigen Bilde beherrscht; es erhebt sich in unbestimmten Umrissen beim geringsten Wort, das daran erinnert, und oft steht es, voll eines eigenen, unabhängigen Lebens, über mir und bewegt sich. Auf dem Grund meiner Seele sind gewichtige Erinnerungen begraben, gleich jenen unterseeischen Gewächsen, die bei ruhigem Wetter sichtbar sind und die der Sturm stückweise an den Strand wirft. Obwohl ich in der Arbeit, die immer nötig ist, um Gedanken in Ausdrücke zu verwandeln, alle jene früheren Empfindsamkeiten, die mir so weh tun, wenn sie allzu unerwartet erwachsen, gewaltsam eingeschlossen habe, so wäre es doch möglich, daß Du durch irgendeine unvorhergesehene Entladung meiner Gefühle verletzt werdest. Aber dann erinnere Dich, daß Du mich mit Drohungen gezwungen hast, Dir zu gehorchen. Und Du wirst mich doch nicht dafür bestrafen, daß ich Dir gehorcht habe? Ich wünschte, daß mein Vertrauen Deine Zärtlichkeit verdopple. Auf heute abend!

Felix

 

Welchem mit Tränen genährten Talent werden wir eines Tages die rührendste Elegie zu danken haben, die Schilderung schweigend gelittener Qualen, die jene Seelen erduldet haben, deren erste zarte Wurzeln nur auf harte Steine im mütterlichen Boden stoßen, deren erste Triebe von gehässigen Händen zerstört werden, auf deren eben erstandene Blüten sich der Frost legt? Welcher Dichter wird uns von den Leiden eines Kindes sprechen, dessen Lippen an bitteren Brüsten trinken und dessen Lächeln vom verzehrenden Feuer eines strengen Auges verscheucht wird? Die Erzählung, worin diese armen Herzen geschildert wären und ihre Unterdrückung durch ihre Nächsten, die doch in Wahrheit berufen sind, die Ausbildung der Empfindsamkeit in den Kleinen zu begünstigen: das wäre die wahrhafte Geschichte meiner Jugend. Welche Eitelkeit konnte ich Neugeborenes verletzen? War es ein körperlicher oder geistiger Fehler, der mir die Kälte meiner Mutter eintrug? War ich denn ein Kind der bloßen Pflichterfüllung, ein solches, dessen Geburt ein Zufall wollte, oder eins, dessen Leben einen Vorwurf bedeutet? Ich wurde zu einer Amme aufs Land gegeben und blieb dort drei Jahre, von meiner Familie vergessen. Als ich nach Hause zurückkam, galt ich für so wenig, daß alle Leute mich bemitleideten. Ich kenne weder die Empfindung noch den glücklichen Zufall, mit deren Hilfe ich mich von diesem ersten Verlust habe erholen können: das Kind in mir ist unwissend, und der Mann erinnert sich nicht. Mein Bruder und meine beiden Schwestern waren weit davon entfernt, mein Geschick zu mildern; es war ihnen ein Vergnügen, mich leiden zu machen. Das Bündnis, auf Grund dessen die Kinder ihre kleinen Sünden verbergen und das sie schon frühzeitig den Begriff der Ehre lehrt, galt nicht für mich. Im Gegenteil, ich wurde oft für die Vergehen meines Bruders bestraft, ohne mich dieser Ungerechtigkeit widersetzen zu können. War es der schon in den Kindern keimende Schmeicheltrieb, der ihnen riet, sich an den gegen mich gerichteten Verfolgungen zu beteiligen, um sich auf diese Weise die Gnade einer auch von ihnen gefürchteten Mutter zu sichern? War es nur Nachahmungstrieb? Verspürten sie das Verlangen, ihre Kraft zu erproben, oder fehlte es ihnen an Mitgefühl? Vielleicht hatten sich alle diese Gründe vereinigt, um mich der Süße geschwisterlicher Zuneigung zu berauben. Ein Enterbter aller Liebe, fand ich nichts, das ich hätte lieben dürfen, und die Natur hat mich zum Lieben geschaffen! Ob wohl die Engel die Seufzer einer unaufhörlich zurückgestoßenen Zärtlichkeit sammeln? Es gibt Seelen, in denen die verkannten Gefühle sich in Haß verwandeln; in der meinen schwollen sie bohrend an und schufen sich ein Bett, woraus sie sich später über mein Leben ergossen. Je nach den Charakteranlagen spannt die Gewohnheit zu zittern die Fibern ab, erzeugt die Furcht, und die Furcht zwingt sie zur Nachgiebigkeit. Daraus entsteht eine Schwäche, die den Menschen entnervt und ihm irgend etwas vom Sklaven aufprägt. Aber mich haben die ewigen Leiden daran gewöhnt, eine Kraft zu entfalten, die in der Übung wuchs und meine geistige Widerstandsfähigkeit gründete. In der steten Erwartung eines neuen Schmerzes, nicht anders, als wie die Märtyrer immer einen Schlag erwarten, mußte mein ganzes Wesen natürlich eine stumpfe Ergebenheit ausdrücken, wovon die Anmut und die schönen Regungen eines kindlichen Gemüts erstickt wurden, eine Haltung, die für ein Merkmal der Blödigkeit angesehen wurde und die unheilkündenden Prophezeiungen meiner Mutter zu rechtfertigen schien. Dies Bewußtsein, unverdiente Qualen erdulden zu müssen, ließ vorzeitig in mir die Frucht der Erkenntnis, den Stolz, reifen und setzte sich zweifellos einer Entwicklung meiner schlechten Veranlagungen entgegen, die eine derartige Erziehung natürlich hätte begünstigen müssen. Obwohl meine Mutter mich vernachlässigte, scheine ich doch manchmal der Gegenstand ihrer Besorgnisse gewesen zu sein; sie sprach zuweilen von meiner Bildung und äußerte den Wunsch, sich darum zu kümmern. Schreckliche Schauer überliefen mich bei dem Gedanken, welche Qualen mir ein tägliches und langes Zusammensein mit ihr brächten. Ich segnete meine Vernachlässigung und war glücklich, daß man mich im Garten mit Kieseln spielen und die Insekten beobachten und in den blauen Himmel blicken ließ. Meine Einsamkeit mußte mich wohl zum Träumer machen; aber mein ausgesprochener Hang, mit mir allein lange Betrachtungen anzustellen, rührt doch von einem Abenteuer her, das Ihnen meine ganze unglückliche Lage in jener Zeit beweisen wird. Ich galt so wenig, daß meine Gouvernante oft vergaß, mich ins Bett zu bringen. Eines Abends saß ich zusammengekauert unter einem Feigenbaum und betrachtete einen Stern mit der seltsamen Leidenschaftlichkeit, die sich eines Kindes bemächtigen kann und zu der noch, infolge meiner frühreifen Melancholie, eine Art sentimentaler Verständigkeit hinzukam. Meine Schwestern lachten und lärmten; ich hörte ihr fernes Rumoren wie eine Begleitmusik zu meinen Gedanken. Der Lärm hörte auf, und es wurde Nacht. Durch einen Zufall bemerkte meine Mutter meine Abwesenheit. Und weil unsere Gouvernante, eine furchtbare Mademoiselle Caroline, nicht wollte, daß man ihr Vorwürfe mache, schürte sie noch die falschen Besorgnisse meiner Mutter und behauptete, daß ich meine Familie haßte und ohne ihre Wachsamkeit schon längst entflohen wäre; daß ich kein Dummkopf, aber ein Heimtücker sei; niemals habe sie, so viele Kinder ihr auch schon anvertraut gewesen seien, einen Jungen mit so schlechten Anlagen angetroffen, wie sie täglich sie an mir beobachten müsse. Sie tat, als ob sie nach mir suchte, und rief. Ich antwortete, und sie kam zum Feigenbaum, wo ich, wie sie wohl wußte, lag und träumte.

»Was hast du hier getrieben?« fragte sie. »Ich habe einen Stern betrachtet.« – »Du hast keinen Stern betrachtet«, sagte meine Mutter, die auf dem Balkon zuhörte; »versteht man in deinem Alter etwas von Astronomie?« – »O Madame«, rief nun Mademoiselle Caroline, »er hat den Hahn des Wasserbehälters geöffnet, der Garten steht unter Wasser!«

Es herrschte große Aufregung. Meine Schwestern hatten sich damit belustigt, den Hahn zu öffnen, um das Wasser laufen zu sehen; aber ein hervorschießender Strahl hatte sie übergossen, sie hatten den Kopf verloren und waren davongelaufen, ohne den Hahn wieder schließen zu können. Nun wurde ich beschuldigt, diesen Streich ausgeheckt zu haben. Sowie ich meine Unschuld beteuerte, wurde ich ein Lügner genannt. Schon galt ich für überführt und wurde streng bestraft. Die schrecklichste Strafe aber war, daß man mich wegen meiner Vorliebe für Sterne aufzog und meine Mutter mir verbot, abends im Garten zu bleiben. Mehr noch als Männer werden Kinder durch tyrannische Verbote aufgebracht. Die Kinder haben vor den Männern voraus, daß sie ausschließlich an die verbotene Sache denken, die deshalb einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübt. So kam es, daß ich viel Prügel für meinen Stern erhielt. Da ich mich niemand anvertrauen konnte, klagte ich ihm meine Leiden, mit jenem entzückenden inneren Gemurmel, in dem ein Kind seine ersten Gedanken ausdrückt, auf dieselbe Weise, wie es einmal seine ersten Worte gestammelt hat. Im Alter von zwölf Jahren, auf der Schule, betrachtete ich ihn noch mit unsäglichem Entzücken; so tiefe Spuren lassen die Eindrücke zurück, die wir in der Frühe des Lebens empfangen haben.

Charles ist fünf Jahre älter als ich; er war ebenso schön als Kind, wie er als Mann ist; er war der Liebling meines Vaters, der Augapfel meiner Mutter, die Hoffnung der Familie. Also regierte er das Haus. Er war gut gewachsen, kräftig und hatte einen Hauslehrer. Ich dagegen, im Alter von fünf Jahren, war schmal und schwächlich und wurde als Externer in eine Stadtpension geschickt. Der Kammerdiener meines Vaters brachte mich morgens hin und holte mich abends wieder ab. Ich bekam einen wenig gefüllten Korb mit, indes meine Kameraden immer mit reichlichen Eßwaren ankamen. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und ihrem Überfluß hatte tausend Leiden zur Folge. Den Hauptbestandteil der Mahlzeit, die wir um Mittag, zwischen dem ersten Frühstück zu Hause und dem Mittagessen in der Anstalt, bei der Rückkehr aus der Schule abhielten, bildeten die berühmten Tourainer Schmalzklöße. Dies von einigen Feinschmeckern so geschätzte Gericht kommt in Tours selten auf eine aristokratische Tafel; und wenn ich von ihm schon vor meinem Eintritt in die Anstalt gehört hatte, so war mir doch nie das Glück des Anblicks zuteil geworden, wie diese braune Konfitüre für mich auf eine Brotschnitte gestrichen wird. Aber selbst wenn sie in der Pension nicht Mode gewesen wäre, meine Lust danach wäre doch nicht geringer gewesen; denn sie war für mich etwas wie eine fixe Idee geworden, so wie eine der elegantesten Fürstinnen von Paris vom Verlangen nach den Ragouts der Hausleute verzehrt wurde und als Frau auch nicht abzuhalten war, ihren Wunsch zu befriedigen. Kinder erraten die Begehrlichkeit in Blicken mit derselben Sicherheit, wie ihr darin Liebe lest: so wurde ich die ausgezeichnete Zielscheibe des Spottes. Meine Kameraden, die fast alle aus dem Mittelstand waren, hielten mir ihre köstlichen Klöße hin und fragten, ob ich wüßte, wie man sie zubereitete, wo sie verkauft würden, warum ich keine mitbrächte. Sie rühmten, wenn sie sich während der Mahlzeit mit der Zunge den Mund wischten, ihre Klöße, ein feingehacktes Schweinefleisch, das in seinem eigenen Fett geschmort wird und ähnlich aussieht wie gekochte Trüffeln. Sie untersuchten meinen Korb, fanden nichts als Käse aus Olivet oder trockene Früchte und marterten mich mit einem »Bist du so arm?«, das mich den ganzen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir ermessen ließ. Dieser Gegensatz zwischen meiner Ärmlichkeit und dem Glück der andern hat die Rosen meiner Kindheit beschmutzt und meine grünende Jugend geschändet. Das erstemal, als ich im Glauben an ein hochherziges Gefühl die Hand ausstreckte, um den so sehr begehrten Leckerbissen entgegenzunehmen, den mir jemand mit einer scheinheiligen Miene hinhielt, zog der Spaßvogel die Brotschnitte unter dem Gelächter der darauf vorbereiteten Kameraden zurück. Wenn selbst die hervorragendsten Geister der Eitelkeit zugänglich sind, warum sollte man einem Kinde nicht verzeihen, das weint, weil es sich verachtet und verspottet sieht? Wie viele Kinder wären dabei Schlemmer, Schnorrer, Feiglinge geworden! Um den Verfolgungen zu entgehen, schlug ich um mich. Die Wut der Verzweiflung machte mich gefürchtet; aber zugleich wurde ich eine Zielscheibe des Hasses und der Hinterlist. Eines Abends auf dem Heimweg erhielt ich rücklings einen Schlag mit einem Taschentuch, dessen Knoten Kieselsteine enthielt. Als der Kammerdiener, der mich ausgiebig gerächt hatte, meiner Mutter das Ereignis mitteilte, brach sie in die Worte aus: »Mit diesem verfluchten Kinde werden wir nichts als Sorgen haben.«

Ich verbohrte mich in ein ungeheures Mißtrauen gegen mich selbst, als ich wahrnahm, daß ich in der Anstalt denselben Widerwillen einflößte wie zu Hause. Und so wie zu Hause zog ich mich dort in mich zurück.

Ein zweiter Schneefall hielt die Blüte der in meine Seele gesäten Keime auf. Ich sah, daß die, die geliebt wurden, ausgewachsene Taugenichtse waren; auf diese Beobachtung baute ich meinen Stolz: ich blieb allein. So war es mir immer versagt, die Gefühle auszuströmen, von denen mein armes Herz geschwellt war. Mein Lehrer, der sah, daß ich immer düster, verhaßt und einsam war, bekräftigte die falschen Mutmaßungen meiner Familie und erklärte mich ebenfalls für einen schlechten Charakter. Sowie ich lesen und schreiben konnte, ließ mich meine Mutter nach Pont-le-Voy schaffen, einer von Oratorianern geleiteten Schule, die Kinder meines Alters in eine Klasse aufnahmen, die die Klasse der ›Lateinischen Schritte‹ hieß und in der auch die Schüler verblieben, deren schwerfälliger Verstand sich den Anfangsgründen widersetzte. Hier verbrachte ich acht Jahre, ohne jemand zu sehen, behandelt wie ein Paria, und zwar aus folgenden Gründen: Ich bekam nur drei Francs monatliches Taschengeld, eine Summe, die kaum für Federn, Federmesser, Lineale, Tinte und Papier ausreichte, die wir selbst anschaffen mußten. Ich konnte weder Stelzen noch Seile, noch eins der andern Dinge kaufen, mit denen Schüler sich vergnügen, und blieb deshalb von den Spielen ausgeschlossen. Um zugelassen zu werden, hätte ich den Reichen den Hof machen oder den Starken meiner Abteilung schmeicheln müssen. Die geringste solcher kleiner Feigheiten, zu denen sich Kinder so leicht verleiten lassen, widerte mich an. Ich blieb unter einem Baume liegen, in wehmütigen Träumen verloren; dort las ich auch die Bücher, die der Bibliothekar alle Monate austeilte. Wie viele Schmerzen lagen auf dem Grunde dieser ungeheuerlichen Einsamkeit verborgen, welche Ängste erstanden in meiner Verlassenheit! Denken Sie, was ich mit all meinem Liebesbedürfnis bei der ersten Preisverteilung empfinden mußte, bei der ich die beiden am meisten geschätzten Preise erhielt: den für den Aufsatz und den für Übersetzungen. Als ich unter Beifallsrufen und Trompetengeschmetter auf die Bühne hinaufstieg, um die Preise entgegenzunehmen, fehlten mir ein Vater und eine Mutter, die mich gefeiert hätten, und doch war der ganze Raum dicht besetzt mit den Angehörigen meiner Kameraden. Es gehörte sich, daß man den Lehrer, der die Preise verteilte, küßte; ich aber warf mich an seine Brust und brach in Tränen aus. Am Abend verbrannte ich meine Lorbeeren im Ofen. Die Angehörigen der Schüler kamen die Woche vor der Preisverteilung, während der die Prüfungen stattfanden, in die Stadt, und so zogen meine Kameraden jeden Morgen fröhlich von dannen, wogegen ich, dessen Eltern nur wenige Stunden entfernt wohnten, allein mit den ›Überseeischen‹ in den Höfen zurückblieb; so nannte man die Schüler, deren Angehörige auf den Inseln und im Ausland wohnten. Am Abend, während des Gebets, rühmten sich die Barbaren vor uns der guten Mahlzeiten, die sie mit ihren Verwandten eingenommen hatten. Sie werden sehen, daß mein Unglück immer mehr anwächst, je größer der soziale Kreis wird, der mich aufnimmt. Was habe ich nicht alles versucht, um endlich dem Schicksal zu entgehen, das mich dazu verurteilt, immer nur auf mich allein angewiesen zu sein. Wie viele Hoffnungen habe ich, wie lange sie inbrünstig genährt, die an einem Tage zerrannen! Ich wollte meine Eltern bewegen, in die Schule zu kommen, und schrieb ihnen lange, gefühlvolle Briefe, deren Sprache vielleicht übertrieben war. Aber mußten denn diese Briefe mir gleich die Vorwürfe meiner Mutter zuziehen, die mir ironische Verweise wegen meines Stils erteilte? Ich ließ mich trotzdem nicht entmutigen und versprach, alle Bedingungen zu erfüllen, die Vater und Mutter an ihre Zusage knüpften; ich bat flehentlich um die Teilnahme meiner Schwestern, denen ich regelmäßig zu ihren Geburtstagen und Namensfesten schrieb, mit der Pünktlichkeit armer, verlassener Kinder und mit einer Geduld, die niemals belohnt wurde. Als der Tag der Preisverteilung herannahte, verdoppelte ich meine Bitten; ich sprach von Triumphen, die ich ahnte . . . Schließlich ließ ich mich durch das Schweigen meiner Eltern täuschen; ich erwartete sie mit einer überschwenglichen Freude, die ich täglich höher schraubte, kündigte sie meinen Kameraden an, und wenn dann beim Eintreffen der Angehörigen der Schritt des alten Pförtners, der die Schüler benachrichtigte, in den Höfen widerhallte, verspürte ich ein krankhaftes Erzittern des Herzens. Niemals sprach der Alte meinen Namen aus. Am Tage, als ich mich anklagte, das Leben verflucht zu haben, wies mein Beichtvater in den Himmel, wo die Palme blühe, die uns durch das ›Beati qui lucent‹ des Erlösers versprochen ist. So warf ich mich denn bei meiner ersten Kommunion in die geheimnisvollen Abgründe des Gebets und überließ mich den religiösen Gedanken, deren moralische Zaubereien ein junges Gemüt entzücken. Ich war von einem inbrünstigen Glauben beseelt und bat Gott, er möge für mich die bestrickenden Wunder erneuern, von denen ich in der Geschichte der Märtyrer las. Mit fünf Jahren entflog ich zu einem Stern, mit zwölf Jahren klopfte ich an die Pforten des Allerheiligsten. Die Entzückung weckte in mir unsagbare Träume, die meine Einbildung bevölkerten, meine Zärtlichkeit vertieften und meine Denkkraft stärkten. Ich habe oft gedacht, daß diese erhabenen Gesichte mir von Engeln kamen, die nach göttlichem Ratschluß meine Seele formten: sie haben meinen Augen die Fähigkeit gegeben, den heimlichen Sinn der Dinge zu erkennen, und mein Herz mit jenen Zauberkräften ausgestattet, die aus dem Dichter einen Unglücklichen machen, wenn er die verhängnisvolle Gabe besitzt, seine Gefühle mit der Wirklichkeit, die großen Absichten mit dem Wenigen zu vergleichen, das er erreicht; sie haben in meinen Geist Worte und Sätze gegraben, die mir vorschrieben, was ich auszudrücken hatte; sie haben meine Lippen mit der feurigen Beredsamkeit des Erfinders begabt.

Meinem Vater stiegen über den Wert des Unterrichts bei den Oratorianern Zweifel auf; er nahm mich aus der Schule in Pont-le-Voy, und ich kam nun in eine Pariser Erziehungsanstalt, die im Marais gelegen war. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Nach einer eingehenden Prüfung wurde der Rhetorikschüler von Pont-le-Voy würdig erachtet, in die dritte Klasse einzutreten. Die Leiden, die ich in meiner Familie, in der Schule und im Internat durchgekostet hatte, erfuhr ich in erneuter Form während meines Aufenthalts in der Pension Lepître. Mein Vater hatte mir kein Geld gegeben. Es genügte meinen Eltern, zu erfahren, daß ich genährt und gekleidet sowie mit Latein und Griechisch überfüttert würde, und sie entschlossen sich, mich dort zu lassen. Im Laufe meines Schülerlebens habe ich etwa tausend Kameraden kennengelernt. Nie wieder habe ich ein solches Beispiel elterlicher Gleichgültigkeit gesehen. Als fanatischer Anhänger der Bourbonen hatte Monsieur Lepître Beziehungen zu meinem Vater gehabt zu der Zeit, als treue Royalisten Marie-Antoinette aus dem Temple zu retten versuchten. Sie hatten ihre Bekanntschaft erneuert. Monsieur Lepître glaubte sich daher verpflichtet, die Gleichgültigkeit meines Vaters wieder gutzumachen; aber die Summe, die er mir monatlich zur Verfügung stellte, war unzureichend; er konnte ja auch nicht wissen, was meine Familie mit mir vorhatte. Das Internat befand sich im alten Hôtel Joyeuse, das wie alle herrschaftlichen Häuser früherer Zeiten eine Portierloge hatte. In der Pause vor der Stunde, für die der Hilfslehrer uns ins Lycée Charlemagne begleitete, gingen meine begüterten Kameraden zu Doisy, dem Portier, um bei ihm zu frühstücken. Monsieur Lepître drückte ein Auge zu oder wußte überhaupt nichts von den Besuchen bei Doisy, einem ausgemachten Schmuggler, mit dem alle Schüler auf möglichst gutem Fuß zu stehen suchten: er deckte unsere heimlichen Ausschreitungen, er wußte um unser spätes Nachhausekommen, er vermittelte uns verbotene Lektüre. Eine Tasse Milchkaffee galt für einen aristokratischen Luxus, was sich daraus erklärt, daß Kolonialwaren zur Zeit Napoleons gewaltig im Preise gestiegen waren. Wenn der Genuß von Zucker und Kaffee schon bei den Eltern einen Luxus bedeutete, so war er bei uns Kindern nichts als eitle Großtuerei. Allein die Seltenheit des Genusses hätte unsere Begehrlichkeit reizen müssen, wenn nicht Nachahmungstrieb, Naschhaftigkeit und Modesucht genügt hätten. Doisy gab uns Kredit; er dichtete uns allen irgendwelche Schwestern oder Tanten an, die unsere Großmannssucht gutheißen und unsere Schulden bezahlen sollten. Ich widerstand lange den Lockungen des Ausschankes. Wenn meine Richter die Macht der Versuchung, die heldenhaften Anläufe meiner Seele zum Stoizismus, den verhaltenen Grimm meines langen Widerstandes gekannt hätten – sie hätten meine Tränen getrocknet, statt mich erst recht zum Weinen zu bringen. Doch wie konnte ich als Kind die seelische Größe haben, die uns die Verachtung anderer verachten lehrt? Zudem verspürte ich vielleicht schon damals die Symptome mehrerer sozialer Laster, deren Macht durch meine Begehrlichkeit noch gesteigert wurde.

Gegen Ende des zweiten Schuljahres kamen mein Vater und meine Mutter nach Paris. Der Tag ihrer Ankunft wurde mir von meinem Bruder mitgeteilt. Er lebte in Paris und hatte mich nicht ein einziges Mal besucht. Meine Schwestern nahmen an der Reise teil, und wir sollten zusammen Paris besichtigen. Am ersten Tage wollten wir im Palais-Royal zu Abend essen, um in nächster Nähe des Théâtre-Français zu sein. Trotz der Trunkenheit, die mich bei diesem unerwarteten Festprogramm erfaßte, wurde meine Freude doch durch die Gewitterschwüle beeinträchtigt, die so gern auf den Gemütern der mit dem Unglück Vertrauten lastet. Ich hatte meinen Eltern hundert Francs Schulden einzugestehen, da Meister Doisy damit drohte, daß er selbst sich sonst an sie wenden werde. Ich ersann den Ausweg, meinen Bruder als Unterhändler mit Doisy, als Dolmetsch meiner Reue und als Fürsprecher für meine Verzeihung vorzuschieben. Mein Vater neigte zur Nachsicht, aber meine Mutter war unerbittlich. Der Blick ihrer dunkelblauen Augen ließ mich erstarren. Sie stieß schreckliche Prophezeiungen aus: Wo sollte es mit mir noch hinaus, wenn ich schon im Alter von siebzehn Jahren mir derartige Streiche zuschulden kommen ließe; ob ich tatsächlich ihr Sohn sei; ob ich meine Familie ins Unglück stürzen wolle; ob ich denn der einzige zu Hause sei; verlangte nicht die Laufbahn, die mein Bruder Charles eingeschlagen hätte, schon genügend große Geldopfer, deren er sich aber würdig gezeigt habe durch ein Betragen, das seiner Familie zur Ehre gereiche, während ich ihr Schandfleck sei? Ob etwa meine Schwestern ohne Mitgift heiraten sollten; ob ich denn den Wert des Geldes nicht kennte und nicht wüßte, wieviel ich kostete? Was denn Kaffee und Zucker mit meiner Erziehung zu tun hätten; sei ein solches Benehmen nicht aller Laster Anfang? – Im Vergleich zu mir war Marat ein Engel! . . . Als ich diesen Sturzbach, der tausend Schrecknisse in meine Seele wälzte, über mich hatte ergehen lassen, führte mich mein Bruder in die Anstalt zurück. Ich kam um das Diner bei den Frères Provençaux und um das Vergnügen, Talma im ›Britannicus‹ zu sehen. Das war mein Wiedersehen mit meiner Mutter nach zwölfjähriger Trennung!

Als ich meine humanistischen Studien beendet hatte, überließ mich mein Vater auch weiterhin der Fürsorge des Monsieur Lepître. Ich sollte höhere Mathematik treiben, ein Jahr lang Jurisprudenz studieren und mich dann einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit widmen. Zwar war ich Interner, aber schulfrei, und so wagte ich zu glauben, daß zwischen dem Elend und mir ein Waffenstillstand eingetreten sei. Aber trotz meiner neunzehn Jahre oder vielleicht wegen meiner neunzehn Jahre blieb mein Vater bei dem System, wonach ich früher ohne Mundvorräte in die Schule geschickt, im Internat aller kleinen Freuden beraubt und zum Schuldner Doisys gemacht worden war. Ich hatte nur wenig Geld zur Verfügung. Was sollte ich in Paris ohne Geld anfangen? Übrigens wurde meine Freiheit mit Vorbedacht an die Kette gelegt. Monsieur Lepître ließ mich in die juristische Fakultät begleiten, durch einen Bonzen, der mich in die Hände des Professors ablieferte und wieder abholte. Ein junges Mädchen wäre mit weniger Sorgfalt gehütet worden. Aber die Sorge meiner Mutter um mein Seelenheil wollte es so. Freilich, die Angst meiner Eltern vor Paris war berechtigt; die Studenten beschäftigten sich im geheimen mit dem, was auch die jungen Mädchen in ihren Pensionaten in Anspruch nimmt. Wie man's auch anfängt, die Mädchen werden immer vom Liebhaber, die jungen Männer stets von Frauen reden. Aber im damaligen Paris waren die Gespräche unter Studiengenossen ganz beherrscht von den Bildern orientalischen Seraillebens, wie sie das Palais-Royal vorführte. Das Palais-Royal war ein Liebesdorado, wo des Abends ganze Berge Gold kreisten. Dort hörten die keuschesten Zweifel auf, dort konnten die entfachten Begierden Befriedigung finden. Das Palais-Royal und ich, wir waren zwei Pole, die einander anzogen, ohne sich treffen zu können. Folgendermaßen vereitelte das Schicksal meine Pläne: Mein Vater hatte mich bei einer meiner Tanten, die auf der Ile-Saint-Louis wohnte, eingeführt, und dort mußte ich jeden Donnerstag und Sonntag zu Tisch erscheinen. Madame oder Monsieur Lepître, die an diesen Tagen ausgingen, begleiteten mich hin und holten mich abends auf dem Rückweg wieder ab – für mich ein zweifelhaftes Vergnügen! Die Marquise de Listomère war eine sehr formelle große Dame, die niemals auf den Gedanken kam, mir einen Taler zu schenken. Sie war alt wie eine Kathedrale, gemalt wie eine Miniatur, sehr reich gekleidet und lebte in ihrem herrschaftlichen Hause, als ob Ludwig XV. nie gestorben wäre. Sie empfing nur alte Damen, Herren von gutem Adel, eine Gesellschaft von Fossilien, in der ich mir wie in einer Gruft vorkam. Niemand richtete ein Wort an mich, und ich hatte nicht den Mut, jemand anzusprechen. Feindliche oder kalte Blicke beschämten mich, meine Jugend schien allen ein Ärgernis zu sein. Von dieser Gleichgültigkeit erhoffte ich das Gelingen meines Fluchtplanes: ich nahm mir vor, mich eines Tages gleich nach Tisch wegzuschleichen und zu den ›Holzgalerien‹ zu eilen. Wenn meine Tante erst einmal in das Whistspiel vertieft war, gab sie nicht mehr auf mich acht. Jean, ihr Kammerdiener, kümmerte sich wenig um Monsieur Lepître; aber solch ein unseliges Diner zog sich infolge des Alters der Kauwerkzeuge oder der Unvollkommenheit der künstlichen Gebisse furchtbar in die Länge. Endlich, eines Abends zwischen acht und neun Uhr, hatte ich die Treppe erreicht, vor Erregung zitternd, wie Bianca Capello am Tage ihrer Flucht. Aber als der Portier mir die Tür geöffnet hatte, sah ich den Wagen des Monsieur Lepître auf der Straße und ihn selbst, den Edeln, der mit keuchender Stimme nach mir fragte. Dreimal schob sich der Zufall in verhängnisvoller Weise zwischen die Hölle des Palais-Royal und das Paradies meiner Jugend. Am Tage, da ich, zwanzigjährig, mir mit Beschämung meine Unwissenheit eingestand, beschloß ich, allen Gefahren die Stirn zu bieten, um zum Ziel zu kommen. Im Augenblick, da ich Monsieur Lepître entwischte, als er eben in den Wagen stieg – und das war keine Kleinigkeit, denn er war so dick wie Ludwig XVIII. und hatte einen Klumpfuß –, ja, da erschien meine Mutter in der Postkutsche. Ihr Blick bannte mich, ich blieb bewegungslos wie der Vogel vor der Schlange. Durch welchen Zufall ich sie traf? Nichts ist leichter zu erklären. Napoleon wagte die letzten Entscheidungsschläge. Mein Vater, der die Rückkehr der Bourbonen ahnte, kam, um meinen Bruder, der schon im Dienste der kaiserlichen Diplomatie stand, zu warnen. Er hatte Tours mit meiner Mutter verlassen. Meine Mutter hatte es übernommen, mich dorthin zurückzubringen und mich so den Gefahren zu entziehen, die nach dem Dafürhalten aller intelligenten Beobachter die Hauptstadt bedrohten. In wenigen Minuten wurde ich aus Paris entführt, gerade als mir der dortige Aufenthalt verhängnisvoll werden sollte. Die Qualen einer Phantasie, die durch fortwährend zurückgedrängte Begierden überreizt war, die Mühsale eines Lebens, das ständige Entbehrungen verdüsterten, hatten mich gezwungen, im Studium unterzugehen, wie die ihres Geschickes Überdrüssigen sich früher in ein Kloster vergruben. Mir war das Studium zur Leidenschaft geworden; es konnte mir gefährlich werden, denn es schlug mich in Fesseln zu einer Zeit, wo junge Leute dem berauschenden Tatendrang ihrer jungen Kraft freien Lauf lassen sollten.

Diese leicht hingeworfene Skizze einer Jugend, die Sie zahllose Elegien erraten läßt, war nötig, um den Einfluß meiner ersten Jahre auf mein späteres Leben zu erklären. Durchseucht von so vielen Krankheitskeimen, war ich mit gut zwanzig Jahren noch klein, mager und blaß. Meine Seele, voll von Willenskräften, rang mit einem scheinbar schwächlichen Körper, der aber, nach der Aussage eines alten Arztes von Tours, ein eisernes Temperament umschloß. An Körper ein Kind, an Geist ein Greis, hatte ich so viel gelesen, so viel geforscht, daß ich theoretisch das Leben in seinen höchsten Höhen kannte, und jetzt erst sollte ich die schwierigen Wirrsale seiner Engpässe und die sandigen Pfade seiner Niederungen kennenlernen. Seltsame Schicksalsfügungen hatten mich in jener reizvollen Entwicklungsphase festgehalten, wo erste Wallungen die Seele aufrühren, wo sie zur Wollust erwacht, wo alles schmackhaft und frisch ist. Ich stand auf der Schwelle zwischen künstlich hingezogener Pubertät und einer Mannbarkeit, die erst spät trieb und grünte. Nie ward ein Jüngling besser vorbereitet zum Fühlen, zum Lieben. Um meine Erzählung gut zu verstehen, denken Sie sich zurück in jenes schöne Alter, da der Mund noch nicht durch Lügen entweiht und der Blick offen ist, wenn auch scheue Lider sich wie Schleier vor seine Begierden legen, da der Geist listiger Weltweisheit sich nicht fügen will und die Feigheit des Herzens ebenso groß ist wie die erste unwillkürliche Regung heldenhaft.

Ich will Ihnen nicht von der Reise nach Tours erzählen. Die kühle Zurückhaltung meiner Mutter drängte jede zärtliche Anwandlung in mir zurück. Nach jeder Unterbrechung der Fahrt nahm ich mir vor, zu sprechen; aber ein Blick, ein Wort jagten mir Sätze, die ich mir sorgfältig als Einleitung zurechtgelegt hatte, in die Kehle zurück. In Orleans, beim Gutenachtsagen, warf mir meine Mutter meine Einsilbigkeit vor. Ich ließ mich vor ihre Füße fallen, umklammerte ihre Knie und vergoß heiße Tränen; ich eröffnete ihr mein von Liebe überströmendes Herz. Ich suchte sie durch eine beredte Verteidigung zu rühren: meine Worte schrien nach Liebe und hätten in ihrer Eindringlichkeit eine Rabenmutter bis ins Mark erschüttern müssen. Meine Mutter antwortete, daß ich ein Schauspieler sei. Ich hielt ihr vor, sie habe mich vernachlässigt – da nannte sie mich einen entarteten Sohn. Mein Herz krampfte sich derart zusammen, daß ich in Blois zur Brücke lief und in die Loire springen wollte. Mein Selbstmord wurde nur durch die Höhe des Brückengeländers vereitelt.

Bei meiner Ankunft kamen mir meine Schwestern, die mich nicht kannten, eher neugierig als zärtlich entgegen. Immerhin erschien es mir später, als seien sie verhältnismäßig recht freundlich zu mir gewesen. Ich wurde in einem Zimmer im dritten Stockwerk untergebracht. Sie werden verstehen, wie ärmlich es mit mir bestellt war, wenn ich Ihnen sage, daß meine Mutter mir, dem Zwanzigjährigen, keine andere Wäsche als meine geringe Internatsausstattung bewilligte, keine andere Garderobe als meine Pariser Kleider. Wenn ich durch das ganze Wohnzimmer flog, um ihr Taschentuch aufzuheben, ward mir nur der kalte Dank zuteil, den eine Frau für ihre Diener übrig hat. Ich war darauf angewiesen, sie zu beobachten, um in ihrem Herzen etwa weicheren Boden zu entdecken, wo mein Zärtlichkeitsbedürfnis hätte Wurzeln schlagen können, sah aber in ihr nur eine große, hagere Frau, die spielerisch, selbstsüchtig, anmaßend war wie alle Listomères, bei denen die Anmaßung zur Mitgift gehört. Es gab für sie im Leben nur Pflichten zu erfüllen. Alle kalten Frauen, die mir begegnet sind, hatten sich, wie sie, eine Religion der Pflichterfüllung zurechtgezimmert. Sie ließ unsere Huldigungen zu sich emporsteigen wie der Priester in der Messe den Weihrauch. Mein älterer Bruder schien das bißchen Mütterlichkeit in ihrem Herzen aufgebraucht zu haben. Sie verletzte uns fortwährend mit den Pfeilen beißender Spöttelei, die ja die Waffe des Herzlosen ist und deren sie sich uns Wehrlosen gegenüber bediente. Trotz solcher abstoßenden Härten sind instinktive Empfindungen so tief eingewurzelt; die fromme Scheu vor einer Mutter, an der man nicht irre werden will noch kann, ist ein so festes Band, daß der erhabene Irrtum unserer Liebe fortdauert, bis wir eines Tages, durch das Leben gereift, dazu kommen, sie mit ganzer Überlegenheit zu verurteilen. Da beginnt die Rache der Kinder. Ihre Gleichgültigkeit, aus Enttäuschung geboren, schleppt traurige Trümmer gescheiterter Hoffnungen mit sich und wälzt sich, immer wachsend, bis zum Grabe. Die schreckliche und unbedingte Herrschaft meiner Mutter verscheuchte die wollüstigen Anwandlungen, denen ich Tor in Tours hatte freien Lauf lassen wollen. Ich verschanzte mich leidenschaftlich in der Bibliothek meines Vaters, wo ich anfing, alle mir unbekannten Bücher zu lesen. Meine langen Arbeitsstunden ersparten mir jegliche Berührung mit der Mutter, aber sie verschlimmerten meine Seelenverfassung. Manchmal versuchte meine ältere Schwester, die nämliche, die später unsern Vetter, den Marquis de Listomère, heiratete, mich zu trösten, aber ohne mich von meiner Verbitterung heilen zu können. Ich wollte sterben.

Damals bereiteten sich große Ereignisse vor, von denen ich übrigens nichts verstand. Der Duc d'Angoulême hatte Bordeaux verlassen, um in Paris mit Ludwig XVIII. zusammenzutreffen. Auf seiner Durchreise wurden ihm in jeder Stadt Ovationen dargebracht; denn Begeisterung erfaßte bei der Rückkehr der Bourbonen das alte Frankreich. Die Touraine in Aufregung um ihrer angestammten Fürsten willen, die Stadt im Freudentaumel, die bannergeschmückten Fenster, die Bewohner im Sonntagsstaat, die Vorbereitungen zum Fest und ein unbestimmtes Etwas, das berauschend in der Luft lag, all dies weckte in mir die Lust, dem Ball, der dem Prinzen zu Ehren veranstaltet wurde, beizuwohnen. Als ich mir ein Herz faßte und vor meiner Mutter diesen Wunsch aussprach – sie selbst war zu krank, um das Fest zu besuchen –, geriet sie in große Wut: Ob ich etwa frisch vom Kongo her käme, daß ich gar nichts wüßte? Wie ich mir denn einbilden könnte, daß unsere Familie bei diesem Ball nicht vertreten sein werde? Ob es denn nicht an mir sei, in Abwesenheit meines Vaters und meines Bruders hinzugehen? Hätte ich nicht eine Mutter? Dächte sie nicht an das Glück ihrer Kinder? . . . Im Handumdrehen wurde der bis dahin verleugnete Sohn eine gewichtige Persönlichkeit. Meine neue Würde verwirrte mich ebensosehr wie die Flut spöttischer Beweisgründe, womit meine Mutter meine Bitte beantwortet hatte. Ich befragte meine Schwester und erfuhr, daß meine Mutter, der solche Knalleffekte Spaß machten, sich schon eifrig um meine Toilette bemüht hatte. Die Schneider von Tours wurden von ihren Kunden derart bestürmt, daß keiner meine Ausstattung übernehmen konnte. Meine Mutter hatte dann ihre Schneiderin, die im Tagelohn arbeitete und nach Provinzsitte in jeder Art Näharbeit bewandert war, zu sich beordert. Ein kornblumenblauer Anzug wurde im geheimen, so gut es eben ging, zurechtgeschneidert. Seidene Strümpfe und neue Stiefeletten waren leicht aufzutreiben. Die Weste trug man damals kurz, und so konnte ich eine Weste meines Vaters anziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich ein Hemd mit einem Jabot, dessen Streifen sich auf meiner Brust bauschten und sich in meiner Krawattenschleife verfingen. Als ich fertig angezogen war, glich ich mir selbst so wenig, daß erst die Komplimente meiner Schwestern mir Mut machten, vor der versammelten Touraine zu erscheinen. Schwieriges Unterfangen! Dieses Fest vereinigte zu viele Berufene, als daß viele Auserwählte hätten sein können. Dank meiner schmächtigen Figur schlängelte ich mich in ein Zelt, das in den Gärten des Hauses Papion errichtet war, und gelangte bis zum Thronsessel des Prinzen. Gleich war ich vor Hitze wie erstickt, geblendet von den Lichtern, den roten Zeltwänden, den vergoldeten Wappen, den Toiletten und den Diamanten des ersten öffentlichen Festes, dem ich beiwohnte. Ich wurde durch eine Menge von Männern und Frauen geschoben, die einander drängten und, in eine Staubwolke gehüllt, heftig aufeinanderstießen. Das Gellen der Beckenschläge, das Geschmetter der Militärmusik wurden überdröhnt von Hurrarufen: »Es lebe der Duc d'Angoulême! Es lebe der König! Hoch die Bourbonen!«

Dieses Fest war ein Begeisterungsausbruch, bei dem jeder bemüht war, es dem andern zuvorzutun und in wildem Übereifer die aufgehende Sonne der Bourbonen zu begrüßen; überall Parteiegoismus, der mich kalt ließ, mich demütigte und in mich selber zurückwarf.

Wie ein Strohhalm vom Strudel fortgerissen, empfand ich den kindlichen Wunsch, selbst der Duc d'Angoulême zu sein, mich unter diese Fürsten zu mischen, die vor dem staunenden Publikum umherstolzierten. Der kleinliche Neid meiner Landsleute rief in mir einen Ehrgeiz wach, den mein Charakter und die Zeitumstände veredelten. Wer hätte nicht Eifersucht empfunden vor dieser Anbetungsszene, die sich wenige Monate später in großartiger Weise von neuem mir darbot, als ganz Paris dem von Elba zurückkehrenden Kaiser entgegenjubelte? Diese Gewalt über die Massen, deren Gefühle und Lebensäußerungen sich in einer einzigen Seele zusammenziehen, trieb mich plötzlich der Ehrfurcht in die Arme, jener Priesterin, die heutzutage die Franzosen erwürgt, wie die Druidinnen ehedem die Gallier schlachteten. Und dann auf einmal traf ich die Frau, die meine ehrgeizigen Wünsche anstacheln und sie erfüllen sollte, indem sie mich in das monarchische Lager stieß. Da ich zu schüchtern war, eine Dame zum Tanz aufzufordern, und außerdem fürchtete, die Tanzfiguren zu stören, wurde ich naturgemäß bald sehr mißmutig und wußte nichts mit mir anzufangen. Während ich mich treiben ließ und es unangenehm empfand, von der Menge geschoben zu werden und keinen Augenblick stillstehen zu können, trat mir ein Offizier auf die Füße, die durch den Druck des Leders und die Hitze angeschwollen waren. Diese letzte Unannehmlichkeit verleidete mir das Fest. Es war unmöglich herauszukommen. Ich flüchtete mich in eine Ecke, setzte mich auf die Kante einer verlassenen Bank, wo ich starren Blickes, bewegungslos und mürrisch verharrte. Durch meine schmächtige Gestalt irregeführt, hielt mich eine Dame für ein Kind, das dem Einschlafen nahe war, während es auf seine Mutter wartete; sie setzte sich zu mir mit der Gebärde eines Vogels, der sich schützend auf sein Nest niederläßt. Alsbald streifte mich ein weiblicher Duft, der mich berauschte, wie mich später die orientalische Poesie berauscht hat. Ich blickte meine Nachbarin an: sie blendete mich, mehr als das ganze Fest mich geblendet hatte. Sie wurde mein ganzes Fest. Wenn Sie mein bisheriges Leben richtig beurteilt haben, werden Sie erraten, welche Gefühle da in meinem Herzen aufstiegen. Meine Blicke wurden gebannt von ihren vollen weißen Schultern, auf denen ich mich hätte zusammenrollen mögen, ihren mattrosigen Schultern, die zu erröten schienen, als seien sie zum ersten Mal unverhüllt, ihren keuschen Schultern, Schultern, die eine Seele hatten und deren weiche Haut wie ein seidenes Gewebe im Lichte schimmerte. Längs der Senkung zwischen ihren Schultern glitt mein Blick, der kühner war als meine Hand. Ich reckte mich bebend, um ihre Büste zu sehen, und ward gebannt durch den Anblick eines keusch in Gaze gehüllten Busens, dessen bläulich geäderte, vollendet schöne Rundungen in einer Flut von Spitzen wohlig gebettet lagen. Die geringsten Einzelheiten ihres Kopfes lösten in mir unendliche Wonnen aus: der Glanz des Haares, das über einem samtweichen, mädchenhaften Halse lag, die weißen Linien, die der Kamm gezogen hatte und auf denen meine Phantasie wie auf lauschigen Pfaden lustwandelte, all das raubte mir die Sinne. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß mich niemand sah, vergrub ich mein Haupt zwischen ihren Schultern, wie ein Kind, das sich in den Schoß seiner Mutter flüchtet; ich drehte den Kopf hin und her und küßte ihre Schultern wieder und wieder. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, den die Musik überdröhnte; sie wandte sich um, erblickte mich und rief: »Monsieur! . . .« Ach, wenn sie gesagt hätte: ›Mein lieber Junge, was fällt Ihnen denn ein!‹ – ich hätte sie vielleicht getötet; aber bei diesem ›Monsieur!‹ stürzten mir heiße Tränen aus den Augen. Ich war versteinert durch einen Blick, den heilige Entrüstung entfachte, durch ein überirdisches Haupt, das ein Diadem aschblonden Haares krönte und das sich so gut mit ihrem wollüstigen Rücken vertrug. Das Rot verletzten Schamgefühls färbte ihr Gesicht; aber da entwaffnete sie auch schon das Mitleid der Frau, die eine Leidenschaft immer versteht, wenn sie selbst sie erregt hat, und die aus Reuetränen grenzenlose Anbetung herausliest. Sie entfernte sich mit der Haltung einer Königin. Da erst fühlte ich, wie lächerlich meine Lage war. Ich sah ein, daß ich so komisch wie der Affe eines Savoyarden sei. Ich schämte mich und blieb ganz verstört sitzen, mit dem süßen Nachgeschmack des gestohlenen Apfels im Munde. Auf den Lippen fühlte ich die Wärme des Blutes, das ich geatmet hatte . . . Mein Blick folgte der Frau, die nur vom Himmel stammen konnte. Ergriffen von der ersten fleischlichen Offenbarung, die das fiebernde Verlangen meines Herzens bloßgelegt hatte, irrte ich durch die nunmehr verödeten Ballsäle, ohne meine Unbekannte wiederfinden zu können. Ich kehrte völlig umgewandelt nach Hause zurück.

Eine neue Seele, eine Seele mit farbenschillernden Flügeln hatte sich aus der Larve erhoben. Aus den blauen Fernen, wo ich ihn bewunderte, war mein lieber Stern heruntergefallen und hatte die Gestalt einer Frau angenommen, ohne seine Klarheit, sein Funkeln, seinen Glanz einzubüßen. Ich liebte plötzlich, ohne von der Liebe etwas zu wissen. Ist es nicht etwas Seltsames um den ersten Ausbruch des stärksten menschlichen Gefühls? Ich hatte im Salon meiner Tante einige hübsche Frauen gesehen. Keine hatte den geringsten Eindruck auf mich gemacht. Gibt es denn im Lebensalter, da Leidenschaftlichkeit das ganze Geschlechtsleben beherrscht, eine Stunde, eine besondere Konstellation von Gestirnen, ein einzigartiges Zusammentreffen von Umständen, eine Frau unter allen, etwas, das ganz allein bestimmt ist, eine ausschließliche Leidenschaft hervorzurufen? Wenn ich bedachte, daß meine Auserwählte in der Touraine lebte, atmete ich beglückt die Luft ein; ich entdeckte zum erstenmal, wie strahlend blau und einzig dieser Himmel war. Meine Verzückung glich sehr einer ernsthaften Krankheit und erregte bei meiner Mutter Befürchtungen, die zweifellos mit Gewissensbissen vermischt waren. Gleich den Tieren, die ein Leiden herannahen fühlen, verkroch ich mich in einem Winkel des Gartens, um dort von dem gestohlenen Kuß zu träumen.

Wenige Tage nach diesem denkwürdigen Ball erklärte sich meine Mutter die Vernachlässigung meiner Arbeit, meine Gleichgültigkeit vor ihren tyrannischen Blicken, meine Teilnahmslosigkeit gegen ihre spöttelnden Ausfälle und mein finsteres Wesen als Äußerungen der Entwicklungskrisen, die ein junger Mann in meinem Alter durchzumachen hat. Ein Aufenthalt auf dem Lande, dies ewige Heilmittel gegen alle Leiden, denen die Medizin nicht beikommt, galt für geeignet, mich aus meiner Gleichgültigkeit zu befreien. Meine Mutter bestimmte, daß ich einige Tage in Frapesle, einem Schloß an der Indre, zwischen Montbazon und Azay-le-Rideau, bei einem ihrer Freunde zubringen sollte: dem hatte sie wahrscheinlich geheime Anweisungen gegeben. Aber als mir endlich die Freiheit geschenkt wurde, hatte ich schon so kräftig im Ozean der Liebe geschwommen, daß ich ans andere Ufer gelangt war. Ich kannte den Namen meiner Freundin nicht. Wie sollte ich sie bezeichnen? Wie sie wiederfinden? Mit wem konnte ich über sie sprechen? Meine Schüchternheit vermehrte noch die unerklärlichen Angstgefühle, die sich junger Herzen beim Nahen der Liebe bemächtigen, und so kostete ich gleich zu Anfang die tiefe Trauer, die sonst den Abschluß unglücklicher Leidenschaften bildet. Nichts war mir lieber, als planlos die Felder zu durchstreifen. Mit dem Mute des Kindes, das vor nichts zurückschreckt und wahrhaft etwas Ritterliches an sich hat, nahm ich mir vor, die Schlösser der Touraine zu durchstöbern; zu Fuß wollte ich reisen und mir vor jedem hübschen Türmchen sagen: ›Hier! . . .‹

So schritt ich denn eines Donnerstagmorgens durch das Tor Saint-Eloi, ließ Tours hinter mir, ging über die Saint-Sauveur-Brücken, gelangte nach Poncher, wobei ich an jedem Haus hinaufsah, und schlug die Richtung nach Chinon ein. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich unter einem Baume stehenbleiben, nach Wunsch langsam oder schnell gehen, ohne jemand Rechenschaft abzulegen. Für ein armes Wesen, das sich unter den vielen Gewalttaten, die mehr oder minder eines jeden Jugend bedrohen, hatte ducken müssen, wirkte der erste Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts, und wenn es sich nur um Nichtigkeiten handelte, so befreiend wie ein glücklicher Rausch. Vieles kam zusammen, um aus jenem Tag ein wunderbares Freudenfest zu machen . . . In meiner Kindheit hatten mich meine Spaziergänge nie mehr als eine Meile weit vor die Stadt geführt. Meine Wanderungen in der Umgebung von Pont-le-Voy oder in Paris hatten mich in meinen Ansprüchen an ländliche Naturschönheiten nicht verwöhnen können. Aber ich hatte aus meinen ersten Jugenderinnerungen das Verständnis für die Schönheit der mir vertrauten Landschaft um Tours herübergerettet. Obwohl mein Empfinden für die Natur völlig ungeschult war, stellte ich doch unbewußt hohe Anforderungen an die Landschaft, wie alle, denen ein Kunstideal vorschwebt, ohne daß sie praktische Erfahrung besäßen. Um zum Schloß Frapesle zu gelangen, kürzen Fußgänger und Reiter den Weg ab und durchqueren die sogenannte Charlemagne-Heide, ein Brachland, das oben auf der Wasserscheide zwischen Indre und Cher liegt und worüber auch ein Pfad nach Champy führt. Diese flachen, sandigen Gelände, die sich eine Meile weit trostlos hindehnen, münden in einem kleinen Gehölz auf die Straße von Saché; so heißt das Dorf, in dessen Bezirk Frapesle liegt. Dieser Weg, der sich jenseits von Ballan mit der Straße von Chinon vereinigt, läuft am Rand einer sanft gewellten Ebene hin bis zu dem kleinen Gebiet von Artanne. Von dort blickt man in ein Tal, das bei Montbazon beginnt und sich bis zur Loire erstreckt. Es sieht aus, als ob es sich unter den Schlössern bäumte, die auf seinem doppelten Hügelsaum lasten: eine wundervolle Smaragdschale, auf deren Grunde sich die Indre mit Schlangenbewegungen hinzieht. Bei diesem Anblick packte mich ein wohliges Staunen, das die Eintönigkeit der Heide und die Wandermüdigkeit vorbereitet hatten.

›Wenn jene Frau, die Blüte ihres Geschlechts, irgendwo auf dieser Welt wohnt, so muß es hier sein!‹

Dabei lehnte ich mich an einen Nußbaum, unter dem ich seither jedesmal raste, wenn ich in mein geliebtes Tal zurückkehre. Unter jenem Baum, dem Vertrauten meiner Gedanken, sinne ich den Veränderungen nach, die mit mir vorgegangen sind, seit ich zuletzt dort war. Sie wohnte dort, mein Herz trog mich nicht. Das erste Schloß, das ich am Abhang sah, war ihr Heim. Als ich mich unter meinen Nußbaum setzte, leuchteten die Schiefer ihres Daches und glitzerten ihre Fenster in der Mittagssonne. Ihr Leinenkleid war der weiße Punkt, den ich in ihren Reben unter einem Pfirsichbaum gewahrte. Sie war, wie Sie schon ahnen, die ›Lilie dieses Tales‹, wo sie für den Himmel blühte und das sie mit dem Duft ihrer Tugenden erfüllte . . . Die unendliche Liebe, die keine andere Nahrung fand als den weißen Punkt, den sie von fern erblickte und der meine Seele ausfüllte, diese Liebe fand ich versinnbildlicht in dem langen Wasserbande, das sich zwischen grünen Ufern sonnbeschienen hinschlängelt, in der Pappelzeile, deren schwanke Spitzengewebe dieses Liebestal schmücken, in den Eichenwäldchen, die sich in die Weinberge hineinschieben, in den Abhängen, die des Flusses wechselreiche Windungen umspielen, in den blauen Horizonten, die verdämmernd ineinandergreifen. Wollen Sie die Natur schön und jungfräulich wie eine Braut sehen, so gehen Sie an einem Frühlingstag dorthin. Wollen Sie die blutenden Wunden Ihres Herzens lindern, so kehren Sie in den letzten Herbsttagen dahin zurück. Im Frühling streicht die Liebe dort mit vollen Flügelschlägen durch den Himmel; im Herbst denkt man dort derer, die nicht mehr sind. Die kranke Lunge atmet dort wohltuende Frische; der Blick ruht auf übergoldetem Gebüsch, das der Seele seine friedliche Milde mitteilt. – In diesem Augenblick verliehen die Mühlen, die von den Fällen der Indre getrieben wurden, dem erschauernden Tal eine Stimme; die Pappeln wiegten sich lachend. Keine Wolke am Himmel. Die Vögel sangen, die Grillen zirpten, alles war Musik. Fragen Sie mich nicht, warum ich die Touraine liebe! Ich liebe sie weder so, wie man eine Wiege liebt, noch wie man eine Oase in der Wüste liebt. Ich liebe sie, wie ein Künstler die Kunst liebt. Ich liebe sie weniger, als ich Sie liebe, aber ohne die Touraine lebte ich vielleicht nicht mehr . . . Ohne zu wissen, warum, kehrten meine Augen zu dem weißen Punkt zurück, zu der Frau, die in diesem weiten Garten erglänzte, wie inmitten grüner Büsche der leuchtende Kelch einer Winde, die die leiseste Berührung zum Welken bringt. Mit bewegter Seele stieg ich hinab in die Talmulde, und bald erblickte ich ein Dorf, das meinem überschäumenden Poetenherzen unvergleichlich schön zu sein schien. Stellen Sie sich drei Mühlen zwischen anmutig ausgebuchteten, baumgekrönten Inseln vor, umgrünt von einer blühenden Wasserwiese . . . Wie sollte man sie anders bezeichnen, jene Wasserpflanzen, die lebensfroh und farbenprächtig den Fluß überkleiden, die aus den Fluten emportauchen, sich auf ihnen wiegen, sich ihren Launen anpassen und die im Gischt des vom Mühlrad gepeitschten Flusses schwanken? . . . Hier und da erheben sich Kiesbänke, das Wasser bricht sich daran und bildet lange Fransen, in denen die Sonne leuchtet. Amaryllis, Seerosen, Seelilien und Schilfrohr bedecken die Ufer mit ihren herrlichen Stickereien. Eine morsche Brücke aus verfaulten Balken, deren Pfähle blumenüberwachsen sind, deren Brüstung frisches Gras und samtweiches Moos polstern, neigt sich zum Wasser und steht doch fest. Altersschwache Kähne, Fischernetze, der eintönige Gesang eines Hirten; Enten, die zwischen den Inseln hin und her schwimmen oder auf dem groben Sand, den die Loire mit sich führt, ihre Federn glätten; Müllerburschen, die Mütze auf einem Ohr, mit ihren Maultieren beschäftigt: jede dieser Einzelheiten verlieh dem Bild einen überraschenden Reiz. Denken Sie sich jenseits der Brücke zwei oder drei Bauernhöfe, einen Taubenschlag, Turteltauben, etliche dreißig baufällige Hütten, die durch Gärten, Geißblatt-, Jasmin- und Klematishecken getrennt waren, und vor allen Türen blütenbunte Düngerhaufen, Hühner auf allen Wegen: da haben Sie Pont-de-Ruan, ein hübsches Dorf, von einer alten, eigenartigen Kirche überragt, einer Kirche aus der Zeit der Kreuzzüge, wie sie Maler für ihre Bilder suchen. Denken Sie sich das Ganze umrahmt von alten Nußbäumen und jungen Pappeln mit mattgoldenem Laub, und mitten in diesen weiten Wiesen, über denen der warme, dunstige Himmel sich wölbt, freundliche Fabriken, dann werden Sie eine Vorstellung haben von den tausend landschaftlichen Schönheiten dieses Landes. Ich folgte dem Wege nach Saché auf dem linken Flußufer, behielt aber die Hügel auf dem andern Ufer aufmerksam im Auge. Und endlich gelangte ich an einen Park mit uralten Bäumen, der mir die Nähe des Schlosses Frapesle verriet. Ich kam gerade an, als die Glocke zum Mittagessen rief. Nach Tisch ließ mich mein Gastgeber, der nicht vermutete, daß ich von Tours zu Fuß gekommen sei, die Umgebung durchstreifen, wo ich allenthalben das Tal in seiner mannigfachen Schönheit betrachten konnte; bald sah ich nur einen Ausschnitt, bald das ganze Bild. Oft hefteten sich meine Blicke auf das flüssige Gold der Loire am Horizont, wo weiße Segel phantastische Gestalten annahmen, die vom Winde auseinandergetrieben wurden. Ich erklomm einen Hügel und bewunderte von dort zum erstenmal das Schloß von Azay: es schien mir ein geschliffener Diamant mit vielen Facetten, den die Indre einfaßte, den blumenverdeckte Pfeiler trugen. Dann sah ich in einem Talgrund den massiven Bau des romantischen Schlosses von Saché, ein schwermütiges Stück Erde, vollkommen in seiner Traurigkeit, zu ernst für den oberflächlichen Beschauer und nur dem Dichter teuer, dessen Herz krank ist. Wie lernte ich später seinen Frieden lieben, die großen kahlen Bäume und das geheimnisvolle Etwas, das in seinem Tale wob. Aber jedesmal, wenn ich wieder auf dem Abhang des benachbarten Hügels das anmutige kleine Schloß erblickte, das meine Augen gleich angezogen hatte, verweilten dort meine Gedanken und waren voll Liebe.

»Aha«, sagte mein Gastgeber, der in meinen Blicken einen jener feurigen Wünsche las, die sich in meinem Alter so naiv äußern, »Sie riechen von weitem eine hübsche Frau, wie ein Hund Wild wittert.«

Die Äußerung gefiel mir nicht; aber ich fragte nach dem Namen des Schlosses und dem des Eigentümers.

»Das ist Clochegourde«, antwortete er, »ein hübsches Haus, das dem Comte de Mortsauf gehört, dem Sproß einer alten Adelsfamilie der Touraine, die auf Ludwig XI. zurückgeht und deren Name auf das seltsame Ereignis hinweist, dem sie Ruhm und Wappen verdankt. Der Comte stammt von einem, der dem Galgen entrann. Deshalb führen die Mortsauf im Wappen auf Goldgrund ein schwarzes Kreuz aus übereinandergelegten Galgen und am Schnittpunkt eine goldene Lilie, darunter die Devise: »Gott schütze den König, unsern Herrn!« Der Comte hat sich nach der Rückkehr der Emigranten aus der Verbannung hier niedergelassen. Dies Besitztum gehört seiner Frau, einer geborenen von Lenoncourt, aus dem Geschlecht der Lenoncourt-Givry, das am Erlöschen ist. Madame de Mortsauf ist das einzige Kind. Die bescheidenen Vermögensverhältnisse dieser Familie stehen in so seltsamem Widerspruch mit dem Ruhm ihrer Namen, daß sie, aus Stolz oder vielleicht der Not gehorchend, Clochegourde nicht verläßt und niemand empfängt. Bisher konnte ihre Anhänglichkeit an die Bourbonen ihre Vereinsamung rechtfertigen; aber ich glaube nicht, daß die Rückkehr des Königs ihre Lebensweise irgendwie ändern wird. Als ich mich im vorigen Jahre hier niederließ, machte ich ihnen einen Anstandsbesuch; sie haben meinen Besuch erwidert und mich zu Tisch geladen. Der Winter hat uns mehrere Monate getrennt. Dann haben politische Ereignisse meine Rückkehr verzögert; ich bin erst seit kurzem wieder in Frapesle. Aber Madame de Mortsauf ist eine Frau, die überall den ersten Platz einnehmen könnte.« – »Kommt sie oft nach Tours?« – »Niemals! Das heißt: ja doch«, verbesserte er sich; »neulich war sie dort, bei der Durchreise des Duc d'Angoulême, der gegen Monsieur de Mortsauf sehr freundlich gewesen ist.« – »Sie ist's!« rief ich aus. »Wer: sie?« – »Eine Frau mit wunderbaren Schultern.« – »Sie werden in der Touraine viele Frauen mit schönen Schultern treffen«, sagte er lachend; »aber wenn Sie nicht müde sind, wollen wir über den Fluß hinüber nach Clochegourde gehen, dort können Sie versuchen, die bewußten Schultern wiederzuerkennen.«

Ich nahm den Vorschlag, vor Freude und Scham errötend, an. Gegen vier Uhr erreichten wir das kleine Schloß, das meine Blicke schon so lange liebkost hatten. Das Gebäude, das sich in der Landschaft so stolz ausnimmt, ist in Wirklichkeit recht bescheiden. Es hat fünf Fenster Front. Die beiden Eckfenster der Südfassade schieben sich um drei bis vier Ellen vor, und diese kunstvoll gebauten Erker erwecken die Vorstellung von Seitenflügeln und verleihen dem Ganzen einen besonderen Reiz. Das Mittelfenster dient als Tür, und durch die Glastür gelangt man über eine Doppelterrasse in die Gärten, die sich, sanft absteigend, bis zu einer schmalen Wiese längs der Indre hinziehen. Obwohl ein Gemeinweg diese Wiese von der untern, mit schattigen Akazien und japanischen Firnisbäumen bepflanzten Terrasse trennt, scheint sie von weitem doch zu den Gärten zu gehören; denn der Weg ist ein Hohlweg, den auf der einen Seite die Terrasse überragt und der auf der andern von einer lebenden Hecke eingesäumt ist. Durch die sanften Abhänge ist so viel Zwischenraum zwischen Haus und Fluß geschaffen, daß alle Unannehmlichkeiten allzu nahen Wassers beseitigt sind, die Vorzüge einer solchen Lage aber gewahrt bleiben. Im Erdgeschoß befinden sich Remisen, Ställe, Schuppen, Küchen mit rundbogigen Fensteröffnungen. Die Dächer sind an den Winkeln zierlich geschweift, von Mansarden mit geschnitztem Fachwerk belebt; bleierne Akroterien schmücken die Giebel. Das Dachwerk, das wahrscheinlich während der Revolution gelitten hat, ist mit rötlichbraunem Moos wie mit einer Rostkruste überwachsen. Über der großen Glastür der Terrasse ragt ein Türmchen; und hier findet sich das steingehauene Wappen der Blamont-Chauvry: vier Felder in Rot, in der Mittelsenkrechten das Pfahlfeld, rechts und links offene Handflächen in Gold und Inkarnat, die zwei sich kreuzende schwarze Speere halten. Darunter die Devise ›Seht's alle, keiner rühre dran!‹, machte auf mich tiefen Eindruck . . . Das Wappen ruhte auf einem Greif und einem Drachen, die an goldener Kette lagen und hübsch gemeißelt waren. Die Revolution hatte die gräfliche Krone und die aus einer grünen Palme und goldenen Früchten bestehende Krönung beschädigt. Der Sekretär des Wohlfahrtsausschusses, Senart, war vor 1781 Dorfrichter von Saché gewesen. Das erklärt alles.

Die ganze Anlage trägt dazu bei, dem Schloß ein vornehmes Gepräge zu geben. Es ist kunstvoll gearbeitet wie eine Blüte, die nicht viel Schwerkraft hat. Vom Tal aus gesehen, scheint das Erdgeschoß der erste Stock zu sein, aber nach dem Hofe zu liegt es zu ebener Erde, und hier führt eine breite sandbestreute Allee vorbei, die auf einen mit Blumenbeeten geschmückten Rasenplan mündet. Rechts und links senken sich Weinberge, Obstgärten und einige mit Nußbäumen bepflanzte Streifen Ackerlandes steil zum Tal, umrahmen das Haus mit ihrem Grün und erreichen das Ufer der Indre, das an dieser Stelle von Baumgruppen geschmückt ist; ihre grünen Farbtöne sind kunstvoll abgestuft. Auf dem Wege, der an Clochegourde vorbeiführt, bewunderte ich die wohlverteilten Laubmassen, ich atmete eine glückgesättigte Luft . . . Hat denn die psychische Natur wie die physische ihre elektrischen Strömungen und ihre raschen Temperaturwechsel? Mein Herz schlug höher beim Nahen der geheimnisvollen Ereignisse, die es auf alle Zeiten hinaus umgestalten sollten, wie Tiere fröhlich werden, wenn sie schönes Wetter ahnen. Dieser für mein Leben so bedeutungsvolle Tag entbehrte keiner der Einzelheiten, die ihn zu einem Festtag machen konnten. Die Natur hatte sich geschmückt wie eine Frau, die ihrem Geliebten entgegengeht; meine Seele hatte zum ersten Mal ihre Stimme gehört; meine Augen hatten sie zum ersten Mal bewundert, so fruchtbar, so wechselreich, wie sie meine Phantasie in meinen Knabenträumen erschaut hatte, Knabenträume, deren Einfluß ich Ihnen mit unbeholfenen Worten zu schildern versucht habe. Denn sie waren wie eine Apokalypse, die mein Leben in Gleichnissen festlegte: jedes glückliche oder unglückliche Ereignis knüpft sich an seltsame Bilder aus meiner Kinderzeit mit unsichtbaren Banden, die nur dem innern Auge erkennbar sind. – Wir durchschritten zunächst einen Hof, der von Wirtschaftsgebäuden, einer Scheune, einer Kelter, von Kuh- und Pferdeställen eingefaßt war. Hundegekläff kündete uns an. Der Diener, der uns entgegenkam, teilte uns, mit, daß der Comte schon am Morgen nach Azay aufgebrochen sei, aber wahrscheinlich bald zurückkehren werde, daß aber die Comtesse zu Hause sei. Mein Begleiter sah mich an. Ich fürchtete daß er Madame de Mortsauf in Abwesenheit ihres Gemahls nicht aufsuchen wolle; aber er bat den Diener, uns anzumelden. Von kindlicher, unbezähmbarer Ungeduld getrieben, stürzte ich in den langgestreckten Flur.

»Treten Sie bitte näher, Messieurs!« sagte eine Stimme, die wie Gold klang.

Obwohl Madame de Mortsauf auf dem Ball nur ein einziges Wort gesprochen hatte, erkannte ich ihre Stimme; sie durchdrang mich und erfüllte mich ganz, wie der Sonnenstrahl die Kerkerzelle des Gefangenen mit goldenem Licht erfüllt. Bei dem Gedanken, daß sie sich meiner Züge erinnern könnte, wäre ich am liebsten geflohen . . . Es war zu spät, sie erschien auf der Türschwelle, unsere Blicke begegneten einander. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am tiefsten errötete. Sie war zu sehr verwirrt, um auch nur ein Wort hervorbringen zu können. Der Diener schob zwei Sessel heran, und sie setzte sich wieder an ihren Stickrahmen. Sie zog, um einen Vorwand für ihr Schweigen zu haben, die Nadel sehr langsam, zählte einige Stiche, wandte dann ihr mildes, stolzes Haupt Monsieur de Chessel zu und fragte ihn, welchem glücklichen Zufall sie unsern Besuch verdanke. Obwohl sie gespannt war, den wirklichen Grund meines Erscheinens zu erfahren, sah sie keinen von uns beiden an. Ihre Augen hefteten sich beständig auf den Fluß; aber so, wie sie zuhörte, schien es, als könne sie, den Blinden gleich, jede seelische Regung in den Schwingungen der Stimme erkennen. Und es war in der Tat so. Monsieur de Chessel nannte meinen Namen und teilte ihr einiges aus meinem Leben mit: Ich sei vor wenigen Monaten nach Tours gekommen, wohin mich meine Eltern geführt hätten, als der Krieg Paris bedrohte. Sie sähe in mir, dem Kind der Touraine, dem die Touraine noch unbekannt sei, einen jungen Mann, der, von übermäßiger Arbeit angegriffen, nach Frapesle geschickt worden sei, um sich dort zu erholen, und dem er seine Besitzungen gezeigt habe. Ich sei zum ersten Mal hier. Erst am Fuß des Hügels hätte ich ihm mitgeteilt, daß ich die Reise von Tours nach Frapesle zu Fuß gemacht hätte, und aus Angst um meine ohnehin schwächliche Gesundheit sei er auf den Gedanken gekommen, in Clochegourde einzukehren, in der Hoffnung, daß sie mir eine kurze Rast gönnen werde. – Monsieur de Chessel sagte die Wahrheit; aber ein glücklicher Zufall scheint immer gefunden: Madame de Mortsauf blieb mißtrauisch. Sie richtete auf mich so kalte und strenge Blicke, daß ich die Lider senkte aus einem unbestimmten Gefühl von Scham, aber auch, um Tränen zu verbergen, die an meinen Wimpern zitterten. Die hoheitsvolle Schloßherrin sah die Schweißperlen an meiner Stirn; vielleicht erriet sie auch meine Tränen, denn sie bot mir alles an, was ich brauchte, mit tröstender Güte, die mir die Sprache wiederschenkte. Ich errötete wie ein junges Mädchen, das man bei einem Fehler ertappt, und antwortete mit greisenhaft unsicherer Stimme. Ich dankte.

»Das einzige, worum ich bitte«, sagte ich, meine Augen zu ihr erhebend (zum zweiten Mal traf mich ihr Blick, aber nur für eine Sekunde), »das einzige, was ich wünsche, ist, daß ich von hier nicht vertrieben werde. Ich bin von Müdigkeit so gelähmt, daß ich nicht weiterkann.« – »Warum verdächtigen Sie die Gastfreundschaft unseres schönen Landes?« antwortete sie mir. »Sie werden uns doch das Vergnügen machen, zum Abendbrot in Clochegourde zu bleiben?« fuhr sie, zu meinem Begleiter gewandt, fort.

Ich richtete an meinen Begleiter einen so flehenden Blick, daß er bereit schien, auf ihren Vorschlag einzugehen, der doch, so wie er gefaßt war, eine Absage zu fordern schien. Monsieur de Chessel ermöglichte es seine Weltgewandtheit, diese feinen Nuancen zu unterscheiden; aber ich junger Mann ohne Erfahrung glaubte so fest an die Übereinstimmung von Wort und Gedanken bei einer schönen Frau, daß ich höchlich überrascht war, als mir mein Gastgeber abends auf dem Heimweg sagte: »Ich bin geblieben, weil Sie vor Verlangen vergingen. Aber wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken, habe ich es vielleicht mit meinem Nachbarn verdorben.«

Dies ›Wenn Sie die Sache nicht wieder einrenken‹ gab mir viel zu denken. Wenn ich Madame de Mortsauf gefiel, so konnte sie dem nicht gram sein, der mich bei ihr eingeführt hatte. Monsieur de Chessel traute mir also die Fähigkeit zu, ihr Interesse zu erregen; und hieß das nicht soviel wie: mir diese Fähigkeit verleihen? Das bestärkte meine Hoffnung, und ich hatte es gerade jetzt sehr nötig, daß man mir helfe.

»Das scheint mir schwierig«, antwortete er, »Madame de Chessel erwartet uns.« – »Sie hat Sie alle Tage«, entgegnete die Comtesse, »und dann können wir sie ja auch benachrichtigen. Ist sie allein?« – »Der Abbé de Quélus ist bei ihr.« – »Also gut«, sagte sie, indem sie aufstand, um zu klingeln, »Sie essen bei uns!«

Diesmal hielt Monsieur de Chessel sie für aufrichtig und warf mir einen beifälligen Blick zu. Sobald ich die Gewißheit hatte, daß ich einen ganzen Abend unter diesem Dache zubringen würde, glaubte ich, eine Ewigkeit vor mir zu haben. Für viele Unglückliche entbehrt das Wort »morgen« jeglichen Sinnes, und ich gehörte damals zu denen, die zum Morgen keinerlei Zutrauen haben. Wenn ich einige Stunden für mich hatte, so drängte ich eine Welt von Wonnen in ihnen zusammen . . . Madame de Mortsauf schnitt eine Unterhaltung über das Land, über die Ernten, über die Reben an. Ich verstand von alledem gar nichts. Bei einer Gastgeberin zeugt ein derartiges Verhalten von Mangel an Lebensart oder von ihrer Geringschätzung für den, den sie von der Unterhaltung ausschließt. Aber bei der Comtesse war es Verlegenheit. Ich glaubte, daß sie es darauf abgesehen hatte, mich als Kind zu behandeln. Ich beneidete den Vorzug erwachsener Männer, die, wie Monsieur de Chessel, ihre Nachbarin von ernsten Dingen, die mir verborgen waren, unterhalten konnten; ich ärgerte mich, weil alles nur ihm zugute kam; aber wenige Monate später erfuhr ich, wie vielsagend das Schweigen einer Frau ist und wie viele Gedanken sie unter einer oberflächlichen Unterhaltung verbergen kann. Zuerst versuchte ich mir's auf meinem Sessel gemütlich zu machen; dann erkannte ich die Vorzüge meiner Lage und gab mich dem Zauber ihrer Stimme hin. Wie Flötentöne schmelzend sich aneinanderbinden, so wob ein seelenweicher Hauch durch ihre Silben, er brandete sanft ans Ohr und beschwingte den Rhythmus des Blutes. Ihre Art, die Endungen auf i auszusprechen, gemahnte an Vogelgesang; das ch, wie sie es sprach, kam einer Liebkosung gleich; ihre Aussprache des t ließ auf ein tyrannisches Herz schließen. Ohne es zu wissen, verlieh sie den Worten eine höhere Bedeutung und riß die Seele mit sich in eine übersinnliche Welt. Wie oft ließ ich sie eine Diskussion weiterführen, die ich leicht hätte beschließen können! Wie oft ließ ich mich zu Unrecht von ihr tadeln, nur um diese Konzerte menschlicher Sprachlaute zu hören, um von ihren Lippen die Luft zu atmen, auf der ihre Seele sich wiegte, um das lichtgewordene Wort zu fassen mit derselben Inbrunst, mit der ich die Comtesse selbst ans Herz gedrückt hätte! Welch fröhliches Schwalbengezwitscher, wenn sie lachte! Aber wie glich ihre Stimme der des Schwans, der seine Gefährten ruft, wenn sie von ihrem Kummer sprach. Die geringe Beachtung, die ich erfuhr, ermöglichte es mir, die Comtesse genauer zu beobachten. Mein Blick labte sich, wenn er an der schönen Sprecherin herabglitt; er umfaßte ihre Taille, küßte ihr die Füße und spielte in ihren Locken. Zugleich war ich das Opfer einer Herzensangst, die jeder verstehen wird, der in seinem Leben die unbegrenzten Wonnen einer aufrichtigen Leidenschaft gekannt hat. Ich fürchtete, sie möchte mich dabei ertappen, wie mein Blick sich an ihre Schultern heftete, wo ich sie so heiß geküßt hatte. Diese Befürchtung verdoppelte noch die Macht der Versuchung, ich erlag ihr, ich sah nichts anderes mehr. Mein Blick zerriß den Stoff, ich fand das Mal, das den Anfang der Nackenfurche bezeichnet, eine Fliege in lauter Milch. Dies Mal brannte seit dem Ballabend immer vor meinen Blicken, in jenem Dunkel, in dem der Schlaf der jungen Leute wie Wasser rinnt, deren Phantasie heiß und deren Leben keusch ist.

Ich kann wohl die Hauptzüge andeuten, die überall bewundernde Aufmerksamkeit auf die Comtesse gelenkt hätten, aber die genaueste Zeichnung, die wärmsten Farben wären ihrer Schönheit nicht gerecht geworden. Um ein durchaus ähnliches Bild von ihr zu schaffen, hätte es des unmöglichen Künstlers bedurft, dessen Hand den Widerschein innerer Glut und jenen schwebenden Glanz zu malen wüßte, den die Kunst nicht kennt, den Worte nicht aussprechen können, den nur das Auge des Liebenden sieht. Ihr feines aschblondes Haar verursachte ihr oft Schmerzen, die wahrscheinlich von einem plötzlichen Blutandrang zum Kopfe herrührten. Die wohlgeformte Stirn war gewölbt wie die der Mona Lisa und schien Welten unausgesprochener Gedanken und verhaltener Gefühle zu verbergen wie Blüten, die unter bitteren Fluten begraben sind. Ihre grünlichen, mit Goldpunkten übersäten Augen schienen immer fahl. Aber wenn es sich um ihre Kinder handelte, wenn sie sich zu einem heftigen Ausbruch der Freude oder des Leides hinreißen ließ, so brach aus ihren Augen ein innerliches Leuchten, das sich an den Quellen des Lebens zu entzünden schien und sie ausdörrte. Dieser Blitz hatte mir Tränen entlockt, als sie mich mit ihrer furchtbaren Verachtung strafte, er zwang die Kühnsten, die Augen niederzuschlagen. Die griechische Nase, die von Pheidias hätte gemeißelt sein können, vergeistigte das Oval ihres Gesichts, von den Nasenflügeln liefen feine Linien um die geschweiften Lippen. Ihre Hautfarbe erinnerte an die zarten Blütenblätter weißer Kamelien und ging auf den Wangen in zartes Rosa über. Ihre vollentwickelten, üppigen Körperformen hatten alle jugendliche Anmut bewahrt. Sie mögen den vollen Umfang ihrer Schönheit ermessen, wenn ich Ihnen sage, daß Arm und Schulter, die mich so geblendet hatten, faltenlos glatt waren, Hals und Nacken zeigten keine der Unebenheiten, die den Hals mancher Frauen zu einem Baumstrunk machen; ihre Muskeln traten nicht wie Stränge hervor. Alle Linien waren weich und fließend, weder dem Auge noch dem Pinsel faßbar. Ein zarter Flaum lag wie ein Hauch über ihren Wangen, ihrem Nacken und hielt das Licht fest, das dort ganz seidig war. Ihre kleinen, hübsch modellierten Ohren waren, wie sie selbst sagte, die einer Sklavin und Mutter. Später, als ich ihrem Herzen nahestand, sagte sie oft: ›Da kommt Monsieur de Mortsauf.‹ Sie hatte recht; aber ich hatte nichts gehört, obwohl doch mein Gehör sehr scharf ist. Ihre Arme waren schön, die Hand war lang, mit geschweiften, spitz zulaufenden Fingern, und wie bei antiken Statuen überragte das Fleisch ein klein wenig den Nagel. Ich mißfiele Ihnen, wenn ich flachen Taillen den Vorzug vor runden gäbe, wenn Sie selbst nicht eine Ausnahme wären. Die runde Taille ist ein Zeichen von Kraft, aber die so gebauten Frauen sind herrschsüchtig, gebieterisch, mehr wollüstig als zärtlich. Dagegen sind die Frauen mit flachen Taillen aufopferungsfähig, sehr feinfühlend, mit einem Hang zur Schwermut. Sie sind in einem besseren Sinne Frauen als die andern. Die flache Taille ist weich und schmiegsam, die runde unbeugsam und selbstsüchtig. Nun wissen Sie, wie sie gebaut war. Sie hatte den Fuß einer vornehmen Frau, einen Fuß, der wenig angestrengt wird, der leicht ermüdet und das Auge erfreut, wenn er unter dem Rande des Kleides hervorsieht. Obwohl sie Mutter zweier Kinder war, habe ich keine ihres Geschlechts gekannt, die ein mädchenhafteres Aussehen gehabt hätte. In ihrem Wesen lag Anmut, gepaart mit einem Zug von Staunen und Verträumtheit, der immer zu ihr hinzwang, wie es uns immer wieder zu dem Bilde eines Malers hinzieht, in dem sein Genius eine Welt von Gefühlen Gestalt werden ließ. Ihre Eigenschaften lassen sich übrigens nur in Vergleichen begreiflich machen. Erinnern Sie sich des wilden und herben Duftes des Heidekrauts, das wir auf dem Rückweg von der Villa Diodati brachen, denken Sie an die Blüte, deren schwarze und rosige Farbtöne Ihnen so sehr gefielen, dann werden Sie verstehen, wie jene Frau fern von der Welt elegant sein konnte, natürlich in ihren Äußerungen und wählerisch in den Dingen, die sie zu den ihren machte, zugleich rosig und schwarz. Ihr Leib hatte die frische Jugendkraft, die wir am zarten Frühlingslaub bewundern. Ihr Geist hatte die tiefe Einfalt des Naturmenschen, sie war dem Gefühl nach Kind, durch Leiden ernst gestimmt, gleichzeitig Schloßherrin und kleines Mädchen. Auch gefiel sie ohne jeden Aufwand von Ziererei, rein durch ihre Art, sich zu setzen, aufzustehen, zu schweigen oder ein Wort hinzuwerfen. Sie war meist andächtig, achtsam wie ein Wachtposten, dem das Wohl aller anvertraut ist und der immer nach einem drohenden Unheil späht. Doch huschte manchmal unversehens ein Lächeln über ihre Züge, das ihre im Grunde fröhliche, nur von den Härten des Lebens umdüsterte Natur durchschimmern ließ. Ihre Koketterie war zum Mysterium geworden, sie stimmte träumerisch, statt, wie die anderer Frauen, galante Aufmerksamkeit zu erregen; sie ließ ihre ursprüngliche Glutnatur, ihre blauen Kinderträume erraten wie ein Himmel, der durch Wolkenlichtungen strahlt. Die Spärlichkeit ihrer Gesten und besonders ihrer Blicke – sie sah außer ihren Kindern niemand an – verlieh allem, was sie sagte und tat, eine unglaubliche Feierlichkeit, selbst wenn sie etwas mit der Miene einer Frau sagte oder vornahm, die tut, als ob sie ihre Würde durch ein Geständnis aufs Spiel setzte. – An jenem Tage trug Madame de Mortsauf ein rosa Kleid mit vielen Streifen, eine Krause mit breitem Saum, einen schwarzen Gürtel und Schuhe von gleicher Farbe. Die Haare waren in einem einfachen Knoten gelegt und durch einen Schildpattkamm zusammengehalten.

Dies ist die unvollkommene Skizze, die ich Ihnen versprach. Aber das stete Walten ihrer Güte unter den Ihrigen, diese wohltätige Ausstrahlung von Licht, so warm wie Sonnenglanz, ihr innerstes Wesen, ihr Verhalten in den glücklichen Stunden, ihre Resignation in den umwölkten: alle diese Wirbel des Lebens, wo der Charakter sich entfaltet, hängen wie Himmelserscheinungen von unerwarteten und flüchtigen Umständen ab, die nur in ihrer letzten Ursache wesensverwandt sind und deren Darstellung naturgemäß mit den Geschehnissen dieser Geschichte verflochten sein wird. Ein wahres Familiendrama, diese Geschichte – in den Augen des Weisen ebenso bedeutungsvoll, wie ein Trauerspiel es für die Menge ist –, deren Verlauf Sie fesseln wird durch den Anteil, den ich daran genommen habe, dann auch durch ihre Verwandtschaft mit so vielen Frauenschicksalen.

Alles in Clochegourde trug den Stempel wahrhaft engländischer Sauberkeit. Das Zimmer, in dem die Comtesse sich aufhielt, war ganz mit Holz getäfelt und in zwei grauen Farbtönen gehalten. Den Kamin zierte eine Standuhr mit Mahagonigestell, das von einer Schale und zwei weißen goldgeäderten Porzellanvasen überragt war, in denen Heidekraut stak. Auf dem Sims stand eine Lampe, vor dem Kamin war ein Spieltisch. Zwei breite Baumwollstreifen rafften die weißen, unbefransten Leinenvorhänge der Fenster zusammen. Graue Möbelschoner mit grüner Tresse verhüllten die Sitze, und die Stickerei, die auf den Rahmen der Comtesse gespannt war, erklärte zur Genüge, weshalb ihre Möbel verdeckt waren. Diese Einfachheit grenzte an Größe. Von den Wohnungen, die ich später sah, hat keine in mir so fruchtbare, so reiche Empfindungen ausgelöst, wie sie mich in Clochegourde überwältigten, in dem Heim, das friedlich und andachtsvoll wie das Leben der Comtesse war und wo alles die klösterliche Regelmäßigkeit ihres Lebens spiegelte. Die meisten meiner Ideen, selbst die kühnsten, die ich mir über die Wissenschaft und die Politik bildete, haben dort ihre Heimat, sie gehören dorthin wie der Duft zu den Blumen. Dort gedieh die unbekannte Pflanze, die ihren befruchtenden Staub in meine Seele streute, dort strahlte die Sonne, die meine guten Eigenschaften reifte und die schlechten ausdörrte . . . Vom Fenster aus umfaßte der Blick das ganze Tal, vom Hügel, den Pont-de-Ruan krönt, bis zum Schloß Azay, er konnte der Wellenlinie des gegenüberliegenden Höhenzuges mit den Türmen von Frapesle folgen, weiterhin kamen die Kirche, der Flecken und Saché, das alte Schloß, dessen schwere Massen die Wiesen überragen. Diese Landschaft erfüllte das Herz mit ihrem Frieden. Sie war ruhig wie das Leben in diesem Hause und kannte keine andern Erregungen als die des Familienlebens. Wäre ich ihr dort zum erstenmal begegnet, dort beim Comte de Mortsauf und ihren beiden Kindern, statt sie in ihrem herrlichen Ballkleid zu sehen, so hätte ich ihr wahrscheinlich den trunkenen Kuß nicht geraubt, der mir jetzt Gewissensbisse verursachte, weil er mir jede Aussicht auf Erwiderung meiner Liebe zu nehmen schien. Nein, in den trüben Stimmungen, in die mich mein Unglück stürzte, wäre ich vor ihr niedergekniet, hätte ihren Schuh geküßt, hätte ihn mit meinen Tränen benetzt und wäre dann gegangen, mich in die Indre zu stürzen. Aber seit meine Lippen ihre wie Jasmin so frische Haut berührt und die Milch aus dieser Liebesschale geschlürft hatten, war ich von Sehnsucht und der Hoffnung auf menschliche Wollust besessen, ich wollte leben und die Stunde des Genusses erwarten, wie der Wilde lauernd auf die Stunde der Rache harrt. Ich wollte mich im Geäst der Bäume verkriechen, durch die Weinberge schleichen, mich in die Indre betten. Ich wollte mich mit der Stille der Nacht, dem Lebensüberdruß, der Sonnenglut verschwören, um die wonnige Frucht zu Ende zu genießen, in die ich einmal gebissen hatte. Hätte sie von mir die singende Wunderblume, die vergrabenen Schätze ›Morgans, des Vernichters‹ gefordert, ich hätte sie ihr gebracht, um in den Besitz der sichern Schätze und der stummen Blüte zu gelangen, nach denen ich mich verzehrte. Als der Traum verflog, in dem ich beim staunenden Anblick meines Idols schwebte, und währenddessen ein Diener im Zimmer gewesen war und mit ihr gesprochen hatte, hörte ich plötzlich, wie sie etwas vom Comte sagte. Jetzt erst kam mir der Gedanke, daß eine Frau ihrem Manne gehört. Dieser Gedanke machte mich schwindlig. Dann faßte mich eine wütende und finstere Neugierde, den zu sehen, dem dieser Schatz gehörte. Zwei Gefühle beherrschten mich: Haß und Angst; ein Haß, der keinen bestimmten Widerstand erkannte, aber alle Hindernisse erwog, ohne vor ihnen zurückzuschrecken; eine unbestimmte, aber wesenhafte Angst vor dem Kampf, vor seinem Ausgang, vor ihr besonders. Ich war ein Raub der schlimmsten Ahnungen. Mir graute vor jenem Händedrücken, das entehrt. Ich sah im voraus die kaum greifbaren Schwierigkeiten, gegen die sich die stärksten Energien stoßen und die die stärksten Energien abstumpfen. Ich fürchtete die Macht der Trägheit, denn sie betäubt das heutige soziale Leben der Katastrophen, die leidenschaftliche Seelen herbeiwünschen.

»Da kommt Monsieur de Mortsauf«, sagte sie.

Ich richtete mich auf wie ein erschrockenes Pferd. Diese Bewegung entging zwar weder Monsieur de Chessel noch der Comtesse, aber ich zog mir trotzdem keinen stummen Verweis zu, denn die Aufmerksamkeit wurde von mir abgelenkt durch ein kleines Mädchen, das ich für sechsjährig hielt und das eintrat und rief: »Vater kommt!« – »Nun, Madeleine?« sagte die Mutter.

Und das Kind reichte Monsieur de Chessel die Hand und sah mich sehr aufmerksam an, nachdem es mir einen kurzen, erstaunten Gruß zugenickt hatte.

»Sind Sie mit ihrer Gesundheit zufrieden?« fragte Monsieur de Chessel die Comtesse. »Es geht ihr besser«, antwortete sie, indem sie liebkosend mit der Hand über das Haar der Kleinen strich, die sich in ihren Schoß geschmiegt hatte.

Aus einer Frage Monsieur de Chessels ging hervor, daß Madeleine neun Jahre alt war. Ich sagte, daß ich erstaunt sei, aber meine Verwunderung verdüsterte die Stirn der Mutter. Mein Begleiter warf mir einen jener vielsagenden Blicke zu, durch die Leute von Welt uns eine zweite Erziehung angedeihen lassen. Hier lag offenbar der wunde Punkt im Herzen der Mutter, an den man nicht rühren durfte. Schwächlich, wie sie war, mit ihren verwaschenen Augen, mit ihrer Haut, so blaß wie Porzellan, durch das Licht schimmert, hätte Madeleine in der Luft der Großstadt überhaupt nicht leben können. Die Landluft, die Pflege ihrer Mutter, die sie wie mit Fittichen zu beschützen schien, erhielten das Leben in ihrem Körperchen, das so zart war wie eine Pflanze, die trotz der Unbilden eines rauhen Klimas im Treibhaus groß geworden ist. Obwohl sie in nichts ihrer Mutter glich, schien Madeleine doch ihre Seele zu haben, und diese Seele hielt sie aufrecht. Ihr spärliches schwarzes Haar, ihre tiefliegenden Augen, ihre hohlen Wangen, ihre dünnen Ärmchen, die schmale Brust – alles wies auf einen Kampf zwischen Leben und Tod, ein endloses Ringen, in dem die Comtesse bisher siegreich geblieben war. Die Kleine zwang sich, lebhaft zu sein, wahrscheinlich um der Mutter keinen Kummer zu machen; denn sobald sie nicht auf sich achtete, glich sie einer Trauerweide. Man hätte sie für ein hungerleidendes Zigeunermädchen halten können, das sich aus seiner Heimat hierher durchgebettelt hatte, das erschöpft, aber mutig für sein Publikum geputzt war.

»Wo hast du Jacques gelassen?« fragte die Mutter sie und drückte ihr einen Kuß auf den weißen Scheitel, der ihr Haar – Rabenflügeln ähnlich – in zwei Hälften teilte. »Er kommt mit Vater.«

Da trat der Comte ein. Er hielt seinen Sohn an der Hand. Jacques, das wahre Ebenbild seiner Schwester, war ebenso schwächlich wie sie. Wer diese beiden überzarten Kinder neben einer so strahlend schönen Mutter sah, mußte die Quellen des Kummers ahnen, der die Stirn der Comtesse umflorte und der sie Gedanken verschweigen hieß, die nur Gott zum Vertrauten haben, die aber furchtbar auf ihrer Stirn lasteten. Bei der Begrüßung warf mir Monsieur de Mortsauf einen nicht gerade forschenden, aber ungeschickt befangenen Blick zu, wie das den meisten Leuten eigentümlich ist, deren Mißtrauen von einem Mangel an Menschenkenntnis herrührt. Nachdem sie ihm das Nötige mitgeteilt und ihm meinen Namen genannt hatte, trat die Comtesse ihrem Manne den Platz ab und ging hinaus. Die Kinder, deren Blicke fortwährend an den Augen der Mutter hingen, als ob sie aus ihnen Licht sögen, wollten ihr folgen. Sie sagte ihnen: »Bleibt nur, meine Lieblinge!« und legte den Finger auf den Mund. Sie gehorchten, aber ihre Blicke umschleierten sich. Ach! was hätte ich nicht unternommen, um diese Anrede ›Lieblinge‹ zu verdienen. Es ging mir wie den Kindern: mir war weniger warm, als sie nicht mehr da war. Mein Name schien die Gesinnung des Comte gegen mich umgewandelt zu haben. War er vorhin kalt und herablassend gewesen, so wurde er nun, wenn nicht gerade herzlich, so doch höflich und zuvorkommend. Er zeichnete mich aus und schien hocherfreut, mich bewillkommnen zu können. Mein Vater hatte sich ehemals aufgeopfert, um unsern Herren große, aber unauffällige Dienste zu leisten. Es war ein gefährliches Unternehmen, das aber gewichtige Erfolge haben konnte! Als dann durch Napoleons Aufstieg zur höchsten Gewalt alles verloren schien, hatte er sich, wie viele geheime Verschwörer, in die Ruhe der Provinz und des Privatlebens zurückgezogen und war genötigt gewesen, ebenso harte wie unverdiente Anschuldigungen über sich ergehen zu lassen. Denn darin besteht der unausbleibliche Lohn der Spieler, die ihr Alles dranwagen und verlieren, nachdem sie die Haupttriebkraft einer politischen Unternehmung gewesen sind. Da ich nichts von den Verhältnissen, von der Vergangenheit und den Aussichten meiner Familie wußte, waren mir auch die Einzelheiten dieser gescheiterten Existenz verborgen, deren Comte de Mortsauf sich erinnerte. Gewiß, das Alter meines Namens, die wertvollste Auszeichnung in den Augen eines solchen Mannes, rechtfertigte schon allein die verwirrende Hochachtung, womit er mich begrüßt hatte; aber den wirklichen Grund dafür erfuhr ich erst später. Vorläufig nahm mir dieser plötzliche Umschwung alle Scheu. Als die Kinder sahen, daß die Unterhaltung zwischen uns dreien wieder in Fluß gekommen war, löste sich Madeleine aus der Liebkosung ihres Vaters, blickte nach der offenen Tür und glitt hinaus wie ein Aal. Jacques folgte ihr. Beide liefen zur Mutter, und ich hörte, wie sie sich rührten, und vernahm ihre Stimmen, die in der Entfernung dem Summen der Bienen um ihr geliebtes Haus glichen.

Ich musterte den Comte und versuchte, mir ein Bild von seinem Wesen zu machen. Aber einige Hauptzüge fesselten mich so lebhaft, daß ich über eine oberflächliche Betrachtung seiner Physiognomie nicht hinauskam. Kaum fünfundvierzigjährig, schien er nahe den Sechzigern zu sein, so schnell war er gealtert in dem großen Schiffbruch, der das achtzehnte Jahrhundert beschloß. Der Haarkranz, der, nach Mönchsart, seinen kahlen Hinterkopf umsäumte, lichtete sich an den Schläfen, wo spärliche Büschel schwarzen, graumelierten Haares saßen. Sein Gesicht erinnerte entfernt an das eines weißen Wolfes, der Blut an der Schnauze hat. Seine Nase war rot angelaufen wie die eines Mannes, dessen Lebenskraft in ihren Tiefen erschüttert, dessen Magen geschwächt ist und den Krankheiten auf immer verdorben haben. Seine flache Stirn war zu breit für sein spitz zulaufendes Gesicht, und von unregelmäßigen Querfalten durchfurcht. Es verriet seine Gewohnheit, im Freien zu leben, und zugleich den Mangel an geistigen Anstrengungen, es zeugte von der Last ständigen Unglücks und vom fehlenden Willen, seiner Herr zu werden. Seine vorspringenden Backenknochen stachen als braune Punkte aus den fahlen Tönen seines Teints heraus und bekundeten einen Knochenbau, stark genug, ihm ein langes Leben zu sichern. Sein heller Blick richtete sich auf den Beschauer, gelb und hart, wie ein Strahl der Wintersonne, leuchtend ohne Wärme, unruhig ohne Gedanken und mißtrauisch ohne einen bestimmten Grund. Sein Mund war leidenschaftlich und gebieterisch, sein Kinn eckig und lang. Mager und von hoher Gestalt, hatte er das Auftreten eines Edelmannes, der sich auf seinen gesellschaftlichen Wert stützt, der sich von Rechts wegen über andere erhaben, in der Wirklichkeit ihnen unterlegen fühlt. Der Schlendrian des Landlebens hatte ihn dazu gebracht, sein Äußeres zu vernachlässigen. Sein ganzer Aufzug war der des Krautjunkers, an dem die Bauern ebenso wie seine Nachbarn nur noch den Grundbesitzer schätzten. Seine braunen, sehnigen Hände zeigten, daß er nur zu Pferde oder sonntags, um zur Messe zu gehen, Handschuhe trug; sein Schuhwerk war grob. Obwohl die zehn Jahre Emigrantentum und zehn Jahre Landwirtschaft ihre Spuren in seinem Äußern zurückgelassen hatten, war ihm doch ein Rest von aristokratischen Bewegungen geblieben. Der gehässigste Liberale – das Wort war aber damals noch nicht geprägt – hätte ihm gewiß seine kernhafte Ritterlichkeit angemerkt, dazu die unerschütterlichen Überzeugungen eines unentwegten Lesers der ›Quotidienne‹. Er hätte in ihm die Stütze von Thron und Altar gesehen, den Mann, der leidenschaftlich für seine Sache eintritt, der aus seiner politischen Gesinnungstüchtigkeit kein Hehl macht, der zwar selbst unfähig ist, seiner Partei zu dienen, aber sehr wohl fähig ist, sie zu gefährden, und der im übrigen der französischen Verhältnisse durchaus unkundig war. Der Comte war in der Tat einer jener aufrechten Männer, die sich zu nichts eignen und sich überall eigensinnig in den Weg stellen, immer bereit, die Waffe in der Hand, auf dem ihnen zugewiesenen Posten zu sterben; aber geizig genug, ihr Leben lieber als ihr Geld zu opfern. Während des Mahles bemerkte ich auf seinen hohlen, welken Wangen und in gewissen Blicken, die er verstohlen auf seine Kinder warf, die Spuren peinlicher Empfindungen, deren Aufzucken an der Oberfläche erstarb. Wer ihn so sah, verstand ihn, und jeder hätte ihm vorgeworfen, seinen Kindern diese armseligen, leblosen Körper vererbt zu haben. Wenn er sich selbst verurteilte, so wollte er damit den andern das Recht absprechen, dasselbe zu tun. Herb wie jede Gewalt, die sich im Unrecht weiß, aber ohne genügend Seelengröße oder Liebenswürdigkeit, um die Summe von Leiden, die er in die Waagschale gesenkt hatte, wieder aufzuwiegen, wies er in seinem Privatleben die Rauheiten auf, die man aus seinen eckigen Zügen und dem allzeit unruhigen Blick herauslesen konnte. Als seine Frau eintrat, gefolgt von den beiden Kindern, die sich an sie klammerten, überkam mich die Ahnung einer Familientragödie, wie der Fuß, der über ein Kellergewölbe hinschreitet, gewissermaßen die Tiefe ermißt. Wie ich diese vier Personen vereint sah, meine Blicke von einem zum andern gingen und ich ihren Ausdruck und ihr Verhalten zu verstehen suchte, fielen schwermutvolle Gedanken auf mein Herz, wie feiner grauer Regen eine liebliche Landschaft nach einem strahlenden Sonnenaufgang verschleiert. Als der Gesprächsgegenstand erschöpft war, rückte mich der Comte wieder auf Unkosten Monsieur de Chessels in den Vordergrund des Interesses, indem er seiner Frau Einzelheiten über meine Familie mitteilte. Ich selbst kannte sie nicht. Er erkundigte sich nach meinem Alter. Ich nannte es, und da gab mir die Comtesse mein Staunen über das Alter ihrer Tochter zurück; sie hielt mich, glaube ich, für vierzehnjährig. Dies war, wie ich seither erfuhr, das zweite Band, das sie so stark an mich knüpfte. Ich las in ihrer Seele. Ihr Muttergefühl erbebte freudig, erhellt von einem späten Hoffnungsstrahl. Wie sie mich, den gut Zwanzigjährigen, so schmächtig, so zart und doch so sehnig sah, schrie es vielleicht in ihr: ›Sie werden leben!‹ Sie betrachtete mich neugierig, und ich fühlte, daß in diesem Augenblick das Eis zwischen uns schmolz. Es war, als wollte sie tausend Fragen an mich richten, aber sie behielt sie alle für sich.

»Wenn das Studium Sie krank gemacht hat«, sagte sie, »so wird die Luft unsres Tales Ihnen die Gesundheit wiedergeben.« – »Die moderne Erziehung ist ein Verderb für die Kinder«, fiel der Comte ein. »Wir pfropfen ihnen den Kopf voll Mathematik, wir bringen sie um mit Keulenschlägen von Wissenschaft, wir machen sie vor der Zeit alt. Sie müssen sich hier ausruhen!« sagte er zu mir. »Sie sind erdrückt von der Ideenlawine, die über Sie weggefegt ist. Welch ein Jahrhundert wird uns der Unterricht bereiten, der jetzt jedem zugänglich ist, wenn man nicht dem Übel entgegenarbeitet und den Unterricht wieder geistlichen Orden in die Hand gibt!«

Diese Worte stimmten durchaus überein mit dem, was er eines Tages bei den Wahlen sagte, als er einem Manne seine Stimme versagte, dessen Talente der royalistischen Sache hätten von Nutzen sein können. ›Ich werde immer Mißtrauen gegen außergewöhnlich kluge Leute hegen‹, antwortete er dem Wahlvermittler . . . Er schlug uns vor, einen kleinen Gang durch den Garten zu machen; damit erhob er sich.

»Der junge Herr . . .«, sagte die Comtesse. »Nun, und, meine Liebe?« antwortete er und wandte sich um, mit der herrischen Schroffheit, die besagte, wie sehr er absoluter Herr im Hause sein wollte und wie wenig er es dann war. »Der junge Herr ist von Tours zu Fuß gekommen. Monsieur de Chessel wußte nichts davon und hat ihm die Umgegend von Frapesle gezeigt.« – »Sie haben eine Unvorsichtigkeit begangen«, sagte er zu mir, »obwohl in Ihrem Alter . . .« Und er schüttelte zum Zeichen des Bedauerns den Kopf.

Die Unterhaltung wurde wieder aufgenommen. Ich merkte alsbald, wie empfindlich er in seiner Königstreue war und wie vieler Schonung es bedurfte, um nicht mit ihm zusammenzugeraten. Der Diener, der schnell in seine Livree gefahren war, meldete das Diner. Monsieur de Chessel führte Madame de Mortsauf zu Tisch, und der Comte nahm mich lachend beim Arm, um ins Eßzimmer zu gehen, das in der Anordnung der Räume des Erdgeschosses das Gegenstück zum Wohnzimmer bildete.

Mit weißen, in der Touraine gebrannten Kacheln ausgelegt und bis zur Brusthöhe getäfelt, hatte das Eßzimmer eine gefirnißte Tapete, die von Blumen- und Fruchtgirlanden umrankte Felder darstellte. Die Fenster hatten Perkalvorhänge mit roten Borten. Die Möbel waren alte Wertstücke aus der Werkstatt André Beuls, und die mit Handstickereien aufgemachten Stühle waren aus geschnitzter Eiche. Der gedeckte Tisch war reich, aber prunklos: alte Erbstücke von Silberzeug in verschiedenem Stil, Meißener Porzellan, das damals noch nicht wieder Mode geworden war; achteckige Karaffen, Messer mit Achatgriffen, und unter den Flaschen Untersätze aus Chinalack; Blumen in gefirnißten Töpfen mit vergoldeten Zacken. Mir gefiel dieser Altväterhausrat. Ich fand die altmodische Tapete mit den Blumengirlanden wundervoll. Die Freudigkeit, die mich ganz erfüllte, ließ mich die unübersteigbaren Schwierigkeiten nicht sehen, die das eng umgrenzte Leben in der Einsamkeit und auf dem Lande zwischen der Comtesse und mir aufgerichtet hatte. Ich war nahe bei ihr, zu ihrer Rechten, ich goß ihr ein, ja ich hatte das unverhoffte Glück, ihr Kleid zu streifen, ich aß von ihrem Brote. Nach drei Stunden hatten sich unsere Lebenspfade verschlungen. Überdies verband uns noch jener schreckliche Kuß wie ein Geheimnis, dessen sich ein jeder schämte. Ich legte eine großartige Feigheit an den Tag und nahm mir vor, dem Comte zu gefallen, der auch willig auf alle meine Avancen einging. Ich hätte den Hund gestreichelt, hätte jedem Wunsch der Kinder mit Freuden willfahrt, hätte ihnen Reifen und Klicker gebracht, ich hätte sie auf mir herumreiten lassen; fast zürnte ich ihnen, daß sie sich meiner noch nicht wie ihres Eigentums bemächtigt hatten . . . Die Liebe hat ihre Eingebungen wie das Genie, und ich hatte die unklare Ahnung, daß Gewalttätigkeiten, mürrisches Wesen und feindliche Gesinnung meine Hoffnungen zerstören würden. Das Mahl verfloß für mich in eitel Herzenswonnen. Wenn ich mich so bei ihr sah, konnte ich weder an ihre kalte Zurückhaltung denken noch an die Gleichgültigkeit, die sich hinter der Höflichkeit des Comte verbarg. Die Liebe kennt, wie das Leben, eine Pubertät, während deren sie sich selbst genügt. Ich gab einige ungeschickte Antworten, die dem geheimen Tumult der Leidenschaft in mir entsprangen, die aber niemand deuten konnte, selbst sie nicht, die ja von Liebe nichts wußte. Die übrige Zeit verstrich wie im Traume. Dieser schöne Traum verflog, als ich beim Mondlicht an dem schönen, duftschweren Abend die Indre überschritt, umringt von Nebelgebilden, die Wiesen, Ufer und Hügel umstrichen. Ich hörte den lauten Ton, die eintönig melancholische Note, die ein Laubfrosch – seinen wissenschaftlichen Namen weiß ich nicht – bei gleichmäßiger Witterung ertönen läßt und den ich seit jenem feierlichen Tage nie ohne tiefes Entzücken höre. Ich erkannte etwas später, hier wie sonstwo, die marmorne Gefühllosigkeit, an der bisher meine Gefühle sich zerrieben hatten; ich fragte mich, ob das immer so bliebe, ich glaubte unter einem verhängnisvollen Einfluß zu stehen. Die düstern Ereignisse der Vergangenheit schlugen sich mit den Freuden, die ich nur aus mir selbst geschöpft hatte. Kurz vor Frapesle blickte ich hinüber nach Clochegourde und sah auf dem Fluß ein Boot liegen, das man in der Touraine ›toue‹ nennt. Es war an einer Esche befestigt und wurde vom Wasser gewiegt. Es gehörte Monsieur de Mortsauf, der es zum Fischen benutzte.

»Nun, wie steht's?« fragte mich Monsieur de Chessel, als wir außer Hörweite waren; »ich brauche mich wohl nicht zu erkundigen, ob Sie Ihre schönen Schultern wiedergefunden haben. Ich kann Ihnen zu dem Empfang, den Monsieur de Mortsauf Ihnen bereitet hat, nur Glück wünschen. Weiß Gott, Sie haben sein Herz im Ansprung erobert!«

Dieser Satz, im Zusammenhang mit dem früher erwähnten, flößten mir neuen Mut ein. Ich hatte seit Clochegourde kein Wort mehr gesprochen, und Monsieur de Chessel dachte wohl, mein Schweigen sei lauter Glück.

»Wie meinen Sie das?« entgegnete ich mit einem Anflug von Spott, was aber ebensogut für verhaltene Leidenschaft gelten konnte. »Er hat niemals irgendwen so freundlich empfangen.« – »Ich muß gestehen, daß ich selbst erstaunt bin«, antwortete ich, denn ich fühlte aus seinen letzten Worten eine geheime Unzufriedenheit heraus.

Obwohl ich der aristokratischen Anschauungen zu unkundig war, um Monsieur de Chessel zu verstehen, fiel mir doch der Ton auf, mit dem er sich verraten hatte. Mein Gastgeber war mit dem Namen Durand behaftet und machte sich dadurch lächerlich, daß er den Namen seines Vaters verleugnete, eines großen Fabrikbesitzers, der sich während der Revolution ungeheuer bereichert hatte. Seine Frau war alleinige Erbin der Chessel, eines alten Parlamentariergeschlechts, das unter Heinrich IV. noch bürgerlich war, wie die meisten Pariser Magistratspersonen. Von hochstrebendem Ehrgeiz beseelt, wollte Monsieur de Chessel den ursprünglichen Durand aus der Welt schaffen, um so dem Ziel seiner Träume näherzukommen. Er nannte sich zuerst Durand de Chessel, dann D. de Chessel, schließlich war er nur noch Monsieur de Chessel. Während der Restauration gründete er auf Grund eines Adelsbriefes, den ihm Ludwig XVIII. verlieh, ein Majorat mit dem Grafentitel. Seine Kinder ernteten die Früchte seines Mutes, ohne dessen ganzen Umfang zu kennen. Oft hat der Ausspruch eines spottlustigen Prinzen schwer auf ihm gelastet, der von ihm sagte: »Monsieur de Chessel kehrt den Durand nur selten heraus.« Dieser Satz hat lange Zeit die Touraine entzückt. Emporkömmlinge sind wie die Affen, deren Geschicklichkeit sie besitzen: man sieht sie steigen, man bewundert ihre Gelenkigkeit, solange sie klettern, aber wenn sie zuoberst angelangt sind, gewahrt man nur noch ihre ekle Rückseite! Die Kehrseite meines Gastgebers, das waren all seine kleinlichen Züge, die der Neid noch verstärkte. Die Pairswürde und er waren bisher unvereinbar gewesen. Ansprüche haben und sie durchsetzen, macht die Impertinenz der Kraft aus; aber seinen offen eingestandenen Ansprüchen nicht genügen bedeutet eine beständige Lächerlichkeit, an der kleine Geister sich weiden. Monsieur de Chessel hat nicht den geraden Weg des starken Mannes verfolgt. Zweimal wurde er in die Kammer gewählt, zweimal fiel er bei der Wahl durch. Gestern war er noch Generaldirektor, heute nichts, nicht einmal Präfekt. So hatten Erfolge und Niederlagen seinen Charakter verdorben und ihm die ganze Herbheit machtlosen Ehrgeizes gegeben. Im Grunde war er ein liebenswürdiger Mensch, geistvoll und großer Dinge fähig. Aber vielleicht war ihm der Neid verderblich, der das Leben in der Touraine beherrscht, wo jeder seinen Geist benutzt, um über den andern herzufallen. Das schadete ihm in den hohen gesellschaftlichen Kreisen, wo die schlecht bestehen, denen der Erfolg anderer Grimassen verursacht, wo man nicht gern trotzige Lippen sieht, die mit Komplimenten kargen, aber von bissigen Bemerkungen übersprudeln. Hätte er weniger gewollt, so hätte er vielleicht mehr erreicht; aber zu seinem Unglück war er überlegen genug, immer eine aufrechte Haltung zu wahren. Damals sah er gerade die Morgenröte seiner ehrgeizigen Hoffnungen: königliche Gunst lächelte ihm. Gewiß spielte er gern den großen Herrn, aber für mich war er vollendet. Übrigens gefiel er mir aus einem sehr einfachen Grunde: bei ihm fand ich zum erstenmal Ruhe und Behagen. Das an und für sich vielleicht geringe Interesse, das man mir erwies, schien dem unglücklichen, vernachlässigten Kind das Bild elterlicher Liebe. Die warme Gastfreundschaft stand so sehr im Gegensatz zu der Gleichgültigkeit, die mich bisher gequält hatte, daß ich wie ein Kind dafür dankbar war, ohne Ketten und gewissermaßen gehegt leben zu dürfen. Auch sind die Herren von Frapesle so eng mit dem Anfang meines Glückes verknüpft, daß meine Gedanken sie mit einschließen in die Erinnerungen, die lauter Freude für mich sind. Später, eben in der Angelegenheit der Adelsbriefe, hatte ich das Vergnügen, meinem Gastgeber einige Dienste erweisen zu können . . . Monsieur de Chessel genoß sein Vermögen mit einem Aufwand, an dem sich einige seiner Nachbarn stießen. Er konnte es sich leisten, seine schönen Pferde und eleganten Wagen immer wieder zu ersetzen; seine Frau trug ausgesucht schöne Toiletten. Er machte ein großes Haus, und seine Dienerschaft war zahlreicher, als es die hergebrachten Sitten des Landes zuließen. Er spielte sich ein wenig als Fürst auf . . . Das Gebiet von Frapesle war riesengroß. Dem Luxus seines Nachbarn gegenüber mußte sich der Comte de Mortsauf mit einem simplen Familienwagen begnügen, der in der Touraine ein Mittelding zwischen Omnibus und Postkutsche ist. Seine Vermögenslage nötigte ihn, Clochegourde so ertragreich wie möglich zu machen; und so blieb er ein bescheidener Grundbesitzer, wie es in der Touraine viele gibt, bis zu dem Tage, wo königliche Gunst seiner Familie einen Glanz verlieh, auf den er vielleicht nicht einmal mehr gehofft hatte. Durch die Art, wie er den jüngeren Sohn einer verarmten Familie empfing, deren Wappen man aber schon zur Zeit der Kreuzzüge gekannt hatte, setzte er den Wert seines großen Vermögens herunter und demütigte seinen Nachbarn, der Wälder, Felder und Wiesen besaß, aber nicht von altem Adel war. Monsieur de Chessel hatte den Comte wohl verstanden. So verkehrten sie auch späterhin immer sehr höflich miteinander, ohne daß es zwischen ihnen zu den regelmäßigen Beziehungen und dem herzlichen Verhältnis gekommen wäre, die zwischen Clochegourde und Frapesle hätten bestehen sollen; waren doch die Gebiete nur durch die Indre getrennt, so daß beide Schloßherrinnen sich von ihren Fenstern hätten zuwinken können.

Neid war nicht der einzige Grund der Einsamkeit, in die der Comte de Mortsauf sich verschanzte. Seine erste Erziehung war die der meisten Söhne aus vornehmen Familien: ein unvollständiger, oberflächlicher Unterricht, zu dem gesellschaftlicher Drill, höfische Bräuche, Ausübung großer Hofämter oder die Bürden hoher Staatsstellen als ergänzende Erziehungsmittel hinzukamen. Monsieur de Mortsauf war gerade in dem Augenblick ausgewandert, als diese seine zweite Erziehung hätte beginnen sollen; sie fehlte ihm. Er gehörte zu denen, die an eine schnelle Wiederherstellung der Königsgewalt glaubten, und dank dieser Überzeugung war sein Exil eine Zeit jämmerlichen Nichtstuns gewesen. Als die Armee Condés sich auflöste, in der er sich durch seine Tapferkeit außerordentlich hervorgetan hatte, rechnete er damit, bald wieder unter der weißen Fahne kämpfen zu können, und versuchte auch gar nicht, sich wie andere Emigranten durch Arbeit eine neue Existenz zu gründen. Vielleicht hielt ihn auch die Furcht, seinen Namen zu kompromittieren, davon ab, sein Brot durch entwürdigende Arbeit im Schweiße seines Angesichts zu verdienen. Seine immer auf morgen gerichteten Hoffnungen, vielleicht auch seine Ehre, hielten ihn davon ab, in den Dienst einer fremden Macht zu treten. Das Elend untergrub seinen Mut. Lange Märsche mit leerem Magen und am Ziel stets getäuschte Erwartungen schadeten seiner Gesundheit und entmutigten ihn. Nach und nach geriet er in die ärgste Armut. Während das Elend für viele Menschen ein Kräftigungsmittel ist, wirkt es auf andere zersetzend, und zu diesen gehörte der Comte de Mortsauf. Wenn ich an den armen Edelmann der Touraine dachte, wie er durch Ungarn streifte, einen Fetzen Hammelfleisch mit den Hirten des Fürsten Esterházy teilte, wie er sie als Fremdling um das Stück Brot bat, das der Edelmann von ihrem Herrn nicht angenommen hätte, und es manchesmal zurückstieß, wenn es ihm von Feinden Frankreichs geboten wurde, sooft ich daran dachte, schwand in mir der Haß gegen den Emigranten, selbst wenn ich sah, daß er sich in seinem Triumph lächerlich machte. Die weißen Haare Monsieur de Mortsaufs sprachen von gräßlichen Leiden, und ich habe zuviel Mitgefühl für den Verbannten, als daß ich ihn verurteilen könnte . . . Die französische Heiterkeit versiegte beim Comte, er wurde mürrisch und krank und fand in irgendeinem deutschen Hospiz aus Gnade und Barmherzigkeit Pflege. Er litt an einer Bauchfellentzündung, einer meist tödlichen Krankheit, die im Falle der Heilung oft das Wesen eines Menschen verändert und häufig Hypochondrie zur Folge hat. Seine Liebesabenteuer, die tief in seiner Seele eingesargt waren und die ich allein entdeckt habe, wären niedrigster Art, sie zehrten an seiner Lebenskraft und lähmten ihn. Nach zwölf Jahren tiefsten Elends wandte er seine Blicke nach Frankreich, wohin zurückzukehren ihm Napoleons Dekret erlaubte. Als der kranke Wanderer den Rhein überschritt und an einem schönen Abend den Turm des Straßburger Münsters auftauchen sah, brach er zusammen.

»›Frankreich! Frankreich!‹ rief ich aus. ›Endlich Frankreich!‹ – wie ein verwundetes Kind ›Ach, Mutter!‹ schreit.« So erzählte er mir.

Vor seiner Geburt war er reich; als Armer betrat er Frankreichs Boden. Geschaffen, um ein Regiment zu befehligen oder einen Staat zu lenken, stand er da, machtlos und ohne Zukunft. Obwohl von Geburt gesund und kräftig, kehrte er nun krank und verbraucht zurück. In einem Lande, wo Menschen und Dinge fortgeschritten waren, konnte er ohne Bildung notgedrungen keinerlei Einfluß ausüben. Er war aller Mittel beraubt, selbst der körperlichen und seelischen Kräfte. Die Armut ließ ihn seinen Namen als eine Last empfinden. Seine unerschütterlichen Überzeugungen, seine Dienstzeit in der Armee Condés, seine Sorgen, seine Erinnerungen, seine verlorene Gesundheit verliehen ihm eine Reizbarkeit, die in Frankreich, dem Lande der Spottlust, wenig geschont wurde. Halbtot gelangte er in die Maine, wo durch einen Zufall, der vielleicht mit dem Bürgerkriege zusammenhing, die revolutionäre Regierung vergessen hatte, ein ausgedehntes Gut zu verkaufen, dessen Pächter es für den Comte verwaltete, indem er vorgab, selbst der Eigentümer zu sein. Als die Familie Lenoncourt, die Givry, ein Schloß in der Nähe jenes Gutes, bewohnte, die Ankunft des Comte erfuhr, schlug ihm der Duc de Lenoncourt vor, in Givry zu wohnen, bis sein Haus wieder instand gesetzt wäre. Die Familie Lenoncourt erwies sich edel und großmütig gegen den Comte, der sich dort während eines mehrmonatigen Aufenthalts erholte und sein mögliches tat, um während dieses ersten Aufenthalts seine Schmerzen zu verbergen. Die Lenoncourts hatten ihre riesigen Besitztümer verloren. Mit seinem Namen war Monsieur de Mortsauf eine standesgemäße Partie für ihre Tochter. Statt sich der Verheiratung mit einem fünfunddreißigjährigen kränklichen und gealterten Manne zu widersetzen, schien Mademoiselle de Lenoncourt im Gegenteil beglückt darüber. Die Ehe verschaffte ihr das Recht, mit ihrer Tante, der Duchesse de Verneuil, der Schwester des Prince de Blamont-Chauvry, zu leben, die für sie eine Adoptivmutter war.

Madame de Verneuil war eine vertraute Freundin der Duchesse de Bourbon und gehörte einem religiösen Klub an, dessen Seele Monsieur Saint-Martin war, der aus der Touraine stammte und den Beinamen ›der unbekannte Philosoph‹ führte. Die Jünger dieses Philosophen übten die Tugenden, die die hohen Spekulationen der Mystiker vorschreiben. Diese Lehre liefert einen Schlüssel zur jenseitigen Welt, erklärt das Dasein als eine Reihe von Wandlungen, durch die der Mensch allmählich zu seiner höchsten Bestimmung gelangt, nimmt dem Gehorsam das Entwürdigende der Pflichterfüllung, trägt in die Mühen des Lebens eine unwandelbare Quäkergelassenheit und verordnet Geringschätzung des Leidens, indem sie so etwas wie ein mütterliches Gefühl eingibt für den Engel in uns, den wir gen Himmel tragen. Es ist eine Art Stoizismus, der ein Jenseits kennt. Tatkräftiges Beten und reine Liebe sind die Elemente jenes Glaubens, der sich vom Katholizismus der römischen Kirche trennt und zum primitiven Christentum zurückkehrt. Mademoiselle de Lenoncourt blieb nichtsdestoweniger im Schoß der apostolischen Kirche, der ihre Tante stets treu ergeben war. Durch die Stürme der Revolution hart geprüft, hatte die Duchesse de Verneuil in den letzten Tagen ihres Lebens eine leidenschaftliche Frömmigkeit an den Tag gelegt, die – wie Saint-Martin sich ausdrückt – in die Seele ihres geliebtes Kindes ›das Licht himmlischer Liebe‹ und ›das Öl innerer Wonne‹ goß. Nach dem Tode ihrer Tante, bei der Saint-Martin viel verkehrt hatte, beherbergte die Comtesse mehrmals diesen Mann des Friedens und der Tugendweisheit. Von Clochegourde aus überwachte Saint-Martin das Erscheinen seiner letzten Bücher, die bei Letourmy in Tours gedruckt wurden. Erleuchtet durch die Weisheit alter Frauen, die des Lebens stürmische See kennen, vermachte Madame de Verneuil der jungen Frau Clochegourde, um ihr auf diese Weise ein Heim zu schaffen. Mit der anmutigen Opferfreudigkeit edler Greise trat die Duchesse alles, was sie besaß, an ihre Nichte ab und begnügte sich mit einem Zimmer über dem, das sie früher bewohnt hatte und das jetzt das Zimmer der Comtesse war. Ihr unerwarteter Tod warf Trauerschleier über die Freuden dieses Bundes und drückte Clochegourde und der abergläubischen Seele der jungen Frau den Stempel unauslöschlicher Trauer auf. Die ersten Tage ihres Aufenthalts waren für die Comtesse die einzige, wenn nicht glückliche, so doch sorgenlose Zeit ihres Lebens.

Nach den Irrfahrten seines Aufenthalts in der Fremde war Monsieur de Mortsauf beglückt, eine milde Zukunft vor sich zu sehen, und es kam wie eine seelische Genesung über ihn. In diesem Tal atmete er den berauschenden Duft einer voll erblühten Hoffnung. Weil er immer rechnen und peinlich haushalten mußte, vertiefte er sich in die Vorbereitungen auf seinen neuen Beruf und fand einiges Vergnügen daran. Aber die Geburt Jacques' war ein Blitzstrahl, der zerstörend in Gegenwart und Zukunft fiel: der Arzt gab den Neugeborenen auf. Der Comte verschwieg der Mutter das Todesurteil. Dann ließ er sich selbst untersuchen und erhielt einen vernichtenden Bescheid, der durch die Geburt Madeleines bestätigt wurde. Diese beiden Ereignisse, eine Art innerer Gewißheit, die die verhängnisvolle Aussage bestätigte, verschlimmerten noch die krankhaften Anlagen des Emigranten. Sein Name würde auf ewig erlöschen. Eine reine junge Frau ohne Makel war unglücklich an seiner Seite, war den Qualen der Mutterschaft preisgegeben, ohne deren Freuden zu kosten. Dieser Humus seines früheren Lebens, aus dem neue Leiden keimten, lastete schwer auf seinem Herzen und vernichtete ihn vollends. Die Comtesse erriet aus der Gegenwart die Vergangenheit und las in der Zukunft. Obwohl es nichts Schwereres gibt, als einen Mann, der sich schuldig weiß, glücklich zu machen, unternahm die Comtesse de Mortsauf diesen Versuch, der eines Engels würdig gewesen wäre. In einem Tage wurde sie stoisch. Nachdem sie hinabgestiegen war in den Abgrund, aus dessen Tiefe sie zum Himmel emporsah, widmete sie sich für einen einzigen Menschen dem Beruf, den die Krankenpflegerin für alle ausübt; und um ihren Mann mit sich selbst zu versöhnen, verzieh sie ihm, was er selbst sich nicht verzeihen konnte. Der Comte wurde geizig. Sie nahm alle ihr auferlegten Entbehrungen hin. Aber er lebte in der steten Furcht, hintergangen zu werden, wie alle, die aus ihrer Kenntnis der Welt nur Ekel geschöpft haben; sie blieb in der Einsamkeit und beugte sich ohne Murren seinen mißtrauischen Anwandlungen. Sie führte alle ihre Frauenlist ins Feld, um ihm den Willen zum Guten einzuflößen: so glaubte er eigene Gedanken zu haben und kostete Genüsse, deren er von Haus aus unfähig gewesen wäre. Dann, nach längerem Eheleben, beschloß sie, Clochegourde nie zu verlassen. Sie hatte die hysterische Natur des Comte erkannt, deren Willkür in einem Lande der boshaften Klatschsucht ihren Kindern hätte schaden können. Niemand ahnte die tatsächliche Unfähigkeit Monsieur de Mortsaufs. Sie hatte die Ruinen mit einem dichten Efeumantel umkleidet. Das unharmonische Wesen des Comte, der nicht unzufrieden, aber mißvergnügt war, stieß bei seiner Frau auf sanfte Nachgiebigkeit, und er stellte sich unter ihren Schutz, weil er bei ihr lindernden Balsam für seine geheimen Schmerzen fand.

Das alles ist eine kurze Zusammenfassung der Gespräche, die Monsieur de Chessel, seinem geheimen Unwillen nachgebend, mit mir führte. Seine Weltkenntnis hatte ihn einige der Geheimnisse enträtseln lassen, die in Clochegourde begraben lagen. Aber wenn es Madame de Mortsauf dank ihrer heldenhaften Selbstbeherrschung gelang, die Welt zu täuschen, so vermochte sie nicht, den untrüglichen Instinkt zu überlisten. Als ich allein in meinem kleinen Zimmer war, trieb mich die Ahnung des wirklichen Sachverhalts aus dem Bett; ich hielt es nicht aus, in Frapesle zu sein, Wenn ich anderswo die Fenster ihres Zimmers sehen konnte. Ich kleidete mich an, schlich mich hinunter und verließ das Schloß durch die Tür eines Turmes, der eine Wendeltreppe hatte. Die Kühle der Nacht beruhigte mich. Ich überschritt die Indre auf der Moulin-Rouge-Brücke und gelangte zum glückseligen Boot in der Nahe Clochegourdes, dessen letztes Fenster, nach Azay zu, beleuchtet war. Ich fand meine früheren Verzückungen wieder, aber sie waren friedlicher, und darin klang das Schlagen der Nachtigall, der Sängerin der Liebesnächte, deren langgezogene Töne über dem Wasser schwebten. In mir erwachten Gedanken, die gespensterhaft über meine Seele glitten, die Trauerschleier lüftend, die mir bisher meine schöne Zukunft verhüllt hatten. Seele und Sinne waren in gleichem Maße entzückt. Mit welcher Leidenschaftlichkeit stieg mein Sehnen bis zu ihr empor. Wie oft sagte ich mir, wie ein Verrückter, immer dasselbe: »Werde ich sie besitzen?« Während der vorhergehenden Tage war die Welt mir gewachsen, in einer einzigen Nacht ordnete sie sich für mich um einen Mittelpunkt. An sie knüpften sich meine Willensregungen, meine ehrgeizigen Gedanken; ich wünschte, alles für sie zu sein, um ihr zermartertes Herz zu heilen und es auszufüllen. Herrlich war jene Nacht, die ich unter ihren Fenstern verbrachte, umrauscht von den Wassern der Mühlschleusen, während vom Turm zu Saché der Stundenschlag die Stille unterbrach. In jener lichtgebadeten Nacht, wo sie, meine Blume, mein Stern, in mein Leben hineinleuchtete, vermählte ich ihr meine Seele mit der Inbrunst, die wir beim armen kastilischen Ritter des Cervantes verlachen, die aber aller Liebe Anfang ist. Beim ersten Morgengrauen, beim ersten Vogelschrei flüchtete ich mich in den Park von Frapesle; niemand gewahrte mich, niemand ahnte meinen nächtlichen Spaziergang. Ich schlief, bis die Glocke Mittag läutete. Trotz der Hitze stieg ich nach Tisch hinunter in die Wiese, um die Indre und ihre Inseln, das Tal und die Hügelketten wiederzusehen, als deren leidenschaftlicher Bewunderer ich galt. Aber flinker als ein entronnenes Pferd eilte ich zu meinem Boot, meinen Weiden und meinem Clochegourde. Es war ganz still, und die heiße Mittagsluft zitterte. Regungslose Blätter hoben sich scharf vom blauen Himmel ab. Insekten, die vom Lichte leben, grüne Libellen und Wasserfliegen flogen von Esche zu Esche, von Schilf zu Schilf. Die Herden ruhten wiederkäuend im Schatten, die rote Weinbergerde glühte, Blindschleichen glitten die Böschung entlang.

Welch ein Wechsel in dieser Landschaft, die vor meinem Schlaf so frisch, so anmutig war! Plötzlich sprang ich aus dem Boot und stieg den Weg nach Clochegourde hinan. Kam dort nicht der Comte? Ich irrte mich nicht, er ging an einer Hecke entlang und wollte wahrscheinlich zu einer Tür, die auf den Uferweg nach Azay führte.

»Wie geht es Ihnen heute, Monsieur le Comte?« Er sah mich beglückt an, denn er war diese Anrede nicht gewöhnt. »Gut!« sagte er. »Sie lieben wohl die Natur sehr, daß Sie bei dieser Hitze spazierengehen?« – »Hat man mich nicht hierher geschickt, damit ich möglichst viel im Freien sei?« – »Schön! Wollen Sie mit mir kommen und zusehen, wie man meinen Roggen mäht?« – »Aber gern«, sagte ich. »Ich muß gestehen, daß ich von einer unglaublichen Unwissenheit bin. Ich kann nicht Roggen von Weizen oder eine Pappel von einer Espe unterscheiden. Ich weiß nichts vom Landbau und von den verschiedenen Methoden, wie man die Felder bewirtschaftet.« – »Gut!« sagte er. »Kommen Sie!« Und fröhlich kehrte er um. »Gehen Sie durch das obere Pförtchen!« Wir stiegen den Pfad hinauf, er jenseits, ich diesseits der Hecke. »Sie würden bei Monsieur de Chessel von alledem nichts lernen«, sagte er mir. »Er spielt zu sehr den großen Herrn und tut nichts als höchstens die Rechnungsbücher seiner Verwalter durchsehen.«

So zeigte er mir denn seine Höfe und Wirtschaftsgebäude, die Ziergärten, die Obst- und Gemüsegärten. Endlich führte er mich zu der langen Akazienallee am Bachrand, an deren entgegengesetztem Ende auf einer Bank ich Madame de Mortsauf erblickte; sie war mit ihren beiden Kindern beschäftigt. Eine Frau ist im Rahmen feinen, zitternden Laubwerks wundervoll! Sie mochte wohl über meine kindliche Hast erstaunt sein, aber sie erhob sich nicht, da sie wohl wußte, daß wir zu ihr hinkämen. Der Comte hieß mich die Aussicht aufs Tal bewundern, das von diesem Punkt aus ein ganz anderes Bild bot als das bekannte, das ich bisher von der Höhe gesehen hatte. Fast glaubte man ein Stückchen Schweiz vor sich zu haben. Die Wiesen, von Bächen, die sich in die Indre stürzen, durchfurcht, strecken sich lang hin und verschwimmen in nebelhaften Fernen. Auf der Seite von Montbazon dehnt sich eine riesige grüne Fläche; überall sonst nur Hügel und Felsen. Wir beschleunigten den Schritt, um Madame de Mortsauf zu begrüßen, die plötzlich das Buch, in dem Madeleine las, fallen ließ und Jacques, der von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde, auf die Knie nahm.

»Was fehlt ihm?« rief der Comte erbleichend. »Er hat Halsschmerzen«, antwortete die Mutter, die mich nicht zu sehen schien; »es hat nichts zu bedeuten.«

Sie hielt ihm gleichzeitig Kopf und Rücken. Aus ihren Augen drangen zwei Strahlen, die Lebenswärme über dies elende kleine Geschöpf ergossen.

»Sie sind von einem unverantwortlichen Leichtsinn!« sagte der Comte bitter. »Sie setzen ihn der Kälte am Bach aus und erlauben ihm, auf einer Steinbank zu sitzen.« – »Aber Vater, die Bank ist ja brennend heiß!« rief Madeleine. »Da oben ersticken sie vor Hitze«, sagte die Comtesse. »Die Frauen wollen doch immer recht haben«, sagte er zu mir gewandt.

Um nicht zu erwidern und ihm nicht durch einen zustimmenden oder mißbilligenden Blick antworten zu müssen, beobachtete ich Jacques, der über Halsschmerzen klagte und den seine Mutter wegführte. Beim Weggehen konnte sie die Worte ihres Mannes hören: »Wenn man so kränkliche Kinder zur Welt gebracht hat, sollte man es wenigstens verstehen, sie zu pflegen!«

Abscheulich ungerechte Worte! Aber seine Selbstliebe trieb ihn dazu, sich auf Kosten seiner Frau zu rechtfertigen. Die Comtesse flog die Treppen und die Terrassen hinauf. Ich sah sie durch die Glastür verschwinden. Monsieur de Mortsauf hatte sich auf die Bank gesetzt, nachdenklich und gesenkten Hauptes. Meine Lage wurde unerträglich. Er sah mich weder an, noch sprach er. Es war aus mit dem Spaziergang, den ich hatte benutzen wollen, um mich endgültig in seiner Sympathie einzunisten . . . Ich erinnere mich nicht, in meinem Leben eine abscheulichere Viertelstunde verbracht zu haben. Der Schweiß stand mir in hellen Tropfen auf der Stirn, ich fragte mich: ›Soll ich gehen, soll ich nicht gehen?‹ Wieviel traurige Gedanken müssen in ihm aufgestiegen sein, daß er vergaß, nach dem Befinden seines Sohnes zu sehen! Er stand unvermittelt auf und kam zu mir. Wir drehten uns um und betrachteten das fröhliche Tal.

»Wir wollen unsern Spaziergang auf einen andern Tag verlegen, Monsieur le Comte«, schlug ich dann freundlich vor. »Nein, gehen wir!« antwortete er. »Ich bin leider an derartige Krisen gewöhnt, ich, der ich ohne Bedenken mein Leben hingäbe, um dieses Kind zu erhalten.«

»Jacques geht es besser, mein Freund, er schläft«, sagte die Goldstimme. Madame de Mortsauf tauchte plötzlich am Ende der Allee auf. Sie kam ohne Bitterkeit, ohne Groll und antwortete auf meinen Gruß: »Ich sehe mit Freuden, daß sie Clochegourde liebhaben.«

»Liebe, wünschen Sie, daß ich ein Pferd nehme und Monsieur Deslandes hole?« fragte der Comte, um Verzeihung für seine Ungerechtigkeit von vorhin zu erlangen. »Machen Sie sich keine Sorge!« sagte sie. »Jacques hat die letzte Nacht nicht geschlafen, das ist alles. Das Kind ist furchtbar nervös, es hat einen bösen Traum gehabt, und ich habe lange Zeit gebraucht, um es durch Geschichtenerzählen wieder zum Schlafen zu bringen. Es hat einen rein nervösen Husten. Ich habe ihm ein Hustenbonbon gegeben, und es ist gleich eingeschlafen.« – »Arme Frau!« sagte er, ihre Hände ergreifend. Er blickte sie mit Tränen in den Augen an. »Ich wußte nichts davon.« – »Wozu sich über Kleinigkeiten aufregen? Gehen Sie zu Ihrem Roggen! Sie wissen, daß in Ihrer Abwesenheit die Pächter fremde Ährenleserinnen auf das Feld lassen, ehe noch die Garben entfernt sind.« – »Ich werde meine erste landwirtschaftliche Vorlesung hören«, sagte ich. »Sie sind in eine gute Schule geraten!« antwortete sie und wies dabei auf den Comte. Dieser verzog seinen Mund zu einem zufriedenen Lächeln: er machte ein Kußmäulchen, wie man so sagt.

Zwei Monate später erst erfuhr ich, daß sie diese Nacht in schrecklichen Ängsten verbracht hatte; sie fürchtete, daß ihr Sohn den Keuchhusten bekäme. Und ich, ich saß im Boot, von Liebesgedanken sanft gewiegt; ich bildete mir ein, daß sie mich von ihrem Fenster aus sähe, wie ich den Schein der Kerze anbetete, die gerade ihre von Todesangst durchfurchte Stirn beleuchtete. Damals herrschte in Tours Keuchhusten und richtete furchtbares Unheil an.

Als wir an der Tür waren, sagte mir der Comte mit gerührter Stimme: »Madame de Mortsauf ist ein Engel.« Dieses Wort machte mich schwankend. Ich kannte die Familie erst oberflächlich, und das so natürliche Bedenken, das eine junge Seele bei ähnlichen Anlässen befällt, rief mir zu: ›Mit welchem Recht trübst du diesen tiefen Frieden?‹

Der Comte war erfreut, einen jungen Mann zum Zuhörer zu haben, dem er leicht imponieren könnte. Er sprach von der Zukunft Frankreichs, wie sie die Rückkehr der Bourbonen gestalten würde. Wir führten eine zerfahrene Unterhaltung, in deren Verlauf ich wahre Kindereien zu hören bekam, die mich seltsam überraschten. Dem Comte waren Tatsachen von einleuchtender Beweiskraft unbekannt. Er fürchtete Leute, die viel wissen; jegliche Art von Überlegenheit verleugnete er; er verspottete, vielleicht mit Recht, den Fortschritt; endlich entdeckte ich in ihm eine große Anzahl wunder Stellen, die zu äußerst schonender Vorsicht zwangen, so daß eine längere Unterhaltung ein wahres Kunststück wurde. Als ich seine Mängel gewissermaßen betastet hatte, paßte ich mich ihnen an mit derselben Geschmeidigkeit, mit der die Comtesse sie liebkoste. Zu einer andern Zeit meines Lebens hätte ich ihn höchstwahrscheinlich verletzt; da ich aber schüchtern war wie ein Kind und mir einbildete, nichts zu wissen, oder doch glaubte, daß fertige Männer alles wissen müßten, blickte ich voller Staunen auf die wunderbaren Resultate, die der geduldige Landwirt in Clochegourde erzielt hatte. Voller Bewunderung hörte ich seinen Plänen zu. Schließlich trug mir eine unwillkürliche Schmeichelei das Wohlwollen des alten Edelmannes ein: ich sagte ihm, daß ich ihn um seine hübsche Besitzung und ihre Lage beneide, dieses Paradies auf Erden, das ich hoch über Frapesle stellte.

»Frapesle«, sagte ich, »ist ein massives Silbergefäß, aber Clochegourde ist ein Kästchen voll köstlicher Edelsteine.« Diesen Satz hat er seither, mit Angabe des Autors, oft genug wiederholt. »Ja, ehe wir hierherkamen, war es eine Wüste«, antwortete er.

Ich war ganz Ohr, wenn er von seinen Saaten, von seinen Baumschulen sprach. Ein Neuling in allen landwirtschaftlichen Dingen, überhäufte ich ihn mit Fragen über Preise, über Ausbeutung des Bodens, und er schien beglückt, mich über so viele Einzelheiten belehren zu können.

»Was bringt man Ihnen denn in Schulen bei?« fragte er mich verwundert.

Schon an jenem ersten Tage sagte der Comte bei der Rückkehr zu seiner Frau: »Monsieur Felix ist ein reizender junger Mann.«

Am Abend schrieb ich meiner Mutter, bat sie, mir Kleider und Wäsche zu schicken, und teilte ihr mit, daß ich in Frapesle bliebe. Ich wußte nichts von den großen Umwälzungen, die damals vor sich gingen, und ahnte nicht, welchen Einfluß sie auf meine Geschichte haben sollten. So glaubte ich, daß ich nach Paris zurückkehren würde, um mein juristisches Studium zu beenden, und die Vorlesungen fingen erst Anfang November wieder an; es lagen also zweieinhalb freie Monate vor mir.

Zu Anfang meines Aufenthalts versuchte ich, in ein vertrautes Verhältnis zum Comte zu kommen, und es war eine Zeit peinlicher Eindrücke. Ich entdeckte eine Reizbarkeit, die sich, ohne jeden Grund, verletzt fühlte, überhasteten Tatendrang in verzweifelten Fällen: das alles erschreckte mich. Bisweilen loderte in ihm plötzlich der Mut des Edelmannes auf, der sich in der Armee Condés ausgezeichnet hatte. Wie Kometen schossen Willensblitze in ihm auf, so wie sie in Zeiten des Aufruhrs bombengleich in die politische Welt hineinsausen und die, wenn sie sich von ungefähr mit Mut und Ehrenhaftigkeit verbinden, aus einem schlichten Landedelmann, der zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen war, einen d'Elbée, Bonchamps oder Charette machen. Bei gewissen Vermutungen spitzte sich seine Nase zu, seine Stirn erhellte sich, seine Augen schleuderten Blitze, die alsbald wieder abflauten. Ich fürchtete, daß, wenn Monsieur de Mortsauf die Sprache meiner Augen entzifferte, er mich auf der Stelle totschlüge. Damals war ich nur zärtlich: der Wille, der die Menschen so wunderbar verwandelt, begann sich in mir erst zaghaft zu regen. Meine maßlosen Süchte versetzten meine Empfindsamkeit in rasche Schwingungen, die oft einem Angstzittern glichen. Ich schreckte vor dem Kampfe nicht zurück, aber ich wollte das Leben nicht verlieren, ohne das Glück einer erwiderten Liebe gekannt zu haben. Die Schwierigkeiten und meine Wünsche wuchsen in gleichem Maße. Wie sollte ich von meinen Gefühlen sprechen? Ich war ein Raub der traurigsten Verwirrung. Ich wartete auf einen Zufall, ich beobachtete; ich befreundete mich mit den Kindern und gewann ihre Liebe; ich versuchte, mich dem Ton des Hauses anzupassen. Schon hielt sich der Comte weniger vor mir zurück. Ich bemerkte seinen plötzlichen Stimmungswechsel, seine unbegründeten Anfälle von Schwermut, seine raschen Aufwallungen, seine bitteren und schneidenden Klagen, seine gehässige Kälte, seine zurückgedämmten Wahnsinnsausbrüche, seine unberechenbaren wütenden Ausfälle. Ich hörte ihn ächzen wie ein Kind und schreien wie einen Verzweifelten.

Die seelische Welt unterscheidet sich von der physischen dadurch, daß es in ihr keine absoluten Gesetze gibt: die Nachdrücklichkeit der Wirkung ist abhängig von der Beschaffenheit der Charaktere oder von den Ideen, die wir um eine Tatsache gruppieren. Mein Verhalten in Clochegourde, meine ganze Zukunft hingen von dem unberechenbaren Willen des Comte ab. Es läßt sich nicht beschreiben, welch quälende Angst meine Seele zusammenschnürte – meine Seele, die sich gleich schnell öffnete und verschloß –, wenn ich mir beim Eintreten sagte: ›Wie wird er mir begegnen?‹ Welche Beklemmung erdrückte mein Herz, wenn ich plötzlich auf seiner weißen Stirn Gewitterwolken sich ansammeln sah. Ich war immer auf dem Sprung. Ich erlag dem Despotismus dieses Menschen, und meine eigenen Leiden gaben mir den Maßstab für die, die Madame de Mortsauf ausstand. Wir fingen an, verständnisvolle Blicke zu tauschen, meine Tränen flossen oft, wenn sie die ihren zurückhielt. Die Comtesse und ich, wir maßen uns im Leid. Wie viele Entdeckungen machte ich doch während jener ersten vierzig Tage voll wirklicher Schmerzen und unausgesprochener Freuden, voll Hoffnungen, die bald in den Grund gebohrt wurden, bald obenauf schwammen!

Eines Abends fand ich sie in Andacht versunken vor einem Sonnenuntergang, der die Gipfel in wollüstiges Rot tauchte, während er das Tal wie ein Lager im Dämmer ließ, so daß es unmöglich war, nicht die Klänge des ewigen Liedes der Lieder herauszuhören, mit dem die Natur ihre Geschöpfe zur Liebe lädt.

Fand das junge Mädchen seine entschwundenen Illusionen wieder? Schmerzte die Frau ein heimlicher Vergleich? Ich glaubte, in ihrer Haltung eine gewisse Abspannung zu bemerken, die den ersten Geständnissen dienlich schien, und sagte: »Es gibt im Leben so schwere Tage!« – »Sie haben in meiner Seele gelesen«, sagte sie; »aber wie war es möglich?« – »Es gibt zwischen uns so viele Berührungspunkte«, antwortete ich. »Gehören wir nicht zu der kleinen Zahl bevorzugter Wesen, die für Leid und Freude doppelt empfänglich, deren Gemütssaiten alle aufeinander abgestimmt sind und durch ihre gleichen Schwingungen große, volle Töne hervorrufen und deren Nervenleben im Einklang mit dem Urgrund aller Dinge steht? . . . Wenn solche Menschen in einem Konzert von Mißklängen leben, leiden sie furchtbar, wie anderseits ihre Freude bis zur Verzückung sich steigert, wenn sie Gedanken, Empfindungen oder Wesen begegnen, die ihnen innerlich verwandt sind. Aber es ist für uns ein dritter Zustand möglich, dessen Leiden nur den Seelen bekannt sind, die an derselben Krankheit leiden und bei denen sich brüderliches Verstehen findet. Wir können guten wie schlimmen Eindrücken verschlossen sein. Eine Orgel, reich an klangvollen Registern, spielt in der Leere unsers Herzens, braust in gegenstandsloser Leidenschaft, bringt Töne hervor, ohne sie zu Melodien zu formen, und wirft ihre Klänge hinaus in lautlose Stille. Das ist der furchtbare Widerstreit in einer Seele, die sich gegen die Nutzlosigkeit des Nichts aufbäumt. Das sind die aufreibenden Spiele, in denen unsere Kraft sich vergeudet, wie das Blut aus einer unbekannten Wunde sickert. Ströme von Empfindungen werden vergossen, das führt zu furchtbarer Entkräftung, zu namenloser Schwermut, für die der Beichtstuhl kein Gehör hat. Habe ich nicht unsere gemeinsamen Leiden geschildert?« Sie erbebte, und ohne den Blick vom Abendrot zu wenden, antwortete sie: »Woher wissen Sie das alles? Sie sind so jung. Waren Sie denn einmal ein Weib?« – »Ach«, antwortete ich ihr mit Rührung in der Stimme, »meine Kindheit war nur eine lange Krankheit.« – »Ich höre Madeleine husten«, sagte sie und stürzte davon.

Die Comtesse sah meine Bemühungen um sie, ohne daran Anstoß zu nehmen, und das aus zwei Gründen. Zunächst war sie rein wie ein Kind, und ihre Gedanken gerieten nie auf Abwege. Außerdem zerstreute ich den Comte. Ich war für diesen Löwen ohne Krallen und Mähne eine willkommene Beute. Schließlich fand ich einen Grund, häufig zu kommen, der allen einleuchtete: Ich konnte nicht Tricktrack spielen; Monsieur de Mortsauf schlug mir vor, es mir beizubringen, und ich ging darauf ein. Im Augenblick, da wir diese Abmachung trafen, konnte die Comtesse nicht umhin, mir einen mitleidsvollen Blick zuzuwerfen, der besagen sollte: ›Aber Sie stürzen sich ja in den Rachen des Wolfes!‹ . . . Nach drei Tagen wußte ich, wozu ich mich verpflichtet hatte. Meine unermüdliche Geduld, diese Frucht meiner Kindheit, reifte in jener Zeit der Prüfung. Es war für den Comte ein wahres Glück, sich in grausamen Spötteleien zu ergehen, wenn ich die Grundsätze und Regeln, die er mir auseinandergesetzt hatte, nicht in die Tat umsetzte. Wenn ich nachdachte, klagte er über die Langeweile, die ein langsames Spiel verursachte; wenn ich schnell spielte, ärgerte er sich, weil er sich beeilen mußte; wenn ich zu viele Points zeichnete, zog er daraus Nutzen und warf mir vor, daß ich zu eilig sei. Es war die reinste Schulmeistertyrannei, eine Herrschaft mit der Rute, wovon ich Ihnen nur eine Vorstellung geben kann, wenn ich mich mit Epiktet vergleiche, der in das Joch eines ungezogenen Kindes geraten war. Wenn wir um Geld spielten, verursachten ihm seine ständigen Gewinne eine unvornehme, kleinliche Freude. Ein Wort von seiner Frau war mir Trost für alles und führte ihn schnell zu Höflichkeit und Anstand zurück. Bald fiel ich in den Feuerofen eines ungeahnten Martyriums: ich büßte all mein Geld ein. Obwohl der Comte immer zwischen seiner Frau und mir stand, bis zu dem Augenblick, wo ich sie – oft spät abends – verließ, hatte ich doch immer die Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, mich in ihr Herz einzuschleichen. Um jedoch diese Stunde zu verdienen, auf die ich mit der peinvollen Geduld des Jägers lauerte, mußte ich jene aufregenden Spiele fortsetzen, die meine Seele zerrieben und all mein Geld wegschwemmten. Wie oft waren wir schweigend beieinander gewesen, vertieft in den Anblick einer eigenartigen Beleuchtung der Wolken am grauen Himmel, der dunstigen Hügel oder des zitternden Mondlichts, das über die Steine im Bach huschte! Wir sagten weiter nichts als: »Die Nacht ist schön.« – »Die Nacht ist ein Weib, Madame.« – »Welcher Friede!« – »Ja, hier kann man nicht ganz unglücklich sein.«

Danach ging sie zu ihrem Stickrahmen zurück. Endlich fühlte ich, wie in ihrem Innern ein Gefühl der Zuneigung sich festsetzte und Wurzeln schlug. Ohne Geld war es vorbei mit den Spielabenden. Ich hatte meiner Mutter geschrieben, sie möge mir Geld schicken; sie schalt mich und gab mir so wenig, daß es keine acht Tage reichte. An wen sollte ich mich wenden? Es handelte sich um mein Leben. So fand ich in meinem ersten großen Glück die Leiden wieder, die mir überall zugesetzt hatten. Aber in Paris, in der Schule, im Internat war ich ihnen durch wohlüberlegte Enthaltsamkeit aus dem Wege gegangen. Mein Unglück war nur negativ gewesen; in Frapesle wurde es wirklich. Damals überkam mich die Lust zum Stehlen. Ich lernte jene Gedankenverbrechen kennen, jene furchtbaren Versuchungen, die die Seele durchwühlen und die wir niederkämpfen müssen, wenn wir nicht unsere Selbstachtung verlieren wollen. Die Erinnerung an die grausamen Erwägungen und Seelenängste, denen mich die Sparwut meiner Mutter auslieferte, hat mir immer der Jugend gegenüber die fromme Nachsicht derer eingegeben, die, ohne gefallen zu sein, bis an den Rand des Abgrundes gelangt sind, wie um dessen ganze Tiefe zu ermessen. Zwar festigte sich mein mit Angstschweiß getränktes Ehrgefühl in jenen Augenblicken, wo das Leben vor uns gähnt und uns das harte Geröll auf seinem Grunde sehen läßt; und doch – jedesmal, wenn die menschliche Gerechtigkeit ihr Racheschwert über dem Haupt eines Menschen zückt, sage ich mir: ›Das Strafrecht ist von Leuten verfaßt, die das Unglück nicht gekannt haben.‹ In dieser äußersten Notlage entdeckte ich in der Bibliothek Monsieur de Chessels eine Abhandlung über das Tricktrackspiel und studierte sie. Zudem hatte mein Gastgeber die Güte, mir einige Stunden zu geben. Unter seiner freundlicheren Führung machte ich Fortschritte und lernte die Regeln, die ich auswendig wußte, anwenden. In wenigen Tagen war ich so weit, daß ich meinen Meister bezwang. Aber wenn ich gewann, wurde seine Laune abscheulich; seine Augen glitzerten wie Tigeraugen, sein Gesicht verzerrte sich, seine Augenbrauen zuckten, wie ich nie jemandes Augenbrauen habe zucken sehen. Seine Klagen waren die eines verwöhnten Kindes. Manchmal warf er die Würfel fort, geriet in Wut, stampfte, biß in seinen Würfelbecher und überhäufte mich mit Beleidigungen. Diese heftigen Ausbrüche fanden bald ein Ende. Bald beherrschte ich das Spiel so vollkommen, daß ich die Schlacht ganz nach meinem Willen lenkte. Ich richtete es so ein, daß wir am Ende des Spieles ungefähr gleichstanden, indem ich ihn am Anfang gewinnen ließ und am Ende dann das Gleichgewicht wieder herstellte. Der Untergang der Welt hätte den Comte weniger überrascht als die schnell erworbene Überlegenheit seines Schülers. Aber er erkannte sie niemals an. Der immer gleiche Ausgang unsers Spieles war für ihn eine neue Veranlassung, sich und andere zu quälen.

»Entschieden wird mein armer Kopf müde«, sagte er. »Sie gewinnen immer gegen Ende des Spieles, weil meine Kräfte dann erschöpft sind.«

Die Comtesse, die das Spiel kannte, durchschaute meine Kunstgriffe gleich beim ersten Mal und erriet in ihnen große Beweise von Zuneigung. Diese Einzelheiten können nur von denen richtig eingeschätzt werden, die die furchtbaren Schwierigkeiten des Tricktracks kennen. Was sagte diese Kleinigkeit doch alles! Aber die Liebe stellt, gleich dem Gott Bossuets, über die glänzendsten Siege das Glas Wasser, das dem Armen gereicht wird, und die heldenhafte Anstrengung des Soldaten, der einen unbeachteten Tod stirbt. Die Comtesse warf mir einen jener dankerfüllten Blicke zu, die ein junges Herz fröhlich bewegen. Sie gönnte mir den Blick, den sie sonst nur ihren Kindern schenkte. Seit diesem glückseligen Abend sah sie mich beim Sprechen immer an. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, in welcher Verfassung ich sie verließ. Meine Seele hatte meinen Körper aufgesogen, ich hatte keine Schwere mehr. Ich ging nicht, ich flog, ich fühlte in mir jenen Blick, der mich in Licht getaucht hatte. Ihr Lebewohl – ›Auf Wiedersehen, Monsieur!‹ – rauschte in mir wie die Auferstehungsmusik der Ostermesse: ›O filii, o filiae . . .‹ Ich ward zu einem neuen Leben geboren . . . Denn nun wußte ich, daß ich etwas für sie bedeutete! Ich schlief in Purpur gebettet ein. Flammen tanzten vor meinen geschlossenen Augen und jagten einander im Dunkeln, wie die hübschen Feuerschlangen, die im verkohlenden Papier hintereinander herlaufen. In meinen Träumen wurde ihre Stimme etwas Greifbares, eine Atmosphäre von Duft und Licht, die mich einhüllte, eine liebkosende Melodie. Ihr Empfang am nächsten Tage beschwor noch einmal in aller Wirklichkeit die Gesichte meiner Träume: von da an war ich in die Geheimnisse ihrer Stimme eingeweiht. Dieser Tag sollte einer der wichtigsten meines Lebens werden. Nach Tisch gingen wir auf den Hügeln spazieren, wir überschritten eine Heide; wo nichts gedieh: der Boden war steinig, ausgedörrt, ohne eine einzige fruchtbare Erdschicht. Nichtsdestoweniger standen einige Eichen dort, aber an Stelle des Grases dehnte sich ein Teppich braunroten krausen Mooses, das die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldete und auf dem der Fuß ausglitt. Ich hielt Madeleine bei der Hand, um sie zu stützen, und Madame de Mortsauf gab Jacques den Arm. Der Comte, der vor uns her ging, drehte sich um, schlug mit dem Stock auf den Boden und sagte mit schrecklicher Stimme: »Das ist das Bild meines Lebens! – bevor ich Sie kennenlernte«, verbesserte er sich mit einem Blick, der seine Frau um Verzeihung bat. Die Reue kam zu spät. Die Comtesse war erblaßt, und welche Frau hätte nicht wie sie unter einem solchen Schlage gewankt!

»Welch wonnige Düfte!« rief ich aus. »Oh, und diese prächtige Beleuchtung! Ich wollte, diese Heide gehörte mir! Vielleicht fände ich beim Nachgraben Schätze darin; aber der sicherste Reichtum wäre mir Ihre Nähe; und wer möchte eine dem Auge so wohltuende Aussicht nicht teuer bezahlen, dort den sich schlängelnden Fluß, wo man in Gedanken zwischen Eschen und Erlen badet. Sehen Sie, wie verschieden die Auffassungen sind! Für Sie ist dieser Fleck Erde eine trostlose Heide, für mich ist er ein Paradies.« Sie warf mir einen dankbaren Blick zu. »Gemütsmensch!« sagte er bitter. »Das ist nicht der Schauplatz für das Leben eines Mannes, der Ihren Namen trägt.« Dann unterbrach er sich und sagte: »Hören Sie die Glocken von Azay? Ich höre tatsächlich Glockengeläut.«

Madame de Mortsauf sah mich entsetzt an, und Madeleine drückte meine Hand.

»Sollen wir nach Hause gehen und eine Partie Tricktrack spielen?« fragte ich ihn. »Das Klappern der Würfel wird Sie daran hindern, Glocken zu hören.«

Wir kehrten nach Clochegourde zurück. Kaum daß wir einige Worte wechselten: der Comte beklagte sich über heftige Schmerzen, ohne sie näher zu bestimmen. Als wir im Salon beisammensaßen, herrschte eine unerklärlich beklommene Stimmung. Der Comte saß in einen Sessel vergraben, versunken in tiefes Nachdenken, das seine Frau nicht stören wollte; denn sie verstand sich auf die Symptome der Krankheit und sah die Anfälle voraus. Ich tat wie sie und schwieg. Da sie mich nicht bat fortzugehen, glaubte sie vielleicht, das Tricktrackspiel würde den Comte erheitern und seine unselige nervöse Reizbarkeit vertreiben; deren Ausbrüche sie zu Tode quälten. – Nichts war schwieriger, als den Comte zu diesem Spiel zu bewegen, das er doch immer mit Vorliebe spielte. Einem eitlen Dämchen gleich wollte er gebeten sein, wollte sich nötigen lassen, damit es nicht aussehe, als tue man ihm einen Gefallen, vielleicht gerade, weil es sich so verhielt. Wenn ich im Eifer einer anregenden Unterhaltung einen Augenblick meine demütige Pose vergaß, so wurde er mürrisch, schroff, beleidigend, ärgerte sich über die Unterhaltung und widersprach allem, was man sagte. Wenn ich durch seine schlechte Laune so gewarnt war, schlug ich ihm ein Spielchen vor. Er zierte sich – erstens sei es zu spät, meinte er, und zweitens liege mir ja doch nichts daran. Kurzum, er zierte und wand sich wie eine Frau, bei der man schließlich nicht mehr weiß, was sie will. Ich demütigte mich und flehte ihn an, mich nicht eine Kunst vergessen zu lassen, in der man so leicht aus der Übung kommt, – Diesmal bedurfte es einer ausgelassenen Heiterkeit, um ihn zum Spielen zu bringen. Er beklagte sich über Schwindelanfälle, die ihn am Rechnen hinderten, sein Schädel sei wie in einen Schraubstock gespannt, er höre schrille Töne . . . Dabei atmete er schwer und stieß tiefe Seufzer aus. Endlich gab er nach und setzte sich zurecht. Madame de Mortsauf verließ uns, um die Kinder zu Bett zu bringen und die Dienstboten ans Abendgebet zu erinnern. Solange sie fort war, ging alles gut. Ich richtete mich so ein, daß Monsieur de Mortsauf gewann; und bald hatte sein Glück ihm die Stirn geglättet. Der plötzliche Übergang von einer Schwermut, die ihn die düstersten Prophezeiungen ausstoßen ließ, zu dieser trunkenen Freude, zu diesem ausgelassenen und fast sinnlosen Gelächter beunruhigte mich. Es überlief mich eisig. Ich hatte ihn nie in einem so unzweideutigen Anfall gesehen. Unsere engen Beziehungen hätten ihre Frucht getragen, er nahm sich vor mir nicht mehr zusammen. Jeden Tag versuchte er mehr, mich seiner Tyrannei zu unterwerfen und mich immer von neuem zum Opfer seiner Launen zu machen. Es scheint eben, als seien geistige Krankheiten Geschöpfe, die ihre Begierden und ihre Instinkte haben, die ihre Macht ausdehnen wollen, wie ein Gutsbesitzer darauf aus ist, sein Land zu vergrößern. – Die Comtesse kam herunter, setzte sich an den Spieltisch, um beim Sticken besser zu sehen. Aber sie konnte ihre Furcht nur schlecht verhehlen. Ein verhängnisvoller Zug, den ich nicht hindern konnte, änderte den Gesichtsausdruck des Comte. War er heiter gewesen, so wurde er jetzt finster; vorhin noch hochrot, wurde er jetzt gelb; seine Augen flackerten. Und dann geschah ein letztes Unglück, das ich weder ahnen noch abwenden konnte. Monsieur de Mortsauf tat einen für ihn verhängnisvollen Wurf, der sein Geschick entschied. Alsbald sprang er auf, stieß mit dem Spieltisch nach mir, warf die Lampe auf die Erde, schlug mit der Faust auf die Konsole und raste durch den Salon – ›gehen‹ wäre kein Wort dafür. Der Sturzbach von Beleidigungen, Verwünschungen, unflätigen Anreden, unzusammenhängenden Sätzen, der aus seinem Munde drang, hätte die Vorstellung erwecken können, als sei ich nach mittelalterlichem Brauch etwa sein Leibeigener. Was sollte ich tun?

»Gehen Sie in den Garten!« sagte sie und drückte mir die Hand.

Ich verließ das Zimmer, ohne daß der Comte mich bemerkte. Von der Terrasse aus, wohin ich langsamen Schrittes gegangen war, hörte ich seine laute Stimme und sein Ächzen, das aus der Stube neben dem Eßzimmer drang. Durch den Sturm hindurch vernahm ich auch die Stimme des Engels, die von Zeit zu Zeit ertönte wie Nachtigallengesang nach Regenschauern. Ich ging unter den Akazien auf und ab, in einer wundervollen Spätaugustnacht, und wartete auf die Comtesse. Sie würde kommen, irgendeine ihrer Bewegungen hatte es mir versprochen.

Seit einigen Tagen lag eine Aussprache zwischen uns in der Luft. Sie wurde unvermeidlich beim ersten Wort, das den übervollen Born unserer Herzen erschließen mußte. Welche Scheu verzögerte die Stunde unserer völligen Vertrautheit? Vielleicht liebte sie wie ich das Erbeben, das einem Angstschauer gleicht, das die Empfindsamkeit zermartert in den Augenblicken, wo man sein überströmendes Gefühl zurückhält, wo man zögert, sein Innerstes zu offenbaren, dem Schamgefühl gehorchend, das die Jungfrau beseelt, ehe sie sich vor dem geliebten Gatten enthüllt. Unsere Gedanken, die sich stets mit dieser unvermeidlichen ersten Aussprache beschäftigten, ließen uns ihre Tragweite noch größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Eine Stunde verstrich. Ich saß auf der Backsteinbalustrade – da belebten der Hall ihrer Schritte und das leise Rascheln ihres fließenden Gewandes die Stille der Nacht . . . Das sind Empfindungen, denen das Herz nicht gewachsen ist.

»Monsieur de Mortsauf ist eingeschlafen«, sagte sie. »Wenn er so ist, gebe ich ihm eine Tasse Mohntee; denn die Anfälle kehren so selten wieder, daß dies überaus einfache Mittel immer seine Wirkung tut.« Und mit veränderter Stimme und ihrem überzeugendsten Tonfall fuhr sie fort: »Monsieur de Vandenesse, ein unglücklicher Zufall hat Ihnen Geheimnisse ausgeliefert, die bisher sorgsam verborgen waren. Versprechen Sie mir, die Erinnerung an diesen Vorfall in Ihrem Herzen zu begraben! Tun Sie es um meinetwillen, ich bitte Sie darum! Ich fordere kein Gelübde von Ihnen, mit dem Jawort eines Ehrenmannes will ich mich zufriedengeben.« – »Brauche ich denn dieses Ja auszusprechen? Haben wir uns nicht schon verstanden?« versetzte ich. »Urteilen Sie nicht zu hart über Monsieur de Mortsauf. Sie sehen hier die Folgen der langen Mühsale, die er in der Fremde erlitten hat«, fuhr sie fort. »Morgen wird er das, was er heute gesagt hat, vollständig vergessen haben, und Sie werden ihn als einen liebenswürdigen, freundlichen Menschen wiedersehen.« – »Hören Sie auf, Madame, den Comte zu rechtfertigen!« antwortete ich. »Ich werde alles tun, was Sie wollen, ich würde mich im Augenblick in die Indre stürzen, wenn ich dadurch Monsieur de Mortsauf die Gesundheit und Ihnen ein glückliches Leben zurückgewinnen könnte. Das einzige, was ich nicht ändern kann, ist meine Meinung. Nichts an mir ist dauerhafter. Ich würde Ihnen mein Leben opfern, mein Gewissen kann ich nicht aufgeben; ich brauche seiner Stimme nicht zu lauschen, aber kann ich es hindern zu sprechen? Nun aber ist meiner Ansicht nach Monsieur de Mortsauf . . .« – »Ich verstehe Sie«, unterbrach sie mich mit ungewohnter Schroffheit, »Sie haben recht. Der Comte ist nervös wie eine zimperliche Frau«, fuhr sie fort, und mit dem Wort milderte sie zugleich den Charakter seiner Krankheit, »aber es ist nur zeitweise so, höchstens alle Jahre ein Mal, während der größten Hitze. Wie viele Leiden hat nicht die Emigration verschuldet! Wieviel schönes Leben hat sie nicht vernichtet! Er wäre, ich bin dessen gewiß, ein großer Kriegsheld und der Ruhm seines Vaterlandes geworden!« – »Ich weiß es«, unterbrach ich sie nun meinerseits und gab ihr so zu verstehen, daß es zwecklos sei, mich täuschen zu wollen.

Sie machte eine Pause, legte ihre Hand auf die Stirn und sagte dann: »Wer hat Sie so in unser Leben treten heißen? Will mir Gott etwa Hilfe schicken? Eine starke Freundschaft, die mich stütze?« Und ihre Hand fest auf die meine legend, fuhr sie fort: »Denn Sie sind gut, edel . . .«

Sie hob den Blick gen Himmel, als wollte sie ein sichtbares Zeichen erflehen, das ihre Hoffnungen bestätigte. Dann sah sie mich wieder an. Erschüttert von ihrem Blick, der eine fremde Seele der meinen vermählte, ließ ich mich hinreißen, eine Taktlosigkeit – oder doch einen Verstoß gegen landläufige Anstandsregeln – zu begehen. Aber bedeutet das nicht bei manchen soviel als den heldenhaften Drang, der Gefahr entgegenzustürmen, den Wunsch, einen Zusammenprall abzuwenden, die Furcht vor einem Unglück, das nicht eintrifft, und häufiger noch die jähe Frage eines Herzens an ein anderes Herz, ein Schrei, der Antwort verlangt? Mancherlei Gedanken stiegen in mir auf, leuchtend, und raunten mir zu, den Fleck zu tilgen, der meine Reinheit beschmutzte, jetzt, wo ich dem Tiefsten dieser Frau am nächsten sei.

»Bevor ich weiterspreche«, sagte ich mit verschleierter Stimme, deren Beben in der tiefsten Stille hörbar war, »erlauben Sie mir, etwas gutzumachen.« – »Schweigen Sie«, sagte sie erregt und legte mir den Finger auf die Lippen. Sie zog ihn gleich wieder weg. ,

Sie sah mich stolz an, wie eine Frau, die zu hoch steht, als daß eine Beleidigung an sie heranreichen könnte, und mit zitternder Stimme sagte sie: »Ich weiß, wovon Sie sprechen wollen. Es ist der erste, der letzte – der einzige Schimpf, den man mir angetan hat. Sprechen Sie nie von diesem Ball! Die Christin hat Ihnen verziehen, die Frau leidet noch darunter.« – »Seien Sie nicht unbarmherziger als Gott selbst«, sagte ich, die Tränen zurückhaltend, die mir an den Wimpern hingen. »Ich muß strenger sein, denn ich bin schwächer«, antwortete sie. »Aber«, entgegnete ich in einer Aufwallung kindlichen Trotzes, »hören Sie mich an, und wäre es das erste, das letzte und einzige Mal in Ihrem Leben!« – »Gut denn«, sagte sie, »so sprechen Sie, sonst könnten Sie glauben, daß ich mich fürchte, Sie anzuhören.«

Da ich fühlte, daß dieser Augenblick nie wiederkehren würde, sagte ich ihr in einem Ton, der Aufmerksamkeit erzwang, daß mich alle Frauen auf dem Ball und alle, die ich vorher je gesehen, durchaus kalt gelassen hätten; aber als ich sie erblickt, da sei ich, der Lerneifrige, der Schüchterne, von einem Strudel fortgerissen worden, den nur die verdammen könnten, die ihn nie gekannt hätten; daß nie das Herz eines Mannes so erfüllt gewesen sei von der Lust, der nichts widersteht, die alles überwindet, selbst den Tod . . .

»Und die Verachtung?« unterbrach sie mich. »Haben Sie mich denn verachtet?« fragte ich. »Sprechen wir nicht mehr davon!« sagte sie. »Im Gegenteil! Sprechen wir davon!« antwortete ich in meiner Erregung, die übermenschlichem Schmerz entsprang. »Es handelt sich um mein ganzes Sein, um mein innerstes Leben, um ein Geheimnis, das Sie wissen müssen, wenn ich nicht vor Verzweiflung sterben soll. Und handelt es sich nicht auch um Sie, die, ohne es zu wissen, die Frau sein sollte, in deren Händen die dem Sieger im Turnier versprochene Krone leuchtet?«

Ich erzählte ihr meine Kindheit, meine Jugend, nicht wie ich sie Ihnen, aus der Entfernung urteilend, erzählt habe, sondern mit den glühenden Worten des Jünglings, dessen Wunden noch bluteten. Meine Stimme dröhnte wie die Axt des Holzhauers im Walde. Vor ihr fielen krachend die toten Jahre zusammen, die langen Leiden, die an ihnen wie blattlose Äste starrten. Ich malte ihr mit fiebernder Stimme tausend schreckliche Einzelheiten, die ich Ihnen erspart habe. Ich breitete vor ihr den Schatz meiner schillernden Wünsche aus, das lautere Gold meiner Begierden, ein Herz, das glühend blieb unter den Eisbergen, die ein ewiger Winter aufgetürmt hatte. Als ich gebeugt unter der Last meiner Leiden, die ich mit des Jesaias Flammenworten geschildert hatte, auf ein Wort von der Frau wartete, die mir mit gesenktem Haupte zuhörte, da strahlte plötzlich ihr Blick in meine Finsternis hinein, da beseelte sie mir Himmel und Erde mit einem einzigen Wort: »Wir haben die gleiche Kindheit verlebt«, und um ihr Haupt leuchtete die Strahlenkrone der Märtyrer.

Unsere Seelen vermählten sich in den tröstlichen Gedanken: ›So war ich denn nicht der einzige, der litt!‹ Nach einer Pause sagte mir die Comtesse mit der Stimme, die sonst nur ihren Kindern gehörte, daß sie das Unglück gehabt hätte, als Mädchen zur Welt zu kommen, nachdem die Söhne gestorben waren; sie erklärte mir den Unterschied zwischen den Leiden eines Mädchens, das an den Röcken seiner Mutter hängt, und denen des Knaben, der in das Internatleben hineingestoßen wird. Meine Einsamkeit erschien mir wie ein Paradies, verglichen mit den Mühlsteinen, zwischen denen ihre Seele zerrieben wurde, bis zu dem Tage, wo ihre wirkliche Mutter, ihre gütige Tante, sie gerettet und den Martern entrissen hatte, deren nie versiegende Qualen sie mir schilderte. Es waren die tausend unnennbaren kleinen Reibereien, unerträglich für zartbesaitete Naturen, die vor einem Dolchstich nicht zurückschrecken, aber unter dem Schwert des Damokles zugrunde gehen: bald waren es Aufwallungen kindlichen Edelmuts, die ein eisiger Befehl zurückdämmte, bald ein Kuß, der nur lau erwidert wurde, bald ein Schweigen, das erst befohlen, dann getadelt wurde, hinuntergewürgte Tränen, die ihr auf dem Herzen lasteten, endlich die Nörgeleien des Klosters, die sich für Außenstehende hinter dem Schein glorreichster mütterlicher Liebe verbergen. Ihre Mutter prahlte mit ihr und rühmte sie, aber am nächsten Tage mußte sie diese Schmeicheleien, die ihre gute Erziehung rühmen sollten, teuer bezahlen. Wenn sie glaubte, durch Gehorsam und Sanftmut das Herz ihrer Mutter bezwungen zu haben, und sich ihr anvertraute, erschien wieder der Tyrann in der Mutter und bediente sich ihres Vertrauens als einer Waffe. Ein Spion wäre nicht so feig, nicht so verräterisch gewesen. Alle ihre Mädchenfreuden, alle Feste wurden ihr vergällt, denn man warf ihr vor, fröhlich zu sein, als ob sie es eines geheimen Vergehens wegen wäre. Nie wurden ihr die Lehren ihrer vornehmen Erziehung mit Liebe gegeben, sondern stets mit beißender Ironie. Sie war ihrer Mutter deshalb nicht gram; aber sie warf sich vor, für sie weniger Liebe als Furcht zu empfinden. ›Vielleicht‹, dachte dieser Engel, ›ist solche Strenge notwendig.‹ War das nicht eine gute Vorschule zu ihrem jetzigen Leben gewesen? . . . Wie ich ihr so zuhörte, schien es mir, als würde die Harfe Hiobs, der ich nur wilde Akkorde entlockt, von einer christlichen Hand berührt und sänge die Litaneien der Heiligen Jungfrau am Fuße des Kreuzes.

»Wir lebten in derselben Sphäre, ehe wir uns hier wiederfanden, Sie kamen von Sonnenaufgang, ich vom Niedergang.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf »Ihnen gehört der Aufgang, mir der Niedergang«, sagte sie. »Sie werden glücklich leben, ich werde vor Schmerzen sterben. Männer schaffen sich selbst die Ereignisse ihres Lebens. Das meine ist auf alle Zeiten festgelegt, keine Macht kann die schwere Kette brechen, an die die Frau durch einen Goldreif geschmiedet ist, das Sinnbild der Gattinnenreinheit.«

Da wir uns als Zwillinge fühlten, wollte sie nicht, daß zwischen Geschwistern, die aus denselben Lebensquellen geschöpft haben, nur halbes Vertrauen herrsche. Sie seufzte, wie ein reines Herz seufzt, bevor es sich einem andern erschließt, und dann erzählte sie mir von den ersten Tagen ihrer Ehe, von ihren ersten Enttäuschungen, von der Wiederkehr ihres Unglücks. Sie hatte wie ich die kleinen Zwischenfälle des Lebens gekannt, die so groß sind für Seelen, deren spiegelklare Wasser bei der geringsten Erschütterung bis auf den Grund getrübt werden: Zwischenfälle, die wirken wie der Stein, den man in einen See wirft und der gleichzeitig seine Oberfläche und seine Tiefen verwirrt. Als sie sich verheiratete, besaß sie kleine Ersparnisse, das bißchen Gold, das fröhliche Stunden bedeutet und die tausend Wünsche der Jugend. Am Tage der Not hatte sie es großmütig hingegeben, ohne zu sagen, daß es Erinnerungen und nicht Goldstücke waren. Ihr Mann sah darin nichts Besonderes: er fühlte sich nie als ihr Schuldner. Als Entgelt für diesen Schatz, der von den schlafenden Wassern des Vergessens verschlungen wurde, ward ihr nicht einmal der feuchte Blick geschenkt, mit dem alles belohnt ist und der für hochherzige Menschen wie ein Edelstein ist, dessen Feuer in dunkeln Tagen leuchtet. Sie wanderte von Schmerz zu Schmerz. Monsieur de Mortsauf vergaß, ihr das nötige Haushaltsgeld zu geben, er schien aus einem Traum zu erwachen, wenn sie schließlich ihre Scheu überwand und ihn darum bat. Und nie hatte er ihr eine einzige dieser grausamen Demütigungen erspart! Wie erschrak sie, als ihr die krankhafte Natur dieses verbrauchten Mannes offenbar wurde. Der erste Ausbruch seiner wahnsinnigen Wut hatte sie zerschmettert. Wie viele herbe Überlegung hatte es sie gekostet, um dahin zu gelangen, ihren Mann als eine Null zu betrachten, die gebieterische Erscheinung zu übersehen, die das Leben einer Frau beherrscht. Welch namenloses Elend hatten ihre beiden Entbindungen nach sich gezogen! Welche Zerknirschung beim Anblick der beiden sozusagen totgeborenen Kinder! Welch ein Mut gehörte dazu, sich zu sagen: ›Ich werde ihnen Leben einhauchen, ich werde sie jeden Tag von neuem gebären!‹ Und dann, welche Verzweiflung, als sie einen Widerstand fühlte in dem Herzen und in der Hand, woraus die Frau ihre Kraft zieht! Sie hatte nach jeder überwundenen Schwierigkeit das gewaltige Unglück seine dornigen Wüsten vor ihr ausbreiten sehen. Sie erklomm einen Felsen und sah nur neue Einöden, vor sich liegen, die durchpilgert werden mußten, bis sie ihren Mann, den Organismus ihrer Kinder und das Land, worin sie leben sollte, gründlich kennen würde; bis sie wie die Kinder, die Napoleon der Pflege ihrer Mutter und ihrem Herd entriß, ihre Füße gelehrt hätte, durch Schmutz und Schnee zu schreiten; bis ihre Stirn an das Sausen der Kugeln und ihr ganzes Wesen an den blinden Gehorsam des Soldaten gewöhnt wäre. All diese Dinge, die ich hier kurz zusammenfasse, erzählte sie mir damals in ihrer düsteren Breite. Sie sprach von der langen Reihe trostloser Ereignisse, von den vergeblichen Anstrengungen in ihrer Ehe, von fruchtlosen Bemühungen.

»Kurz«, sagte sie zum Schluß, »man müßte viele Monate in Clochegourde wohnen, um zu wissen, wieviel Mühe mich jede Verbesserung hier gekostet hat, wieviel ermüdender, schmeichlerischer Überlistung es bedurfte, bis er das Allernötigste tat! Welch kindliche Schadenfreude ergreift ihn, wenn etwas, wozu ich geraten, nicht gleich glücklich ausfällt! Mit welcher Freude schreibt er sich alles Gute zu. Wieviel Geduld gehört dazu, immer seine Klagen zu hören, während ich mich umbringe, um das Unkraut aus seinen Tagen zu jäten, um die Luft, die er atmet, mit Balsam zu füllen, um die Wege, die er mit Steinen besät, mit Sand zu decken und mit Blumen zu schmücken! Mein Lohn ist der schreckliche Kehrreim: ›Ich werde sterben, das Leben lastet auf mir!‹ Wenn er das Glück hat, Menschen um sich zu sehen, so gleicht sich alles aus. Er ist liebenswürdig und höflich; aber warum ist er's nicht zu seiner Familie? Ich weiß nicht, wie ich mir diesen Mangel an Anstand bei einem Mann erklären soll, der oft tatsächlich ritterlich ist. Er ist imstande, heimlich nach Paris zu galoppieren, um mir ein Geschmeide zu holen, wie er es neulich zum Ball in der Stadt getan hat. So geizig er für das Haus ist, so verschwenderisch wäre er für mich, ich brauchte nur zu wollen. Es sollte umgekehrt sein. Ich brauche nichts, aber der Haushalt ist teuer. In dem Wunsche, sein Leben glücklich zu gestalten, und ohne zu bedenken, daß ich einmal Mutter würde, habe ich ihn vielleicht daran gewöhnt, mich als sein Opfer zu behandeln; mich, die ihn mit einiger List führen würde wie ein Kind, wenn ich mich so weit erniedrigen könnte, eine Rolle zu spielen, die mir unwürdig scheint. Aber im Interesse des Hauses muß ich mich zwingen, ruhig und streng wie eine Statue der Gerechtigkeit zu sein, und doch habe auch ich eine liebebedürftige und zärtliche Seele.« – »Und warum«, sagte ich, »machen Sie nicht Ihren Einfluß geltend, um seine Herrin zu sein und ihn zu leiten?« – »Wenn es sich nur um mich handelte, so könnte ich weder sein hartnäckiges Schweigen bezwingen, das er stundenlang triftigen Gründen entgegensetzt, noch auf seine unlogischen, oft geradezu kindischen Ausführungen antworten. Ich habe Schwachen und Kindern gegenüber keinerlei Mut. Sie können mir weh tun, ohne daß ich ihnen Widerstand leiste. Vielleicht würde ich Kraft gegen Kraft ausspielen; aber denen gegenüber, die ich beklage, bin ich kraftlos. Wenn ich Madeleine zu etwas zwingen müßte, um sie zu retten, würde ich mit ihr sterben. Das Mitleid macht meine Muskeln schlaff und spannt meine Nerven ab. Auch haben mich die heftigen Erschütterungen der letzten zehn Jahre gebeugt. Mein Gefühlsleben, das so viele harte Stöße erfahren hat, ist jetzt oft kraftlos, feige, und nichts hilft ihm auf. Die Energie, mit der ich Stürmen trotzte, fehlt mir jetzt manchmal, ja bisweilen unterliege ich sogar. Aus Mangel an Ruhe und Seebädern, wo ich meine Kraft stählen könnte, werde ich umkommen. Monsieur de Mortsauf wird mich töten und an meinem Tode selbst zugrunde gehen.« – »Warum gehen Sie nicht auf einige Monate aus Clochegourde? Könnten Sie nicht mit Ihren Kindern ans Meer gehen?« – »Zunächst hielte sich Monsieur de Mortsauf für verraten und verkauft, sobald ich wegginge. Obwohl er an seine traurige Lage nicht glauben will, ist er sich ihrer sehr bewußt. In ihm streiten der Mensch und der Kranke miteinander, zwei verschiedene Naturen, deren Widersprüche manche Wunderlichkeiten erklären. Zudem hätte er recht, zu zittern. Alles würde hier schiefgehen. Sie sehen vielleicht in mir die Mutter, die ihre Kinder vor dem Habicht schützt, der über ihnen kreist. Es ist eine drückende Pflicht, die noch schwerer gemacht wird durch die Pflege, die Monsieur de Mortsauf erfordert. Immer läuft er durchs Haus und fragt: ›Wo ist Madame?‹ Das wäre noch nichts. Aber ich bin auch der Hauslehrer Jacques' und die Erzieherin Madeleines. Auch das wäre noch nicht viel. Aber ich bin Verwalter und Aufseher. Sie werden einmal einsehen, was das bedeuten will, wenn Sie erst wissen, wie ungemein schwierig die Bewirtschaftung eines Gutes ist. Wir haben wenig Bareinkünfte, unsere Felder sind nur zur Hälfte bebaut, eine Wirtschaftsform, die einen immer in Atem hält. Man muß sein Getreide, sein Vieh und alle seine andern Erträge selbst verkaufen. Unsere eigenen Pächter sind unsere Konkurrenten; sie verständigen sich im Wirtshaus mit den Käufern, bestimmen die Preise, je nachdem sie selbst verkauft haben. Ich würde Sie langweilen, wollte ich Ihnen die tausend Schwierigkeiten unseres Betriebes auseinandersetzen. Wie sehr ich mich auch opfern mag, ich kann nicht hindern, daß unsere Bauern ihr eigenes Land mit unserm Dünger düngen. Ich kann nicht nachsehen, ob unsere Pächter bei der Teilung der Ernte nicht gemeinsame Sache mit ihnen machen; auch kann ich nicht wissen, wann der geeignete Augenblick zum Verkauf gekommen ist. Wenn Sie nun an die Gedächtnisschwäche Monsieur de Mortsaufs denken, an die Mühe, die es mich kostet, ihn bei seinen Geschäften festzuhalten, dann werden Sie verstehen, wie schwer mein Joch ist, wie unmöglich es mir ist, es auch nur für einen Monat abzuschütteln. Meine Abwesenheit müßte uns ins Verderben stürzen. Niemand würde auf ihn hören; meist widersprechen sich seine Befehle. Übrigens liebt ihn niemand, er schilt zuviel und kehrt den unumschränkten Herrn heraus. Und außerdem hört er zu leicht auf seine Untergebenen, wie alle schweren Naturen, so daß er unter seinesgleichen kaum Freundschaft erwirbt, wie sie sonst Familien zusammenschließt. Wenn ich wegginge, würde kein Dienstbote auch nur acht Tage hierbleiben. Sie sehen also, daß ich so fest mit Clochegourde verwachsen bin wie die Bleiakroterien mit unsern Dächern . . . Ich habe jetzt rückhaltlos zu Ihnen gesprochen, Monsieur de Vandenesse. Niemand in der Umgebung weiß etwas von den Geheimnissen Clochegourdes, Ihnen sind sie bekannt. Sagen Sie nur Gutes und Vorteilhaftes von uns, so können Sie meiner Achtung und meiner Dankbarkeit versichert sein!« fügte sie mit sanfterer Stimme hinzu. »Und Sie können immer wieder nach Clochegourde kommen, Sie werden da Freunde finden.« – »Aber«, sagte ich – »ich habe nie gelitten, Sie allein . . .« – »Nein?« erwiderte sie, und das Lächeln einer in Trauer ergebenen Frau huschte über ihre Züge, jenes Lächeln, das Steine erweichen könnte. »Wundern Sie sich nicht über meine Rede, sie zeigt Ihnen das Leben, wie es ist, und nicht, wie es Ihre Phantasie erhofft hatte. Wir haben alle unsere Fehler und unsere Tugenden. Hätte ich einen Verschwender geheiratet, so hätte er mein Vermögen durchgebracht. Hätte man mich einem jungen, leidenschaftlichen Lebemann gegeben, so hätte er nach mir andere Eroberungen gemacht; vielleicht hätte ich ihn nicht dauernd fesseln können, er wäre mir untreu geworden, und ich wäre vor Eifersucht gestorben. Denn ich bin eifersüchtig«, sagte sie mit erregt eindringlicher Stimme, die dem Donnerrollen eines vorüberziehenden Gewitters glich. »Monsieur de Mortsauf liebt mich, so sehr er nur lieben kann. Alles, was sein Herz an Zärtlichkeiten faßt, das gießt er zu meinen Füßen aus, wie Magdalena ihre Narden zu Füßen des Heilands. Glauben Sie mir, ein Leben in Liebe ist eine seltene Ausnahme. Jede Blume verblüht. Die großen Freuden haben ein graues Morgen, wenn sie überhaupt ein Morgen haben. Das wirkliche Leben ist voller Qualen; sein Bild ist diese Nessel unten an der Terrasse, die auch ohne Sonne grün bleibt. Hier wie in den nördlichen Gegenden gibt es einen lächelnden Himmel, selten zwar, aber er wiegt viel Trübes auf. Sind nicht die Frauen, die ausschließlich Mütter sind, mehr durch Opfer als durch Freuden gebunden? Hier ziehe ich alle Blitze an, die auf mein Gesinde oder meine Kinder zu fallen drohen, und während ich sie von ihnen abwende, habe ich ein unbeschreibliches Gefühl, das mir geheime Kraft verleiht. Die Ergebung von gestern hat immer der von morgen vorgearbeitet. Gott läßt mich auch nicht ganz hoffnungslos. Zuerst war der Gesundheitszustand meiner Kinder zum Verzweifeln, jetzt werden sie mit jedem Tag kräftiger. Schließlich hat sich auch unsere Wohnung verschönert, unsere Vermögensverhältnisse bessern sich. Wer weiß, ob ich nicht Monsieur de Mortsauf ein glückliches Alter bereiten werde. Glauben Sie mir, der Mensch, der mit einer grünen Palme in der Hand vor den großen Richter hintritt und ihm die getröstet zuführt, die das Leben verfluchen, dieser Mensch hat seine Leiden in Wonnen verwandelt. Wenn meine Schmerzen dem Glück meiner Familie dienen, sind es dann überhaupt noch Schmerzen?« – »Ja«, sagte ich, »aber sie waren notwendig, wie die meinen nötig sind, um mich die Frucht genießen zu lehren, die in unsern Felsen gereift ist; jetzt werden wir sie vielleicht zusammen genießen, ihre Wunder bestaunen, die Ströme von Liebe, die sie in die Seelen gießt, und jenen Saft, der verdorrende Blätter neu belebt. Dann lastet das Leben nicht mehr auf uns, es gehört uns nicht mehr. – Ach Gott, hören Sie mich nicht?« fuhr ich fort in der geheimnisvollen Sprache, mit der unsere religiöse Erziehung, uns vertraut gemacht hatte. »Sehen Sie doch, auf welchen Wegen wir einer zum andern geführt worden sind, welcher Magnet uns über den Ozean bitterer Gewässer zu einer Quelle süßen Wassers hingezogen hat, die am Fuß der Berge, über goldenem Sand, zwischen grünen, blühenden Ufern rieselt. Sind wir nicht, wie die Weisen, demselben Stern gefolgt? Hier stehen wir nun vor der Krippe, worin das himmlische Kind erwacht, das seine Lichtpfeile gegen die kahlen Bäume schleudern wird, das die Welt mit seinen fröhlichen Rufen erfüllen wird, das durch unversiegbare Freuden dem Leben Reiz, unsern Nächten Schlaf, unsern Tagen Seligkeit verleiht. Wer hat denn jedes Jahr neue Bande zwischen uns geknüpft? Sind wir einander nicht mehr denn Bruder und Schwester? Scheiden Sie nicht, was Gott zusammengefügt hat? Die Leiden, wovon Sie sprechen, sind der Samen, den der Säemann mit vollen Händen ausgestreut hat, damit die Saat keime, die schon der hellste Sonnenschein golden reift. – Oh, nicht wahr, wir wollen zusammen Halm um Halm pflücken? Welche Kraft ist in mir, daß ich so zu Ihnen zu sprechen wage? So antworten Sie mir doch! Eher werde ich die Indre nicht überschreiten!« – »Sie haben mich mit dem Wort ›Liebe‹ verschont«, unterbrach sie mich mit strenger Stimme, »aber Sie haben von einem Gefühl gesprochen, von dem ich nichts weiß und nichts wissen darf. Sie sind ein Kind. Ich will Ihnen noch einmal verzeihen, aber es ist das letzte Mal. Sie müssen wissen, daß mein Herz von Muttergefühlen wie berauscht ist. Ich liebe Monsieur de Mortsauf, nicht weil es meine gesellschaftliche Pflicht ist, noch aus Berechnung um der ewigen Seligkeit willen, sondern aus einem unwiderstehlichen Gefühl, das alle Fasern meines Herzens mit ihm verknüpft. War es denn Vergewaltigung, als ich ihn heiratete? Nein, ich heiratete ihn, weil ich mit Unglücklichen Mitleid habe. War es nicht die Pflicht der Frauen, die Leiden einer kritischen Zeit zu mildern, die zu trösten, die in die Bresche getreten und verwundet zurückgekehrt waren? Wie soll ich es Ihnen nur erklären? Ich habe ein gewisses egoistisches Gefühl der Befriedigung gehabt, als ich sah, daß Sie ihn zerstreuten. Ist das nicht ein ganz mütterliches Gefühl? Hat Sie mein Bekenntnis nicht belehrt, daß ich drei Kinder habe, denen ich mich nicht entziehen darf, für die ich wie lindernder Tau bin und denen ich Licht spenden muß, denen ich nichts von mir und meinen Gefühlen entziehen darf? Machen Sie die Milch einer Mutter nicht gerinnen! Die Gattin in mir ist unantastbar, aber sprechen Sie nicht mehr in dieser Weise mit mir! Sollten Sie dies so einfache Verbot nicht einhalten, so müßte ich Ihnen dieses Haus für immer verschließen. Ich glaubte an reine Freundschaften, an Wahlverwandtschaften, die lebensfähiger wären als die von der Natur uns auferlegten. Ich habe mich geirrt. Ich wünschte mir einen Freund, der kein Richter wäre, einen Freund, der mir in jenen Stunden zuhörte, da eine grollende Stimme tödlich ist, einen heiligen Freund, bei dem ich nichts zu fürchten hätte. Die Jugend ist edel, aufrichtig, opferfähig, selbstlos. Als ich Ihre Beharrlichkeit sah, glaubte ich an eine Fügung des Himmels. Ich hoffte eine Seele gefunden zu haben, die mir allein das wäre, was der Priester allen ist, ein Herz, in das ich den Überschwall meiner Leiden ergießen, in das ich meinen Schmerz hineinschreien könnte, sooft meine Qual unbezwinglich wäre und mich ersticken würde, wollte ich sie noch länger hinunterwürgen. So hätte mein Leben, das für diese Kinder so wertvoll ist, sich weiterfristen können bis zu dem Tage, wo Jacques erwachsen wäre. Aber dieser Wunsch ist reine Selbstsucht, die Laura Petrarcas läßt sich nicht noch einmal verwirklichen. Ich habe mich getäuscht. Gott will es nicht! Ich werde auf meinem Posten sterben müssen wie ein Soldat, ohne daß mir ein Freund hilft. Mein Beichtvater ist schroff, unerbittlich, und meine Tante lebt nicht mehr.«

Ich sah in einem Mondstrahl zwei schwere Tränen aus ihren Augen dringen und die Wangen hinabrollen. Aber ich streckte meine Hand schnell genug aus, um die Tränen aufzufangen, und trank sie mit der frommen Gier, die ihre Worte geschürt hatten, Worte, die zehn Jahre heimlichen Weinens, überreicher Empfindung, ständiger Sorge, ewiger Aufregung, die der höchste Heldenmut ihres Geschlechts bereits gezeichnet hatte. Sie sah mich mit einem Blick voll süßer Ergebenheit an.

»Dies ist«, sagte ich ihr, »die erste, die heilige Kommunion der Liebe. Ja, ich habe Ihre Schmerzen miterlebt, bin mit Ihrer Seele eins geworden, wie wir mit Christus eins werden, wenn wir seinen heiligen Leib genießen. Ohne Hoffnung zu lieben ist doch noch ein Glück. Ach, welche Frau auf Erden könnte mir eine Wonne bereiten wie die, daß ich ihre Tränen schlürfte! Ich füge mich diesem Verbot, das für mich nichts als Tränen enthält, ich gebe mich Ihnen rückhaltlos hin und werde so sein, wie Sie mich wünschen.«

Sie unterbrach mich und sagte mit ihrer tiefen Stimme: »Ich gehe auf den Vertrag ein, wenn Sie nie versuchen wollen, die Bande, die uns verknüpfen, enger zu schließen.« – »Ja«, sagte ich, »aber je weniger Sie mir gewähren, desto sicherer muß ich das wenige besitzen.« – »Sie fangen mit Mißtrauen an«, antwortete sie mit dem Ausdruck schwermütigen Zweifels. »Nein, vielmehr mit einem reinen Genuß. Hören Sie! Ich möchte Sie bei einem Namen nennen, der nur für uns beide gilt, so wie das Gefühl, das wir einander versprechen wollen.« – »Sie fordern viel«, sagte sie, »aber ich bin weniger kleinlich, als Sie glauben. Monsieur de Mortsauf nennt mich Blanche. Ein einziger Mensch auf der Welt, der, den ich am meisten geliebt habe, meine unvergeßliche Tante, nannte mich Henriette. Für Sie werde ich wieder Henriette sein.«

Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Sie überließ sie mir, erfüllt von dem Vertrauen, das der Frau soviel Überlegenheit gibt und das uns niederdrückt. Sie lehnte sich gegen die Balustrade und sah hinab auf die Indre.

»Tun Sie nicht unrecht, mein Freund«, sagte sie, »wenn Sie mit dem ersten Schritt gleich den ganzen Weg durchmessen wollen? Sie haben beim ersten Zug die Schale geleert, die Ihnen arglos geboten wurde. Aber ein wahres Gefühl ist unteilbar, es muß ganz sein, oder es besteht nicht. Monsieur de Mortsauf«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, »ist vor allem ritterlich und stolz. Vielleicht versuchen Sie, seine Worte um meinetwillen zu vergessen; aber wenn er sich nicht erinnert, dann werde ich ihn schon morgen daran erinnern. Bleiben Sie einige Tage weg, er wird Sie dafür um so mehr schätzen! Nächsten Sonntag, nach der Kirche, wird er von selbst auf Sie zukommen. Ich kenne ihn, er wird sein Unrecht wieder gutmachen und Ihnen danken, daß Sie ihn wie einen für seine Taten und Worte verantwortlichen Menschen behandeln.« – »Fünf Tage, ohne Sie zu sehen, ohne Sie zu hören!« – »Legen Sie nie solche Wärme in die Worte, die Sie an mich richten«, sagte sie.

Schweigend schritten wir zweimal die Terrasse auf und ab; dann sagte sie mir mit gebieterischem Tone, der bewies, daß sie von meiner Seele Besitz ergriff: »Es ist spät. Wir müssen uns trennen.« Ich wollte ihr die Hand küssen, sie zögerte, reichte sie mir und sagte mit bittender Stimme: »Nehmen Sie sie nur, wenn ich sie Ihnen gebe: lassen Sie mir mein Selbstbestimmungsrecht; sonst wäre ich Ihr Eigentum, und das darf nicht sein!« – »Leben Sie wohl!« sagte ich.

Ich ging durch eine kleine Seitentür, die sie mir öffnete. Als ich sie gerade schließen wollte, öffnete sie sie wieder und reichte mir ihre Hand mit den Worten: »Sie sind heute abend wirklich sehr lieb gewesen; Sie haben mich getröstet und mir für die Zukunft Mut gemacht. Hier, mein Freund, hier.«

Ich küßte ihre Hand zu wiederholten Malen, und als ich aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. Sie ging wieder die Terrasse hinauf und sah mir nach, während ich die Wiese durchschritt. Noch auf dem Wege nach Frapesle sah ich ihr weißes Kleid im Mondlicht, dann, einige Augenblicke später, war ihr Zimmer erleuchtet.

›O meine Henriette‹, sagte ich zu mir, ›dir sei die reinste Liebe geweiht, die je auf Erden gestrahlt hat!‹

Ich gelangte endlich nach Frapesle. Auf dem Wege hatte ich mich bei jedem Schritte umgedreht. Nun fühlte ich eine unaussprechliche Seligkeit in mir. Eine glänzende Laufbahn eröffnete sich dem Aufopferungsdrang, der jedes junge Herz erfüllt und der bei mir so lange eine brachliegende Kraft gewesen war. Dem Priester gleich, der mit einem Schritt in ein neues Leben eintritt, war ich geweiht und durch ein Gelübde verbunden. Ein einfaches ›Ja, Madame‹ hatte mich verpflichtet, eine unwiderstehliche Liebe in meinem Herzen zu verschließen und niemals die Rechte der Freundschaft dazu zu mißbrauchen, um diese Frau allmählich, schrittweise zur Liebe hinüberzuleiten. Alle edeln Gefühle waren erwacht und tönten in sanft verschwommener Musik. Ehe ich in die Enge meines Zimmers zurückkehrte, wollte ich wollüstig den Anblick des sternübersäten Himmels genießen, in mir den Sang der verwundeten Taube hören, den schlichten Klang ihres unschuldigen Geständnisses, wollte mit der Luft die Ausstrahlungen ihrer Seele einsaugen, die alle mir gehören sollten. Wie groß mir diese Frau in ihrer völligen Aufopferung erschien, mit ihrer Religion des Mitleids für Verwundete, Schwache und Kranke, und ihrer Ergebenheit, die nicht die Fesseln des Gesetzes brauchte. So stand sie, verklärt, auf dem Scheiterhaufen der Heiligen und der Märtyrer. Ich bewunderte ihr Antlitz, das mich aus Dunkelheiten anstrahlte; da vermeinte ich plötzlich in ihren Worten einen neuen Sinn zu entdecken, eine geheimnisvolle Bedeutung, die sie mir völlig überirdisch erscheinen ließ. Vielleicht wünschte sie, daß ich für sie sei, was sie für ihre kleine Welt war; vielleicht wollte sie aus mir Kraft und Trost schöpfen und hob mich so in ihre Sphäre zu sich hinauf und höher noch. Die Sterne, sagen gewisse kühne Welterklärer, teilen sich so Bewegung und Licht mit. Dieser Gedanke hob mich in himmlische Höhen. Ich fand mich wieder im Himmel meiner früheren Träume und maß die Leiden meiner Jugend an dem unendlichen Glück, worin ich trieb.

Genien, die ihr von Schmerzen erdrückt wurdet, verkannte Herzen, ihr heiligen, namenlosen Clarissa Harlowes, ihr verstoßenen Kinder, unschuldig Geächtete, ihr alle, die ihr von der Wüstenseite ins Leben gelangt seid, die ihr überall kalten Blicken, verschlossenen Herzen, tauben Ohren begegnet seid – beklagt euch nie! Ihr allein könnt die Unendlichkeit der Wonnen ermessen, wenn sich euch ein Herz erschließt, ein Ohr euch lauscht, ein Blick euch antwortet! Ein einziger Tag löscht alle trüben Tage aus. Schmerzen, Grübeleien, Verzweiflung und Schwermut der Vergangenheit, die noch nicht vergessen sind, bedeuten ebenso viele Bande, die die Seele mit der Schwesterseele verknüpfen. Geschmückt mit unsern unverwelkten Wünschen, tritt eine Frau dann das Erbe verlorener Seufzer und Lieben an und gibt uns alle betrogenen Zärtlichkeiten vermehrt zurück. Sie lehrt uns, frühere Kümmernisse als das Entgelt auszulegen, das das Geschick für die unendlichen Wonnen forderte, die sie uns am Tage der Seelenverlobung schenkt. Die Engel allein kennen den neuen Namen, der diese heilige Liebe bezeichnen könnte, und ihr allein, geliebte Märtyrer, werdet ermessen, was Madame de Mortsauf für mich, den Elenden, den Einsamen, plötzlich geworden war!

Diese Ereignisse spielten an einem Dienstag; ich wartete bis zum folgenden Sonntag, ehe ich wieder die Indre überschritt. Während jener fünf Tage hatten sich große Dinge in Clochegourde zugetragen. Der Comte erhielt den Titel ›Feldmarschall‹, den St.-Louis-Orden und eine Jahresrente von viertausend Francs. Der Duc de Lenoncourt-Givry, der zum Pair von Frankreich erhoben wurde, bekam zwei Wälder zurück, nahm sein Amt bei Hofe wieder auf, und seine Frau trat den Besitz der nicht verkauften Güter an, die ein Teil der kaiserlichen Krondomänen gewesen waren. So wurde die Comtesse de Mortsauf eine der reichsten Erbinnen in Maine. Ihre Mutter hatte ihr hunderttausend Francs gebracht, die sie von den Einkünften von Givry gespart hatte: es war der Betrag ihrer Mitgift, die nicht zur Auszahlung gelangt war und die der Comte trotz seiner Notlage nie erwähnt hatte. In äußern Lebensangelegenheiten zeigte sein Betragen die stolzeste Uneigennützigkeit. Wenn der Comte zu dieser Summe seine eigenen Ersparnisse legte, so konnte er sich zwei benachbarte Güter kaufen, die etwa neuntausend Francs Jahresrente abwarfen. Da sein Sohn dem Großvater in der Pairswürde folgen sollte, dachte er plötzlich daran, ihm ein Majorat einzurichten, das aus dem Territorialbesitz der beiden Familien bestände. Aber auch Madeleine sollte nicht zu kurz kommen. Das Ansehen des Duc de Lenoncourt würde ihr wahrscheinlich zu einer guten Partie verhelfen. Diese Bestimmungen und das Glück legten sich wie ein mildernder Balsam auf die Wunden des Emigranten. Die Duchesse de Lenoncourt in Clochegourde war ein Ereignis für das ganze Land. Ich dachte schmerzlich daran, daß diese Frau eine große Dame sei, und sogleich entdeckte ich auch in ihrer Tochter den Kastengeist, den ihre vornehme Art meinen Blicken zu verbergen wußte. Was war ich Armer, der ich keine andere Zukunft hatte als meinen Mut und meine Fähigkeiten? Ich dachte weder für mich noch für andere an die möglichen Folgen der Restauration. Sonntags in der Kirche, als ich mit Monsieur und Madame de Chessel und dem Abbé von Quélus im Chorstuhl saß, warf ich gierige Blicke hinüber zu einer andern Loge, wo die Duchesse und ihre Tochter, der Comte und die Kinder saßen. Der Strohhut, der mir meine Göttin verbarg, regte sich nicht, und es war mir, als fesselte mich dies Mein-Vergessen stärker als alles Vergangene. Die große Henriette de Lenoncourt, die jetzt meine liebe Henriette war und deren Leben ich verschönern wollte, betete inbrünstig. Die Andacht goß über sie den Hauch gebetverlorener Verzückung, den Zauber einer Heiligenstatue, der mich glorreich durchdrang. Der Sitte der Dorfpfarreien gemäß sollte der Nachmittagsgottesdienst gleich der Messe folgen. Nach der Kirche schlug Madame de Chessel natürlich ihren Nachbarn vor, die beiden Zwischenstunden in Frapesle zu verbringen, statt zweimal in der Hitze über die Indre zu setzen und durch die Wiese zu gehen. Die Einladung wurde angenommen. Monsieur de Chessel bot der Duchesse den Arm, Madame de Chessel nahm den des Comte, ich führte die Comtesse und fühlte zum erstenmal ihren schönen weichen Arm an meiner Seite. Stolze Gefühle und Gedanken ließen mein Herz höher schlagen, während wir von der Kirche nach Frapesle zurückkehrten. Der Weg führte durch die Wälder von Saché. Das Licht sickerte durch das Laubwerk und malte auf dem Sand der Alleen hübsche Lichtkringel, die wie bunte Seide schillerten.

»Was fehlt Ihnen?« fragte sie mich, nachdem wir einige Schritte gegangen waren, ohne daß ich das Schweigen zu brechen wagte. »Ihr Herz schlägt so schnell . . .« – »Ich habe von Ihrem Glück erfahren«, sagte ich ihr; »und wie alle, die wirklich lieben, leide ich an einer unbestimmten Furcht. Wird Ihre Größe nicht Ihre Freundschaft beeinträchtigen?« – »Das glauben Sie von mir? Pfui!« rief sie; »noch ein solcher Gedanke, und ich würde Sie nicht verachten, aber Sie wären für mich vergessen!«

Ich sah sie an. Ein Glückstaumel überkam mich, der nun auch sie zu ergreifen schien.

»Wir genießen die Vorteile von Gesetzen, die wir weder herbeigeführt noch verlangt haben, aber wir werden uns nicht wie Bettler oder Gierige daraufstürzen. Und übrigens wissen Sie wohl«, fuhr sie fort, »daß weder Monsieur de Mortsauf noch ich von Clochegourde loskönnen. Auf meinen Rat hat er das Kommando im ›Roten Haus‹, das ihm zukam, abgelehnt. Wir sind zufrieden, daß mein Vater seine Charge hat. Unsere erzwungene Bescheidenheit«, sagte sie, ohne Bitterkeit lächelnd, »ist unserm Sohne schon zugute gekommen. Der König, in dessen Diensten mein Vater steht, hat huldvoll versichert, daß er auf Jacques die Gunst übertragen werde, von der wir keinen Gebrauch machen wollen. Die Erziehung Jacques', an die wir jetzt denken müssen, ist der Gegenstand ernster Erwägung; er wird zwei Familien zu vertreten haben: die Lenoncourts und die Mortsaufs. Ich muß meinen ganzen Ehrgeiz in ihn setzen, und darum sind meine Besorgnisse größer denn je. Nicht nur, daß Jacques dem Leben erhalten bleiben muß, er soll auch seines Namens würdig werden; aber diese beiden Forderungen widersprechen einander. Bisher habe ich seiner Erziehung genügen können, indem ich seine Arbeiten nach seinen Kräften bemaß. Aber wo soll ich nun einen Hauslehrer finden, der mir geeignet erscheint? Und später: welcher Freund wird ihn mir in dem schrecklichen Paris überwachen, wo alles Fallstrick für die Seele und Gefahr für den Leib ist? Mein Freund«, sagte sie mit Rührung in der Stimme, »wer Ihre Stirn und Ihre Augen sieht, errät der nicht in Ihnen den Adler, der auf Höhen horsten wird? Breiten Sie Ihre Schwingen aus! Seien Sie eines Tages unserm lieben Kinde Freund und Führer! Gehen Sie nach Paris; wenn Ihr Bruder und Ihr Vater Sie nicht unterstützen, wird meine Familie, vor allem meine Mutter mit ihrem außerordentlichen organisatorischen Talent ihren Einfluß für Sie geltend machen! Berufen Sie sich in allem auf uns; dann wird Ihnen weder Unterstützung noch Hilfe fehlen, gleichviel, welche Laufbahn Sie einschlagen! Legen Sie das Übermaß Ihrer Kräfte in einem edeln Ehrgeiz an!« – »Ich verstehe Sie«, unterbrach ich sie, »die Ehrsucht sollte meine Geliebte sein. Aber ich bedarf ihrer nicht, um ganz Ihr eigen zu sein. Nein, ich mag nicht, daß man mir meine Anhänglichkeit mit Gunstbezeigungen lohne. Ich werde gehen. Ich will mich allein in die Höhe arbeiten, durch eigene Kraft. Von Ihnen nähme ich alles, von andern will ich nichts!« – »Kindereien!« murrte sie, aber sie verhehlte nur schlecht ein Lächeln der Zufriedenheit. »Übrigens habe ich ein Gelübde abgelegt«, sagte ich; »ich habe über uns nachgedacht und mir vorgenommen, mich mit Banden an Sie zu knüpfen, die niemals gelöst werden können.«

Ein leises Zittern befiel sie. Sie stand still und sah mich an. »Was meinen Sie?« flüsterte sie und ließ die beiden Paare vorangehen, während sie die Kinder zurückbehielt.

»Sagen Sie mir zuerst offen, wie Sie von mir geliebt sein wollen!« – »Lieben Sie mich, wie meine Tante mich liebte, deren Rechte ich Ihnen eingeräumt habe, indem ich Ihnen erlaubte, mich bei dem Namen zu nennen, den sie für mich ausgesucht hatte.« – »So werde ich also ohne Hoffnung und mit völliger Hingebung lieben. Ja, ich werde für Sie tun, was der Mensch für Gott tut. Haben Sie es nicht gefordert?! Ich werde in ein Priesterseminar eintreten und nach der Priesterweihe Jacques' Erziehung leiten. Ihr Jacques wird mein anderes Ich sein; politische Ansichten, Gedanken, Willenskraft, Geduld, ich werde ihm alles geben. So werde ich bei Ihnen bleiben, ohne daß meine Liebe verdächtigt werden könnte, meine Liebe, die ganz in Heiligkeit gefaßt sein wird, wie ein silbernes Bild in Kristall. Sie brauchen nicht die zügellose Glut zu fürchten, die den Menschen ergreift und der ich schon einmal erlegen bin, ich will mich in meinem eigenen Feuer verzehren und Sie mit einer geläuterten Liebe lieben!« Sie erblaßte und sagte mit fliegendem Atem: »Felix, binden Sie sich nicht mit Fesseln, die eines Tages Ihrem Glücke hinderlich sein könnten! Ich müßte vor Kummer sterben, wenn ich an einem solchen Selbstmord schuld wäre. Kind, bedeutet denn Verzweiflung aus unglücklicher Liebe soviel wie ein Ruf von oben? Warten Sie die Erfahrungen des Lebens ab, ehe Sie sich ein Urteil über das Leben bilden! Ich will es! Ich befehle es! Vermählen Sie sich weder mit der Kirche noch mit einer Frau! Binden Sie sich in keiner Weise! Bleiben Sie frei! Sie sind einundzwanzig Jahre alt. Kaum wissen Sie, was die Zukunft für Sie in Bereitschaft hält. Ach Gott! sollte ich Sie falsch beurteilt haben? Und doch habe ich geglaubt, daß zwei Monate genügen, um gewisse Menschen kennenzulernen.« – »Welche Hoffnungen hegen Sie?« sagte ich, und ich fühlte, wie meine Augen blitzten. »Mein Freund, nehmen Sie meine Hilfe an! Arbeiten Sie sich in die Höhe, machen Sie Ihr Glück! Und Sie werden erfahren, was meine Hoffnung ist. Kurz«, sagte sie in einem Tone, als ließe sie ein Geheimnis durchblicken, »halten Sie stets Madeleines Hand fest, die Sie jetzt in der Ihren haben.« Sie neigte sich zu mir herüber, um mir diese Worte ins Ohr zu flüstern, die bewiesen, wie sehr sie an meine Zukunft dachte. »Madeleine«, rief ich aus, »niemals!«

Diese beiden Worte senkten ein erregtes Schweigen zwischen uns, wir waren die Beute einer Erschütterung, wie sie das Wesen zutiefst durchwühlt und ewige, unaustilgbare Spuren zurückläßt . . . Wir standen vor einer Holztür, die in den Park von Frapesle führte: noch ist mir, als sähe ich ihre zwei verwitterten Pfeiler, die von Schlingpflanzen, Moosen, Gräsern und Brombeerranken überwuchert waren. Plötzlich durchschoß mich blitzschnell der Gedanke an den möglichen Tod des Comte. Ich sagte: »Ich verstehe Sie.« – »Das ist mir lieb«, antwortete sie in einem Tone, der mich erkennen ließ, daß ich ihr einen unwürdigen Gedanken zutraute.

Sie war so rein, daß ich hätte weinen mögen, aber die Leidenschaft verbitterte mich. Wenn ich an mich selbst dachte, mußte ich mir eingestehen, daß sie mich nicht genügend liebte, um sich ihre Freiheit zu wünschen. Solange die Liebe vor einem Verbrechen zurückschreckt, scheint sie Schranken zu haben, und die Liebe soll keine Grenzen kennen. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen: ›Sie liebt mich nicht‹, dachte ich. Um sie nicht in meinen Gedanken lesen zu lassen, küßte ich Madeleine aufs Haar. »Ich fürchte mich vor Ihrer Mutter«, sagte ich zur Comtesse, um die Unterhaltung wieder aufzunehmen. »Ich nicht minder«, antwortete sie mit der übermütigen Gebärde eines Kindes. »Aber vergessen Sie nicht, sie immer ›Madame la Duchesse‹ und in der dritten Person anzureden! Die heutige Jugend hat sich diese höflichen Formen abgewöhnt. Nehmen Sie sie wieder an! Tun Sie das für mich! Zudem ist es ein Zeichen von Bildung, die Frauen jeden Alters zu ehren und die bestehenden sozialen Unterschiede anzuerkennen, ohne sie in Frage zu stellen. Sind nicht die Ehrenbezeigungen, die Sie Höherstehenden erweisen, ein Unterpfand für die, die Ihnen zukommen? Alles greift in der Gesellschaft ineinander. Der Kardinal della Rovera und Raffael von Urbino waren zwei gleich geehrte Mächte. Sie haben in Ihren Schulen die Milch der Revolution eingesogen, und Ihre politischen Ideen mögen davon beeinflußt sein. Aber je weiter Sie sich im Leben umsehen, desto mehr werden Sie erkennen, wie wenig unklare Freiheitsideen die Völker beglücken. Ganz abgesehen davon, was ich als eine Lenoncourt vom Wesen der echten Aristokratie denke, sagt mir auch mein gesunder Bauernverstand, daß eine Gesellschaft nur auf hierarchischer Grundlage bestehen kann. Sie sind in einer Phase Ihres Lebens, wo Sie sich entscheiden müssen. Schlagen Sie sich zu Ihrer Partei! Besonders«, fügte sie lachend hinzu, »wenn sie die Oberhand hat.«

Ich war tief gerührt von diesen Worten, die politischen Scharfsinn unter warmer Freundschaft verbargen, Mischung, die den Frauen eine so große Überredungskraft verleiht. Sie verstehen es, die schneidigsten Beweisführungen in die Form einer Gefühlsäußerung zu kleiden. Es schien, als habe Henriette in ihrem Wunsch, alle Handlungen des Comte zu rechtfertigen, vorausgesehen, was für Betrachtungen ich anstellen würde, wenn ich zum erstenmal das Kriechertum des Comte durchschaute. Monsieur de Mortsauf, König in seinem Schlosse, umstrahlt von seinem historischen Glorienschein, war in meinen Augen ins Fabelhafte gewachsen, und ich muß gestehen, daß der Abstand, den er zwischen die Duchesse und sich legte, und seine fast aufdringliche Höflichkeit mich seltsam berührten. Auch der Sklave hat seine Eitelkeit; er will niemand als dem mächtigen Despoten gehorchen. Ich fühlte mich gewissermaßen gedemütigt durch die Selbsterniedrigung dessen, vor dem ich zitterte, weil er Herr über meine Liebe war. Diese Regung ließ mich die Qualen einer Frau erraten, deren große Seele mit der eines Mannes verkettet ist, dessen Gemeinheiten sie täglich vergraben muß. Achtung ist eine Schranke, die den Großen und den Kleinen in gleichem Maße schützt; jeder kann auf seiner Seite dem andern in die Augen sehen. Ich war ehrerbietig gegen die Duchesse, das verlangte meine Jugend; aber da, wo andere die Duchesse sahen, sah ich Henriettens Mutter, und ich legte in meine Hochachtung eine andächtige Ehrfurcht . . . Wir traten in den großen Hof von Frapesle ein, wo die Gesellschaft vereinigt war. Der Comte de Mortsauf stellte mich freundlich der Duchesse vor, die mich mit kalten, ablehnenden Blicken maß. Madame de Lenoncourt war damals eine Frau von sechsundfünfzig Jahren, sehr vornehm, sehr gut erhalten. Als ich ihre stahlblauen Augen sah, ihre geäderten Schläfen, ihr hageres asketisches Gesicht, ihre hoheitsvolle aufrechte Gestalt, ihre spärlichen Bewegungen, ihren fahlweißen Teint, der sich bei ihrer Tochter so leuchtend wiederfand, da erkannte ich die kalte Rasse, der meine Mutter entstammte, mit ebender Sicherheit, womit ein Mineraloge schwedisches Eisen erkennt. Ihre Sprache war die des alten Hofes; sie sprach die Laute ›oit‹ wie ›ait‹ aus, sagte ›frait‹ statt ›froid‹, ›paiteux‹ statt ›poiteux‹. Ich war weder kriecherisch noch steif. Ich traf so ganz den richtigen Ton, daß die Comtesse auf dem Wege zur Vesper mir zuraunte; »Das haben Sie ganz vorzüglich gemacht!«

Der Comte kam auf mich zu, schüttelte mir die Hand und sagte: »Wir sind doch nicht böse, Felix? Wenn ich etwas zu lebhaft war, so müssen Sie das Ihrem alten Kameraden nachsehen. Wir werden wahrscheinlich zu Tisch hierbleiben und Sie dann auf Donnerstag, den Vorabend der Abreise der Duchesse, einladen. Ich reise in Geschäften nach Tours. Vergessen Sie Clochegourde nicht! Meine Schwiegermutter ist eine vortreffliche Bekanntschaft für Sie; ich empfehle Ihnen, sie nicht zu vernachlässigen. Ihr Salon wird in Faubourg Saint-Germain tonangebend sein. Sie hat die Traditionen der großen Welt, besitzt ein ausgedehntes Wissen, kennt alle Wappen von dem des ersten bis zu dem des letzten Edelmannes in Europa.«

Der gesellschaftliche Takt des Comte, vielleicht auch die Ratschläge seines guten Hausgeistes bewährten sich in der neuen Lage, die der Triumph seiner Partei geschaffen hatte. Er war weder anmaßend noch von beleidigender Herablassung, ohne Wichtigtuerei; und die Duchesse setzte keine ihrer Gönnermienen auf. Monsieur und Madame de Chessel nahmen dankbar die Einladung für den kommenden Donnerstag an. Ich gefiel der Duchesse, und ihre Blicke verrieten mir, daß sie mich auf das hin untersuchte, was ihre Tochter ihr von mir gesagt hatte. Auf dem Rückwege von der Kirche fragte sie nach meiner Familie und erkundigte sich, ob der junge Vandenesse, der bereits im diplomatischen Dienst stehe, ein Verwandter von mir sei. »Er ist mein Bruder«, sagte ich.

Da wurde sie beinahe herzlich. Sie teilte mir mit, daß meine Großtante, die alte Marquise de Listomère, eine geborene Grandlieu sei. Sie behandelte mich mit derselben Höflichkeit wie Monsieur de Mortsauf am Tage unserer ersten Begegnung. Ihr Blick verlor den hoheitsvollen Ausdruck, womit uns die Herren dieser Welt den Abstand zwischen ihnen und uns fühlen lassen. Ich war schlecht über meine Familie unterrichtet. Die Duchesse teilte mir mit, daß mein Großonkel, ein alter Abbé, dessen Namen ich nicht einmal kannte, Mitglied des ›Conseil privé‹ gewesen sei; mein Bruder war befördert worden; schließlich hatte ein Artikel der ›Charte‹, den ich noch nicht kannte, meinen Vater zum Marquis de Vandenesse ernannt.

»Ich bin nur eins, der Sklave von Clochegourde«, flüsterte ich ganz leise der Comtesse zu.

Der Zauberschlag der Restauration vollzog sich mit einer Geschwindigkeit, die uns Kinder der Kaiserzeit überraschte. Diese Umwälzung bedeutete nichts für mich. Das kleinste Wort, die einfachste Bewegung Madame de Mortsaufs waren die einzigen Ereignisse, denen ich Wichtigkeit beimaß. Ich kümmerte mich nicht um den Conseil privé, ich wußte nichts von Politik noch von den Dingen dieser Welt. Mein einziger Ehrgeiz war, Henriette zu lieben, mehr als Petrarca Laura geliebt hatte. Diese Gleichgültigkeit ließ mich in den Augen der Duchesse als ein Kind erscheinen. Es kamen viele Leute nach Frapesle, wir waren dreißig Personen bei Tisch. Welche Trunkenheit für einen jungen Mann, die Frau, die er liebt, als die Schönste von allen zu sehen, wie sie das Ziel glühender Blicke wird, und zu wissen, daß man der einzige ist, dem sie den keuschen Glanz ihrer Blicke zuwendet. Man kennt jeden Ton ihrer Stimme und hört, in ihren scheinbar leicht hingeworfenen Scherzworten den Grundton ihres Denkens schwingen. Und doch wird das Herz von Eifersucht verzehrt, weil sie einem nicht allein gehört. In seinem Glück über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, erschien der Comte fast jugendlich. Die Comtesse erhoffte vor alledem eine Veränderung seiner seelischen Verfassung. Ich lachte mit Madeleine, die wie viele Kinder, bei denen der Geist auf Kosten des Körpers sich entwickelt, mich durch überraschende Bemerkungen ergötzte; ihr harmlos spöttischer Sinn verschonte niemanden . . . Es war ein schöner Tag. Ein Wort, eine Hoffnung, in der Frühe erblüht, hatte die ganze Natur verklärt; und da sie mich fröhlich sah, war Henriette auch fröhlich.

»Dies Glück, mitten in seinem grauen, überwölkten Leben, schien ihm recht wohltuend«, sagte sie mir am folgenden Tage.

Den nächsten Tag verbrachte ich natürlich in Clochegourde. Ich war fünf Tage von dort verbannt gewesen und dürstete nach meiner gewohnten Lebensweise. Der Comte war schon um sechs Uhr aufgebrochen, um in Tours seine Kaufverträge ausfertigen zu lassen. Zwischen der Mutter und der Tochter hatte sich eine schwerwiegende Meinungsverschiedenheit erhoben: die Duchesse wollte, daß die Comtesse ihr nach Paris folge, dort wollte sie ihr ein Hofamt verschaffen, und der Comte konnte seinen Verzicht widerrufen und eine hohe Stellung einnehmen. Henriette, die für eine glückliche Frau galt, wollte niemandem, auch nicht der Mutter, ihre furchtbaren Leiden enthüllen und die Unfähigkeit ihres Mannes verraten. Damit ihre Mutter nicht in die Geheimnisse ihres häuslichen Lebens eindringe, hatte sie Monsieur de Mortsauf nach Tours geschickt; er sollte sich dort mit den Notaren herumschlagen. Ich allein kannte, wie sie gesagt hatte, die Geheimnisse von Clochegourde. Da sie aus Erfahrung wußte, wie sehr die reine Luft, der blaue Himmel ihres Tales die Reizbarkeit des Comte und seine schweren körperlichen Leiden milderte und welchen Einfluß der Aufenthalt in Clochegourde auf die Gesundheit ihrer Kinder hatte, nannte sie der Duchesse allerhand triftige Gründe, die diese wiederum zu widerlegen suchte; sie war eine Frau, die ihre Umgebung beherrschte; die bescheidene Ehe ihrer Tochter verstimmte sie, sie empfand sie als eine Art Demütigung. Henriette erkannte, daß ihrer Mutter an Jacques und Madeleine wenig lag. Es war eine schreckliche Entdeckung. Wie alle Mütter, die gewöhnt sind, die verheiratete Tochter ebenso herrisch zu behandeln, wie sie das junge Mädchen behandelt haben, arbeitete die Duchesse mit Erwägungen, die keine Widerrede duldeten. Bald heuchelte sie verfängliche Freundlichkeit, um ihr eine Zustimmung zu entlocken, bald kühle Bitterkeit, um durch Einschüchterung zu erlangen, was sie durch Milde nicht erreichte; schließlich, als alle ihre Bemühungen sich als vergeblich erwiesen, entfaltete sie dieselbe Ironie, die ich von meiner Mutter kannte. In zehn Tagen lernte Henriette alle seelischen Qualen kennen, die junge Frauen der Kampf um ihre Unabhängigkeit kostet . . . Sie, die Sie zu Ihrem Glück die beste aller Mütter haben, können das nicht verstehen. Um sich den Kampf zwischen einer spröden, kalten, berechnenden Frau und ihrer Tochter vorzustellen, die von mild herzlicher, nie versiegender Güte überfloß, denken Sie sich die Lilie, der ich sie immer vergleiche, zermalmt vom Räderwerk einer blinkenden Stahlmaschine. Es gab kein inneres Band zwischen dieser Mutter und ihrer Tochter. Sie erriet keine der wirklichen Schwierigkeiten, die Madame de Mortsauf zwangen, ihr Leben in Einsamkeit fortzusetzen, statt von den Vorteilen der Restauration Gebrauch zu machen. Sie schloß auf irgendeine Liebelei zwischen ihrer Tochter und mir. Dies Wort, dessen sie sich bediente, um ihren Verdacht zu äußern, riß unüberbrückbare Abgründe zwischen den beiden Frauen auf. Zwar ist es Familienbrauch, solch unerträgliche Spaltungen zu überdecken, aber dringen Sie nur tiefer ein, so werden Sie in den meisten tiefe, unheilbare Wunden entdecken, die die natürlichen Gefühle angreifen. Es gibt entweder wirkliche, ergreifende Leidenschaften, denen eine tiefst innerliche Gleichheit der Wesen ewigen Bestand verleiht; dann ist der Tod ein Schicksalsschlag, dessen düstere Folgen nicht mehr gutzumachen sind. Oder es gibt verborgenen Haß, der die Herzen allmählich vereist und der am Tage der ewigen Trennung die Tränen gefrieren läßt. Gestern gepeinigt, heute gepeinigt, von allen geschlagen, selbst von ihren beiden Leidensengeln, die unschuldig waren an den Schmerzen, die sie erduldeten, wie an denen, die sie verursachten: wie hätte diese arme Seele den nicht lieben sollen, der sie nicht schlug, der sie vielmehr mit einer dreifachen Hecke umringen wollte, um sie vor Stürmen, vor jeder unsanften Berührung, vor jeder Verwundung zu schützen! Zwar litt ich unter all diesen Reibereien; aber manchmal freuten sie mich, weil ich dann fühlte, daß Henriette sich auf meine Liebe stützte. Denn Henriette vertraute mir ihre neuen Leiden an. Da konnte ich ihr Ausharren im Schmerz, ihre geduldige Energie bewundern. Mit jedem Tag lernte ich den Sinn ihrer Worte besser verstehen: ›Lieben Sie mich, wie meine Tante mich liebte!‹

»Haben Sie denn keinerlei Ehrgeiz?« sagte mir bei Tisch die Duchesse mit harter Miene. »Madame«, antwortete ich und warf ihr einen ernsten Blick zu, »ich fühle in mir Kraft genug, die Welt zu bezwingen, aber ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und ganz auf mich angewiesen.«

Sie blickte ihre Tochter erstaunt an, denn sie glaubte ja, daß ihre Tochter, um mich festzuhalten, jeden Funken Ehrgeiz in mir erstickte. Der Aufenthalt der Duchesse de Lenoncourt in Clochegourde war eine Zeit ständigen Zwanges. Die Comtesse empfahl mir, sorgsam den Schein zu wahren, ein leiseres Wort erschreckte sie, und ihr zuliebe mußte ich den Harnisch der Verstellung anlegen. Der große Donnerstag kam. Es war ein Tag langweiligen Zeremoniells, wie ihn die Liebenden hassen, die an das sanfte Sichgehenlassen des Alltags gewöhnt sind, die ihren angestammten Platz haben und sonst die Herrin dieses Hauses für sich in Anspruch nehmen. Die Liebe verabscheut alles, was nicht sie selbst ist. Die Duchesse ging, den Pomp des Hofes zu genießen, und alles in Clochegourde kehrte in die alte Ordnung zurück.

Mein kleiner Zwist mit dem Comte hatte zur Folge, daß ich noch mehr Boden gewann: ich konnte nun jederzeit kommen, ohne das geringste Mißtrauen zu erregen, und ich durfte wie eine Kletterpflanze die schöne Seele umranken, die mir die Zauberwelt erwiderter Liebe erschloß. Mit jeder Stunde, mit jedem Augenblick wurde unsere Seelenehe, die auf Vertrauen gegründet war, unlöslicher. Jeder von uns festigte seine Stellung: die Comtesse hüllte mich in ihren wärmenden Schutz, in die weißen Schleier wahrhaft mütterlicher Liebe, indes meine Liebe, die in ihrer Gegenwart seraphisch war, fern von ihr sich in etwas schmerzend Heißes, wie glühendes Eisen, verwandelte. Ich liebte sie mit einer doppelten Liebe, die bald mit den tausend Pfeilen der Begierde brannte, bald im unerreichbar fernen Äther verging. Wenn Sie mich fragen, warum ich trotz meiner Jugend und meiner ungestümen Wünsche beim trügerischen Glauben an eine platonische Liebe verharrte, so muß ich Ihnen gestehen, daß ich noch nicht Mann genug war, um diese Frau zu quälen, die in steter Furcht vor einer Katastrophe bei ihren Kindern lebte; die immerfort auf einen Ausbruch, einen stürmischen Stimmungswechsel bei ihrem Manne gefaßt war; die von ihm gepeinigt wurde, wenn nicht die Krankheit Jacques' und Madeleines sie quälte; die sich ans Bett eines ihrer Kinder setzte, sobald ihr Mann zu sich gekommen war und ihr etwas Zeit zur Ruhe ließ. Der Klang eines zu heftigen Wortes erschütterte ihr ganzes Wesen, jede Begierde beleidigte sie. Für sie mußte man ganz verschleierte Liebe sein, eine Mischung von Kraft und Zärtlichkeit, kurz alles, was sie selbst für andere war. Und endlich – muß ich es Ihnen erst sagen, die Sie so ganz Weib sind? – schloß diese Lage wonnige Ermattungen, Augenblicke himmlischer Milde und das Glück in sich, das stumme Opfer lohnt. Ihre Gewissenhaftigkeit wirkte ansteckend, ihr Opfermut, der auf keine irdische Belohnung rechnete, nötigte durch seine Beständigkeit Hochachtung ab. Dies lebendige und geheime Mitleid, das alle ihre Tugenden miteinander verband, wirkte wie ein seelischer Weihrauch. Zudem war ich jung, jung genug, mein ganzes Wesen in den Kuß zusammenzudrängen, den sie mir nur allzu selten auf ihre Hand zu drücken erlaubte: sie reichte mir stets nur den Handrücken, nie das Handinnere, als glaubte sie, daß dies die Grenze der sinnlichen Wollust sei. Vielleicht haben andere Seelen sich glühender umschlungen, aber nie wurde das Fleisch mutiger und siegreicher niedergekämpft. Viel später habe ich erkannt, weshalb dies Glück so ungetrübt war . . . Damals wurde ich durch kein anderes Interesse abgelenkt, keine Leidenschaft durchkreuzte den Lauf dieses Gefühls, das stromgleich alles mit sich fortriß. Ja, später lieben wir das Weib in der Frau, aber bei der ersten geliebten Frau lieben wir alles, was ihr gehört: ihre Kinder sind unsere Kinder, ihr Haus ist unser Haus, ihre Interessen sind unsere Interessen, ihr Unglück ist unser größtes Unglück; wir lieben ihr Kleid und ihre Möbel; es ärgert uns mehr, ihr Getreide verhagelt zu sehen, als unser Geld verloren zu wissen; wir sind imstande, den Besucher zu schelten, der unsere Nippsachen auf dem Kaminsims verstellt. Diese heilige Liebe läßt uns in einem andern Menschen leben, aber später ziehen wir ein anderes Leben in uns hinein und verlangen von der Frau, daß sie mit ihren Zwischengefühlen unsere verarmten Empfindungen bereichere . . . Bald gehörte ich zum Hause und empfand zum ersten Mal die unendlichen Wonnen, die für die gequälte Seele soviel sind wie ein Bad für den ermüdeten Körper; die Seele erfrischt sich dann über und über und fühlt sich bis in ihre tiefsten Falten geliebkost. Sie können das nicht verstehen, denn Sie sind ein Weib, und es handelt sich hier um ein Glück, das Sie geben, aber nie im selben Maße empfangen können. Ein Mann allein kennt das köstliche Vergnügen, in einem fremden Hauswesen der Liebling der Herrin, der geheime Mittelpunkt ihrer gütigen Gedanken zu sein: die Hunde bellen einen nicht mehr an, die Dienerschaft erkennt ebenso wie die Hunde die geheimen Abzeichen, die man trägt, die Kinder, deren Empfinden noch unverdorben ist und die wissen, daß ihr Teil nie geschmälert werden kann und daß man sie hütet und ihnen wohltut . . . Die Kinder besitzen eine Sehergabe; sie schmiegen sich katzenartig an, sie üben die sanfte Tyrannei aus, die sie nur für Anbetende und Angebetete übrig haben, sie sind zartfühlend und feinsinnig und rücksichtsvolle und unschuldige Mitwisser; auf den Zehenspitzen schleichen sie heran, lächeln einen an und entfernen sich geräuschlos. Alles bemüht sich um einen, alles lacht einem liebevoll zu. Wahre Leidenschaften sind wie schöne Blumen, deren Anblick desto mehr erfreut, je undankbarer der Boden ist, auf dem sie wachsen. Ich genoß die wonnigen Vorteile dieser Einverleibung in eine Familie, in der ich Verwandte nach meinem Herzen fand; aber ich nahm auch Verpflichtungen auf mich. Bis dahin hatte sich Monsieur de Mortsauf vor mir beherrscht: ich hatte nur seine größten Fehler gesehen, jetzt fühlte ich ihre Einzelanwendung in ihrem ganzen Umfang und sah, wie nachsichtig die Comtesse gewesen war, als sie mir ihre täglichen Kämpfe beschrieb. Ich lernte alle Kanten seines unerträglichen Charakters kennen, ich hörte seine steten Schreiereien um nichts und wieder nichts, seine Klagen über Schmerzen, für die man noch keine äußern Anzeichen bemerken konnte, die tief wurzelnde Unzufriedenheit, die jede Fröhlichkeit mordete, und das unersättliche Bedürfnis zu tyrannisieren, das ihn immer auf neue Opfer hetzte. Wenn wir abends spazierengingen, bestimmte er allein das Ziel, aber gleichviel, wohin es ging – stets war er gelangweilt; zu Hause angelangt, lud er auf andere die Last seiner Müdigkeit ab; seine Frau war schuld daran, sie hatte ihn gegen seinen Willen geführt, wohin es ihr gefiel. Da er sich nicht mehr erinnerte, daß er uns geführt hatte, beklagte er sich darüber, bis ins kleinste unter dem Pantoffel seiner Frau zu stehen, keinen eigenen Willen und Gedanken mehr zu haben, eine Null in seinem Hause zu sein. Wenn seine Ungerechtigkeiten auf geduldiges Schweigen stießen, wurde er wütend, weil er die Grenzen seiner Macht erkannte. Erbittert fragte er, ob die Religion den Frauen nicht vorschriebe, sich ihren Männern zu fügen; ob es sich denn gehöre, den Vater der Kinder zu verachten. Schließlich gelang es ihm immer, eine empfindsame Saite im Herzen seiner Frau zu treffen, und wenn er sie erzittern fühlte, saß er da und genoß hocherfreut seine nichtige Überlegenheit. Manchmal kehrte er den dumpfen Schweiger heraus, den krankhaft Entmutigten. Das erschreckte seine Frau, die ihm dann die rührendste Pflege angedeihen ließ. Einem verwöhnten Kinde gleich, das seine Macht mißbraucht, ohne sich um die Bestürzung der Mutter zu kümmern, ließ sich der Comte verhätscheln, genau wie Jacques und Madeleine, auf die er außerdem eifersüchtig war. Kurz, ich entdeckte allmählich, daß der Comte im großen und im kleinen, mit seinen Dienstboten, seinen Kindern und seiner Frau so umging wie mit mir beim Tricktrack. Mehr und mehr erkannte ich in ihren Wurzeln und Zweigen die Schwierigkeiten, die Lianen gleich Bewegung und Atmung der Familie beengten und erstickten, die den Gang des Hauswesens mit zahlreichen feinen, unzerreißbaren Fäden umspannen und den wachsenden Wohlstand behinderten, indem sie die einfachsten Handlungen unnötig erschwerten. Mit dieser Erkenntnis wuchs die ehrfürchtig scheue Bewunderung für Henriette. Sie lehrte mich, meine Liebe zu beherrschen und sie fest in meinem Herzen zu verschließen. Gott, was war ich denn? Die Tränen, die ich geschlürft hatte, erzeugten in mir eine erhabene Trunkenheit, und ich empfand es als ein Glück, die Leiden dieser Frau zu den meinen zu machen. Früher hatte ich mich den herrischen Launen des Comte gefügt, wie ein Schmuggler seine Strafe bezahlt; künftighin wollte ich mich den Schlägen des Despoten aussetzen, um mich Henriette ganz nahe zu fühlen. Die Comtesse durchschaute mich; sie räumte mir einen Platz an ihrer Seite ein, und sie belohnte mich damit, daß sie mir erlaubte, ihre Schmerzen zu teilen, wie vorzeiten dem reumütigen Bekehrten, der darauf brannte, gleichzeitig mit seinen Brüdern den Himmel zu erlangen, die Gnade zuteil ward, im Zirkus zu sterben.

»Ohne Sie wäre ich diesem Leben erlegen«, sagte mir Henriette eines Abends, als der Comte, wie die Fliegen bei großer Hitze, bissiger, peinigender und unruhiger denn je gewesen, war.

Der Comte war zur Ruhe gegangen. Henriette und ich verbrachten einen Teil des Abends unter unsern Akazien; die Kinder spielten um uns her, sie waren in die Strahlen der untergehenden Sonne getaucht. Unsere spärlichen Worte, unsere Ausrufe sprachen die Gedanken aus, in denen wir uns von gemeinsamen Leiden ausruhten. Wenn Worte versagten, half uns das Schweigen, und unsere Seelen hielten ungehindert beieinander Einkehr, wir brauchten einander nicht zu küssen. Beide genossen sie den Reiz eines gedankenvollen Halbschlafs, folgten den Windungen einer gleichen Träumerei, tauchten zusammen in den Fluß und stiegen wieder erfrischt empor, zwei Nymphen gleich, die so eng miteinander vereint sind, wie ihr Sehnen es nur verlangen mag, doch ohne jedes irdische Band. Wir sanken in abgründige Tiefen, wir kamen mit leeren Händen wieder an die Oberfläche und fragten uns mit einem Blick: Wird wohl einer unter so vielen Tagen uns gehören? Warum sind unsere Sinne doppelt unruhig, wenn die Wollust solch wurzellose Blüten treibt? Trotz der erschlaffenden Poesie des Abends, der der Backsteinbalustrade so wohltuende und reine Orangetöne auftrug, trotz dieser andächtigen Atmosphäre, durch die das Schreien der Kinder gedämpft zu uns herüberdrang, trotz der Stille, die uns umringte, kreiste die Begierde wie die Flamme eines Freudenfeuers in meinen Adern. Nach drei Monaten gab ich mich mit dem, was mir eingeräumt war, nicht mehr zufrieden, und ich streichelte sanft die Hand Henriettes mit dem Wunsch, meine reiche, voll erglühte Lust möge in sie überströmen. Henriette wurde dann wieder Madame de Mortsauf und entzog mir ihre Hand. Tränen traten mir ins Auge; sie sah sie, warf mir einen milden Blick zu und führte ihre Hand an meine Lippen.

»So bedenken Sie doch«, sagte sie, »wieviel Tränen mich das kostet! Die Freundschaft, die so große Gunst verlangt, ist zu gefahrvoll.«

Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten: ich erging mich in Vorwürfen, ich sprach von meinen Qualen und von dem bißchen Trost, das ich verlangte, um sie zu tragen. Ich wagte ihr zu sagen, in meinem Alter seien zwar die Sinne ganz Seele, aber die Seele sei nicht geschlechtlos, ich könnte wohl sterben, aber nicht mit verschlossenen Lippen. Sie gebot mir Schweigen mit ihrem stolzen Blicke, worin ich Caciques ›Und ich, bin ich auf Rosen gebettet?‹ zu lesen glaubte. Vielleicht war ich auch in einem Irrtum befangen. Seit dem Tage, wo ich ihr vor den Toren von Frapesle zu Unrecht den Gedanken zugetraut hatte, daß unser Glück auf einem Grab aufgerichtet würde, seit jenem Tage schämte ich mich, ihre Seele mit meinen rohen, leidenschaftlichen Begierden zu beflecken. Sie ergriff das Wort und sagte mir – ihr Mund war so süß –, daß sie mir nicht alles sein könne, daß ich dies wissen müsse. Da sie diese Worte sprach, war mir klar, daß ich Abgründe zwischen uns aufrisse, wenn ich ihr nicht folgte. Ich neigte den Kopf. Sie fuhr fort und sagte, daß sie die fromme Gewißheit habe, einen Bruder lieben zu können, ohne Gott und die Menschen zu verletzen; daß es süß sei, diese Liebe zu einem wirklichen Abbild der göttlichen Liebe zu machen, die nach den Worten des trefflichen Saint-Martin das Leben der Welt ist. Wenn ich für sie nicht in gewissem Sinne dasselbe sein könne wie ihr alter Beichtvater, weniger als ein Liebhaber, aber mehr als ein Bruder, so müßten wir unsern Verkehr abbrechen. Sie fühlte sich stark genug, zu sterben und das Übermaß ihrer quälenden, unter Tränen und Martern erduldeten Leiden zu Gott zu tragen.

»Ich habe schon mehr gegeben, als ich geben sollte«, sagte sie schließlich; »mehr darf ich mir nicht nehmen lassen. Schon für das wenige bin ich gestraft.«

Ich mußte sie beruhigen, ihr versprechen, sie nie zu betrüben und sie als Zwanzigjähriger zu lieben, wie Greise ihr letztes Kind lieben.

Tags darauf kam ich frühzeitig an. Sie hatte keine Blumen mehr für die Vasen ihres grauen Salons. Ich lief in die Weinberge und suchte dort Blumen, um ihr zwei Sträuße zu binden. Aber während ich eine nach der andern pflückte, sie an der Wurzel abschnitt und bewunderte, da bedachte ich, daß Farben und Laubwerk ihre eigene Musik haben, eine Poesie, die der Verstand begreift, indem das Auge entzückt wird – so wie Musik in Liebenden und Geliebten tausend Erinnerungen wachruft. Da Farbe organisches Licht ist, muß sie da nicht eine Bedeutung haben, wie sie die Luftschwingungen im Ton haben? Mit Jacques' und Madeleines Hilfe, die, wie ich, glücklich waren, unserm Liebling eine Überraschung zu bereiten, begann ich auf den untersten Stufen der Terrasse, wo wir das Hauptquartier der Blumen eingerichtet hatten, zwei Sträuße zu binden, die meine Gefühle sichtbar ausdrücken sollten. Stellen Sie sich ein Meer von Blumen vor, das aus zwei Vasen hervorquillt, in flockigen Wogen sich senkt und aus dessen Mitte meine Wünsche in weißen Rosen und silberkelchigen Lilien steigen. Auf diesem hellen Grund erglänzten Kornblumen, Vergißmeinnicht, lauter blaue Blumen, deren Himmelsfarbe sich gern mit Weiß vermählt; sind es nicht zwei Arten der Unschuld, die nichts weiß und die alles weiß, die eine ein Kindergedanke, die andere ein Märtyrergedanke? Die Liebe hat ihre Wappenkunde, und die Comtesse entzifferte sie im stillen. Sie warf mir einen jener durchdringenden Blicke zu, die dem Schrei eines Kranken gleichen, an dessen Wunde man rührt: sie war gleichzeitig beschämt und entzückt. Welcher Lohn lag in diesem Blick! Sie beglücken, ihr Herz erlaben – welcher Sporn war das! Ich erfand die Theorie des guten Père Castel noch einmal für die Liebe, ich entdeckte für sie eine Wissenschaft wieder, die Europa abhanden gekommen ist, wo tintige Stilblüten die blühende, balsamgetränkte Blumensprache des Orients verdrängt haben. Wie reizvoll ist es, als Dolmetscher für seine Gefühle die Töchter der Sonne zu haben, die Schwestern der Blumen, die die Sonne der Liebe blühen ließ. Bald lernte ich die Sprache der Feldblumen verstehen, wie ein Mann, den ich später in Grandlieu traf, die Sprache der Bienen verstand.

Zweimal wöchentlich während meines ganzen übrigen Aufenthalts in Frapesle machte ich mich von neuem an dies langwierige poetische Werk; zu seiner Vollendung waren alle Arten von Gräsern erforderlich, die ich eingehend studierte, nicht als Botaniker, sondern als Dichter, denn ich drang mehr in ihren Geist als in ihre Formen ein. Um eine Blume da zu finden, wo sie wuchs, ging ich oft viele Meilen weit, an den Rand des Wassers, in die Täler, auf den Grat der Felsen, mitten in die Heide, und wie eine Biene sammelte ich Gedanken in Wald und Flur. Auf diesen Gängen machte ich mich mit Freuden vertraut, die dem Gelehrten verschlossen sind, der in der Abstraktion lebt, dem Landmann, der sich nur um bestimmte Pflanzen kümmert, dem Handwerker, der an die Stadt gekettet ist, dem Kaufmann, den sein Kontor festhält; aber es gibt Forstleute, Holzhauer und Träumer, die kennen sie. Es finden sich in der Natur Erscheinungen, deren Ausdeutungsmöglichkeiten unbegrenzt sind und in denen man die höchsten seelischen Werte lesen kann. Bald ist es eine blühende Heide, von Taudiamanten übersät, darin die Sonnenstrahlen spielen, eine Unendlichkeit für den Blick, der zur rechten Zeit darauffällt. Bald ist es ein von Felstrümmern eingeschlossenes Stück Wald; sandig und moosbewachsen, mit Wacholderbüschen geschmückt, vom Schrei des Adlers durchhallt, ergreift es uns durch seinen wilden, schroffen, erschreckenden Charakter. Bald ist es eine heiße, unfruchtbare, steinige Heide mit jähen Abhängen, deren Horizonte wüstenähnlich verschwimmen: dort fand ich eine erhabene einsame Blume, eine Pulsatilla, deren Banner aus violetter Seide sich um den goldenen Blütenstaub breitete – ein ergreifendes Bild meines weißen Idols, das einsam in seinem Tale stand. Bald sind es große Wasserlachen, die die Natur mit grünen Flecken überzieht, einem Mittelding zwischen Pflanze und Tier, wo das Leben in wenigen Tagen keimt und Pflanzen und Insekten treibt, wie die großen Welten eine Welt für sich. Bald auch ist es eine Hütte mit ihrem Garten voller Kohlköpfe, ihren Reben, ihren Zäunen, die über eine Schlucht hängt und von mageren Roggenfeldern umringt ist: das Ebenbild so vieler bescheidener Existenzen. Bald ist es eine lange Waldallee, die dem Schiff eines Domes gleicht, wo die Bäume Pfeiler sind, wo die Äste die Gewölbebogen bilden; eine ferne Lichtung, wo helle und dunkle Töne ineinander übergehen oder die der Sonnenuntergang in einen roten Schein taucht, ist zwischen dem Laubwerk am Ende der Allee sichtbar und erinnert an die gemalten Fensterscheiben eines Chors voll singender Vögel. Und tritt man aus diesen frischen schattigen Wäldern heraus, so liegt da ein kreidiges Brachland, wo über das glühende, raschelnde Moos satte Blindschleichen sich hinschlängeln und ihre anmutigen feinen Köpfchen in die Höhe heben. Denken Sie sich über diese Bilder Ströme von Sonnenlicht ausgegossen, lebensspendende Fluten, oder graue Wolken gehäuft, die sich aneinanderreihen wie Runzeln auf der Stirn eines Greises, oder die kalten Töne eines mattgelben Himmels, den blaßblaue Streifen durchfurchen, und dann horchen Sie hin: Sie werden die unbeschreiblichen Melodien einer überwältigenden Stille hören. Während der Monate September und Oktober habe ich keinen Strauß zusammengestellt, der mich weniger als drei Stunden sorgfältigen Suchens gekostet hätte, so sehr bewunderte ich mit dem wohligen Sichgehenlassen des Dichters die flüchtigen Gleichnisse, die mir die widerstrebendsten Formen des menschlichen Lebens malten, erhabene Schauspiele, aus denen meine Erinnerung jetzt schöpft. Noch heute sehe ich oft jene großen Ereignisse im Schimmer der Seele, die damals über die Natur ausgebreitet war. Noch sehe ich dort die königliche Herrin wandeln, deren weißes Kleid durch das Dickicht glitt und über Wiesen hinflatterte . . . Jedem Kelch voll liebedurstigen Blütenstaubes entstieg der Gedanke an sie wie die verheißene Frucht.

Keine Liebeserklärung, keine Äußerung sinnloser Leidenschaft war je unwiderstehlicher und überzeugender als diese Blumensymphonien, worin meine ungestillte Begierde mich eine seelische Kraft entfalten ließ, wie sie Beethoven in Noten kundgab; war doch seine Musik tiefe Einkehr in sich selbst, himmelstürmende Wucht. Madame de Mortsauf war beim Anblick der Blumen nur noch Henriette, immer wieder kehrte sie zu ihnen zurück, sie nährte sich von ihnen; sie enträtselte die Gedanken, die ich hineingelegt hatte, wenn sie von ihrem Stickrahmen aufsah, und sagte: »Gott, wie schön das ist!« – Sie werden den liebreizenden Verkehr, dessen sich jede einzelne Blume im Strauß bediente, an einem Beispiel verstehen, wie Sie nach einem Bruchstück die Dichtungen Saadis beurteilen könnten. Ist Ihnen im Mai auf den Wiesen der Duft aufgefallen, der allen Wesen trunkene Liebeslust einflößt, der, wenn Sie im Boote sitzen, Sie die Hand ins Wasser tauchen, Ihr Haar dem Winde preisgeben heißt und der Ihre Gedanken wieder grünen macht wie die Bäume im Wald? Ein kleines duftendes Gras bildet den Grundton dieser symbolischen Harmonie; auch kann es niemand ungestraft bei sich tragen. Fügen Sie seine glänzenden, gestreiften Halme, die einem Gewebe mit grünen und weißen Strichen gleichen, in einen Strauß, so werden unversiegbare Duftströme die Rosenknospen auf dem Grund Ihres Herzens wachküssen, die sich dort schamhaft duckten. Denken Sie sich um die weite Öffnung der Porzellanvase einen Wulst, ausschließlich aus den weißen Büscheln des in den Weinbergen der Touraine heimischen Hauswurzes gebildet: eine Ahnung der begehrten Formen, die zusammengekauert liegen wie die einer gehorsamen Sklavin. Aus diesem Unterbau streben in Spiralen weißglockige Winden empor, dazu rosiger Ochsenbrach mit einigen Farnkräutern und jungem Eichlaub, wunderbar an Farbe und Glanz. Das alles kommt heran, demütig gebeugt wie Trauerweiden, zaghaft und flehend wie Gebete. Darüber hinausragend die schlanken wehenden Gräser des purpurblühenden Zittergrases, von dem der gelbliche Blütenstaub niederrieselt, die schneeigen Pyramiden des Feld- und Wasserrispengrases, das grüne Haar der fruchtlosen Trespe, die schlanken Federbüsche der Feldgräser, die man Windähren nennt: blaßviolette Hoffnungen, die erste Träume krönen und die sich vom blaugrauen Grunde abheben, wo das Licht um blühende Gräser spielt. Etwas höher ragen einige bengalische Rosen, im krausen Spitzenwerk des Möhrenkrauts verstreut, die Marabukrausen der Spierstauden, die Dolden des wilden Kerbels, das Blondhaar der reifen Klematisfrucht, die niedlichen Kreuzchen des milchweißen Kreuzblattes, die Doldentrauben der Schafgarben, die weitverzweigten Stengel des Erdrauchs mit seinen rosa und schwarzen Blüten, die Ringelranken der Rebe, die schlangenartigen Geißblattzweige – kurz, was diese naiven Blumenkinder nur Zerzaustes und Zerrissenes haben, Flammen und dreifach geschliffene Dolche, lanzettförmige und ausgezackte Blätter, qualvoll gewundene Stiele, gleich Wünschen, die auf dem Grund der Seele durcheinanderwirren . . . Mitten aus diesem reichen überschäumenden Sturzbach von Liebe reckt sich ein wundervoller gefüllter Mohn zwischen seinen zum Bersten reifen Kapseln; seine leuchtenden Flammen züngeln über weißen Jasminsternen und überragen den unaufhörlichen Blütenstaubregen, der einer schönen Wolke gleich in der Luft glitzert und in seinen tausend glänzenden Stäubchen das Licht fängt. Welche Frau, die der Liebesduft blühender Gräser berauscht, würde diesen Überschwall zärtlich ergebener Gedanken nicht verstehen, die weiße Liebkosung, die Regungen einer unbezähmbaren Leidenschaft durchbrechen, und die rote Gier der Liebe, die nach einem Glück verlangt, das ihr verweigert wird in den hundertmal durchfochtenen Kämpfen der verhaltenen, unermüdlichen, ewigen Leidenschaft? Stellen Sie diese Rede in das Licht eines Fensters, damit alle ihre frischen Einzelheiten, ihre zarten Gegensätze, ihre Arabesken klar werden: dann wird die gerührte Herrin einer voll erblühten Blume eine Träne entfallen sehen, sie wird nahe daran sein, zu erliegen, und es wird eines Engels oder der Stimme ihres Kindes bedürfen, um sie am Rande des Abgrunds festzuhalten. Was opfert man Gott? Düfte, Licht und Lieder, die lautersten Gaben der Natur. Und das alles, was man Gott opfert, ward der Liebe dargebracht in diesem lichten Blumengedicht, das seine unaufhörlichen Melodien in ihr Herz summte und verborgene Wollüste liebkoste, uneingestandene Hoffnungen und Wünsche, die auftauchen, und wieder verschwinden wie Marienfäden in einer lauen Sommernacht.

Diese sachlichen Freuden halfen uns über die Gereiztheit unserer Sinne hinweg, die unvermeidlich war, da wir uns einer in den andern versenkten mit Blicken, die genießen, indem sie den andern bis in sein innerstes Wesen wollüstig durchstrahlen. Sie waren für mich – ich wage nicht zu sagen: für sie – wie Risse in einem unüberwindlichen Wehr, die ein wenig von dem gestauten Wasser durchlassen und so ein Unglück abwenden können, da sie nicht die ganze Kraft sich unvermindert ansammeln lassen. Die Enthaltsamkeit hat ihre tödlichen Erschlaffungen, doch erhalten sie wenige Krümchen, die eins nach dem andern von dem Himmel fallen, der von Dan bis zur Sahara dem Wanderer Manna spendet. Trotzdem habe ich Henriette oft mit schlaff herabhängenden Armen überrascht, in eine stürmische Träumerei verloren, die die Brust in schweren Gedanken hebt, die auf der Stirn gewittert, die in schäumenden Wogen herandrängt, droht und schließlich eine entnervende Mattigkeit zurückläßt. Nie wieder habe ich seitdem für irgendwen einen Strauß gewunden. Als wir uns diese Sprache für unsern einzigen Gebrauch geschaffen hatten, empfanden wir die Freude eines Sklaven, der seinen Herrn hintergeht.

Den ganzen Monat über konnte ich bisweilen schon von weitem ihr Gesicht sehen, das an der Fensterscheibe lehnte, und wenn ich in das Zimmer trat, fand ich sie über ihren Stickrahmen gebeugt. Wenn ich nicht zur wortlos verabredeten Stunde erschien, irrte manchmal ihre weiße Gestalt über die Terrasse, und wenn ich sie dort überraschte, sagte sie: »Ich bin Ihnen entgegengegangen. Muß man nicht ein bißchen nett sein zu seinem Jüngsten?«

Die grausamen Tricktrackpartien zwischen dem Comte und mir waren unterbrochen worden; seine letzten Käufe erforderten eine Menge von Gängen, von Besichtigungen, Nachprüfungen, Grenzsteinsetzungen und Messungen. Er hatte Befehle zu geben, er war von allerhand Feldarbeiten in Anspruch genommen, die das Auge des Herrn brauchten und die er mit seiner Frau besprach. Oft suchten die Comtesse und ich ihn auf seinen neuen Besitzungen auf. Die beiden Kinder begleiteten uns dann, machten Jagd auf Insekten, Grasmücken, ließen Drachen steigen und banden auch Sträuße oder, genauer gesagt, Blumenbüschel. Mit der Frau, die man liebt, lustwandeln, ihr den Arm geben, für sie den Weg wählen, diese wechselvollen Freuden würden einem ganzen Leben genügen. Die Unterhaltung ist dann so vertrauensvoll. Allein gingen wir hin, und zurück kamen wir mit dem General, wie wir den Comte scherzhaft nannten, wenn er gut gelaunt war. Diese beiden Arten, den Weg zurückzulegen, brachten Abwechslung in unsere Freude durch Gegensätze, wie sie nur die kennen, deren Liebe voller Wechselfälle ist. Auf dem Heimweg waren dieselben Glückseligkeiten, ein Blick, ein Händedruck mit Aufregungen verknüpft. Das Wort, das auf dem Hinweg so frei war, nahm auf dem Rückweg einen geheimnisvollen Sinn an, wenn einer von uns nach einigem Nachdenken auf verfängliche Fragen die Antwort fand oder ein begonnenes Gespräch mit rätselhaften Worten fortgesetzt wurde. Zu dieser Gesprächsform eignet sich unsere Sprache vorzüglich, und gerade die Frauen verstehen sie überaus erfinderisch zu handhaben. Wer hätte nicht das Glück empfunden, sich so gewissermaßen in einer unbekannten Sphäre zu verständigen, wo Eingeweihte sich von der Menge sondern und sich gemeingültigen Regeln zum Trotz enger miteinander verbinden. Eines Tages stieg mir eine verwegene Hoffnung auf, die zu schnell zerrann – als auf die Frage des Comte, wovon wir sprächen, Henriette mit einem Doppelsinn antwortete, womit der Comte sich zufriedengab. Dieser unschuldige Scherz belustigte Madeleine und trieb ihrer Mutter das Rot in die.Wangen. Mit einem strengen Blick gab sie mir zu verstehen, daß sie mir ihre Seele entziehen könne, wie sie mir einst ihre Hand entzogen hatte, da sie eine unantastbare Gattin hatte bleiben wollen. Aber so viele Reize hat ein solcher Seelenbund, daß wir tags darauf von neuem begannen.

Die Stunden, die Tage, die Wochen flogen dahin und brachten immer neue Freuden. So kam die Zeit der Weinlese heran, die in der Touraine ein wahres Fest ist. Gegen Ende September erlaubte es die Sonne, die weniger heiß brennt als zur Erntezeit, sich in den Feldern aufzuhalten, ohne einen Sonnenbrand oder Müdigkeit fürchten zu müssen. Es ist leichter, Trauben abzuschneiden, als Getreide zu mähen. Die Früchte sind alle reif. Die Ernte ist eingeheimst, das Brot wird weniger teuer, und der Überfluß macht das Leben leicht. Schließlich sind die Befürchtungen wegen des unbestimmten Ergebnisses der Feldarbeit, die ebensoviel Geld wie Schweiß kostete, geschwunden: die Scheune ist gefüllt, und die Vorratskammern sind bereit, neue Schätze aufzunehmen. Da erscheint die Weinlese wie der fröhliche Nachtisch des Erntefestmahls. Der Himmel lächelt über dem stets prächtigen Herbst der Touraine. In diesem gastlichen Lande werden die Winzer im Hause freigehalten; und da diese Mahlzeiten die einzigen im Jahre sind, wo die armen Leute nahrhafte und gut zubereitete Speisen bekommen, halten sie daran fest, wie Kinder in patriarchalischen Familien an den hergebrachten Festtagen. Deshalb eilen sie in hellen Haufen in die Häuser, wo die Herrschaft sie freigebig bewirtet. So ist das Haus voll von Leuten und Vorräten. Die Keltern stehen beständig offen. Überall wimmelt es von Küfern, von Karren voll lachender Mädchen, von Leuten, die immerzu singen, weil sie bessern Lohn bekommen als sonst im Jahre. Dann ist noch ein Grund zur Freude da: alle trennenden Unterschiede sind aufgehoben, Frauen und Kinder, Herren und Knechte, alles beteiligt sich an der ›göttlichen Lese‹. Das Zusammentreffen all dieser Umstände erklärt die von Geschlecht zu Geschlecht vererbte Heiterkeit, die sich in den letzten schönen Herbsttagen entfaltet und die einst Rabelais die bacchische Form seines großen Werkes eingegeben hat. Nie hatten die kränklichen Kinder Jacques und Madeleine an einer Weinlese teilgenommen; mir ging es wie ihnen, und sie hatten eine kindliche Freude daran, ihre Aufregung geteilt zu sehen. Ihre Mutter hatte versprochen, mitzugehen. Wir waren nach Villaines gegangen, wo die in der Gegend gebräuchlichen Weinkörbe hergestellt werden, und hatten uns besonders hübsche bestellt. Wir vier sollten einige Reihen herbsten, die unsern Scheren vorbehalten blieben; aber es war abgemacht worden, daß wir nicht zu viele Trauben essen dürften. Die dicken Tourainer Trauben gleich in den Reben zu essen war so wonnig, daß man bei Tisch die schönsten liegenließ. Jacques ließ mich schwören, daß ich mir nirgends die Weinlese ansähe, sondern mich ausschließlich für den Weinberg von Clochegourde aufspare. Nie waren diese zwei kleinen, sonst so schwächlichen und blassen Wesen frischer, rosiger, tätiger, lebendiger als an diesem Morgen. Sie plauderten, nur um zu plaudern, sprangen hin und her, kamen und gingen ohne ersichtlichen Grund; nur daß sie, wie andere Kinder, ein Übermaß an Lebenslust auslassen wollten. Monsieur und Madame de Mortsauf hatten sie nie so gesehen, und ich wurde mit ihnen Kind, und vielleicht mehr Kind noch als sie, denn auch ich erhoffte meinen Lohn. Bei schönstem Wetter zogen wir in die Reben und blieben einen halben Tag. Wie wir darum stritten, wer die schönsten Trauben fände, wer seinen Korb am raschesten füllte! Es war ein beständiges Hinundherlaufen von den Weinstöcken zur Mutter; es wurde keine Traube gepflückt, die man ihr nicht zeigte. Sie schlug ein helles, jugendfrohes Lachen an, als ich schnell hinter ihrer Tochter herkam, ihr meinen Korb zeigte und mit Madeleines Worten fragte: »Und die meinen, Mama?« Sie antwortete: »Liebes Kind, erhitze dich nicht so sehr!« Dann fuhr sie mir mit der Hand über den Nacken und durchs Haar, klopfte mir auf die Backen und fügte hinzu: »Du bist ja furchtbar heiß!«

Es war das einzige Mal, daß ich diese Liebkosung in der Stimme, das Du der Liebenden hörte. Ich sah hübsche, mit roten Früchten bedeckte Brombeerhecken, ich hörte das Schreien der Kinder, beobachtete die Schar der Winzer, die mit Fässern beladenen Karren, die mit Tragkörben bepackten Männer! . . . Ach, ich prägte mir jede Einzelheit ein, bis herab zum jungen Mandelbaum, wo sie frisch, rosig und lachend unter dem aufgespannten Sonnenschirm stand. Dann machte ich mich daran, Trauben zu pflücken, meinen Korb zu füllen, ihn in den großen Bottich zu leeren mit einer stillen, anhaltenden Anspannung meiner Körperkräfte; ich hatte einen langsamen, gemessenen Gang, der meine Seele unbeschäftigt ließ. Ich kostete die unaussprechliche Freude einer körperlichen Arbeit, die das Leben in richtige Bahnen lenkt und den Lauf der Leidenschaften regelt, die ohne diese mechanische Bewegung nahe daran wären, alles in Brand zu stecken. Ich erfuhr, welch tiefe Weisheit in einer gleichförmigen Arbeit ruht, und verstand den Segen der Klosterregeln.

Zum ersten Mal seit langer Zeit zeigte der Comte weder schlechte Laune noch Grausamkeit. Er war glücklich, seinen Sohn, den künftigen Duc de Lenoncourt-Mortsauf, gesund, weiß und rosig, mit Traubensaft beschmiert zu sehen. Da es der letzte Tag der Weinlese war, versprach der ›General‹ daß man am Abend zu Ehren der zurückgekehrten Bourbonen tanzen sollte. So war das Fest für alle vollkommen. Auf dem Rückwege nahm die Comtesse meinen Arm; sie stützte sich auf mich, so daß ich ihr Herz an meinem Herzen schlagen fühlte. Es trieb die Mutter, mir ihre Freude mitzuteilen, und leise flüsterte sie mir ins Ohr: »Sie bringen uns Glück!«

Gewiß, für mich, der ich ihre schlaflosen Nächte, ihre Befürchtungen, ihr früheres Leben kannte, wo nur Gott sie aufrecht gehalten hatte und alles unfruchtbar und ermüdend gewesen war, für mich barg dieser von ihrer weichen Stimme beseelter Satz Wonnen, die keine Frau der Welt mir wieder geben konnte. »Die unglückselige Eintönigkeit meiner Tage hat aufgehört, das Leben wird durch Hoffnung schön«, sagte sie nach einer Pause. »Verlassen Sie mich nicht! Strafen Sie meinen unschuldigen Aberglauben nicht Lügen! Seien Sie der Älteste, der seinen Brüdern zur Vorsehung wird!«

Sehen Sie hierin keine Überspanntheit, Natalie! Um in solchen Worten die Unendlichkeit tiefer Gefühle ermessen zu können, muß man in seiner Jugend die Sonde in die tiefen Seen gesenkt haben, an deren Ufern man lebte. Gewiß sind für viele Menschen die Leidenschaften Lavaströme, die ihr Bett ausdörren; aber gibt es nicht auch Seelen, in denen die durch unüberwindliche Hindernisse zurückgedämmte Leidenschaft den Krater des Vulkans mit klarem Wasser gefüllt hat?

Wir feierten noch ein ähnliches Fest. Madame de Mortsauf wollte ihre Kinder mit praktischen Dingen vertraut machen und ihnen einen Einblick in die mühsame Arbeit geben, die zum Gelderwerb nötig ist. Sie hatte ihnen Einkünfte festgesetzt, die von den Wechselfällen des Landbaues abhingen: Jacques gehörte der Erlös der Nußbäume, Madeleine der der Kastanien. Wenige Tage nach der Weinlese wurden die Kastanien und die Nüsse geerntet. Madeleines Kastanien abschlagen, die Früchte fallen hören, die mit ihrem stachligen Pelz vom mattgrünen trockenen Samt des unfruchtbaren Geländes zurückprallten, den heiligen Ernst beobachten, womit das kleine Mädchen die Haufen untersuchte und abschätzte, die für sie Freuden darstellten, von denen sie niemandem Rechenschaft abzulegen brauchte; die Glückwünsche Manettes, der Wärterin, die allein der Comtesse bei der Pflege der Kinder half; die Lehren, die der Anblick der Mühen gab, ohne die sich auch nicht die geringste vom Witterungswechsel abhängige Frucht ernten läßt: all das gestaltete sich zu einem Schauspiel, worin die kindlichen Freuden von den ernsten Tönen des beginnenden Herbstes köstlich gerahmt waren. Madeleine hatte ihre eigenen Speicher, wo ich ihre braune Habe aufschichten sehen wollte, um an ihrer Freude teilzuhaben. Nun, es durchzuckt mich noch heute, wenn ich daran denke, wie die Früchte aus den Körben auf den mit Roßhaar und Lehm gestampften Boden rollten. Der Comte kaufte ihre Kastanien für den Hausgebrauch ab. Der Verwalter und alle Leute in der Umgebung von Clochegourde suchten Käufer für den ›kleinen Liebling‹. Die Leute auf dem Lande sagen oft selbst zu einem Fremden so; aber hier wurde nur Madeleine ganz allein so genannt.

Jacques hatte weniger Glück mit der Nußernte. Es regnete mehrere Tage; aber ich tröstete ihn, indem ich ihm riet, seine Nüsse aufzubewahren, um sie etwas später zu verkaufen. Monsieur de Chessel hatte mir erzählt, daß die Nußbäume in Brehémont, in der Gegend von Amboise und von Vouvray schlecht trügen; und da Nußöl für die Touraine von großem Nutzen ist, so konnte Jacques von jedem Nußbaum einen Ertrag von mindestens vierzig Sous haben; ihm gehörten zweihundert Bäume, die Summe war also recht beträchtlich. Er wollte sich eine Reitausrüstung kaufen. Sein Plan führte zu einer Familiendebatte, wobei sein Vater mit ihm über die wechselnden Ertragsaussichten sprach und über die Notwendigkeit, Vorräte zu sammeln für die Jahre, wo die Bäume nicht tragen, um sich auf diese Weise eine Durchschnittseinnahme zu sichern. Ich erriet die Gedanken der Comtesse in ihrem Schweigen, Sie war glücklich zu sehen, wie Jacques dem Vater lauschte, und wie der Comte, dank der frommen Lüge, die sie vorbereitet hatte, etwas von dem Ansehen wiedergewann, das er bei seinen Kindern eingebüßt hatte. Sagte ich Ihnen nicht, als ich diese Frau schilderte, daß irdische Worte die Züge ihres Wesens nicht wiederzugeben vermöchten? Wenn derartige Dinge sich ereignen, trinkt man das Glück, ohne es zu untersuchen. Aber mit welcher Klarheit heben sie sich später vom düstern Hintergrund eines bewegten Lebens ab; diamantengleich erstrahlen sie in einer Fassung, die zusammengeschmolzen ist aus dem Edelmetall der Erinnerung an entschwundene Glückseligkeiten und einer Beimischung schmerzlichen Bedauerns! Warum bewegen die Namen der beiden neu erworbenen Gebiete, die Monsieur und Madame de Mortsauf so sehr beschäftigten, La Cassine und La Rhétorière, meine Seele mehr als die schönsten Namen des Heiligen Landes oder Griechenlands? ›Wer liebt, der sage es!‹ hat Lafontaine ausgerufen. Diese Namen wirken auf mich wie Talismane, wie Beschwörungsformeln, sie machen mir die Magie verständlich, sie rufen schlafende Gestalten wach, die alsbald vor mir auftauchen und zu mir sprechen, sie versetzen mich zurück in das glückliche Tal, erschaffen den Himmel und die Landschaft. Haben denn nicht Beschwörungen stets etwas Übersinnliches gehabt? Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen so alltägliche Geschehnisse erzähle! Die geringsten Einzelheiten dieses schlichten und fast inhaltlosen Lebens waren gewissermaßen ebenso viele Glieder einer Kette, die, scheinbar schwach, mich immer fester an die Comtesse fesselten.

Die Vermögensverhältnisse ihrer Kinder machten Madame de Mortsauf ebensoviel Sorgen wie ihre Gesundheit. Ich erkannte bald, wie richtig sie ihren geheimen Einfluß auf die geschäftliche Lage des Hauses geschildert hatte; ich gewann allmählich einen Einblick in die Einzelheiten der hier üblichen Landbewirtschaftung, die ein Staatsmann kennen muß. Nach zehnjährigen Bemühungen war es der Comtesse gelungen, die ganze Art der Landbebauung zu ändern; sie hatte die sogenannte Vierjahreskoppelwirtschaft eingeführt, das ist die neue Landwirtschaftsmethode, nach der ein Feld nur alle vier Jahre mit derselben Frucht bestellt wird. So bleibt es fortwährend ertragsfähig. Um die Hartnäckigkeit der Bauern zu brechen, hatte man Pachtkontrakte auflösen, das ganze Gebiet in vier große Meiereien einteilen und sich dem in der Touraine und Umgebung gültigen Brauch der Viehpacht anpassen müssen, dem entsprechend der Erlös geteilt wird. Der Grundbesitzer stellt Wohnung, Wirtschaftsgebäude und Saaten freiwilligen Landarbeitern, mit denen er Auslagen und Einnahmen teilt. Diese Teilung untersteht einem Verwalter, dessen Sache es ist, die dem Gutsbesitzer zukommende Hälfte des Ertrags in Empfang zu nehmen. Dieses Verfahren ist kostspielig und umständlich wegen der Rechnungsführung, die immerzu, je nachdem, wie geteilt wird, wechselt. Die Comtesse hatte von Monsieur de Mortsauf ein fünftes Gut bebauen lassen, das aus den übrigen Landstücken in der Nachbarschaft von Clochegourde bestand. Der Comte sollte eine Beschäftigung haben und gleichzeitig anhand der Tatsachen seinen Halbpachtbauern den Vorzug der neuen Methode beweisen. Da sie die eigentliche Leiterin der Bewirtschaftung war, konnte sie nach und nach mit weiblicher Beharrlichkeit zwei ihrer Meiereien nach flandrischen und artoisischen Mustern wieder aufbauen lassen. Ihre Absicht lag auf der Hand. Nach Ablauf der Halbpachtverträge wollte die Comtesse aus ihren vier Meiereien zwei schöne Güter bilden und sie gegen Geld an fleißige und intelligente Leute verpachten, um so die Einkünfte von Clochegourde zu vereinfachen. Da sie fürchtete, als erste zu sterben, wollte sie dem Comte leicht zu erhebende Einnahmen und ihren Kindern einen Besitz sichern, den keine ungeschickte Verwaltung gefährden konnte. Zu dieser Zeit waren die vor zehn Jahren gepflanzten Obstbäume die ertragreichsten; die Hecken, die die Besitzungen vor künftigen Grenzstreitigkeiten schützten, waren hochgewachsen; Pappeln, Rüstern, alles war bestens gediehen. Mit den neuen Besitzungen und dank dem überall eingeführten neuen Bewirtschaftungssystem konnte das Gut von Clochegourde, in vier große Höfe geteilt, von denen zwei noch einzurichten blieben, jährlich sechzehntausend Francs in Guldenwährung einbringen, das sind viertausend Francs auf jeden Hof, und dabei waren nicht mit eingerechnet der Weinberg, die zweihundert Morgen Waldes, die im Besitz verteilt lagen, und die Musterwirtschaft. Die Wege von den vier Gehöften her konnten alle auf eine große Straße münden, die von Clochegourde in gerader Linie auf die Landstraße von Chinon führen sollte. Da der große Weg von Tours nur fünf Meilen weit entfernt war, würde es nie an Pachtlustigen fehlen, zumal jetzt jedermann von den Verbesserungen sprach, die der Comte vornahm, von seinen Erfolgen und vom bessern Ertrag seiner Ländereien. In jedes der beiden neu angekauften Güter wollte sie etwa fünfzehntausend Francs stecken, um die Herrenhäuser in zwei große Gutsgebäude zu verwandeln, nachdem das Land ein oder zwei Jahre bebaut worden wäre. Sie wollte als obersten Aufseher einen gewissen Martineau, den besten und ehrlichsten ihrer Verwalter, hinschicken, der sonst seinen Posten verloren hätte; denn die Halbpachtverträge der vier Meiereien waren abgelaufen, und der Zeitpunkt, sie in zwei große Höfe zu verschmelzen und gegen Geldpacht zu vergeben, war gekommen. Diese an und für sich so einfachen Pläne, zu deren Ausführung aber dreißig und etliche tausend Francs gehörten, waren damals der Gegenstand langer Besprechungen zwischen ihr und dem Comte. Schreckliche Zänkereien, in denen nur der Gedanke an das Wohl ihrer Kinder sie aufrecht hielt . . . Der Gedanke: wenn ich morgen stürbe, was sollte da aus ihnen werden? verursachte ihr Herzklopfen. Sanfte, friedliche Seelen, denen Zornesausbrüche unmöglich sind, die um sich her ihren tiefen inneren Frieden herrschen sehen wollen, verstehen allein, wieviel Kraftaufwand zu diesen Kämpfen nötig ist, wie starke Blutwellen zum Herzen drängen, ehe man die Fehde aufnimmt, und welche Erschlaffung sich der Seele bemächtigt, wenn trotz des Streites nichts erreicht ist. Gerade als ihre Kinder weniger bleichsüchtig, stärker und lebendiger wurden, weil die Erntezeit ihnen wohlgetan hatte, gerade als sie feuchten Blickes ihren Spielen folgte und eine Zufriedenheit empfand, die ihre Kraft neu belebte und ihr Herz erfrischte, da mußte die arme Frau die beleidigenden Sticheleien und die schmerzenden Angriffe eines erbitterten Gegners erdulden. Der Comte, den diese Änderungen beunruhigten, stritt ihre Vorzüge und ihre Durchführbarkeit eigensinnig ab. Auf unwiderlegbare Beweise antwortete er mit den Einwänden eines Kindes, das etwa im Sommer den Einfluß der Sonne bestreiten möchte. Die Comtesse behielt die Oberhand. Der Sieg des gesunden Menschenverstandes über die Torheit goß Balsam in ihre Wunden, sie vergaß ihre Leiden. An diesem Tage machte sie einen Gang nach der Cassine und Rhétorière, um einige Anweisungen wegen der Bauten zu geben; der Comte ging allein voran, die Kinder waren zwischen ihm und uns, wir beide blieben langsam folgend zurück. Sie sprach zu mir in einem leisen und sanften Ton, der ihre Sätze kleinen Wellen gleichen ließ, womit das Meer auf feinem Sande spielt.

Sie sei ihres Erfolges sicher, sagte sie. Bald gäbe es eine Konkurrenz mit dem Botendienst zwischen Tours und Chinon, die ein rühriger Mann, ein Fuhrmann, ein Vetter der Manette, eröffnen und zugleich ein großes Gehöft an dieser Straße übernehmen wollte. Er hatte eine große Familie, sein ältester Sohn sollte die Personenwagen führen, der zweite die Frachtfuhrwerke, der Vater würde La Rabelaye, einen der vermietbaren, auf halbem Wege gelegenen Höfe, bewirtschaften, den Pferdewechsel überwachen, und sein Landgut bearbeiten, indem er es mit dem Dung seiner Ställe düngte: Das zweite Gehöft, La Baude, das in nächster Nähe von Clochegourde lag, wollte einer ihrer vier Pächter, ein ehrlicher, gescheiter, rühriger Mann, der die Vorteile der neuen Methode einsah, in Pacht nehmen. La Cassine und La Rhétorière aber waren die besten Güter der Gegend. Sobald die Gutsgebäude errichtet wären und der Landbetrieb in Schwung sei, brauche man sie nur in Tours anzubieten. So würde Clochegourde in zwei Jahren achtzigtausend Francs Rente abwerfen. La Gravelotte, das Gut in der Maine, das Monsieur de Mortsauf zurückerhalten hatte, war gerade für siebentausend Francs auf neun Jahre verpachtet worden. Seine Pension als Feldmarschall belief sich auf viertausend Francs. Diese Einnahmen waren noch kein Vermögen, aber sie sicherten doch einen großen Wohlstand. Später würden es ihr andere Reformen vielleicht ermöglichen, eines Tages nach Paris zu ziehen, um dort die Erziehung Jacques' zu überwachen; vielleicht in zwei Jahren, wenn die Gesundheit des Stammhalters gefestigt wäre.

Mit welchem Beben sie das Wort ›Paris‹ aussprach! Ich kannte ihre Pläne von Grund aus. Sie wollte sich sowenig wie möglich von ihrem Freunde trennen. Bei diesen Worten erglühte ich. »Sie kennen mich nicht«, sagte ich ihr. Ohne es ihr verraten zu wollen, hätte ich beschlossen, mein Studium, Tag und Nacht arbeitend, schnell zu Ende zu führen, um Jacques' Erzieher zu werden; denn ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß ein junger Mann in ihrem Hause wohnen würde.

Bei diesen Worten wurde sie ernst. »Nein, Felix«, sagte sie, »daraus wird nicht mehr als aus Ihrer Priesterschaft. Sie haben durch ein einziges Wort das Herz der Mutter bis in seine Tiefen gerührt, aber die Frau liebt Sie zu aufrichtig, um zu dulden, daß Sie das Opfer Ihres Übereifers werden. Eine Einbuße an Ansehen, die sich nicht wieder gutmachen ließe, wäre der Lohn dieser Opferwilligkeit, und ich könnte nichts daran ändern. O nein, ich will Ihnen nicht verhängnisvoll sein! Sie, Vicomte de Vandenesse – Hauslehrer? Sie, dessen edler Wahlspruch heißt: ›Nie dich verkaufen!‹ – und wären Sie ein Richelieu, Sie hätten sich auf alle Zeiten den Weg verlegt! Sie würden Ihrer Familie den größten Kummer bereiten. Mein Freund, Sie wissen nicht, wieviel Nichtachtung eine Frau wie meine Mutter in einen Gönnerblick legen kann, wieviel Demütigung in ein Wort, wieviel Verachtung in einen Gruß!« – »Und wenn Sie mich lieben, was liegt mir an der Welt?«

Sie tat, als hätte sie die Worte nicht gehört, und fuhr dann fort: »Mein Vater ist sehr gütig und gewiß geneigt, mir alles zu gewähren, worum ich ihn bitte; aber er könnte Ihnen nicht verzeihen, sich schlecht mit der großen Welt gestellt zu haben, und würde Ihnen seinen Schutz verweigern. Ich möchte nicht, daß Sie der Erzieher des Dauphins wären! Nehmen Sie die Gesellschaft, wie sie ist! Machen Sie keinen Fehltritt im Leben! Lieber Freund, diese wahnwitzige Eingebung der . . .« – »Der Liebe!« sagte ich leise. »Nein, der Barmherzigkeit!« sagte sie mit verhaltenen Tränen; »dieser törichte Einfall wirft ein Licht auf Ihr Wesen: Ihre Güte wird Ihnen verhängnisvoll werden. Ich beanspruche schon jetzt das Recht, Sie in gewissen Dingen zu unterrichten. Überlassen Sie meinen Frauenaugen die Sorge, manchmal für Sie zu sehen. Ja, weither, von Clochegourde aus, will ich stumm und beglückt an Ihren Erfolgen teilnehmen. Wegen des Hauslehrers seien Sie unbesorgt, wir werden schon einen guten alten Abbé, irgendeinen hochgelahrten Jesuitenpater finden, und mein Vater wird gern eine Summe für die Erziehung des Knaben opfern, der seinen Namen tragen soll. Jacques ist mein Stolz. Er ist zwar schon elf Jahre alt«, sagte sie nach einer Pause, »aber es geht ihm wie Ihnen: als ich Sie sah, hielt ich Sie für dreizehnjährig.«

Wir waren in der Cassine angekommen, wo Jacques, Madeleine und ich hinter ihr her gingen, wie die Jungen hinter ihrer Mutter. Aber wir waren ihr im Wege, und ich ließ sie eine Weile allein, damit sie in den Obstgarten ginge, wo der ältere Martineau, der Feldhüter, sich mit dem Jüngern, dem Verwalter, besprach, ob die Bäume gefällt werden müßten oder nicht. Sie verhandelten darüber, als ob es um ihren eigenen Besitz ginge. Da sah ich, wie beliebt die Comtesse war. Ich sprach das einem armen Tagelöhner gegenüber aus, der, den Fuß auf den Spaten gestemmt, den Ellbogen auf den Griff gestützt, den beiden Doktoren der Pomologie lauschte.

»Ja, ja, Monsieur«, antwortete er, »es ist eine gute Frau, und nicht hoffärtig wie diese Affenweiber von Azay, die einen lieber wie einen Hund verrecken ließen, als daß sie einem einen Sou mehr für den gegrabenen Klafter gäben. An dem Tage, wo diese Frau das Land verläßt, wird die Heilige Jungfrau weinen, und wir auch. Sie weiß, was sie verlangen darf; aber sie kennt unsere Not und nimmt Rücksicht darauf!«

Mit wieviel Freude ich diesem Manne all mein Geld gab!

Wenige Tage darauf kam ein Pony für Jacques an, den sein Vater, ein vortrefflicher Reiter, allmählich an die Strapazen des Reitens gewöhnen wollte. Das Kind bekam eine hübsche Reitausrüstung, die vom Erlös der Nußbäume gekauft worden war. Der Morgen, wo es bei seinem Vater die erste Reitstunde nahm, während Madeleine erstaunt auf dem Rasen nebenherlief und schrie, dieser Morgen war für die Comtesse das erste große Fest ihres Mutterseins. Jacques trug einen von seiner Mutter gestickten kleinen Kragen, ein Jäckchen aus himmelblauem Tuch, das durch einen lackierten Ledergürtel gehalten wurde, eine faltige weiße Hose und eine schottische Mütze, unter der das aschblonde Haar in dichten Locken hervorquoll: er sah entzückend aus! Auch eilten alle Leute aus dem Hause herbei, um an dem Familienglück teilzunehmen. Der junge Stammhalter lächelte im Vorüberreiten seiner Mutter zu und saß stramm und furchtlos auf seinem Tier. Diese erste Mannestat eines Kindes, dem der Tod so oft gedroht hatte, die Hoffnung auf eine schöne Zukunft, die durch diesen Ritt, bei dem das Kind so schön, so blühend und frisch aussah, gesichert schien: welch wunderbarer Lohn für die Mutter! Die Freude des Vaters, der selbst wieder jung wurde und zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte; das Glück, das sich in den Zügen aller Leute malte; der Ausruf eines alten Vorreiters von Lenoncourt, der von Tours zurückkehrte und der, als er das Kind so fest die Zügel halten sah, ihm zurief: »Bravo, Monsieur le Vicomte!« – das war des Guten zuviel, Madame de Mortsauf brach in Tränen aus. Sie, die so gefaßt im Leiden war, fand nicht Kraft genug, die Freude zu ertragen, als sie voll Bewunderung ihr Kind auf dem Sande hin und her reiten sah, wo sie es so oft im voraus beweint hatte, wenn sie es in der Sonne spazierenführte. In diesem Augenblick stützte sie sich ohne Gewissensbisse auf meinen Arm und sagte nur: »Es ist mir, als hätte ich nie Trauriges erlebt. Verlassen Sie uns heute nicht!«

Nach beendeter Reitstunde warf sich Jacques in die Arme seiner Mutter, die ihn auffing, ihn an sich preßte mit einer Gewalt, wie sie das Übermaß der Seligkeit verleiht, und des Küssens und der Liebkosungen war kein Ende. Ich ging mit Madeleine zwei wundervolle Sträuße binden, um damit den Tisch zu Ehren des jungen Reiters zu schmücken. Als wir in den Salon zurückkehrten, sagte die Comtesse zu mir: »Der 15. Oktober wird gewiß ein großer Tag! Jacques hat seine erste Reitstunde genommen, und ich habe soeben den letzten Stich an meiner Stickerei getan.« – »Schön, Blanche«, sagte der Comte lachend, »ich will Sie dafür belohnen.«

Er bot ihr den Arm und führte sie in den ersten Hof, wo sie eine Kalesche erblickte, ein Geschenk ihres Vaters, wozu der Comte zwei englische Pferde gekauft hatte, die zugleich mit denen des Duc de Lenoncourt angekommen waren. Während der Reitstunde hatte der alte Vorreiter alles im Hofe fertiggemacht. Wir zogen den Wagen heraus und besichtigten die Anlage der Fahrstraße, die in gerader Linie von Clochegourde nach der Landstraße von Chinon führen sollte und die dank den neuen Käufen durch des Comte Besitz gelegt werden konnte. Auf dem Heimweg sagte die Comtesse mit einem wehmütigen Ausdruck: »Ich bin zu glücklich! Für mich ist das Glück wie eine Krankheit, es erschöpft mich, und ich fürchte, es könnte verwehen wie ein Traum.«

Ich liebte zu leidenschaftlich, um nicht eifersüchtig zu sein, und ich, ich konnte ihr nichts schenken. In meiner Verzweiflung suchte ich eine Möglichkeit, für sie zu sterben. Sie fragte mich, was für Gedanken meine Blicke verschleierten; ich sagte sie ihr. Sie war davon mehr gerührt als von allen Geschenken. Sie tröstete mich, indem sie mich auf die Terrasse führte und mir ins Ohr flüsterte: »Lieben Sie mich, wie mich meine Tante liebte! Bedeutet das nicht soviel wie mir Ihr Leben geben? Und wenn ich es so hinnehme, stehe ich dann nicht jede Stunde in Ihrer Schuld? – Es war Zeit, meine Stickerei zu beenden«, fuhr sie fort, als wir wieder in den Salon traten, wo ich ihr die Hand küßte, als erneuerte ich so mein Gelübde. »Vielleicht wissen Sie nicht, Felix, weshalb ich mir diese lange Arbeit auferlegt habe? Männer finden in ihren Beschäftigungen ein Heilmittel gegen jeden Kummer, der Gang der Geschäfte zerstreut sie; aber wir Frauen, wir haben keine Stütze in uns selbst. Um meinen Kindern und meinem Mann zulächeln zu können, wenn ich von traurigen Gedanken erfüllt war, habe ich mir in einer regelmäßigen Tätigkeit ein Gegengewicht für meine Schmerzen geschaffen. So ging ich Erschlaffungen aus dem Wege, die jedem großen Kraftaufwand oder Ausbrüchen übermäßiger Erregung folgen. Das immer gleiche Heben der Hand wiegte meine Gedanken, teilte meiner Seele, worin der Sturm grollte, den Gleichtakt von Flut und Ebbe mit und besänftigte so meine Wallungen. Jedem Stich vertraute ich meine Geheimnisse an, verstehen Sie wohl! Und während ich meinen letzten Sesselbezug stickte, habe ich zu oft an Sie gedacht! Ja, viel zu oft, lieber Freund; was Sie in Ihre Sträuße hineinlegten, das sagte ich meinem Stickmuster!«

Das Abendbrot verlief recht heiter. Alle Kinder sind dankbar, wenn man sich mit ihnen beschäftigt; Jacques sprang mir an den Hals, als er die Blumen sah, die ich ihm in Ermangelung eines Ehrenkranzes gepflückt hatte. Die Mutter stellte sich, als zürnte sie mir ob dieses Treubruchs, und den, wie Sie sich denken können, im Scherz beneideten Strauß bot das liebe Kind ihr an. Am Abend spielten wir zu dritt eine Tricktrackpartie, ich allein gegen Monsieur und Madame de Mortsauf. Der Comte war ganz reizend. Endlich bei hereinbrechender Dunkelheit begleiteten sie mich bis an den Weg nach Frapesle. Es war einer jener friedlichen Abende, in deren Harmonie die Gefühle an Tiefe gewinnen, was sie an Lebendigkeit einbüßen. Es war ein Tag ohnegleichen im Leben dieser armen Frau, ein Lichtpunkt, den ihre Erinnerung in schweren Stunden umkoste . . . Bald wurden die Reitstunden ein Gegenstand des Zwistes. Die Comtesse fürchtete mit Recht die aufgeregte Strenge ihres Gatten. Schon magerte Jacques ab, er hatte dunkle Ringe um die schönen blauen Augen. Er wollte seine Mutter nicht betrüben und litt lieber im stillen. Ich ersann ein Mittel gegen seine Leiden: ich riet ihm, seinem Vater zu sagen, er sei müde, sobald der Comte in Zorn geriete; aber diese Linderungsmittel erwiesen sich als unzulänglich. Der alte Vorreiter mußte den Vater ersetzen, der seinen Schüler nicht gutwillig fahrenließ. Die Schreiereien und Diskussionen begannen wieder von vorn. Der Comte wählte als Thema für seine ewigen Klagen die Undankbarkeit der Frauen. Zwanzigmal am Tag warf er seiner Frau den Wagen, die Pferde und die Livreen vor. Endlich trat ein Ereignis ein, woran Leute von seinem Charakter und Gesundheitszustand ihre schlechte Laune auszulassen pflegen: die Ausgaben in La Cassine und La Rhétorière überschritten um das Doppelte den Voranschlag, da Mauern und morsche Dielen einstürzten. Ein Arbeiter beging die Ungeschicklichkeit, diese Nachricht Monsieur de Mortsauf mitzuteilen, statt sich an die Comtesse zu wenden. Das gab den Anlaß zu einem Streit, der ganz sanft begann, sich aber mehr und mehr verschärfte. Die seit einigen Tagen niedergehaltene Übellaunigkeit des Comte forderte von der armen Henriette den rückständigen Tribut.

An diesem Tage hatte ich Frapesle um halb elf, nach dem Frühstück, verlassen, um in Clochegourde mit Madeleine einen Strauß zu winden. Das Kind hatte mir die zwei Vasen auf das Geländer der Terrasse gebracht, und ich ging von den Gärten ins Gelände, um die schönen, aber so seltenen Blumen des Herbstes zu suchen. Als ich zurückkam, fand ich meinen kleinen Leutnant mit dem rosa Gürtel und dem Spitzenkragen nicht mehr vor und hörte Schreie in Clochegourde.

»Der General«, sagte Madeleine weinend, und bei ihr war das Wort ein Ausdruck des Hasses gegen den Vater, – »der General schilt unsere Mutter; verteidigen Sie sie doch!«

Ich stürzte die Treppen hinauf und trat in den Salon, ohne daß mich der Comte und seine Frau bemerkt oder gegrüßt hätten. Als ich das gellende Geschrei des Wahnsinnigen hörte, schloß ich alle Türen und kam zurück; ich hatte gesehen, daß Henriette so weiß wie ihr Kleid war.

»Heiraten Sie nie, Felix«, sagte mir der Comte, »die Frauen haben den Teufel zum Berater! Die tugendhafteste erfände das Böse, wenn es nicht schon existierte. Sie sind alle rohe Bestien!«

Dann hörte ich Beweisführungen, die weder Hand noch Fuß hatten. Der Comte berief sich auf seine früheren Weigerungen und führte das dumme Gerede der Bauern ins Feld, die sich gegen die neuen Methoden sperrten; er behauptete, daß er Clochegourde allein hätte verwalten sollen, dann wäre er doppelt so reich. Und während er diese heftigen und beleidigenden Schmähungen hervorschleuderte, fluchte er, sprang von einem Möbel zum andern, schüttelte sie und warf sie hin und her. Dann, mitten in einem Satze, unterbrach er sich und klagte über einen brennenden Schmerz im Rückgrat und über sein Gehirn, das in Strömen zerränne, genau wie sein Geld. Seine Frau richte ihn zugrunde. Dabei verdankte der Unglückliche von den dreißig und etlichen tausend Francs Rente, die er besaß, mehr als zwanzigtausend allein seiner Frau. Die Güter des Duc und der Duchesse warfen mehr als fünfzigtausend Francs Rente ab, die Jacques gehörten. Die Comtesse lächelte, sie war stolz und überlegen und blickte gen Himmel.

»Ja!« rief er aus, »Blanche, Sie sind mein Henker, Sie bringen mich um, ich bin Ihnen eine Last! . . . Du willst mich loswerden, du Ausbund von Heuchelei! – Sie lacht! – Wissen Sie, warum sie lacht, Felix?«

Ich schwieg und senkte das Haupt.

»Dieses Weib«, fuhr er fort, seine Frage selbst beantwortend, »schneidet mich von allem Glück ab, sie ist mir nicht mehr als Ihnen und gibt vor, meine Frau zu sein! Sie trägt meinen Namen und erfüllt keine der Pflichten, die ihr menschliches und göttliches Gesetz auferlegen! Sie belügt die Menschen und Gott! Sie quält mich mit Laufereien ab, damit ich sie allein lasse, ich mißfalle ihr, sie haßt mich, sie setzt ihre ganze Kunst daran, Jungfrau zu bleiben! Sie macht mich verrückt mit den Entbehrungen, die sie mir auferlegt, weil sich alles dann auf meinen armen Kopf schlägt. Sie quält mich langsam zu Tode und bildet sich noch ein, eine Heilige zu sein – und so etwas geht alle Monate zur Beichte!«

Da begann die Comtesse heiße Tränen zu weinen. Sie fühlte sich gedemütigt durch die Erniedrigung dieses Mannes, dem sie als einzige Antwort zurief: »Monsieur de Mortsauf!«

Obwohl die Worte des Comte mich für ihn und Henriette hatten erröten lassen, wühlten sie mein Herz zutiefst auf, denn sie stießen bei mir auf Gefühle der Keuschheit und des Anstandes, woraus eine erste Liebe geformt ist.

»Sie lebt als Jungfrau – auf meine Kosten!« sagte der Comte. Bei diesen Worten rief die Comtesse wieder: »Monsieur! . . .« – »Was soll Ihr gebieterisches ›Monsieur‹?« fragte er, »bin ich nicht hier der Herr? Muß ich Ihnen das endlich klarmachen?«

Er schritt auf sie zu, seinen weißen Wolfskopf vorgestreckt, der einen gehässigen Ausdruck annahm. Seine gelben Augen funkelten wie die eines ausgehungerten Tieres, das plötzlich aus dem Walde tritt. Henriette ließ sich von ihrem Sessel auf den Boden gleiten, um einen Schlag abzuwehren; aber der blieb aus. Sie blieb besinnungslos, ganz gebrochen auf dem Boden liegen. Der Comte glich einem Mörder, dem das Blut seines Opfers ins Gesicht spritzt; er war ganz entgeistert. Ich nahm die arme Frau in meine Arme, der Comte ließ mich sie tragen, als fühle er sich unwürdig, sie zu berühren. Aber er ging vor mir her, um mir die Tür des anstoßenden Zimmers zu öffnen, des geheiligten Zimmers, das ich nie betreten hatte. Ich stellte die Comtesse aufrecht und hielt sie einen Moment in einem Arm, während ich den andern um ihren Körper legte; inzwischen entfernte Monsieur de Mortsauf den Überhang, das Federbett, die Decken; dann hoben wir sie und legten sie völlig angekleidet aufs Bett. Als Henriette wieder zu sich kam, gab sie uns ein Zeichen, daß wir ihren Gürtel lösen sollten. Monsieur de Mortsauf fand eine Schere und zerschnitt alles, ich gab ihr Riechsalz zu atmen, sie öffnete die Augen. Der Comte entfernte sich, mehr beschämt als ärgerlich. Zwei Stunden vergingen so im tiefsten Schweigen. Henriette ließ ihre Hand in der meinen ruhen und drückte sie, ohne sprechen zu können. Von Zeit zu Zeit hob sie die Augenlider, um mir durch einen Blick zu verstehen zu geben, daß sie vollständig ruhig bleiben wollte. Dann kam sie einen Augenblick zu sich und flüsterte mir, auf ihren Ellenbogen gestützt, ins Ohr: »Der Unselige! Wenn Sie wüßten . . .«

Sie ließ den Kopf wieder aufs Kissen sinken. Die Erinnerung an ihre verflossenen Leiden und ihre gegenwärtigen Schmerzen verursachte ihr wieder nervöse Krämpfe, die ich nur durch den Magnetismus der Liebe beschwichtigen konnte. Diese Wirkung war mir bis dahin unbekannt, aber ich machte instinktiv Gebrauch davon. Ich stützte sie mit milder Kraft, und während dieser letzten Krise warf sie mir Blicke zu, die mir Tränen entlockten. Als diese nervösen Zuckungen aufhörten, ordnete ich ihr wirres Haar, das ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben mit den Händen berührte. Dann ergriff ich abermals ihre Hand, ließ meine Blicke lange durch das in Grau und Braun gehaltene Zimmer schweifen, über das schlichte Bett mit den Leinenvorhängen, den altmodischen Toilettentisch, das ärmliche Sofa mit dem gesteppten Überzug . . . Wieviel Poesie war darüber gebreitet! Sie hatte für sich auf jeden Luxus verzichtet. Der einzige Aufwand war ihre peinliche Sauberkeit. O edle Zelle einer verheirateten Nonne, voll heiliger Entsagung, die keinen andern Schmuck hatte als das Kruzifix über dem Bett und darüber das Bild ihrer Tante, zu beiden Seiten des kleinen Kessels mit Weihwasser zwei selbstgefertigte Bleistiftzeichnungen von ihren Kindern und ein Haarbüschelchen aus ihrer frühesten Kindheit! Welche Klause für eine Frau, deren Erscheinen in der großen Welt die Schönsten mit Neid erfüllt hätte! Dies war das Boudoir, wo die Tochter aus vornehmer Familie immer weinen durfte, sie, die jetzt vor Bitterkeit verging und sich der Liebe entzog, die sie hätte trösten können! Es war ein heimliches, unheilbares Elend. Und das Opfer hatte Tränen für den Henker, und der Henker weinte über das Opfer. Als die Kinder und die Kammerzofe eintraten, ging ich hinaus. Der Comte erwartete mich, er sah in mir schon einen Vermittler zwischen seiner Frau und ihm, und meine beiden Hände ergreifend, rief er mir zu: »Bleiben Sie, bleiben Sie, Felix!« – »Leider hat Monsieur de Chessel Gäste zu Tisch«, sagte ich; »es geht doch nicht, daß man nach den Gründen meines Ausbleibens fragt; aber nach Tisch komme ich wieder.«

Er ging mit mir hinaus und begleitete mich bis an das untere Tor, ohne ein Wort zu sagen. Dann ging er mit mir bis nach Frapesle, ohne zu wissen, was er tat. Dort angekommen, sagte ich ihm endlich: »Um des Himmels willen, Monsieur le Comte, lassen Sie sie doch Ihr Haus leiten, wenn es ihr Freude macht, und quälen Sie sie nicht!« – »Ich habe nicht mehr lange zu leben«, sagte er ernst; »sie wird nicht mehr lange durch mich leiden. Ich fühle, wie mein Kopf in Stücke geht.«

Er verließ mich in einer Anwandlung von unwillkürlichem Egoismus. Nach Tisch kam ich wieder, um mich nach dem Befinden der Comtesse zu erkundigen; es ging ihr schon besser. Wenn das für sie die Freuden der Ehe waren, wenn derartige Auftritte sich oft wiederholten, wie konnte sie da überhaupt leben? O dieser langsame, unbestrafte Mord! An jenem Abend verstand ich, mit welch unerhörten Qualen der Comte seine Frau marterte. Vor welchen Richter konnte man solche Streitfälle bringen? Solche Betrachtungen machten mich ganz wirr, ich konnte Henriette nichts sagen, aber die ganze Nacht schrieb ich ihr. Von drei oder vier Briefen, die ich verfaßte, habe ich nur diesen Anfang behalten, der mir gar nicht gefiel. Es schien mir, als wäre er nichtssagend oder redete zuviel von mir, wo ich mich doch nur mit ihr beschäftigen sollte. Immerhin wird er Ihnen zeigen, in welchem Zustand ich mich befand.

›An Madame de Mortsauf.

Wie vieles wollte ich Ihnen bei meiner Ankunft sagen, woran ich unterwegs dachte, was ich aber bei Ihrem Anblick vergaß! Ja, sobald ich Sie sehe, liebe Henriette, finde ich, sind meine Worte nicht mehr im Einklang mit dem Glanz Ihrer Seele, die Ihre Schönheit erhöht. Zudem empfinde ich in Ihrer Nähe eine so unendliche Beseligung, daß das gegenwärtige Gefühl alle frühern verwischt. Jedesmal werde ich einem reichern Leben geboren und gleiche dem Reisenden, der einen hohen Felsen erklimmt und bei jedem Schritt neue Fernen entdeckt. Vermehren sich durch jede Unterhaltung meine gewaltigen Reichtümer um einen neuen Schatz? Hierin liegt, glaube ich, das Geheimnis langer, unauflöslicher Neigungen. Darum kann ich mit Ihnen über Sie nur sprechen, wenn ich fern von Ihnen bin. In Ihrer Gegenwart bin ich von Ihrem Anblick zu sehr geblendet, zu glücklich, um mein Glück zu untersuchen, zu voll von Ihnen, um ich selbst zu sein, zu beredt durch Sie, um sprechen zu können, zu begierig, den gegenwärtigen Augenblick auszunützen, um des verflossenen zu gedenken. Bitte, suchen Sie diese ständige Trunkenheit zu verstehen, damit Sie mir ihre Fehltritte verzeihen! In Ihrer Nähe kann ich nur empfinden. – Und doch, meine liebe Henriette, wage ich Ihnen zu sagen, daß in den vielen Freuden, die mir von Ihnen kamen, ich niemals Seligkeiten empfangen habe, die sich den Wonnen vergleichen ließen, die gestern meine Seele erfüllten, als nach dem schrecklichen Sturm, in dem Sie mit übermenschlicher Kraft gegen das Schlechte ankämpften, als Sie mir allein wiedergeschenkt wurden, mitten im Halbdunkel Ihres Zimmers, in das mich dieser unglückliche Auftritt führte. Ich allein weiß, wie leuchtend schön eine Frau sein kann, die von den Toren des Todes zum Leben zurückkehrt, während das Morgenrot einer Wiedergeburt ihre Stirn zart belebt. Wie wohltönend war Ihre Stimme! Wie klein erschienen mir Worte, selbst die Ihren, als sich mir in Ihrer angebeteten Stimme verschleiertes Erinnern an vergangene Leiden offenbarte, zugleich aber auch göttlicher Trost, der mich endlich beruhigte, als Sie mir dann Ihre ersten Gedanken schenkten. Ich hatte Sie schon im Glanz aller irdischen Pracht gesehen; aber gestern erschien mir eine neue Henriette, die mein eigen wäre, wenn Gott es erlaubte. Gestern erschien mir ein Wesen, frei von allen fleischlichen Fesseln, die uns hindern, das Feuer der Seele in seiner Reinheit zu unterhalten. Du warst sehr schön in Deiner Niedergeschlagenheit, sehr hoheitsvoll in Deiner Schwäche. Gestern habe ich etwas Schöneres entdeckt als Deine Schönheit, etwas Süßeres als Deine Stimme, etwas Leuchtenderes als das Licht Deiner Augen: Düfte, für die es keine Worte gibt! Gestern war mir Deine Seele sichtbar und greifbar. Ach, wie ich darunter litt, Dir mein Herz nicht erschließen zu können, damit Du daraus ein neues Leben schöpftest! Kurz, gestern habe ich die ehrfürchtige Scheu überwunden, die Du mir einflößest; hatte uns Deine Ohnmacht nicht einander nähergebracht? Da wußte ich, was es heißt, zu atmen, als ich mit Dir atmete, als Du nach der Krise wieder unsere Luft einsogst! Wie viele Gebete stiegen in diesem einen Augenblick zum Himmel! Wenn ich da nicht mein Leben gelassen habe, wo ich die weiten Räume durchmaß, um Gott zu bitten, daß er Dich mir erhalte – so stirbt man weder vor Freude noch vor Schmerz! Dieser Augenblick hat Erinnerungen in meine Seele eingesargt, die nie an der Oberfläche auftauchen werden, ohne daß sich meine Augen mit Tränen füllen; jede Freude wird ihre Spur verbreiten, jeder Schmerz sie vertiefen. Ja, die Herzensängste, die gestern meine Seele erregten, werden mir ein Maßstab für alle kommenden Leiden sein, wie die Freuden, die Du an mich verschwendet hast – Du lieber, ewiger Gehalt meines Lebens! –, alle Freuden überragen sollen, die mir aus Gottes Hand gespendet werden. Du hast mich die göttliche Liebe kennen gelehrt, die starke Liebe, die im Vollgefühl ihrer Kraft und ihrer Dauer weder Zweifel noch Eifersucht aufkommen läßt.‹

Tiefe Schwermut nagte an meiner Seele; der Anblick eines solchen Familienlebens war zerknirschend für ein junges Herz, das für alle menschlichen Eindrücke empfänglich ist. Bei meinem Eintritt in die Welt mußte ich einen bodenlosen Abgrund, ein totes Meer finden! Diese schreckliche Häufung von Mißgeschicken entführte mich in endlose Grübeleien. Bei meinem ersten Schritt ins gesellschaftliche Leben ward mir ein gewaltiger Maßstab an die Hand gegeben, an dem gemessen alle andern Tragödien klein erschienen. Meine Traurigkeit ließ Monsieur und Madame de Chessel darauf schließen, daß meine Liebe nicht erwidert werde, und so ward mir das Glück zuteil, meiner großen Henriette durch meine Leidenschaft in keiner Weise zu schaden.

Tags darauf, als ich in den Salon eintrat, fand ich sie dort allein. Sie sah mich eine Weile an, reichte mir die Hand und sagte: »Wird denn mein Freund immer zu zärtlich sein?« Ihre Augen wurden feucht, sie stand auf und sagte mir in verzweifelt flehendem Ton: »Schreiben Sie mir nicht mehr so!«

Monsieur de Mortsauf war zuvorkommend. Die Comtesse zeigte wieder ihren Mut und ihre heitere Stirn, aber ihre Blässe verriet die Leiden des gestrigen Tages, die wohl beschwichtigt, nicht aber geheilt waren. Als wir abends durch das dürre Herbstlaub gingen, das unter unsern Füßen raschelte, sagte sie: »Das Leid ist unendlich, die Freude hat ihre Grenzen«, ein Wort, das mir alle ihre Qualen verriet, die sie so mit flüchtigen Seligkeiten verglich. »Verleumden Sie das Leben nicht!« antwortete ich; »Sie kennen die Liebe nicht, und die Liebe hat Wollüste, die bis in den Himmel strahlen.« – »Schweigen Sie«, sagte sie, »ich will nichts davon wissen! Der Grönländer mußte in Italien sterben. Ich fühle mich in Ihrer Nähe ruhig und glücklich, ich kann Ihnen alle meine Gedanken aussprechen; zerstören Sie mein Vertrauen nicht! Warum sollten Sie nicht die Tugend des Priesters mit dem Zauber des freien Mannes verbinden können?« – »Ihnen zuliebe würde man den Schierlingsbecher leeren!« sagte ich und legte ihre Hand auf mein Herz, das in hastigen Schlägen klopfte. »Immer noch?!« rief sie und zog ihre Hand zurück, als hätte sie einen heftigen Schmerz empfunden. »Wollen Sie mir denn die traurige Freude entziehen, zu wissen, daß das Blut meiner Wunden von Freundeshand gestillt wird? Erschweren Sie meine Leiden nicht, Sie kennen sie nicht alle; die geheimsten sind am schwersten zu ertragen! Wenn Sie ein Weib wären, würden Sie die Mischung aus Schwermut und Ekel verstehen, der eine stolze Seele anheimfällt, wenn sie sich von zuvorkommenden Aufmerksamkeiten umringt sieht, die nichts wieder gutmachen und mit denen ›man‹ alles wieder gutzumachen glaubt. Während einiger Tage wird ›man‹ mir den Hof machen, wird ›man‹ versuchen, Verzeihung für das begangene Unrecht zu erlangen. Bei solchen Gelegenheiten gewährte ›man‹ mir die unvernünftigsten Wünsche. Ich fühle mich gedemütigt durch seine Selbsterniedrigung, durch diese Liebkosungen, die mit dem Tage aufhören, wo ›man‹ sich einbildet, ich hätte alles vergessen. Die Huld seines Herrn nur dessen Fehlern zu verdanken . . .« – »Seinen Verbrechen!« warf ich lebhaft ein. ». . . ist das nicht ein schreckliches Dasein?« sagte sie mit traurigem Lächeln. »Außerdem verstehe ich nicht, von meiner vorübergehenden Macht Gebrauch zu machen. Jetzt gleiche ich den Rittern, die ihren gefallenen Gegnern den entscheidenden Stoß nicht versetzen. Den im Staube liegen sehen, den wir ehren sollen, ihm aufhelfen, um neue Schläge von ihm zu bekommen, unter seinem Sturze mehr leiden als er selbst und sich entehrt fühlen, wenn man aus einem zeitweiligen Einfluß, und geschähe es auch zum Besten, Nutzen zieht, seine Kraft vergeuden, die Schätze seiner Seele in Kämpfen ohne Größe erschöpfen und nur dann herrschen, wenn man tödlich verwundet ist . . . Der Tod wäre wünschenswerter. Wenn ich keine Kinder hätte, ließe ich mich reglos von diesem Leben treiben. Aber was würde aus ihnen ohne meinen verborgenen Mut? Für sie muß ich leben, wie schmerzhaft auch das Leben sei! Sie sprechen mir von Liebe . . . aber mein Freund, so denken Sie doch an die Hölle, in die ich stürzte, wenn ich diesem Menschen, der wie alle Schwächlinge mitleidslos ist, das Recht gebe, mich zu verachten! Ich könnte den geringsten Verdacht nicht ertragen. Die Reinheit meines Wandels ist meine Kraft. Die Tugend, liebes Kind, kennt heilige Quellen, in denen man sich stählt und aus denen man neu gestärkt in Gottes Liebe emporsteigt.«

»Hören Sie mich, liebe Henriette, ich habe nur noch eine Woche hier zuzubringen; ich will, daß . . .« – »Ach, Sie verlassen uns?« unterbrach sie mich. – »Muß ich denn nicht wissen, was mein Vater mit mir vorhat? Es ist fast drei Monate her . . .« – »Ich habe die Tage nicht gezählt«, antwortete sie schmelzend in frauenhafter Rührung. Sie faßte sich und sagte: »Wir wollen gehen – nach Frapesle zu.«

Sie rief den Comte, die Kinder, bat um ihren Schal. Dann, als alles bereit war, entfaltete sie, die sonst so Gemessene, Ruhige, die Lebendigkeit einer Pariserin, und wir brachen alle miteinander nach Frapesle auf, um dort einen Besuch zu machen, den die Comtesse nicht schuldig war. Sie mühte sich ab, eine Unterhaltung mit Madame de Chessel zu führen, die glücklicherweise in ihren Antworten sehr weitschweifig war. Der Comte und Monsieur de Chessel unterhielten sich über Geschäftliches. Ich fürchtete, Monsieur de Mortsauf möchte seinen Wagen und sein Gespann herausstreichen, aber er hielt sich durchaus in den Grenzen des guten Geschmacks. Sein Nachbar befragte ihn über die Arbeiten in der Cassine und der Rhétorière. Als ich die Frage hörte, sah ich zum Comte hinüber; ich dachte, er würde sich eines Gesprächsthemas enthalten, das so reich an fatalen Erinnerungen, so bitter und grausam für ihn sein mußte. Aber er bewies, wie dringend nötig es sei, den Ackerbau im Bezirk zu heben, schöne Wirtschaftsgebäude zu errichten mit großen, gesunden Räumen, kurz, er schrieb sich ruhmredig die Ideen seiner Frau zu. Ich errötete und beobachtete die Comtesse: solch ein Mangel an Feingefühl bei einem Mann, der dessen manchmal soviel hatte, dies Vergessen eines herzbrechenden Auftritts, dies Aufgreifen von Ideen, gegen die er sich so heftig gesträubt hatte, dieses Selbstbewußtsein machten mich starr.

Als Monsieur de Chessel ihn fragte: »Hoffen Sie auf Ihre Kosten zu kommen?« sagte er mit einer bejahenden Gebärde: »Reichlich!«

Ein derartiges Benehmen läßt sich nur als Wahnsinn bezeichnen. Henriette, das göttliche Wesen, strahlte. Erschien der Comte nicht als ein Mann von praktischem Verstand, ein guter Verwalter und ausgezeichneter Landwirt? Sie streichelte entzückt das Haar Jacques', sie war glücklich für ihren Sohn. Welch ergreifende Komik! Welch tragische Ironie! Ich war entsetzt davon.

Später freilich, als der Vorhang der gesellschaftlichen Bühne vor mir emporging, da sah ich viele Mortsaufs, und sie hatten nicht einmal zeitweise die Ritterlichkeit und die Frömmigkeit des Comte. Welch seltsame, hämische Macht ist es, die stets dem Narren einen Engel hinwirft, dem Mann von aufrichtiger, seelenvoller Liebe eine schlechte Frau, dem Kleinen die Große, und diesem Scheusal ein schönes, überirdisches Wesen, der edlen Juana den Kapitän Diar, von dem Sie in Bordeaux gehört haben werden, Madame de Beauséant einen d'Ajuda, Madame d'Aiglemont ihren Mann und dem Marquis d'Espard seine Frau? Ich habe lange nach der Lösung dieses Rätsels gesucht. Ich habe viele Geheimnisse durchforscht, habe den Grund vieler Naturgesetze erkannt, den Sinn mancher göttlichen Hieroglyphen. Aber an diesem Rätsel studiere ich noch immer wie an einem indischen Kopfzerbrecher, dessen Symbolik nur Brahmanen kennen. Hier ist das Prinzip des Bösen zu augenfällig, und ich wage nicht, Gott anzuklagen. Wer vergnügt sich denn damit, sich in Mißgeschicke zu stürzen, gegen die es kein Mittel gibt? Sollten etwa Henriette und ihr ›unbekannter Philosoph‹ recht haben? Sollte ihre Mystik die Lösung des Menschenrätsels in sich schließen?

Die letzten Tage, die ich in der Gegend verbrachte, waren die Tage herbstlichen Blätterfalls, von Wolken überdüstert, die bisweilen den in der schönen Jahreszeit so freundlichen Himmel der Touraine verhüllten. Am Vorabend meiner Abreise führte mich Madame de Mortsauf vor Tisch auf die Terrasse.

»Mein lieber Felix«, sagte sie, nachdem wir eine Weile schweigend unter kahlen Bäumen gegangen waren, »Sie werden jetzt in die Welt eintreten, und meine Gedanken sollen Sie dahin begleiten. Wer viel gelitten hat, hat viel gelebt, und glauben Sie nicht, daß einsame Seelen nichts von der Welt wissen: sie richten sie. Wenn ich in meinem Freunde leben soll, will ich mich in seinem Herzen und Gewissen nicht unbehaglich fühlen. Mitten im Kampfgedränge ist es recht schwierig, sich aller Vorschriften zu erinnern; lassen Sie mich Ihnen einige gute mütterliche Ratschläge geben! Am Tage Ihrer Abreise, liebes Kind, werde ich Ihnen einen langen Brief einhändigen, worin Sie meine weibliche Auffassung niedergelegt finden werden von der Welt, den Menschen und von der Art, wie man in dem großen Interessengewirr Schwierigkeiten begegnen soll. Versprechen Sie mir, ihn erst in Paris zu lesen! Meine Bitte ist eine gefühlsmäßige Laune, wie sie nur uns Frauen verständlich ist. Ich halte es nicht für unmöglich, daß man sie verstehe, aber vielleicht verdrösse es uns, sie verstanden zu wissen. Lassen Sie mir die kleinen Pfade, wo Frauen gern allein wandeln!« – »Ich verspreche es Ihnen«, sagte ich und küßte ihre Hand. »Ach!« rief sie aus, »ich muß Ihnen noch ein anderes Gelübde abnehmen; aber versprechen Sie mir im voraus, daß Sie ja sagen wollen.« »Ja, ja!« antwortete ich, da ich glaubte, es handle sich um Treue. »Es geht nicht um mich«, erwiderte sie schmerzlich lächelnd. »Felix, spielen Sie nie in irgendeinem Salon; ich nehme keinen aus!« – »Ich werde mich immer vom Glücksspiel fernhalten«, antwortete ich. »Gut«, sagte sie, »ich habe für Sie eine bessere Anwendung der Zeit gefunden, die Sie beim Spiel vergeuden würden. Sie werden sehen, daß, wo andere früh oder spät verlieren müssen, Sie nur gewinnen können.« – »Wieso?« – »Mein Brief wird es Ihnen sagen«, antwortete sie in einem fast übermütig heitern Ton, der ihren Ermahnungen den übertriebenen Ernst nahm, in den sich großväterliche Ratschläge zu hüllen pflegen.

Die Comtesse unterhielt sich etwa eine Stunde lang mit mir. Sie ließ mich erkennen, wie tief sie mich liebte. Denn sie bewies mir, mit welcher Sorgfalt sie mich während der drei letzten Monate beobachtet hatte. Sie drang bis in die geheimsten Winkel meines Herzens und suchte ihre Gefühle den meinen genau anzupassen. Der Klang ihrer Stimme war abwechslungsreich und überzeugend, ihre Worte kamen von mütterlichen Lippen und zeigten durch Ton und Inhalt, welch feste Bande uns schon aneinanderketteten.

»Wenn Sie wüßten«, sagte sie zum Schluß, »mit welcher Besorgnis ich Ihren Weg verfolgen werde, welche Freude es mir sein wird, wenn Sie vorwärtskommen, welche Tränen, wenn Sie gegen Hindernisse stoßen! Glauben Sie mir, meine Liebe zu Ihnen ist ohnegleichen, sie ist gleichzeitig unwillkürlich und bewußt. Ach! ich möchte Sie glücklich, mächtig, geachtet wissen, Sie, der Sie für mich ein lebendiger Traum sind.«

Sie rührte mich zu Tränen, sie war gleichzeitig sanft und erschreckend, ihr Gefühl enthüllte sie mit zuviel Kühnheit, es war zu rein, um in dem liebedurstigen jungen Mann die geringste Hoffnung aufkommen zu lassen. Alle meine fleischlichen Sehnsüchte zerrissen sich an ihrem Herzen, aber dafür überströmte sie mich mit dem leuchtenden Licht der himmlischen Liebe, die unverwüstlich und ohne Ende ist, die aber nur die Seele befriedigt. Sie erklomm Höhen, zu denen die gleißenden Flügel meiner Liebe mich nicht emportragen konnten, meiner Liebe, die einst an ihren Schultern sich geweidet hatte. Um zu ihr zu gelangen, hätte es der weißen Flügel des Seraphs bedurft.

»In allen Dingen«, sagte ich ihr, »werde ich denken: was würde meine Henriette dazu sagen?« – »Schön! Ich werde Ihr Stern und Ihr Allerheiligstes sein.« Sie spielte auf meine Kinderträume an. Sie wollte ihre Erfüllung sein, damit meine Begierden sich beruhigten.

»Sie werden meine Göttin und meine Sonne sein, Sie werden mir alles sein!« rief ich aus. »Nein!« antwortete sie. »Ich kann nicht der Born Ihrer andern Freuden sein.« Sie seufzte und lächelte mir zu wie in Schleiern geheimen Leidens oder wie ein Sklave lächelt, der sich einen Augenblick empört hatte. Von diesem Tage an war sie für mich nicht die Geliebte, sondern die Geliebteste. Sie war nicht in meinem Herzen wie die Frau, die ihren Platz verlangt, die dort sich eingräbt durch Aufopferung oder durch das Übermaß der Wollust; nein, sie besaß mein ganzes Herz und beherrschte mein Leben. Sie wurde mir, was Beatrice dem florentinischen Dichter, was die fleckenlose Laura dem venezianischen Dichter war: die Mutter meiner großen Gedanken, die unbekannte Ursache rettender Entschlüsse, die Stütze meiner Zukunft, das Licht, das im Finstern strahlt, wie die Lilie im dunkeln Blätterwerk. Wie gab mir heroische Entschlüsse ein, die dem Feuer trotzen und ihm seine Beute entreißen. Sie schenkte mir die Beharrlichkeit eines Coligny, den Sieger zu besiegen, sich aus der Niederlage wieder zu erheben und die stärksten Ringer zu ermüden.

Am nächsten Tage nach dem Frühstück, als ich von meinen Gastgebern in Frapesle Abschied genommen hatte, die sich so freundlich der Selbstsucht meiner Liebe gefügt hatten, begab ich mich nach Clochegourde. Monsieur und Madame de Mortsauf hatten beschlossen, mich bis nach Tours zu begleiten, von wo ich in der Nacht nach Paris aufbrechen sollte. Auf dem ganzen Wege war die Comtesse schweigsam und voll Liebe. Sie schützte zuerst Migräne vor, dann schämte sie sich dieser Lüge und machte sie wieder gut, indem sie zugab, daß sie mich nicht ohne Bedauern scheiden sehe. Der Comte lud mich ein, zu ihm zu kommen, wenn ich je in Abwesenheit von Chessels das Tal der Indre wiederzusehen wünschte. Wir trennten uns wie Helden, tränenlos, aber wie manche kränkliche Kinder war Jacques beim Abschied tief erschüttert und weinte, indes Madeleine aus weiblichem Instinkt die Hand ihrer Mutter drückte.

»Lieber Junge!« sagte die Comtesse und küßte Jacques leidenschaftlich. Als ich in Tours allein war, überkam mich nach Tisch ein unerklärlicher Anfall von Raserei, wie man sie nur in der Jugend hat. Ich mietete ein Pferd und durchraste in fünf viertel Stunden die Entfernung zwischen Tours und Pont-de-Ruan. Dann schämte ich mich meiner Torheit, lief zu Fuß weiter und schlich wie ein Spion leise an die Terrasse heran. Die Comtesse war nicht dort. Ich dachte mir, daß sie litte. Und da ich den Schlüssel der kleinen Pforte behalten hatte, öffnete ich und trat ein. In diesem Augenblick kam sie mit ihren beiden Kindern die Stufen der Terrasse herunter, um langsam und traurig die sanfte Wehmut einzuatmen, die der Sonnenuntergang über diese Landschaft ausbreitet.

»Mutter, da ist Felix!« rief Madeleine. »Ja, ich bin's«, flüsterte ich. »Ich habe mir überlegt, was ich eigentlich in Tours tun sollte und daß es mir doch ein leichtes wäre, Sie noch einmal zu sehen. Warum sollte ich nicht einem Wunsche nachgeben, den ich mir in acht Tagen werde versagen müssen?«

»Er bleibt bei uns, Mutter!« jauchzte Jacques und hüpfte vor Vergnügen. »So sei doch ruhig!« sagte Madeleine. »Du wirst noch mit deinem Geschrei den General herauslocken.«

»Das war nicht vernünftig«, flüsterte Henriette; »welche Torheit!«

Diese Worte, mit Tränen in der Stimme gesprochen, waren ein guter Gewinn in einer Sache, die man die geschäftlichen Spekulationen der Liebe nennen könnte.

»Ich mußte Ihnen noch diesen Schlüssel zurückgeben«, sagte ich lächelnd. »Werden Sie denn nicht wiederkommen?« fragte sie. »Können wir denn voneinander lassen?« fragte ich mit einem Blick, der sie zwang, die Lider zu senken, um ihre stumme Antwort zu verschleiern.

Ich brach auf, nach wenigen Momenten einer glücklichen Betäubung, die an der Grenze von Begeisterung und überschwenglicher Verzückung liegt. Langsamen Schrittes entfernte ich mich und blickte immer wieder zurück. Als ich von der Höhe des Plateaus zum letzten Mal das Tal betrachtete, war ich ganz ergriffen vom Gegensatz zwischen dem, was es jetzt war, und dem Anblick, den es bei meiner ersten Ankunft geboten hatte. Grünte es nicht damals, flammte es nicht, wie meine Wünsche und Hoffnungen flammten und grünten? . . . Jetzt war ich eingeweiht in die dunkeln und trüben Geheimnisse einer Familie, ich teilte die Herzensängste einer christlichen Niobe, war traurig wie sie, und meine umwölkte Seele fand, daß das Tal in seiner jetzigen Gestalt mit meinem Empfinden übereinstimmte. Die Felder lagen kahl, die Blätter der Pappeln fielen zu Boden, und die noch an den Zweigen hingen, waren rostfarben, die Weinranken hatte die Sonne verbrannt, und die Wipfel der Wälder zeigten die ernsten lohfarbigen Töne, die Könige ehemals für ihre Gewandung wählten, um den Purpur der Macht unter dem Braun der Sorgen zu verbergen. So war das Tal, wo die bleichen Strahlen einer matten Sonne erstarben, ganz das lebendige Ebenbild meiner Seele. Eine geliebte Frau verlassen, das ist je nachdem etwas Tragisches oder eine Banalität. Ich befand mich plötzlich wie in einem fremden Lande, dessen Sprache ich nicht kannte. Ich konnte zu nichts Fühlung gewinnen, da ich nur Dinge sah, die meiner Seele fremd waren. Da entfaltete sich die ganze Weite meiner Liebe, und meine liebe Henriette entstieg in ihrer ganzen Größe dieser Einöde, wo ich nur durch den Gedanken an sie lebte. Ihr Bild ward so andächtig verehrt, daß ich beschloß, vor meiner heimlichen Gottheit makellos zu bleiben, und in Gedanken hüllte ich mich in das weiße Gewand der Leviten, Petrarca nacheifernd, der nie anders als weißgekleidet vor Laura von Nover erschien.

Mit welcher Ungeduld erwartete ich die erste Nacht, wo ich zu Hause wäre und den Brief lesen könnte, den ich unterwegs betastete wie der Geizhals das Bündel Banknoten, das er bei sich führen muß. In der Nacht küßte ich das Dokument, worin Henriette ihren Willen niedergelegt hatte. Ich wollte das geheime Fluidum, das ihrer Hand entströmt war, in mich aufnehmen, und der Klang ihrer Stimme sollte mein andachtsvolles Ohr erfüllen. Ich habe ihre Briefe nie anders gelesen, als wie ich den ersten las: im Bette liegend, mitten im tiefsten Schweigen der Nacht. Ich verstehe nicht, wie man die Briefe eines geliebten Menschen anders lesen kann. Und doch gibt es Menschen, und sie verdienen nicht, geliebt zu werden, die solche Briefe mitten in ihren Tagesgeschäften lesen, sie halbgelesen hinlegen, sie dann wieder in die Hand nehmen, und das alles mit einer hassenswerten Gemütsruhe. – Dies, Natalie, ist die angebetete Stimme, die in der Stille der Nacht erklang, dies die erhabene Gestalt, die sich neben mir aufrichtete, um mir den rechten Weg zu weisen, da ich nunmehr am Kreuzweg angelangt war:

›Welch ein Glück für mich, lieber Freund, die zerstreuten Bruchstücke meiner Erfahrung zu sammeln und sie Ihnen zu übermitteln, um Sie für die Gefahren der Welt auszurüsten, durch die Sie sich jetzt mit Geschick Ihren Weg bahnen sollen. Ich war glücklich wie eine Mutter in diesen Nächten, wo ich für Sie gedacht und gesorgt habe. Während ich diesen Brief Satz für Satz niederschrieb und mich im voraus in Ihr morgiges Leben hineinversetzte, unterbrach ich mich manchmal, um ans Fenster zu gehen. Wenn ich von dort die Türme von Frapesle im Mondlicht glänzen sah, sagte ich mir oft: ›Er schläft, und ich wache für ihn.‹ Es war ein wunderbarer Reiz, der mich an das erste große Glück meines Lebens erinnerte: damals, als ich Jacques in seiner Wiege schlafen sah und auf sein Erwachen wartete, um ihm die Brust zu reichen. Sind Sie nicht trotz Ihrer Jahre noch ein Kind, dessen Seele stärkenden Trostes bedarf, der Ihnen in dem schrecklichen Internat, wo Sie soviel gelitten haben, vorenthalten blieb, aber den zu spenden wir Frauen ein Vorrecht haben? Diese unbedeutenden Kleinigkeiten üben einen Einfluß auf Ihre Erfolge aus, bereiten sie vor und befestigen sie. Wird dieser Entwurf eines Lebensplans, mit dem Sie alle Ihre Handlungen in Einklang bringen sollen, nicht eine Art geistiger Mutterschaft sein, eine Mutterschaft, die vom Kinde ganz verstanden wird? Lieber Felix, lassen Sie mich auf die Gefahr hin, einige Irrtümer zu begehen, unserer Freundschaft das Siegel veredelnder Uneigennützigkeit aufdrücken: Sie der Welt überlassen – heißt das nicht auf Sie verzichten? Aber ich liebe Sie genug, um meine Freuden Ihrer Zukunft zu opfern. Seit fast vier Monaten haben Sie mich veranlaßt, seltsam tief über die Gesetze und Sitten nachzudenken, die unsere Zeit beherrschen. Meine Unterredungen mit meiner Tante, die Sie kennen müssen, weil Sie mir diese Frau ersetzen, die Ereignisse ihres Lebens, die mir durch Monsieur de Mortsauf bekannt sind, die Worte meines Vaters, der mit höfischem Leben so vertraut war, die größten und kleinsten Einzelheiten, alles ist in meiner Erinnerung aufgetaucht, zum Nutzen meines Adoptivkinds, das sich aber fast ohne Rat und Hilfe mitten unter die Menschen hineinwagt, das auf dem Punkte ist, sich führerlos in ein Land zu begeben, wo viele durch gedankenlose Verschwendung ihrer guten Eigenschaften zugrunde gehen und manche durch kluges Ausnützen ihrer Untugenden Erfolg haben.

Vor allem denken Sie über meine kurzen Äußerungen nach – Ihnen genügen ja wenige Worte! –, über das, was ich vom Zustand der Gesellschaft, als Ganzes genommen, gesagt habe. Ich weiß nicht, ob die Gesellschaft göttlichen Ursprungs ist oder ob die Menschen sie erfunden haben, auch weiß ich nicht, in welcher Richtung sie sich entwickelt. Was für mich außer Frage steht, ist ihre Existenz. Sobald Sie sie bejahen, statt außerhalb zu leben, müssen Sie ihre Grundbedingungen für vortrefflich halten. Sie werden morgen gewissermaßen einen Vertrag mit ihr abschließen. Benützt die heutige Gesellschaft den Menschen mehr, als sie ihm nützt? Ich glaube es; aber ob der einzelne in ihr mehr Bürden als Würden findet, ob er die Vorteile, die sie ihm bietet, zu teuer bezahlen muß, das sind Fragen, die den Gesetzgeber, nicht den einzelnen angehen. Meiner Ansicht nach sollen Sie in allen Dingen dem Allgemeingültigen bedingungslos folgen, gleichviel, ob es Ihre Interessen schädigt oder fördert. So einfach Ihnen diese Forderung scheinen mag, ihre Durchführung ist schwierig genug. Sie gleicht einem Saft, der die kleinsten Äderchen durchdringen soll, um den Baum zu beleben, sein Laub zu erhalten, seine Blüten zu treiben und seine Früchte so herrlich zu gestalten, daß er allgemeine Bewunderung erregt. Lieber, nicht alle Gesetze sind in Büchern niedergelegt. Auch die Sitten schaffen Gesetze, von denen die wichtigsten oft die wenigst bekannten sind. Es gibt weder Professoren noch Abhandlungen, noch hohe Schulen für dies Recht, das Ihre Handlungen, Ihre Reden, Ihr äußeres Leben, Ihre Art, der Welt entgegenzutreten und den Erfolg auszunützen, bestimmt. Gegen dieses geheime Gesetz verstoßen heißt: in den Niederungen der Gesellschaft hängenbleiben, statt sie zu beherrschen. Es mag sein, daß dieser Brief sich häufig mit Ihren eigenen Gedanken deckt; aber lassen Sie mich immerhin Ihnen meine Frauenpolitik anvertrauen.

Die Gesellschaft durch die Theorie des Einzelglücks auf Kosten der Gesamtheit erklären zu wollen, ist eine verderbliche Lehre, die in ihren logischen Folgerungen zu der Auffassung führt, daß das, was immer der Mensch sich im geheimen aneignet, ohne daß das Gesetz, die Welt oder ein einzelner des Verstoßes gewahr werde, ihm von Rechts wegen zukomme. Nach diesem Kodex ist der geschickte Dieb freigesprochen, die Frau, die unbemerkt gegen ihre Pflichten verstößt, glücklich und weise. Töten Sie einen Menschen, ohne daß die Justiz es nachweisen kann: wenn Sie wie Macbeth ein Diadem erringen, so haben Sie richtig gehandelt! Ihr Interesse wird dann oberstes Gesetz, und es handelt sich nur darum, Zeugen und Schuldbeweisen aus dem Wege zu gehen und sich über die Schwierigkeiten hinwegzusetzen, die Sitte und Gesetz zwischen Ihnen und Ihren Begierden aufrichtet. Von diesem Gesichtspunkt aus beschränkt sich das ganze Problem des Erfolgs darauf, ein Spiel zu wagen, dessen Einsätze eine Million oder die Galeere, eine politische Machtstellung oder völlige Entehrung sind. Zudem hat der grüne Tisch nicht Platz genug für alle Spieler, und es bedarf genialer Kombinationen, um einen Treffer zu machen. Ich wende mich weder an Ihre Religiosität noch an Ihr Gefühl; es handelt sich hier lediglich um das Räderwerk einer Maschine aus Gold und Eisen, deren sofortige Leistungen die Leute interessieren. Liebes Kind meiner Seele, wenn Sie meinen Abscheu gegen jene Verbrechertheorie teilen, so werden Sie finden, daß sich das Wesen der Gesellschaft für jeden gesund denkenden Menschen nur durch die Theorie der Pflicht erklären läßt. Ja, Sie haben gegen Ihre Mitmenschen tausendfältige Verpflichtungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Meiner Ansicht nach hat der Duc und Pair gegen den Handwerker und Arbeiter mehr Verpflichtungen als umgekehrt. Die Pflichten wachsen in demselben Maße wie die Rechte, die die Gesellschaft dem Menschen zuerkennt, nach dem Grundsatz, der für den Handel wie für die Politik gilt, daß die Last der Verantwortung immer der Größe des möglichen Gewinns entspricht. Jeder zahlt seine Schuld auf seine Art. Wenn unser armer Arbeiter in der Rhétorière sich, ermüdet von der Feldarbeit, zur Ruhe legt – glauben Sie, er hätte dann nicht seine Pflichten voll erfüllt? Er ist ihnen gewiß besser gerecht geworden als mancher Hochgestellte! Wenn Sie nun die Gesellschaft betrachten, in der Sie eine Ihrer Intelligenz und Ihren Gaben entsprechende Stellung einnehmen wollen, so muß für Sie als leitender Gesichtspunkt dieser Grundsatz gelten: erlaube dir nichts, was gegen dein eigenes oder das öffentliche Gewissen verstößt! Der Nachdruck, den ich hierauf lege, mag Ihnen überflüssig scheinen, aber ich bitte Sie dringend – Ihre Henriette fleht Sie an –, den Sinn dieser Worte wohl zu erwägen. So scheinbar simpel sie sind, so bedeuten sie doch, mein Lieber, nichts weniger, als daß Redlichkeit, Ehrgefühl, Vornehmheit der Gesinnung und Höflichkeit die sichersten, schnellsten und geradesten Wege zum Erfolge sind. In dieser Welt des Eigennutzes werden Ihnen eine Menge Leute sagen, daß man mit Gefühlsduselei nicht weiterkommt, daß zu zarte moralische Bedenken hinderlich seien. Sie werden schlecht erzogene, ungebildete oder kurzsichtige Menschen finden, die einen Untergebenen beleidigen; die sich einer alten Frau gegenüber eine Unhöflichkeit zuschulden kommen lassen; denen es zu langweilig ist, sich einen Augenblick mit einem Greis abzugeben, bloß weil sie finden, daß diese Leute ihnen nichts nutzen können. Darauf werden Sie beobachten, daß diese selben Menschen sich an Dornen ritzen, denen sie die Spitze nicht abgebrochen haben, und ihr Glück um einer Bagatelle willen verscherzen; während der Mensch, der sich früh mit der Theorie der Pflicht vertraut gemacht hat, weniger auf Schwierigkeiten stößt – vielleicht wird er länger brauchen, seinen Weg zu machen, aber sein Erfolg wird festen Grund und Bestand haben, während der vieler anderer zusammenbricht.

Wenn ich Ihnen sage, daß zum Befolgen dieser Lehre vor allen Dingen Kenntnis der guten Umgangsformen nötig ist, so werden Sie vielleicht finden, daß meine Gesetzgebung etwas an den Ton bei Hofe und an meine eigene Erziehung im Hause Lenoncourt erinnert. Lieber Freund, ich messe dieser scheinbar so geringfügigen Unterweisung den allergrößten Wert bei. Die Umgangsformen der höhern Kreise sind Ihnen ebenso unerläßlich wie die mancherlei ausgedehnten Kenntnisse, die Sie besitzen; guter Ton ersetzt oft Wissen. Oft haben im Grunde Unwissende dank angeborener geistiger Regsamkeit und der Fähigkeit, ihre Gedanken logisch zu ordnen, eine Stellung gewonnen, die Würdigern vorenthalten blieb. Ich habe Sie beobachtet, Felix, um festzustellen, ob Ihre Allerweltsschulbildung nichts Edles in Ihnen zerstört hat. Gott allein weiß, mit welcher Freude ich wahrgenommen habe, daß Sie das Wenige, das Ihnen fehlt, leicht erwerben können. Bei vielen in unsern Traditionen erzogenen Leuten sind gute Manieren etwas rein Äußerliches, doch feinster Anstand und wahrhaft gute Manieren kommen vom Herzen und von einem ausgeprägten Gefühl persönlichen Wertes. Deshalb sind manche Adlige trotz ihrer Erziehung unfein, während gewisse Leute bürgerlicher Herkunft von Haus aus eine vornehme Lebensart besitzen und nur einigen Schliffs bedürfen, um sich, ohne linkisch etwas nachzuahmen, die allerbeste gesellschaftliche Bildung anzueignen. Glauben Sie einer armen Frau, die nie ihr Tal verlassen wird: dieser vornehme Ton, diese anmutige Einfachheit, die sich im Wort, in der Geste, in der Haltung, selbst im Hause offenbart, sind gewissermaßen ein angeborenes, unbewußtes Künstlertum, dessen Reiz unwiderstehlich ist. Wie groß muß ihre Macht erst sein, wenn sie dem Herzen entspringen! Höflichkeit, liebes Kind, besteht darin, daß man sich für andere zu vergessen scheint; bei vielen Leuten ist sie eine gesellschaftliche Grimasse, die sich verwandelt, sobald das geschädigte Eigeninteresse durchbricht. In solchen Fällen wird ein Großer gemein, aber – und so soll es bei Ihnen sein, Felix! – die wahre Höflichkeit schließt einen christlichen Gedanken in sich, sie ist die Blüte der Liebe und besteht darin, sich in Wahrheit zu vergessen. Im Gedenken an Ihre Henriette seien Sie nicht wie eine Quelle ohne Wasser, verbinden Sie den Geist und die Form! Fürchten Sie nicht, das Opfer dieser gesellschaftlichen Tugend zu werden! Früher oder später werden Sie die Frucht dieses scheinbar in den Wind gesäten Samens ernten. Mein Vater hat seinerzeit beobachtet, daß eine der beleidigendsten Äußerungsformen mißverstandener Höflichkeit ein Übermaß von Versprechungen ist. Wenn man Sie um etwas bittet, was Sie nicht erfüllen können, so schlagen Sie es ab, ohne auch nur den Schimmer einer trügerischen Hoffnung bestehen zu lassen, und gewähren Sie rasch, was Sie gewähren wollen und können! So werden Sie die Anmut des Versagens und die Anmut des Gewährens besitzen, und dieser doppelte Vorzug bringt einen Charakter wundervoll zur Geltung. Ich weiß nicht, ob man jemandem einer getäuschten Hoffnung wegen nicht mehr gram ist, als man ihm für eine Gunstbezeugung Dank wußte. Vor allen Dingen, lieber Freund – diese Kleinigkeiten schlagen ganz in mein Fach, und ich darf mich wohl über das verbreiten, was ich zu wissen glaube –, seien Sie weder vertrauensselig noch banal, noch zu entgegenkommend: das sind drei Klippen. Übergroße Vertrauensseligkeit untergräbt die Achtung, Banalität bringt Verachtung ein, Übereifer gibt uns der Ausbeutung preis. Und in erster Linie, liebes Kind, werden Sie im Leben nur zwei oder drei Freunde haben, denen kommt Ihr ganzes Vertrauen zu. Es an mehr Leute verschwenden, hieße das nicht: an den Würdigen Verrat üben? Wenn Sie sich mit einigen Menschen enger anfreunden als mit andern, seien Sie über sich selbst verschwiegen, seien Sie immer zurückhaltend, so, als sollten Sie die Freunde eines Tages zu Mitbewerbern, zu Gegnern oder zu Feinden haben. Die Wechselfälle des Lebens können es ja auch tatsächlich soweit kommen lassen. Wahren Sie sich eine Haltung, die weder ablehnend noch überschwenglich ist! Suchen Sie die goldene Mittelstraße zu finden, auf der man gehen kann, ohne sich etwas zu vergeben! Glauben Sie mir: ein Gentleman hält sich gleich fern von der feigen Gefälligkeit eines Philinte und von der herben Tugend eines Alceste. Die Kunst des Komödiendichters zeigt sich ganz in diesem Hinweis auf den wahren Mittelweg, den vornehme Menschen seiner Gesellschaft einschlagen werden. Gewiß, alle werden eher zu den Lächerlichkeiten der Tugend neigen als zu der äußersten Verächtlichkeit, die sich unter einem biedern Egoismus verbirgt. Aber Sie sollen sich vor beiden Extremen hüten. Was nun die Banalität anbelangt, so kann sie Ihnen wohl bei einigen Schwachköpfen den Ruf eines reizenden Menschen eintragen; aber Leute, die tiefer blicken, die menschliche Fähigkeiten abzuwägen pflegen, werden bald Ihre Schwäche erkennen und Sie geringschätzen. Denn Banalität ist die Zuflucht der geistig Schwachen. Nun aber werden die Schwachen unglücklicherweise verachtet in einer Gesellschaft, die in ihren Mitgliedern nur Werkzeuge sieht, und vielleicht hat sie recht, denn die Natur verurteilt unvollkommene Wesen zum Untergang. So entstammt auch die rührende Gönnerschaft der Frau vielleicht dem Vergnügen, das sie darin findet, gegen eine blinde Gewalt anzukämpfen und der Klugheit des Herzens zum Sieg über die rohe Gewalt zu verhelfen. Aber die Natur, die viel mehr eine Rabenmutter als eine gute Mutter ist, vergöttert nur die Kinder, die ihrer Eitelkeit schmeicheln. Und den Übereifer, diese erste und so edle Irrung der Jugend, die sich erst wahrhaft befriedigt fühlt, wenn sie ihre Kräfte entfalten kann, und die so sich selbst und andern zum Narren wird: den sparen Sie auf alle Fälle, wo Ihr Gefühl erwidert wird, sparen Sie ihn für das Weib und für Gott! Tragen Sie nicht auf den gemeinen Markt der Welt oder in die Börse des politischen Lebens Schätze, die man Ihnen gegen wertlosen Tand einwechselt! Sie sollen der Stimme folgen, die Ihnen befiehlt, in allen Lebenslagen edel zu sein, sooft diese Stimme Sie ermahnt, sich nicht unnötig zu vergeuden. Denn unglücklicherweise werden die Menschen Sie nach Ihrem Nutzen einschätzen, ohne Ihren Wert in Anschlag zu bringen. Lassen Sie mich ein Bild brauchen, das sich Ihrem Dichtersinn einprägen wird: gleichviel, ob ein Monogramm riesengroß in Gold ausgeführt oder mit Bleistift geschrieben ist – es ist und bleibt ein Monogramm! Ein Mann unserer Zeit hat gesagt: ›Legen Sie nie Eifer an den Tag!‹ Übereifer grenzt an Torheit und führt zu Enttäuschungen. Sie werden nie bei Vorgesetzten eine Wärme finden, die der Ihren gleichkommt; Könige und Frauen bilden sich ein, daß alles ihnen gehört! Traurig genug ist dieser Grundsatz, aber er ist richtig und braucht die Seele nicht zu ernüchtern. Verlegen Sie Ihre edelsten Gefühle in unnahbare Regionen, wo ihre Blüten leidenschaftliche Bewunderung finden, wo der Künstler liebevoll von seinem Kunstwerk träumen kann. Pflichten, lieber Freund, sind nicht Gefühlssache! Tun, was man soll, heißt nicht: tun, was Freude macht. Ein Mann soll kaltblütig für sein Vaterland sterben, und er kann in trunkenem Glück sein Leben einer Frau geben. Eine Hauptregel der Wissenschaft des guten Tones heischt fast unbedingtes Schweigen über sich selbst. Leisten Sie sich einmal den Scherz, mit bloßen Bekannten über Ihre eigene Person zu sprechen, unterhalten Sie sie von Ihren Leiden, Freuden oder Geschäften, bald wird Gleichgültigkeit einer geheuchelten Teilnahme folgen, und wenn sich erst Langeweile einstellt, wird entweder die Gastgeberin Sie höflich unterbrechen, oder Ihre Zuhörer werden sich unter irgendeinem geschickten Vorwand entfernen. Wollen Sie aber die allgemeine Sympathie erringen, für einen liebenswürdigen, geistreichen und zuverlässigen Menschen gelten, dann unterhalten Sie Ihre Zuhörer von ihnen selbst, suchen Sie sie möglichst in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, selbst wenn Sie Fragen erörtern, die anscheinend mit dem einzelnen gar nichts zu tun haben. Dann werden die Stirnen sich aufheitern, jeder Mund wird Ihnen zulächeln, und kaum sind Sie fort, so wird jeder Sie loben! Ihr Gewissen und die Stimme des Herzens werden Ihnen die Grenze weisen, wo feige Schmeichelei anfängt und liebenswürdige Unterhaltung aufhört. Noch ein Wort über das Reden in Gesellschaft. Lieber Freund, die Jugend neigt immer zu einer gewissen Raschheit im Urteilen, die ihr Ehre macht, ihr aber schaden kann. Darum legte die Erziehung früherer Zeiten den jungen Leuten Schweigen auf, solange sie sich bei großen Herren aufhielten, wo sie die Welt kennenlernen sollten. Denn früher hatte der Adel, wie die Kunst, seine Lehrlinge, seine Pagen, die ihren Brotherren treu ergeben waren. Heutzutage besitzt die Jugend eine ungesunde Treibhausbildung, die sie zu einem strengen Urteil über Taten, Gedanken und Schriften verleitet: sie entscheidet Fragen mit der Schneide eines noch unerprobten Schwertes. Hüten Sie sich vor diesem Mißbrauch! Ihr Aburteilen könnte viele Leute in Ihrer Umgebung verletzen, und man verzeiht vielleicht weniger eine geheime Beleidigung als eine öffentliche Ungerechtigkeit. Junge Leute sind unnachsichtig, weil sie vom Leben und seinen Schwierigkeiten nichts wissen. Der alte Kritiker ist sanft und gütig, der junge erbarmungslos. Der eine weiß alles, der andere weiß nichts. Übrigens liegt jeder menschlichen Handlung ein Labyrinth von bestimmenden Motiven zugrunde, deren endgültige Beurteilung Gott vorbehalten ist. Seien Sie nur gegen sich selbst streng! Vor Ihnen liegt Ihr Glück, aber niemand in der Welt kann ohne Freundesbeihilfe seinen Weg machen. Suchen Sie oft das Haus meines Vaters auf – es steht Ihnen offen! Die Beziehungen, die Sie dort anknüpfen werden, können Ihnen bei tausend Gelegenheiten nützlich sein. Aber lassen Sie meine Mutter nicht einen Fingerbreit Boden in Ihnen gewinnen! Sie erdrückt den, der ihr nachgibt, und bewundert den Stolz, der ihr trotzt. Sie gleicht dem Eisen, das sich nur mit Eisen zusammenschmieden läßt, dessen Berührung aber weniger harte Stoffe zerbricht. Unterhalten Sie gute Beziehungen zu meiner Mutter; wenn sie Ihnen wohlwill, wird sie Ihnen Eintritt in Salons verschaffen, wo Sie sich die unumgängliche Weltgewandtheit aneignen können, die Kunst, zuzuhören, zu sprechen, zu antworten, sich vorzustellen und zu verabschieden, die treffsichere Ausdrucksweise und das undefinierbare Etwas, das ebensowenig die Überlegenheit ausmacht wie das Kleid das Genie, ohne das aber die schönsten Talente sich nicht durchsetzen können. Ich kenne Sie hinreichend, um gewiß zu sein, daß ich mich nicht Illusionen hingebe, wenn ich Sie im voraus so sehe, wie ich Sie wünsche: einfach in Ihrem Auftreten, freundlich in Ihrer ganzen Art, stolz ohne dumme Eitelkeit, Greisen gegenüber ehrerbietig, zuvorkommend, ohne Kriecherei, vor allem diskret. Entfalten Sie Ihren Geist, aber machen Sie sich nicht andern zum Narren! Bedenken Sie wohl, daß, wenn Ihre Überlegenheit einen Durchschnittsmenschen verletzt, er zwar schweigen, aber nachher von Ihnen sagen wird: Er ist sehr ergötzlich! – was Verachtung bedeutet. Ihre Überlegenheit sei immer die eines Löwen. Suchen Sie aber nicht den Menschen in allem zu gefallen! In Ihren Beziehungen zu andern empfehle ich Ihnen eine Kühle, die sich bis zur Anmaßung steigern mag, an der sich jedoch niemand stößt. Jedermann achtet den, der ihn geringschätzt, und diese Mißachtung wird Ihnen die Gunst der Frauen sichern, die Sie in dem Maße schätzen werden, wie Sie selbst andere Männer geringschätzen. Dulden Sie nie Leute um sich, die die allgemeine Achtung verloren haben, und wären sie selbst unschuldig! Denn die Welt verlangt Rechenschaft von uns über unsere Freundschaften und Feindschaften. Hierin müssen Ihre Entscheidungen reiflich überlegt, aber dann unwiderruflich sein. Merkt man erst, daß Leute, die Sie abgewiesen haben, Ihr ablehnendes Verhalten verdient hatten, so wird Ihre Wertschätzung im Preise steigen, so werden Sie die unausgesprochene Hochachtung einflößen, die einen Menschen unter Menschen groß macht. – So, nun sind Sie gut ausgerüstet, mit Jugendlichkeit, die bezaubert, mit Liebreiz, der bestrickt, und mit Weisheit, die Erobertes festzuhalten weiß. Alles, was ich Ihnen bisher gesagt habe, läßt sich in einem altbekannten Wort zusammenfassen: Noblesse oblige!

Wenden Sie diese Grundsätze auf Ihre praktische Lebensgestaltung an! Sie werden vielfach sagen hören, daß Durchtriebenheit eine Vorbedingung zum Erfolge sei und daß man sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge bahnen müsse. Mein Freund, solche Grundsätze waren im Mittelalter am Platze, als Fürsten noch rivalisierende Parteien gegeneinander auszuspielen hatten. Aber heute geschieht alles in der Öffentlichkeit, und ein derartiges System käme Ihnen teuer zu stehen. Sie werden es in der Tat entweder mit einem ehrenwerten, aufrichtigen Mann zu tun haben oder mit einem verräterischen Gegner, einem Manne, der mit Verleumdungen, Verdächtigungen und Betrug arbeitet. Nun, in ihm haben Sie den stärksten Helfer, denn er ist sein eigener Feind. Sie können ihn mit ehrlichen Waffen bekämpfen, er wird früher oder später verachtet werden. Einem Ehrenmann gegenüber wird Ihre Aufrichtigkeit Achtung einflößen, und wenn Sie erst Ihre Interessen den seinen anschließen – das kann man alles einrichten! –, wird er Ihnen helfen. Fürchten Sie nicht, sich Feinde zu machen! Wehe dem, der in der Welt, wo Sie leben werden, keine Feinde hat! Aber setzen Sie sich – wo möglich – weder der Lächerlichkeit noch der Mißachtung aus! Ich sage: wo möglich! – Denn in Paris ist kein Mensch immer Herr über dergleichen, er ist darin von unberechenbaren Umständen abhängig. Sie werden weder den Schmutz der Gasse noch den Ziegelstein, der Ihnen aufs Haupt fällt, vermeiden können. Es gibt – bildlich gesprochen – Gassen, woraus ehrlose Menschen die Edelsten mit dem Kote zu bespritzen suchen, in dem sie ertrinken. Aber Sie können überall Achtung erwerben, wenn Sie sich, auf allen Gebieten, unerschütterlich in Ihren letzten Entschließungen zeigen. Gehen Sie in diesem Wirrwarr ehrgeiziger Bestrebungen, mitten in diesem Labyrinth von Schwierigkeiten, immer gleich auf die Hauptsache los, packen Sie mit voller Entschiedenheit die Kernfrage an, und kämpfen Sie stets mit allen Ihren Kräften nur an einem Punkte! Sie wissen, wie sehr Monsieur de Mortsauf Napoleon haßt; er verfolgte ihn mit seinem Haß, er überwachte ihn, wie die Polizei einen Verbrecher, und forderte immer wieder den Duc d'Enghien von ihm zurück, dessen Tod das einzige tragische Los war, das ihm je Tränen entrissen hat.

Aber trotz alledem bewundert der Comte Napoleon als den kühnsten aller Feldherren und hat mir oft seine Taktik klarzumachen versucht. Läßt sich denn diese Kriegskunst nicht auf den Interessenkampf anwenden? Mit ihr könnte man hier Zeit sparen, wie im Kriege Menschenleben und Entfernungen gespart werden. Denken Sie daran, denn eine Frau kann leicht fehlgehen in den Dingen, die sie nur instinkt- und gefühlsmäßig beurteilt! Ich kann auf einen Punkt näher eingehen: jede Verschmitztheit, jede Betrügerei kommt an den Tag und schadet. Jede Lebenslage erscheint mir minder gefährlich, sobald der Mensch sich auf den Boden der Ehrlichkeit stellt. Wenn ich meine eigenen Erfahrungen anführen wollte, müßte ich Ihnen erzählen, daß ich in Clochegourde durch den Charakter Monsieur de Mortsaufs gezwungen war, jedem Zank aus dem Wege zu gehen, jede Zwistigkeit sofort beizulegen, weil sie für ihn wie ein zwar willkommenes, aber höchst verderbliches Leiden gewesen wäre; und doch bin ich zum Schluß immer gerade auf den Knoten losgegangen und habe dem Gegner gesagt: ›Wir wollen ihn lösen oder zerschneiden!‹ Sie werden oft andern nützen, ihnen Dienste leisten und wenig Lohn dafür ernten; aber tun Sie nicht wie jene, die immer über die Menschen klagen und sich rühmen, überall nur Undankbare zu finden. Heißt das nicht, sich selbst auf ein Piedestal stellen? Und ist es nicht ein wenig naiv, seine mangelnde Weltkenntnis einzugestehen? Aber sollen Sie Gutes tun, so etwa, wie ein Wucherer sein Geld ausleiht? Sollen Sie es nicht um des Guten selbst willen tun? Noblesse oblige! Immerhin, erweisen Sie keine Dienste, die andere zur Undankbarkeit zwingen könnten, denn so würden Sie sich unversöhnliche Feinde machen! Es gibt eine Verzweiflung des Verpflichtetseins, wie es eine Verzweiflung des Untergangs gibt; beide verleihen unberechenbare Kräfte. Sie selbst dürfen von andern nur sowenig wie möglich annehmen; seien Sie keines Menschen Lehnsmann, stellen Sie sich ganz auf sich selbst! Ich berate Sie nur in den kleinen Dingen des Lebens, mein Freund. In der politischen Welt ist der Wechsel die Regel. Da müssen Ihre eigenen Prinzipien den großen Interessen weichen. Sollten Sie aber in die Sphäre gelangen, wo die Größten wohnen, so wären Sie, Gott gleich, alleiniger Richter Ihrer Entschlüsse. Dann sind Sie kein Mensch mehr, sondern das lebendige Gesetz, kein Individuum, sondern der Geist, der sich in der Nation verkörpert. Aber wenn Sie richten, werden auch Sie gerichtet werden, Sie werden vor dem Tribunal der Jahrhunderte erscheinen müssen, und Sie wissen soviel Bescheid in der Geschichte, um ermessen zu können, welche Gedanken und Taten zu wahrer Größe führen.

Ich komme zur ernstesten Frage: zu Ihrem Verhalten gegen Frauen. Machen Sie es sich zur Regel, die kleinliche Koketterie der Salons zu übergehen! Vergeuden Sie sich nicht! Einer der Männer, die im vorigen Jahrhundert den meisten Erfolg hatten, pflegte sich an einem Abend ausschließlich um eine Dame zu kümmern und sich besonders denen zu widmen, die vernachlässigt schienen. Dieser Mann, liebes Kind, hat seine Zeit beherrscht. Er hatte richtig berechnet, daß in absehbarer Zeit sein Lob in aller Munde wäre. Die meisten jungen Leute verpassen die wertvollsten Gelegenheiten gerade dann, wenn sie sich Beziehungen schaffen sollten, die ja die Hälfte des gesellschaftlichen Lebens sind. Da Sie von Haus aus gefallen, bleibt Ihnen wenig zu tun, um andere für Ihre Interessen zu gewinnen: Aber dieser Lenz ist von kurzer Dauer, benutzen Sie ihn wohl! Seien Sie der Freund einflußreicher Frauen! Die einflußreichsten Frauen sind die alten. Sie werden Ihnen Auskunft geben über Familienbeziehungen, werden Ihnen alle Familiengeheimnisse verraten und Ihnen die Wege weisen, die Sie schnell zum Ziele führen können. Sie werden Ihnen von Herzen zugetan sein. Gönnerschaft ist ihre letzte Liebe, wofern sie nicht bigott sind. Sie werden Ihnen die größten Dienste leisten, Sie herausstreichen und dadurch begehrenswert machen. Meiden Sie junge Frauen! Glauben Sie nicht, daß ein eigennütziges Gefühl mir diese Worte eingibt! Eine fünfzigjährige Frau wird alles für Sie tun, eine zwanzigjährige nichts! Die junge fordert Ihr ganzes Leben, die Alte verlangt nur hin und wieder eine Aufmerksamkeit. Necken Sie junge Frauen, nehmen Sie alles, was von ihnen kommt, als einen Scherz hin; sie sind eines ernsten Gedankens unfähig! Junge Frauen, mein Freund, sind egoistisch, kleinlich, wissen nichts von wahrer Freundschaft, lieben nur sich selbst und würden Sie irgendeinem vorübergehenden Erfolg opfern. Zudem verlangen sie alle Aufopferung, und Ihre Stellung verlangt, daß man sich für Sie aufopfere: zwei unvereinbare Forderungen! Keine von ihnen wird Verständnis für Ihre Interessen haben, sie werden alle an sich, nicht an Sie denken, werden Ihnen durch ihre Eitelkeit mehr schaden, als sie Ihnen durch ihre Zuneigung nützten. Sie werden Ihnen skrupellos Ihre Zeit rauben, Sie Ihr Ziel verfehlen lassen, kurz, Sie in der denkbar anmutigsten Weise ruinieren. Und beklagen Sie sich darüber, so wird Ihnen die Dümmste nachweisen, daß ihr Handschuh die Welt wert ist und daß es nichts Glorreicheres gibt, als in ihrem Dienst zu stehen. Alle werden vorgeben, daß sie Ihnen das Glück bringen, und Sie Ihre glanzvolle Zukunft vergessen lassen. Das Glück, das sie bieten, ist unbeständig, Ihre Größe wird Bestand haben. Sie wissen nicht, welche wohldurchdachte Kunst sie daransetzen, ihre Launen zu befriedigen, eine vorübergehende Neigung in Liebe zu verwandeln, die auf Erden beginnt und bis in den Himmel hinaufwachsen soll. An dem Tage, wo diese Frauen Sie aufgeben, werden sie mit dem Worte: »Ich liebe Sie nicht mehr!« ihre Treulosigkeit rechtfertigen, wie das Wort: »Ich liebe Sie!« ihre Neigung entschuldigte, und werden Ihnen klarmachen, daß sich Liebe nicht befehlen läßt. Es ist eine lächerliche Auffassung. Glauben Sie mir, Lieber, wahre Liebe ist ewig, unendlich, stets sich selbst gleich! Sie ist ebenmäßig und rein, ohne heftige Kundgebungen. Sie bewahrt mit weißem Haar ein junges Herz. Von alledem findet sich bei Weltdamen nichts. Sie spielen alle Komödie. Die eine wird Sie durch ihr Unglück fangen, wird sich für die sanfteste und anspruchsloseste Frau ausgeben; aber sobald sie sich unentbehrlich weiß, wird sie beginnen, Sie zu quälen, und Sie ihren Launen unterjochen. Angenommen, Sie wollten sich für die diplomatische Laufbahn entscheiden, reisen, Länder und Menschen studieren: dann werden Sie statt dessen in Paris oder auf Ihrer Herrin Landgut bleiben. Sie wird Sie mit List zu fesseln wissen, und je aufopfernder Sie sind, desto undankbarer wird sie sein. Eine andere wird durch ihre Unterwürfigkeit zu gefallen suchen, wird sich zu Ihrer Sklavin machen, wird Ihnen wie einem Märchenprinzen bis ans Ende der Welt nachlaufen, wird sich ins Gerede der Leute bringen, um Sie festzuhalten, und ein Stein an Ihrem Halse sein. Sie werden eines Tages ertrinken, und die Frau wird obenauf schwimmen. Die wenigst gewitzigten Frauen verfügen über unerschöpfliche Künste. Die dümmste angelt ihren Mann dadurch, daß sie gar kein Mißtrauen erregt. Die wenigst gefährliche wäre noch eine leichtsinnige Frau, die Sie liebte, ohne zu wissen warum, die Sie ohne Grund aufgäbe und aus Eitelkeit zu Ihnen zurückkehrte. Aber alle werden Ihnen schaden, früh oder spät. Jede junge Frau der Gesellschaft, die ihren Freuden und ihren kleinlichen Eitelkeitserfolgen lebt, ist eine halbwegs verderbte Frau, die Sie verderben wird. Dort werden Sie nicht das keusche, einfältige Wesen finden, in dessen Seele Sie immer herrschen werden. Nein, nur eine Einsame kann Sie wirklich lieben. Ein Blick von Ihnen wird ihr schönstes Fest sein, sie wird von Ihren Worten leben. So sei diese Frau für Sie denn auch die ganze Welt, wie Sie ihr alles bedeuten. Lieben Sie sie von Herzen; machen Sie ihr keine Sorgen, seien Sie ihr treu; erregen Sie ihre Eifersucht nicht! Geliebt und verstanden werden, Freund, ist das größte Glück! Ich hoffe, Sie werden es kosten. Hegen Sie sorgsam die Blüte Ihrer Seele, seien Sie des Herzens sicher, auf das Sie Ihre Liebe gründen! Diese Frau wird nie sich selbst gehören, sie wird nie an sich denken, sondern nur an Sie; sie wird Ihnen nichts streitig machen, nie auf ihre eigenen Vorteile bedacht sein, sie wird die Gefahr erkennen, wo Sie selbst keine sehen, die sie, drohte sie ihr allein, nicht sähe. Wenn sie leidet, wird sie leiden, ohne zu klagen. Persönliche Eitelkeit wird ihr fremd sein, aber sie wird eine Art Hochachtung für das haben, was Sie in ihr lieben. Erwidern Sie diese Liebe, indem Sie sie übertreffen! Wenn Sie das Glück haben, das zu finden, was Ihrer armen Freundin fehlt, eine Liebe, die gleich stark geschenkt und erwidert wird, so denken Sie daran – wie vollkommen diese Liebe auch sein mag –, daß in einem Tale für Sie eine Mutter lebt, in deren Herzen das Gefühl, das Sie hineingetragen haben, so tiefe Spuren eingegraben hat, daß Sie nie sie ganz ergründen können. Ja, ich hege für Sie eine Liebe, deren ganzen Umfang Sie nie kennen werden. Damit sie sich Ihnen offenbare als das, was sie ist, müßte Ihnen Ihr gesunder Sinn verlorengehen, und auch dann wüßten Sie nicht, wie weit meine Opferfähigkeit gehen könnte. Ist es verdächtig, wenn ich Ihnen rate, junge Frauen zu meiden, die alle mehr oder minder verschlagen, spöttisch, eitel, oberflächlich und verschwenderisch sind, und sich einflußreichen Frauen anzuschließen, an ehrwürdige Matronen voll gesunder Lebensweisheit, wie es meine Tante war, die Ihnen so nützlich sein können, die geheimen Verleumdungen gegen Sie die Spitze abbrechen und die von Ihnen sagen werden, was Sie selbst nicht von sich sagen können? Kurz, ich bin nicht großmütig, wenn ich Ihnen die Weisung gebe, Ihre andächtige Verehrung für den Engel mit dem reinen Herzen ungeteilt zu bewahren? Wenn ein großer Teil meiner ersten Ermahnungen in dem Worte ›Noblesse oblige!‹ zusammengefaßt ist, so sind meine Ratschläge über Ihre Beziehungen zu Frauen in dieser andern Ritterdevise enthalten: ›Diene allen, liebe nur eine!‹

Ihre Bildung ist umfassend, Ihr Herz ist in der Hut des Leidens makellos geblieben. Alles ist schön, alles ist edel an Ihnen, Sie müssen nur wollen. Ihre ganze Zukunft ruht jetzt in diesem einzigen Wort, dem Wahlspruch großer Männer: Nicht wahr, liebes Kind, Sie werden Ihrer Henriette gehorchen, Sie erlauben ihr, Ihnen auch weiterhin zu sagen, was sie von Ihnen und Ihren Beziehungen zur Welt denkt? Ich habe in meiner Seele einen besondern Sinn, der Ihre Zukunft wie die meiner Kinder voraussieht; lassen Sie mich von dieser Fähigkeit zu Ihrem Nutzen Gebrauch machen! Es ist eine geheimnisvolle Gabe, die ich meinem friedlichen Dasein verdanke und die, weit davon entfernt, schwächer zu werden, in der Einsamkeit und der Stille zunimmt. Zum Dank dafür bitte ich Sie, mir ein großes Glück zu schenken: ich will Sie unter den Menschen wachsen sehen, ohne daß ein einziger Ihrer Erfolge meine Stirn umwölke. Ich wünsche, daß Ihr Ruhm bald auf der Höhe Ihres Namens sei, und hoffe, mir einmal sagen zu können, daß ich anders und besser als durch den bloßen Wunsch zu Ihrer Größe beigetragen habe. Diese geheime Mitarbeit ist die einzige Freude, die ich mir erlauben darf. Ich werde warten. Ich sage Ihnen nicht Lebewohl. Wir sind getrennt, Sie können meine Hand nicht an Ihre Lippen führen, aber Sie müssen wohl geahnt haben, welchen Platz Sie einnehmen im Herzen

Ihrer Henriette.‹

Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, fühlte ich unter meinen Händen den Schlag eines Mutterherzens, während ich noch ganz vereist war vom strengen Empfang meiner Mutter. Ich erriet, weshalb mir die Comtesse das Lesen dieses Briefes in der Touraine untersagt hatte. Sie fürchtete wohl, mich vor ihr niederfallen zu sehen, um ihre Füße mit meinen Tränen zu netzen.

Endlich machte ich jetzt die Bekanntschaft meines Bruders Charles, der mir bis dahin ein Fremder gewesen war. Aber er legte in seinen geringsten Äußerungen zuviel entfremdenden Standesdünkel an den Tag, als daß brüderliche Herzlichkeit zwischen uns hätte aufkommen können. Gleichheit der Seelen ist die erste Vorbedingung inniger Gefühle, und zwischen uns gab es keinerlei Annäherungspunkte. Er lehrte mich mit pedantischer Schwerfälligkeit Kleinigkeiten, die Geist und Herz von selbst erraten. Bei jeder Gelegenheit bewies er mir ein gewisses Mißtrauen. Hätte ich nicht meine Liebe als Helferin gehabt, so hätte er mich linkisch und unbeholfen gemacht, weil er immer tat, als setzte er meine Unwissenheit voraus. Trotzdem führte er mich in die Gesellschaft ein, wo von meiner Einfältigkeit seine Gewandtheit sich vorteilhaft abheben sollte. Wäre ich nicht durch die trüben Erfahrungen meiner Jugend gewitzigt gewesen, so hätte ich seine Gönnereitelkeit als brüderliche Liebe auslegen können. Aber seelische Vereinsamung bringt dieselben Wirkungen hervor wie wirkliche Einsamkeit: die Stille schärft das Ohr für die leisesten Geräusche, und die Gewohnheit, immer wieder sich in sich selbst zurückzuziehen, bildet eine Empfindsamkeit heran, die in ihrer Feinheit die geringfügigsten Abarten unserer Eindrücke offenbart. Ehe ich Madame de Mortsauf kannte, konnte mich ein harter Blick verletzen, ein rauhes Wort traf mich ins Herz, ich litt darunter, aber ohne die Wohltaten der Zärtlichkeit zu kennen. Seit meiner Rückkehr von Clochegourde konnte ich Vergleiche anstellen, die mein verfrühtes Wissen vervollständigten. Eine Beobachtungsweise, die sich nur auf erduldetes Leid stützt, ist unvollkommen. Auch das Glück hat seine Erleuchtungen. Ich ließ mich doppelt willig vom überlegenen Getue des ältern Bruders an die Wand drücken, weil er mich doch nicht beherrschen konnte.

Ich ging allein zur Duchesse de Lenoncourt. Aber ich hörte nicht von Henriette sprechen, außer vom guten alten Duc, der die Einfachheit selbst war. An der Art, wie er mich empfing, erriet ich, daß seine Tochter mich ihm unter der Hand anempfohlen hatte. Als ich gerade anfing, das kindliche Staunen, das die große Welt jedem Neuling einflößt, zu überwinden, als ich ihre Freuden zu ahnen und die Möglichkeiten zu erkennen begann, die sie den Ehrgeizigen bietet, während ich mir ein Vergnügen daraus machte, Henriettes Lehren in die Tat umzusetzen, und ich ihre tiefe Bedeutung einsah, da überraschten uns die Ereignisse des 20. März. Mein Bruder begleitete den Hof nach Gent; auf den Rat der Comtesse, mit der ich einen – wenigstens von meiner Seite aus – lebhaften Briefwechsel führte, folgte ich dem Duc de Lenoncourt in die Niederlande. Das übliche Wohlwollen des Duc steigerte sich bald zu herzlicher Gönnerschaft, als er sah, daß ich den Bourbonen mit Herz, Kopf und Hand ergeben war; er stellte mich selbst Seiner Majestät vor. Die Höflinge des Unglücks sind selten zahlreich; aber die Jugend kennt nur naive Bewunderung und nicht die berechnende Treue. Der König hatte Menschenkenntnis, und was in den Tuilerien unbeachtet geblieben wäre, fand in Gent große Beachtung. Ich hatte das Glück, Ludwig XVIII. zu gefallen. Durch einen Brief Madame de Mortsaufs an ihren Vater, der mit Depeschen von einem geheimen Boten aus der Vendée gebracht wurde und der auch ein Wörtchen an mich enthielt, erfuhr ich, daß Jacques krank sei. Monsieur de Mortsauf war verzweifelt, einmal über den schlechten Gesundheitszustand seines Sohnes, dann darüber, daß er an der zweiten Emigration nicht teilnehmen konnte. Er hatte einige Worte beigefügt, die mich die Lage der Geliebten erraten ließen. Wahrscheinlich wurde sie von ihm gequält, während sie ihre ganze Zeit am Krankenlager ihres Sohnes verbrachte, und fand Tag und Nacht keine Ruhe. Sie war zwar über diese kleinen Unarten erhaben, aber unfähig, sich ihrer mit Erfolg zu erwehren, solange sie sich mit ganzer Seele der Pflege ihres Kindes widmen mußte. Sie bedurfte des Freundes, der ihr das Leben erleichtert hatte, und wäre es auch nur zur Unterhaltung Monsieur de Mortsaufs. War ich doch oft mit dem Comte aufgebrochen, wenn er anfing, sie zu peinigen, und der Erfolg dieser, unschuldigen List hatte mir einige der Blicke eingetragen, die nichts als leidenschaftliche Dankbarkeit ausdrücken, worin die Liebe aber eine große Verheißung liest. Obwohl ich darauf brannte, in die Fußstapfen meines Bruders zu treten, der vor kurzem auf den Wiener Kongreß geschickt worden war, obwohl ich selbst unter Lebensgefahr Henriettes Voraussagen rechtfertigen und mich von der brüderlichen Oberhoheit befreien wollte, so verblaßten doch mein Ehrgeiz, meine Unabhängigkeitsgelüste, mein Interesse, das mich beim König festhielt, vor der Vorstellung ihrer Leiden, und ich beschloß, den Hof in Gent zu verlassen, um der wahren Königin zu dienen. Gott lohnte mir's. Der geheime Bote der Vendée konnte nicht nach Frankreich zurückkehren; der König suchte nach einem Mann, der es auf sich nehme, seine Weisungen dorthin zu überbringen. Der Duc de Lenoncourt wußte, daß der König den nicht vergäße, der diese gefahrvolle Sendung wagte. Ohne mich auch nur gefragt zu haben, setzte er es durch, daß ich mit dem Auftrag betraut wurde, und ich willigte ein, überglücklich, nach Clochegourde zurückzukehren und gleichzeitig der guten Sache zu dienen.

Nachdem ich schon in meinem einundzwanzigsten Jahre eine Audienz beim König erhalten hatte, kehrte ich nun nach Frankreich zurück und hatte teils in Paris, teils in der Vendée das Glück, die Absichten Seiner Majestät zu fördern. Gegen Ende Mai wurde ich von den bonapartistischen Behörden, die auf mich aufmerksam gemacht waren, verfolgt und war gezwungen zu fliehen, im Aufzug eines Wanderers, der in seine Heimat zurückkehrt. Zu Fuß durchschritt ich eine Landschaft nach der andern, einen Wald nach dem andern, ich durchquerte die Haute Vendée, den Bocage und Poitou, ich schlug bald diesen, bald jenen Weg ein, ganz wie meine Sicherheit es gebot. Ich erreichte Saumur, von hier kam ich nach Chinon, und von Chinon gelangte ich in einer einzigen Nacht in die Wälder von Nueil, wo ich den Comte zu Pferde in der Heide traf. Er ließ mich hinten aufsitzen und brachte mich nach Hause, ohne daß wir jemandem begegnet wären, der mich hätte erkennen können.

»Jacques geht es besser!« war sein erstes Wort.

Ich schilderte ihm meine Lage als die eines diplomatischen Landstreichers, der wie ein Wild umstellt sei, und der Edelmann wappnete sich mit Königstreue, um Monsieur de Chessel die Gefahr, mich aufzunehmen, streitig zu machen. Als ich Clochegourde erblickte, war es mir, als seien die letztverflossenen acht Monate nur ein Traum gewesen. Der Comte eilte mir voraus und sagte seiner Frau: »Raten Sie, wen ich Ihnen bringe? . . . Felix!« – »Ist es möglich?« fragte sie mit schlaffen Armen und einem vor Erstaunen starren Gesicht.

Ich trat ein, und wir blieben beide wortlos, ohne uns zu rühren, sie in ihrem Sessel, ich auf der Türschwelle, und sahen einander mit dem gierig starren Blick der Liebenden an, die in einer Sekunde die ganze verlorene Zeit zurückgewinnen wollen. Aber bald schämte sie sich einer Bestürzung, die ihr Inneres entschleiert hatte. Sie stand auf. Ich ging auf sie zu.

»Ich habe viel für Sie gebetet«, sagte sie, nachdem sie mir die Hand zum Kusse gereicht hatte.

Sie fragte nach ihrem Vater; dann erriet sie meine Müdigkeit und ging, um mir ein Lager zu bereiten, indes der Comte Essen bringen ließ; ich war halb verhungert. Mein Zimmer befand sich über dem ihren, es war das Zimmer ihrer Tante. Sie ließ mich durch den Comte hinführen, nachdem sie schon den Fuß auf die erste Stufe gesetzt hatte, unschlüssig, ob sie selbst mich begleiten solle. Ich wandte mich um, sie errötete, wünschte mir gute Ruhe und zog sich eilig zurück. Als ich zu Tisch herunterkam, erfuhr ich die Niederlage von Waterloo, die Flucht Napoleons, das Vorrücken der Verbündeten auf Paris und die wahrscheinliche Rückkehr der Bourbonen. Diese Ereignisse bedeuteten für den Comte alles, für uns nichts. Raten Sie, welche große Nachricht mir mitgeteilt wurde, nachdem ich die Kinder begrüßt hatte? – Denn von der Besorgnis, die mich erfüllte, als ich die Comtesse so blaß und abgehärmt sah, brauche ich wohl nicht zu sprechen; und dann wußte ich, welche Verheerungen ein Ausdruck der Verwunderung anrichten könnte; deshalb bezeugte ich nur Freude bei ihrem Anblick. Die große Nachricht für uns war: »Sie bekommen Eis!« Sie war letztes Jahr oft betrübt gewesen, mir nicht ganz frisches Wasser anbieten zu können. (In Ermangelung eines andern Getränks schätze ich eiskaltes Wasser.) Gott weiß, wie schwer es ihr gefallen sein mag, sich einen Eisschrank zu verschaffen. Sie wissen besser als irgend jemand, daß der Liebe ein Wort, ein Blick, ein Tonfall, eine scheinbar nur kleine Aufmerksamkeit genügt; ihr schönstes Vorrecht ist, sich selbst zu genügen. Nun denn, ihr Wort, ihr Blick, ihre Freude zeigten mir die Tiefe ihrer Gefühle, wie ich ihr früher meine ganze Liebe durch mein Verhalten beim Tricktrack bewiesen hatte. Sie gab mir so viele ursprüngliche Beweise von ihrer Zärtlichkeit. Am siebenten Tage nach meiner Ankunft sah sie wieder blühend aus. Sie sprühte von Gesundheit, Lebenslust und Jugend. Ich fand meine geliebte Lilie wieder, schöner, noch mehr erblüht, und ich fühlte, daß auch die Schätze in meinem Herzen gewachsen und vermehrt waren. Es ist der Fluch der kleinen Geister, der gemeinen Herzen, daß Abwesenheit die Gefühle schwächt, die Züge der Geliebten verwischt und ihre Schönheit vermindert. Für Menschen mit glühender Phantasie, bei denen die Begeisterung ins Blut übergeht und es mit Purpur färbt, bei denen die Leidenschaft Bestand hat – gleicht für die nicht Abwesenheit den Martern, die den Glauben der ersten Christen befestigten und sie Gott schauen ließ? Finden sich nicht in einem Herzen voll Liebe unendliche Begierden, die dem ersehnten Leibe noch höhere Schönheit verleihen, indem diese ihn in das Feuerbad glühender Träume taucht? Empfindet man nicht Erregungen, die den vergötterten Zügen ideale Schönheit verleihen, indem sie mehr und immer mehr in sie hineinlegen? Die Vergangenheit, die eine Erinnerung nach der andern wieder aufzeichnet, erweitert sich, die Zukunft wächst durch Hoffnungen. Zwischen zwei Herzen, die mit soviel Elektrizität geladen sind, wird ein erstes Wiedersehen gewissermaßen ein wohltuendes Gewitter, das die Erde neu belebt und befruchtet mit dem raschen Zucken des Blitzes. Welch köstliche Wonnen empfand ich, als ich merkte, daß wir beide diese Gedanken und Gefühle teilten! Mit entzücktem Blick verfolgte ich das Wachsen von Henriettes Glück. Eine Frau, die unter den Augen des Geliebten neu auflebt, gibt vielleicht einen größern Beweis von ihrer Liebe als die von einem Zweifel getötete oder als eine, die saftlos auf ihrem Stengel verdorrt. Ich weiß nicht, welche von ihnen am ergreifendsten ist . . . Die Wiedergeburt Madame de Mortsaufs war so natürlich wie die Einwirkungen des Mais auf die Fluren, wie die der Sonne und des Wassers auf welke Blumen. Wie unser liebes Tal, so hatte Henriette ihren Winter gehabt und blühte im Lenz von neuem. Im Abendrot stiegen wir zu unserer lieben Terrasse hinunter: dort erzählte sie mir von ihren Nächten am Krankenlager, während sie den Kopf ihres armen Kindes streichelte, das so gebrechlich war wie nie und an der Seite seiner Mutter hinschlich, still, als hätte es die Krankheit noch nicht überwunden. Während dieser drei Monate, so sagte sie, hätte sie ein ganz innerliches Leben geführt. Sie hätte wie in einem düstern Palast gelebt und sich gescheut, in lichtstrahlende Prunkgemächer einzutreten, wo Feste, die ihr versagt waren, gefeiert wurden. Auf der Schwelle solcher Räume sei sie stehengeblieben, ein Auge auf ihr Kind gerichtet, das andere auf eine undeutliche Erscheinung, mit einem Ohr auf die Regungen des Schmerzes horchend, mit dem andern einer Stimme lauschend. Sie hätte Gedichte gemurmelt, die ihr die Einsamkeit eingegeben und wie sie nie ein Dichter ersonnen habe; aber das alles unbewußt, ohne zu ahnen, daß darin ein leiser Hauch von Liebe, ein Anflug wollüstigen Sinnens, orientalisch weiche Poesie lebte, gleich einer Rose von Frankistan. Als der Comte sich zu uns gesellte, fuhr sie im selben Ton fort, wie eine Frau, die stolz sein und ihrem Gatten unbeirrt in die Augen sehen und, ohne zu erröten, einen Kuß auf die Stirn ihres Sohnes drücken kann. Sie hatte viel gebetet, hatte nächtelang ihre gefalteten Hände über Jacques gehalten, um ihn dem Tode abzuringen.

»Ich ging«, sagte sie, »bis an die Tore des Allerheiligsten und flehte zu Gott um sein Leben.«

Sie hatte Visionen gehabt. Sie erzählte sie mir. Aber in dem Augenblick, als sie mit ihrer Engelsstimme diese wunderbaren Worte sprach: »Wenn ich schlief, wachte mein Herz«, da unterbrach sie der Comte: »Das heißt: Sie waren dreiviertel verrückt!«

Sie schwieg, von heftigem Schmerz durchzuckt, als sei dies die erste Wunde, die man ihr schlage, als habe sie vergessen, daß dieser Mann seit dreizehn Jahren nie die Gelegenheit versäumt hatte, ihr Herz zu durchbohren. Sie glich einem edeln Vogel, der in seinem Fluge vom groben Schrotkorn getroffen wird; sie versank in dumpfe Niedergeschlagenheit.

»Mein Gott«, sagte sie nach einer Pause, »wird denn niemals eins meiner Worte Gnade vor dem Richterstuhl Ihres Geistes finden? Werden Sie nie Nachsicht für meine Schwächen, Verständnis für meine Frauengedanken zeigen?«

Sie hielt inne. Schon bereute der Engel sein Murren und maß mit einem Blick Vergangenheit und Zukunft . . . Würde sie verstanden werden? Erreichte sie etwas anderes, als daß der Comte gereizt wurde? Die blauen Adern an ihren Schläfen waren geschwollen; es kamen keine Tränen, aber das Grün ihrer Augen wurde blaß. Dann senkte sie ihren Blick zu Boden, um in meinen Augen ihr Leid nicht vergrößert widergespiegelt und ihre Gefühle erraten zu sehen, ihre Seele von meiner Seele geliebkost zu fühlen, vor allem, um nicht das zornentflammte Mitleid einer jungen Liebe zu entdecken, die, ein treuer Hund, bereit war, den besinnungslos zu zerfleischen, der seine Herrin mißhandelt. In diesen grausamen Augenblicken mußte man des Comte überlegenen Ausdruck sehen. Er glaubte seine Frau überwältigt zu haben und ließ einen Hagel von Sätzen auf sie niederregnen, die alle denselben Gedanken wiederholten und Axthieben glichen, die alle denselben Ton gaben.

»Er ist also immer noch derselbe?« fragte ich, als der Comte uns verlassen mußte, weil der Vorreiter ihn abrief. »Immer der gleiche«, antwortete Jacques. »Immer gleich gut, mein Sohn«, sagte sie zu Jacques und versuchte so, Monsieur de Mortsauf der Verurteilung durch seine Kinder zu entziehen. »Du siehst die Gegenwart, du kennst nicht die Vergangenheit. Du kannst dir keine Kritik an deinem Vater erlauben, ohne eine Ungerechtigkeit zu begehen; aber selbst wenn du das Unglück haben solltest, deinen Vater im Unrecht zu sehen, so verlangt die Ehre der Familie, daß du solche Geheimnisse in tiefstes Schweigen hüllst.« – »Wie steht es mit den Neuerungen in der Cassine und Rhétorière?« fragte ich, um sie ihren bittern Gedanken zu entreißen. »Über alles Erwarten gut!« sagte sie. »Kaum waren die Gebäude fertig, da fanden wir auch schon zwei ausgezeichnete Pächter, von denen der eine alles in allem viertausendfünfhundert Francs, der andere fünftausend Francs Pacht bezahlt; und diese Pachtverträge sind auf fünfzehn Jahre geschlossen. Wir haben bereits dreitausend junge Bäume auf den beiden neuen Gütern gesetzt. Der Verwandte Manettes ist begeistert über die Verwaltung der Rabelaye, Martineau führt die Baude; das Eigentum unserer vier Pächter besteht aus Wiesen und Feldern, und sie düngen sie nicht, wie so manche gewissenlose Pächter, mit dem für unser Ackerland bestimmten Dung. So sind ›unsere‹ Bemühungen vom schönsten Erfolg gekrönt; ganz abgesehen von der Musterwirtschaft beim Schlosse und den Wäldern und Weinbergen, bringt Clochegourde neunzehntausend Francs ein, und die Obstpflanzungen haben schöne Jahreserträge abgeworfen. Ich kämpfe darum, Martineau, unserm Aufseher, allen nicht verpachteten Grund zu übertragen; sein Sohn kann ihn jetzt in der andern Stellung vertreten. Der Alte bietet dafür dreitausend Francs, wenn Monsieur de Mortsauf ihm eine Meierei in der Commanderie einrichten will. In diesem Falle könnten wir alle um Clochegourde liegenden Ländereien ablösen, die geplante Straße nach dem Wege von Chinon fertigstellen und selbst nur noch für unsere Wälder und Weinberge sorgen. Wenn der König zurückkehrt, kommt auch ›unsere‹ Pension wieder, und wir werden sie, nach einem mehrtägigen Feldzug; gegen die bessere Einsicht ›unserer‹ Frau, annehmen. Jacques' Vermögen wird demnach unantastbar sein. Wenn wir dann endlich soweit sind, werde ich Monsieur de Mortsauf für Madeleine Schätze sammeln lassen; übrigens wird ja der König, wie es Brauch ist, für ihre Mitgift Sorge tragen. Mein Gewissen ist beruhigt. Meine Aufgabe geht ihrer Vollendung entgegen . . . Und wie steht's mit Ihnen?« Ich erklärte ihr meine Mission und ließ sie erkennen, wie fruchtbar und weise ihre Ratschläge gewesen seien. Besaß sie denn das Zweite Gesicht, um so die Ereignisse voraussehen zu können?

»Habe ich es Ihnen nicht geschrieben?« sagte sie. »Für Sie allein kann ich eine Fähigkeit ausnützen, von der ich mit Monsieur de la Berge, meinem Beichtvater, gesprochen habe und die er auf eine göttliche Offenbarung zurückführt. Oft nach langem Sinnen über den beängstigenden Gesundheitszustand meiner Kinder schlossen sich meine Augen für die Dinge dieser Welt, und eine andere [Sicht] tat sich auf: wenn ich dort Jacques und Madeleine sah, von Licht umflossen, dann ging es ihnen eine Zeitlang gut; sooft sie aber in Nebelschleier gehüllt waren, wurden sie bald darauf krank. Sie, mein Freund, sehe ich nicht nur immer leuchtend im Lichte, sondern ich höre auch eine sanfte Stimme, die mir wortlos, nur auf dem Gedankenwege erklärt, was Sie tun sollen. Wie kommt es, daß ich diese wunderbare Gabe nur für meine Kinder und für Sie verwerten kann?« Sie fiel in Träumerei. »Will Ihnen Gott ein Vater sein?« fragte sie nach einer Pause. »Lassen Sie mich glauben, daß ich nur Ihnen gehorche!« rief ich aus.

Sie schenkte mir ihr so tief herzliches Lächeln, das mich stets so trunken machte, daß ich einen tödlichen Stoß nicht gefühlt hätte.

»Sobald der König wieder in Paris sein wird, gehen Sie hin, verlassen Sie Clochegourde! So entwürdigend es ist, um Ämter und Gnaden zu betteln, so lächerlich ist es auch, nicht bei der Hand zu sein, um sie entgegenzunehmen. Es werden große Veränderungen eintreten. Der König wird tüchtige und zuverlässige Männer brauchen; seien Sie da! Sie werden jung in den Staatsdienst eintreten und Vorteil davon haben, denn für Staatsmänner wie für Schauspieler gibt es Kunstgriffe, die kein Genie eingibt, die man erlernen muß. Dies Wort hat mein Vater vom Duc de Choiseul . . . Denken Sie an mich«, sagte sie nach einer Pause, »lassen Sie mich alle Freuden der Größe kosten, in einer Seele, die mir ganz zugetan ist! Sind Sie nicht mein Sohn?« – »Ihr Sohn?« entgegnete ich zögernd. »Nichts als mein Sohn!« sagte sie, und sie tat, als scherzte sie. »Ist dieser Platz in meinem Herzen Ihnen nicht gut genug?«

Die Glocke rief zu Tisch. Sie nahm meinen Arm und stützte sich darauf.

»Sie sind gewachsen«, sagte sie, als wir die Treppe hinaufstiegen. Aber oben auf der Terrasse faßte sie plötzlich meinen Arm, wie abwehrend, als ob meine heißen Blicke sie versengten. Obwohl sie die Augen gesenkt hielt, fühlte sie, daß ich nur sie ansah, und sagte in einem absichtlich ungeduldigen, so reizvollen, so neckenden Ton: »Aber nun sehen Sie sich doch auch unser liebes Tal an!«

Sie wandte sich um, hielt ihren weißseidenen Sonnenschirm über uns und preßte Jacques an sich. Die Kopfbewegung, mit der sie auf die Indre, das Boot und die Wiesen hindeutete, zeigte, daß sie seit meinem Aufenthalt und unsern gemeinsamen Gängen in trautem Einvernehmen mit diesen duftigen Fernen und dunstumwobenen Flußwindungen gelebt hatte. Die Natur war der Mantel, in den sie ihre Gedanken hüllte. Sie verstand jetzt, was die Nachtigall in den Nächten seufzt und was die eintönig klagende Litanei des Sängers der Sümpfe bedeutet.

Abends acht Uhr wohnte ich einem Schauspiel bei, das mich tief ergriff. Es war mir bis dahin unbekannt geblieben, weil ich zu dieser Zeit immer mit Monsieur de Mortsauf beim Tricktrack verweilte. Es war im Eßzimmer, kurz bevor die Kinder zu Bett gebracht wurden.

Die Glocke tönte zweimal. Alle Leute im Hause versammelten sich.

»Sie sind unser Gast, unterwerfen Sie sich der Klosterregel!« sagte sie und nahm mich bei der Hand; sie sprach im Ton unschuldigen Scherzens, den nur wahrhaft fromme Frauen kennen.

Der Comte folgte uns. Herrschaften, Kinder, Dienstboten, alle knieten barhaupt an ihrem gewohnten Platz. Madeleine sprach die Gebete. Die liebe Kleine sagte sie mit kindlicher Stimme her, deren unschuldige Klänge sich klar in der harmonischen Stille dieses ländlichen Abends erhoben und den Worten heilige Einfalt und engelreine Anmut verliehen. Es war das ergreifendste Gebet, das ich je gehört habe; die Natur antwortete auf die Worte des Kindes im tausendfachen Summen und Singen des Abends, das wie eine leise, ferne Orgelbegleitung war. Madeleine kniete zur Rechten der Comtesse, Jacques zur Linken. Die anmutigen Schöpfchen der Kinder überragte der Flechtenkranz der Mutter, und darüber erhob sich das völlig weiße Haar und der vergilbte Schädel Monsieur de Mortsaufs; das ergab ein Bild, dessen Tönung in gewissem Sinne dem Inhalt der Gespräche entsprach. Erhabene Einheit verlieh endlich dieser andächtigen Versammlung das milde Licht der untergehenden Sonne, das sie umhüllte, so daß es poetischen und abergläubischen Seelen hätte scheinen können, als käme das Feuer des Himmels auf diese treuen Gottesanbeter nieder, die hier ohne Rangunterschied in der von der Kirche gewollten Gemeinschaft knieten. Meine Gedanken wanderten zurück bis in die Tage patriarchalischen Lebens und verliehen dieser in ihrer Einfalt so großzügigen Szene noch eine größere Weihe. Die Kinder sagten ihrem Vater gute Nacht, die Leute grüßten, die Comtesse entfernte sich, an jeder Hand ein Kind, und ich trat mit dem Comte in den Salon.

»Dort verhelfen wir Ihnen zu Ihrem Seelenheil, hier zur Hölle!« sagte der Comte und wies auf das Tricktrack.

Nach einer halben Stunde gesellte sich die Comtesse zu uns und rückte ihren Stickrahmen an unsern Tisch.

»Das ist für Sie«, sagte sie, die Stickerei aufrollend, »aber seit drei Monaten schleppt die Arbeit. Zwischen dieser roten Nelke und dieser Rose liegt die Leidenszeit meines Kindes.« – »Lassen Sie das gut sein«, sagte Monsieur de Mortsauf. »Sprechen wir nicht davon! Sechs-fünf, Monsieur Königsbote!«

Beim Zubettgehen verhielt ich mich so still wie möglich, um sie in ihrem Zimmer auf und ab gehen zu hören. Wenn es aber drunten still und klar blieb, wurde ich von den wildesten Phantasien, von unerträglichen Begierden durchwühlt.

›Warum sollte sie nicht mein sein?‹ fragte ich mich. ›Vielleicht quält auch sie sich in diesem brandenden Sinnentaumel.‹

Um ein Uhr schlich ich mich die Treppe hinunter und kam geräuschlos an ihre Tür; ich legte mich an ihrer Schwelle nieder, und das Ohr gegen die Türspalte gepreßt, hörte ich ihren sanften, gleichmäßigen Kinderatem. Als ich vor Kälte zitterte, ging ich wieder hinauf, legte mich ins Bett und schlief ruhig bis zum Morgen . . . Ich weiß nicht, welcher geheimnisvollen Macht, welchem Drang in meiner Natur ich es zuschreiben soll, daß ich Freude darin finde, mich bis an den Rand des Abgrundes zu wagen, den Schlund des Übels zu ermessen, seine Tiefe zu befragen, seinen eisigen Atem zu fühlen – und mich dann erschüttert zurückzuziehen. Diese Nachtstunde, die ich an ihrer Schwelle verbrachte, vor Wut heulend, ohne daß sie am nächsten Tage hätte ahnen können, daß sie über meine Tränen und meine Küsse hinschritt, über ihre bald gefährdete, bald geachtete, bald verfluchte, bald angebetete Tugend. Diese Stunde, die vielen töricht erscheinen mag, gab mir eine Ahnung von dem unerklärlichen Gefühl, das Soldaten beseelt: manch einer hat mir erzählt, daß er sein Leben aufs Spiel gesetzt, sich vor die Batterie geworfen habe, um zu sehen, ob er dem Kugelregen entrinnen würde, ob er Glück hätte beim Reiten längs dem gefährlichen Abgrunde, Jean Bart gleich, der auf dem Pulverfaß rauchte. Tags darauf pflückte ich zwei Sträuße; der Comte bewunderte sie, er, den nichts auf diesem Gebiet zu rühren vermochte und auf den das Wort des Champcenetz zutraf: ›Er baut Luftkerker!‹

Ich verlebte einige Tage in Clochegourde und machte nur kurze Besuche in Frapesle, wo ich immerhin dreimal zu Abend aß. Die französische Armee besetzte Tours. Obwohl ich offenbar für Madame de Mortsauf Leben und Gesundheit bedeutete, beschwor sie mich, nach Châteauroux zu gehen, um möglichst schnell über Issoudun und Orleans nach Paris zu gelangen. Ich wollte nicht. Sie befahl und sagte, der Hausgeist habe gesprochen; ich gehorchte. Unser Abschied war diesmal tränenreich. Sie fürchtete für mich die Verlockungen der Welt, in der ich leben würde. Mußte ich mich jetzt nicht ernstlich in den Wirbelsturm von Interessen, Leidenschaften und Vergnügungen stürzen, der Paris zu einem für jede keusche Liebe und für ein reines Gewissen gleich gefährlichen Meere macht? Ich versprach, ihr jeden Abend über die Ereignisse und Gedanken des Tages, selbst die geringfügigsten, zu berichten. Bei diesem Versprechen lehnte sie ihr müdes Haupt an meine Schulter und sagte: »Vergessen Sie nichts! Alles wird mich interessieren!«

Sie gab mir Briefe für den Duc und die Duchesse, die ich einen Tag nach meiner Ankunft aufsuchte.

»Sie treffen es günstig«, sagte mir der Duc. »Essen Sie heute bei uns zu Abend, kommen Sie dann mit mir ins Schloß, und – Ihr Glück ist gemacht! Der König hat heute morgen an Sie gedacht und von Ihnen gesagt: ›Er ist jung, fähig und treu!‹ – und Seine Majestät bedauerte, nicht zu wissen, ob Sie lebendig oder tot seien und wohin der Zufall Sie verschlagen habe, nachdem Sie sich Ihres Auftrages so tadellos entledigt hätten.«

Am selben Abend noch wurde ich Berichterstatter im Staatsrat und hatte bei der Person Ludwigs XVIII. ein geheimes Amt, das erst mit seiner Regierungszeit erlöschen sollte, eine Vertrauensstelle ohne viel Glanz, aber ohne die Möglichkeit der Ungnade – die mich mit einem Schlage in den Mittelpunkt des Verwaltungswesens führte und die erste Stufe meiner Laufbahn wurde. Madame de Mortsauf hatte das Richtige vorausgesehen: ich schuldete ihr also alles: Macht und Reichtum, Glück und Wissen. Sie leitete mich und ermutigte mich, läuterte mein Herz und gab meinem Willen die feste Einheit, ohne welche Jugendkraft sich so leicht zersplittert. Später bekam ich einen Kollegen. Jeder von uns hatte sechs Monate Dienst, wir konnten einander zur Not vertreten. Wir hatten ein Zimmer im Schloß, unsern Wagen und reichliche Vergütung für etwaige Reiseunkosten. Seltsame Stellung! Wir waren die geheimen Schüler des Monarchen, dessen Politik seither selbst von seinen Feinden gewürdigt worden ist; wir hörten, wie er alles beurteilte, Auswärtiges und die innern Angelegenheiten. Wir hatten keine offizielle Bedeutung und wurden doch manchmal zu Rate gezogen wie Laforêt durch Molière; wir sahen die Bedenken des erfahrenen Alters, das sich auf unsere jugendliche Zuversicht stützte. Für unsere Zukunft war übrigens in einer Weise gesorgt, die unserm Ehrgeiz nichts zu wünschen übrigließ. Außer unserm Gehalt als Berichterstatter, das vom Budget des Staatsrats bestritten wurde, gab uns der König monatlich tausend Francs aus seiner Privatschatulle, und oft bedachte er mich mit Geschenken. Obwohl der König fühlte, daß ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren der Arbeitslast, die er mir aufbürdete, auf die Dauer nicht gewachsen wäre, blieb ich doch lange allein. Mein Kollege, der heute Pair von Frankreich ist, wurde erst im August 1817 berufen. Die Wahl war so schwierig, unser Amt erforderte so viele Eigenschaften, daß sich der König lange nicht entschließen konnte. Er erwies mir die Ehre, mich zu fragen, welcher von den jungen Leuten, zwischen denen die Wahl schwankte, mir am besten gefiele. Unter ihnen befand sich einer meiner Schulgefährten aus dem Lepîtreschen Internat. Ich nannte ihn nicht; der König fragte mich: »Warum?«

»Euer Majestät«, sagte ich, »haben Männer gleicher Zuverlässigkeit, aber von verschiedener Befähigung gewählt. Ich habe den bezeichnet, der mir am geeignetsten scheint, in der Überzeugung, daß ich stets gut mit ihm auskäme.«

Mein Urteil deckte sich mit dem des Königs, der mir immer Dank wußte für das Opfer, das ich ihm bei dieser Gelegenheit gebracht hatte.

»Sie sollen mein Premier sein«, sagte er.

Er ließ meinen Kollegen nicht im unklaren darüber, daß er seine Wahl mir zu verdanken habe, und der schenkte mir für den ihm geleisteten Dienst seine Freundschaft. – Das Ansehen, das ich beim Duc de Lenoncourt genoß, wurde maßgebend für die Achtung, die mir die Welt erwies. Die Worte: ›Der König interessiert sich sehr für diesen jungen Mann‹, ›der hat Zukunft‹, ›der König schätzt ihn‹ hätten schon an und für sich das Talent ersetzt; jedenfalls verliehen sie dem freundlichen Entgegenkommen, das man jungen Leuten erweist, einen Beigeschmack von Achtung, wie sie nur der Macht entgegengebracht wird. Bei der Duchesse de Lenoncourt und bei meiner Schwester, die um diese Zeit den Marquis de Listomère, ihren Vetter, den Sohn unserer alten Verwandten auf der Ile-Saint-Louis, heiratete, lernte ich allmählich die einflußreichsten Leute des Faubourg Saint-Germain kennen.

Henriette verschaffte mir auch bald freien Zutritt zu der Gesellschaft des »Petit Château«, indem sie die Princesse de Blamont-Chauvry bemühte, deren angeheiratete Großnichte sie war. Sie empfahl mich ihr so herzlich, daß die Princesse mich sofort einlud. Ich verkehrte viel bei ihr, wußte ihre Gunst zu erwerben, und sie wurde zwar nicht meine Gönnerin, aber eine Freundin, die mir fast mütterliche Gefühle entgegenbrachte. Die alte Princesse ließ es sich angelegen sein, mich mit ihrer Tochter, Madame d'Espard, mit der Duchesse de Langeais, der Vicomtesse de Beauséant und der Duchesse de Maufrigneuse bekannt zu machen: alle diese Damen führten abwechselnd das Zepter der Mode und zeigten sich mir gegenüber um so liebenswürdiger, als ich keinerlei Ansprüche erhob und immer bereit war, ihnen angenehm zu sein. Mein Bruder Charles dachte jetzt nicht mehr daran, mich zu verleugnen, er stützte sich auf mich; aber meine raschen Erfolge weckten doch einen geheimen Neid in ihm, der mir später viel Kummer bereitete. Überrascht von soviel unerwartetem Glück, fühlten mein Vater und meine Mutter sich in ihrer Eitelkeit geschmeichelt und erkannten mich endlich als ihren Sohn an. Aber da ihr Gefühl in gewissem Sinne künstlich, um nicht zu sagen erheuchelt war, rührte dieser Umschwung wenig mein verbittertes Herz. Zudem erregen egoistische Neigungen wenig Sympathie, das Herz haßt Berechnung und Gewinnsucht.

Ich schrieb treulich meiner lieben Henriette, die mir mit ein oder zwei Briefen monatlich antwortete. So schwebte ihr Geist über mir, ihre Gedanken durchflogen die Weite und bildeten eine reine Atmosphäre um mich. Keine Frau vermochte mich zu fesseln. Der König hörte von meiner Zurückhaltung; in der Beziehung gehörte er zur Schule Ludwigs XV. und nannte mich ›Mademoiselle de Vandenesse‹. Aber mein untadeliges Verhalten gefiel ihm sehr. Ich bin davon überzeugt, daß die Geduld, die ich während meiner Kindheit und besonders in Clochegourde gelernt hatte, sehr dazu beitrug, mir die Gunst des Königs zu erwerben, der immer äußerst gütig zu mir war. Er machte sich wahrscheinlich ein Vergnügen daraus, meine Briefe zu lesen, denn er ließ sich nicht lange durch mein jungfräuliches Wesen täuschen. Eines Tages, während der Duc Hofdienst versah, schrieb ich gerade nach dem Diktat des Königs, der den Duc de Lenoncourt ansah und uns beiden einen verschmitzten Blick zuwarf.

»Nun, wie steht's? Will dieser verteufelte Mortsauf denn ewig leben?« sagte er mit seiner silbernen Stimme, der er nach Wunsch den Ton schneidender Satire geben konnte. »Es scheint!« antwortete der Duc. »Die Comtesse de Mortsauf ist ein Engel, den ich doch für mein Leben gern sehen möchte«, entgegnete der König; »aber wenn ich nichts dazu vermag, so wird mein Kanzler mehr Erfolg haben«, sagte er, sich mir zuwendend. »Sechs Monate stehen Ihnen zur Verfügung; ich bin entschlossen, Ihnen den jungen Mann zum Kollegen zu geben, von dem wir gestern sprachen. Viel Vergnügen in Clochegourde, mein lieber Cato!« – und lächelnd ließ er sich aus dem Zimmer hinausfahren.

Ich flog wie eine Schwalbe in die Touraine. Zum ersten Mal würde ich vor die Geliebte hintreten, nicht nur etwas weniger tölpelhaft, sondern als ein eleganter junger Mann, dessen Manieren durch die feinsten Salons gebildet waren, dessen Erziehung die anmutigsten Frauen vollendet hätten, der endlich den Preis seiner Leiden geerntet und die Erfahrung des schönsten Engels, dem der Himmel je ein Kind anvertraute, in die Tat umgesetzt hatte. Nicht wahr, Sie erinnern sich, wie ich während der drei Monate meines ersten Aufenthalts in Frapesle ausgesehen hatte? . . .

Als ich zur Zeit meiner Vendée-Mission nach Clochegourde zurückkehrte, war ich wie ein Jäger gekleidet: ich trug eine grüne Weste mit weißroten Knöpfen, eine gestreifte Hose, Ledergamaschen und Schuhe. Der Marsch, die Gebüsche hatten mich so übel zugerichtet, daß mir der Comte Wäsche leihen mußte. Ein zweijähriger Aufenthalt in Paris, der Umgang mit dem König, der Einfluß des Reichtums und mein beendetes Wachstum hatten mich umgewandelt. Dazu kam mein junges Gesicht, das vom unaussprechlichen Friedensschein einer Seele durchstrahlt war, die mit der reinen Seele von Clochegourde magnetisch verbunden schien. Ich war selbstbewußt, ohne Anmaßung, war innerlich beglückt, mich trotz meiner Jugend schon auf dem Gipfel des politischen Lebens zu wissen; ich hatte das Bewußtsein, die heimliche Stütze, die uneingestandene Hoffnung der göttlichsten Frau zu sein, die es auf Erden gab. Vielleicht empfand ich eine Regung von Eitelkeit, als die Peitsche der Postillione auf der neuen Fahrstraße von Chinon nach Clochegourde knallte und als ein mir noch unbekanntes Tor in einer neugebauten Umfassungsmauer sich öffnete. Ich hatte meine Ankunft der Comtesse nicht gemeldet, um ihr eine Überraschung zu bereiten; ich hatte doppelt unrecht: zunächst überwältigte sie die Bestürzung einer lang ersehnten, aber unmöglichen Freude, die plötzlich eintritt; sodann bewies sie mir, daß alle berechneten Überraschungen geschmacklos seien.

Als Henriette den jungen Mann erblickte, den sie nur als Kind gekannt hatte, senkte sie ihren Blick mit tragisch langsamer Gebärde. Sie ließ mich ihre Hand ergreifen und küssen, ohne die tiefe seelische Freude, die mir sonst das leise Erzittern ihrer feinfühligen Natur verriet; und als sie mir ihr Gesicht wieder zuwandte, fand ich sie blaß aussehend.

»Das ist recht! Sie vergessen also Ihre alten Freunde nicht?« sagte Monsieur de Mortsauf, der weder verändert noch gealtert war.

Die beiden Kinder sprangen mir an den Hals. An der Tür sah ich die ernste Gestalt des Abbé de Dominis, des Erziehers Jacques'.

»Nein«, antwortete ich dem Comte. »Ich werde in Zukunft alljährlich sechs Monate Freiheit haben, die Ihnen gehören . . . Was fehlt Ihnen denn?« fragte ich die Comtesse, und ich legte in Gegenwart aller meinen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. »Oh, lassen Sie mich!« Sie fuhr in die Höhe. »Es ist nichts.«

Ich las in ihrer Seele und antwortete ihrem geheimen Gedanken mit den Worten: »Kennen Sie denn Ihren alten treuen Sklaven nicht wieder?«

Sie nahm meinen Arm, verließ den Comte, ihre Kinder, den Abbé, die herbeigeeilten Leute und führte mich weg von allen, schritt mit mir um einen Rasenplatz; aber alle konnten uns sehen. Dann, als sie sicher war, daß ihre Stimme nicht gehört werden könne, sagte sie:

»Felix, mein Freund, verzeihen Sie die Angst einem Menschen, der nur einen Faden hat, um seinen Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu finden, und der fürchtet, diesen Faden reißen zu sehen! Sagen Sie es mir noch einmal, daß ich mehr denn je Henriette für Sie bin, daß Sie mich nie verlassen werden, daß nichts mich verdrängen kann, daß Sie mir immer ein treu ergebener Freund sein werden! Ich habe in die Zukunft geblickt und fand Sie dort nicht mehr wie sonst, mit leuchtendem Antlitz, die Blicke auf mich gerichtet: Sie kehrten mir den Rücken zu.« – »Henriette, Göttin, deren Verehrung mir höher als die Gottes steht, Lilie, Blüte meines Lebens, wissen Sie denn nicht mehr, daß Sie mein Gewissen sind, daß ich so sehr in Ihr Herz hineingewachsen bin, daß meine Seele hier ist, während mein äußerer Mensch sich in Paris bewegt? Muß ich Ihnen erst sagen, daß ich in siebzehn Stunden hierhergekommen bin, daß jede Umdrehung des Rades eine Welt von Gedanken und Begierden mitriß, die sturmgleich aufbrausten, sobald ich Sie sah?« . . . »O sprechen Sie, sprechen Sie! Ich bin meiner sicher; ich kann Ihnen zuhören, ohne damit ein Verbrechen zu begehen. Gott will nicht, daß ich sterbe: er schickt Sie nur, wie er seinen Atem über seine Geschöpfe gehen läßt, wie er den Wolkenregen über dürres Land ausgießt. O sagen Sie: lieben Sie mich, wie ein Heiliger liebt?« – »Wie ein Heiliger?« – »Auf ewig?« »Auf ewig!« – »Wie die Jungfrau Maria, deren Schleier sie immer umgeben, deren weißer Kranz sie immer krönen muß?« – »Wie eine Mensch gewordene Jungfrau Maria!« – »Wie eine Schwester?« – »Wie eine zu heiß geliebte Schwester!« – »Wie eine Mutter?« – »Wie eine Mutter, die man im geheimen begehrt!« – »Ritterlich? Hoffnungslos?« – »Ritterlich, aber hoffend!« – »Kurz, als wären Sie schon zwanzig Jahre alt und trügen noch den abscheulichen kleinen blauen Anzug vom Ball?« – »Oh, weit mehr! Ich liebe Sie so, und ich liebe Sie auch, wie . . .« Sie sah mich an, voll heißer Furcht. ». . . wie Ihre Tante Sie liebte!« – »Ich bin glücklich, Sie haben die Angst von mir genommen«, sagte sie, als wir zur Familie zurückkehrten, die sich über unsere geheimen Verhandlungen wunderte; »aber seien Sie hier ganz Kind, denn Sie sind noch ein Kind. So gut die Klugheit Ihnen vorschreibt, dem König gegenüber ein Mann zu sein, müssen Sie hier, wo es von Ihnen verlangt wird, ein Kind bleiben. Als Kind werden Sie geliebt werden, der Gewalt des Mannes werde ich immer widerstehen; aber was sollte ich dem Kinde abschlagen?! Nichts! Denn es kann nichts fordern, was ich nicht gewähren dürfte. – Die Geheimnisse sind erledigt«, sagte sie schalkhaft zum Comte, und sie sah ihn mit Augen an, worin ihre Mädchenhaftigkeit und ihr ursprüngliches Wesen wiedergekehrt waren. »Ich verlasse Sie jetzt, ich will mich umziehen.«

In den drei Jahren hatte ihre Stimme nie so glücklich geklungen. Zum ersten Mal hörte ich diese hübschen Schwalbentöne, diesen kindlichen Klang, wovon ich Ihnen erzählt habe. Ich brachte Jacques eine Jagdausrüstung mit und Madeleine einen Nähkasten wie den, dessen sich ihre Mutter stets bediente. Endlich konnte ich die Knauserei wieder gutmachen, zu der mich früher die Sparwut meiner Mutter gezwungen hatte. Die Freude der beiden Kinder, die sich beglückt ihre Geschenke zeigten, schien dem Comte lästig zu sein, der schlechter Laune war, sobald man sich nicht mit ihm beschäftigte. Ich winkte Madeleine verständnisvoll zu und folgte dem Comte, der mir von sich erzählen wollte. Er führte mich zur Terrasse; unterwegs aber blieben wir stehen, sooft er mir eine bedeutsame Mitteilung machte.

»Mein guter Felix«, sagte er, »Sie sehen hier alle glücklich und gesund. Es gibt nur einen Schatten auf diesem Bild, und das bin ich. Aller Leiden habe ich auf mich genommen, und ich danke Gott, daß er sie mir aufgebürdet hat. Früher wußte ich nicht, was mir fehlte, aber jetzt ist es mir klar: mein Magen ist angegriffen, ich kann nichts mehr verdauen.« – »Wie kommt es, daß Sie so genau Bescheid wissen?« fragte ich lächelnd. »Ist Ihr Arzt töricht genug, Ihnen so etwas zu sagen ?« – »Gott bewahre – werde ich denn einen Arzt um Rat fragen!« rief er mit dem tiefen Abscheu der meisten eingebildeten Kranken gegen die Medizin.

Darauf mußte ich ein sinnloses Geschwätz über mich ergehen lassen: er sagte mir, im Vertrauen, lächerliche Dinge, beklagte sich über seine Frau, seine Leute, seine Kinder und das Leben und fand offenbar Vergnügen daran, seine Alltagsklagen einem Freunde aufzutischen, der sich vielleicht noch darüber wundern könnte und den die Höflichkeit zwang, Teilnahme zu heucheln. Er mußte wohl mit mir zufrieden sein, denn ich schenkte ihm die tiefste Aufmerksamkeit: ich versuchte dieses unerklärliche Wesen zu erforschen und die neuen Qualen zu erraten, womit er seine Frau peinigte, die sie mir aber verschwieg. Henriette, die auf der Freitreppe auftauchte, machte dieser Unterhaltung ein Ende. Der Comte erblickte sie, zuckte die Achseln und sagte: »Sie hören mir wenigstens zu, Felix, aber hier hat niemand Mitleid mit mir!«

Er entfernte sich, als wüßte er, daß er unsere Unterhaltung nur stören könnte, oder aber, weil er ihr in einer Anwandlung von Ritterlichkeit die Freude machen wollte, uns allein zu lassen. Sein Wesen war voll seltsamer Widersprüche; im Grunde war er eifersüchtig wie alle Schwächlinge, aber dann wieder schien der Glaube an die Reinheit seiner Frau grenzenlos. Vielleicht erklärte sich sein ständiger Widerspruch gegen die Absichten der Comtesse aus seinem Selbstgefühl, das die Überlegenheit ihrer großen Tugend verletzte; er trotzte ihr, wie Kinder Lehrern oder Müttern trotzen. Jacques wurde gerade unterrichtet, Madeleine machte Toilette, und so konnte ich etwa eine Stunde lang mit der Comtesse auf der Terrasse allein sein.

»Aber lieber Engel«, sagte ich, »die Kette ist ja noch drückender geworden, der Sand noch brennender, die Dornen zahlreicher; ist es nicht so?« – »Schweigen Sie!« antwortete sie, denn sie erriet die Gedanken, worauf die Unterhaltung mit dem Comte mich gebracht hätte. »Sie sind hier, alles ist vergessen. Ich leide nicht, ich habe nie gelitten!«

Sie machte einige rasche Schritte, wie um ihr weißes Gewand zu lüften, sie überließ dem sanften Wind die schneeigen Tüllrüschen, die wehenden Ärmel, ihre frischen Bänder, die Pelerine und die wellenweichen Locken ihrer Haartracht à la Sévigné. Und ich sah sie zum ersten Mal einem jungen Mädchen gleich, ungezwungen heiter und spiellustig wie ein Kind. Da lernte ich die Tränen des Glücks kennen und die Freude, die der Mann genießt, wenn er Freude spendet.

»Schöne Menschenblüte, die mein Gedanke liebkost und meine Seele küßt, o meine Lilie!« rief ich aus, »immer unberührt und aufrecht auf ihrem Stengel, immer weiß, stolz, duftend und einsam.« – »Genug«, sagte sie lächelnd; »sprechen Sie von Ihren Taten, aber erzählen Sie mir alles!«

Da führten wir denn unter dem wehenden, zitternden Blätterdach eine lange Unterhaltung mit vielen Abschweifungen, die wir fallenließen und wieder aufnahmen, und ich weihte sie ein in mein Leben, meine Tätigkeit. Ich beschrieb ihr mein Zimmer in Paris; denn sie wollte alles wissen, und – o nie genug geschätztes Glück! – ich hatte ihr nichts zu verschweigen. Als sie so vertraut wurde mit meinen Gedanken, meinen Träumen, mit allen Einzelheiten meines arbeitsschweren Lebens, als sie von meinem ausgedehnten Amtsbereiche hörte, wo es ohne strenge Ehrlichkeit ein leichtes gewesen wäre, zu betrügen und sich zu bereichern, wo ich aber soviel Gewissenhaftigkeit an den Tag legte, daß der König – so erzählte ich ihr – mich ›Mademoiselle de Vandenesse‹ nannte, da ergriff sie meine Hand, küßte sie und benetzte sie mit Tränen der Freude. Diese plötzliche Vertauschung der Rollen, dies herrliche Lob, dieser kaum angedeutete, doch sogleich verstandene Gedanke: ›Das ist der Herr, den ich mir gewünscht hätte, das ist mein Traum! . . .‹ – das Geständnis, das darin lag, wo Selbsterniedrigung Größe bedeutete und sich Liebe in einer übersinnlichen Welt verriet – dieser ganze Sturm himmlischer Offenbarungen warf sich mir aufs Herz und zermalmte mich. Ich fühlte mich klein, ich hätte zu ihren Füßen sterben können.

»Ach«, rief ich aus, »Sie werden uns immer in allem überlegen sein! Wie können Sie an mir zweifeln? denn Sie haben vor kurzem noch gezweifelt!« – »Nicht, was die Gegenwart betrifft«, erwiderte sie und sprach mich unbeschreiblich sanft an, mit einem Blick, der sich nur für mich verschleierte; »aber als ich Sie so strahlend sah, sagte ich mir: unsere Verabredungen wegen Madeleine werden von einer fremden Frau durchkreuzt werden, welche die verborgenen Schätze Ihres Herzens erraten, die Sie anbeten wird, die uns unsern Felix rauben und hier alles zerstören wird.« – »Immer wieder Madeleine!« sagte ich mit sichtlichem Erstaunen, was sie aber nur halb betrübte. »Bin ich denn etwa Madeleine treu?« Wir verfielen in ein Schweigen, das Monsieur de Mortsauf vorzeitig unterbrach. Nun mußte ich, mit übervollem Herzen, eine Unterhaltung führen, die von Schwierigkeiten starrte, wo meine aufrichtigen Auskünfte über die damalige Politik des Königs sich an den Grundsätzen des Comte stießen, der mich zwang, ihm die Absichten des Königs klarzulegen. Trotz all meiner Fragen über seine Pferde, seine landwirtschaftlichen Angelegenheiten und ob er mit seinen fünf Pachtgütern zufrieden sei, ob er die Bäume einer alten Allee fällen wolle: trotz all dieser Fragen kam er immer wieder auf die Politik zurück; er hatte die Zanksucht eines alten Mädchens und den Eigensinn eines Kindes. Denn Wesen von dieser Art fliegen gern ins Licht, kehren immer wieder, summen verständnislos darum herum und ermüden den Verstand, wie dicke Fliegen das Ohr ermüden, wenn sie an erhellten Scheiben schwirren. Henriette schwieg. Um dieser Unterhaltung ein Ende zu machen, die mich, der ich so jung war, leicht hätte erhitzen können, antwortete ich zustimmend, einsilbig und ging so unnötigen Auseinandersetzungen aus dem Wege. Aber Monsieur de Mortsauf war viel zu klug, um nicht zu merken, wie beleidigend eigentlich meine Höflichkeit sei. Es erbitterte ihn, immer recht zu bekommen; er bäumte sich auf, seine Augenbrauen und die Runzeln auf seiner Stirn zuckten, seine gelben Augen sprühten Blitze, seine blutunterlaufene Nase rötete sich noch mehr, genau wie an dem Tage, wo ich zum erstenmal Zeuge seiner Tobsuchtsanfälle gewesen war. Da warf mir Henriette flehende Blicke zu und gab mir zu verstehen, daß sie für mich nicht die Autorität entfalten könnte, die sie zum Schutze und zur Rechtfertigung ihrer Kinder aufwandte. Ich ging dann auf die Ansichten des Comte ein, indem ich ihn ernst nahm und seinen argwöhnischen Geist mit äußerster Geschicklichkeit lenkte.

»Armer Liebling! Armer Liebling!« Mehrmals murmelte sie diese zwei Worte, die mein Ohr wie milde Luft berührten. Dann, als sie glaubte, mit einigem Erfolg einschreiten zu können, unterbrach sie uns: »Wissen Sie, Messieurs, daß Sie über die Maßen langweilig sind?«

Durch diese Bemerkung zum ritterlichen Gehorsam, den man Frauen schuldet, zurückgeführt, hörte der Comte auf, von Politik zu sprechen. Wir stellten nun unserseits die Geduld auf die Probe, indem wir uns Nichtigkeiten erzählten. Er schlug uns vor, spazierenzugehen, und behauptete, daß er schwindlig würde, wenn er sich so stets im selben Kreise bewegen müsse.

Meine traurigen Vermutungen erwiesen sich als richtig. Die sanfte Landschaft, die milde Luft, der klare Himmel, die berauschende Poesie dieses Tales, die fünfzehn Jahre lang die peinigenden Gedanken gemildert hatten, waren jetzt dagegen ohnmächtig. In dem Lebensalter, wo bei andern Menschen Herbheiten sich mildern, Kanten sich abschleifen, wurde dieser alte Edelmann immer streitsüchtiger. Seit mehreren Monaten widersprach er, nur um zu widersprechen, ohne Grund, ohne seine Auffassungen zu rechtfertigen; er fragte bei allem: warum?, regte sich über eine Verspätung oder eine Vergeßlichkeit auf, mischte sich bei jedem Anlaß in Hausangelegenheiten, ließ sich über die unwichtigsten Kleinigkeiten Rechenschaft ablegen, so daß er seine Frau und die Leute ermüdete und ihnen wenig oder gar keine Freiheit ließ. Früher hatten seine Gereiztheiten immer einen, wenn auch nur scheinbaren Grund, jetzt waren sie chronisch geworden. Vielleicht hatten Geldsorgen, landwirtschaftliche Unternehmungen, ein sehr tätiges Leben bis dahin seinen Trübsinn dadurch abgelenkt, daß sie seine innere Unruhe auf ein Gebiet verwiesen, wo er sich regen und handeln konnte, und jetzt, wo er keine Beschäftigung mehr hatte, wandte sich seine Krankheit in ihrer ganzen Gewalt wie eine Waffe gegen ihn; da sie sich nicht mehr nach außen hin betätigen konnte, äußerte sie sich in fixen Ideen, die seelische Zerrüttung griff auf den Körper über. Er war sein eigener Arzt geworden; er wälzte medizinische Bücher, glaubte die Krankheiten, deren Beschreibung er las, zu haben und traf für seine Gesundheit unerhörte Vorsichtsmaßregeln, die immer wechselten, sie waren nicht vorauszusehen und infolgedessen nicht einzuhalten. Einmal wollte er keinen Lärm hören, und wenn die Comtesse um ihn her unbedingte Stille schuf, beklagte er sich, gewissermaßen lebendig begraben zu sein; er sagte, es sei doch noch ein großer Unterschied zwischen Geräuschlosigkeit und dem Todesschweigen eines Trappistenklosters. Manchmal legte er erkünstelte Gleichgültigkeit gegen alle Dinge dieser Welt an den Tag; dann atmete das ganze Haus auf, die Kinder spielten, die Haushaltsarbeiten gingen glatt und ungehindert vonstatten. Plötzlich rief er jammernd in den Lärm hinein: »Man will mich umbringen, meine Liebe! – Wenn es sich um Ihre Kinder handelte, würden Sie gewiß herausfinden, was ihnen fehlt!« sagte er zu seiner Frau und verschärfte die Ungerechtigkeit der Worte noch durch den bittern und schneidenden Ton, womit sie gesprochen wurden.

Er zog sich hundertmal am Tage an und aus, beobachtete die leisesten Temperaturwechsel und tat nichts, ohne sein Barometer zu befragen. Trotz der mütterlichen Sorgfalt seiner Frau war keine Speise je nach seinem Geschmack. Er bildete sich ein, an einem kranken Magen zu leiden, und behauptete, seine Verdauungsschmerzen bereiteten ihm andauernd schlaflose Nächte. Bei alledem aß, trank, verdaute und schlief er so vorzüglich, daß der geschickteste Arzt über sein Befinden nur gestaunt hätte. Seine immer wechselnden Befehle verdrossen die Leute im Hause, die, wie alle Dienstboten, ihre alten Geleise gehen wollten und unfähig waren, sich ewig widersprechenden Forderungen anzupassen. Der Comte befahl zum Beispiel, alle Fenster offenzuhalten, weil frische Luft für seine Gesundheit nötig sei. Wenige Tage später wurde ihm die zu feuchte oder zu warme Luft unerträglich; dann zankte er, brach einen Streit vom Zaun und leugnete aus Rechthaberei seinen vorigen Befehl ab. Dieser Mangel an Gedächtnis oder an Ehrlichkeit verhalf ihm auch dann zum Sieg, wenn seine Frau ihn gegen sich selbst ausspielte. Das Leben in Clochegourde war so unerträglich geworden, daß der hochgelehrte Abbé de Dominis schließlich die Lösung tiefer Probleme anbahnte und sich hinter einer scheinbaren Geistesabwesenheit verschanzte. Die Comtesse konnte nicht mehr wie früher hoffen, daß seine Wutanfälle nicht außerhalb des Familienkreises bekannt würden. Schon waren die Dienstboten Zeugen heftiger Auftritte gewesen, wobei die grundlose Überreiztheit des Greises alle Grenzen überschritten hatte. Sie waren der Comtesse so treu ergeben, daß nichts in die Öffentlichkeit drang; aber sie mußte jeden Tag einen gewaltigen Ausbruch dieses Wahnsinns befürchten, den keine Rücksicht mehr zurückhielt. Ich erfuhr später schreckliche Einzelheiten vom Verhalten des Comte gegen seine Frau. Statt sie zu trösten, überschüttete er sie mit düstern Prophezeiungen und machte sie für künftiges Unheil verantwortlich, weil sie sich gegen die sinnlosen Heilmethoden sträubte, denen er seine Kinder unterwerfen wollte. Ging die Comtesse mit Jacques und Madeleine spazieren, so weissagte der Comte bei heiterstem Himmel ein Gewitter. Wenn die Ereignisse zufällig seine Voraussagen rechtfertigten, fühlte er sich in seiner Selbstliebe so geschmeichelt, daß ihn das Übelbefinden seiner Kinder nicht rührte. War eins von ihnen unwohl, so setzte der Comte seinen ganzen Verstand daran, den Grund des Leidens in der Verpflegungsart seiner Frau zu finden, die er in allen Einzelheiten bekrittelte, immer mit den mörderischen Worten schließend: »Wenn Ihre Kinder wieder krank werden, dann haben Sie es nicht anders gewollt!« Geradeso trieb er es in der Hausverwaltung. Er sah immer nur die schlimmste Seite der Dinge und machte sich bei jeder Gelegenheit zum ›Advokaten des Teufels‹, wie sein alter Kutscher sagte. Die Comtesse hatte für Jacques und Madeleine eine andere Essenszeit festgesetzt und sie damit vor den verheerenden Wirkungen der Krankheit des Comte geschützt; sie wollte allein der Blitzabnehmer für alle Gewitter sein. Madeleine und Jacques sahen ihren Vater selten. Wie alle Egoisten war er Meister im Selbstbetrug; nie wurde ihm klar, welches Übel er anrichtete. Im vertrauten Gespräch mit mir hatte er besonders darüber geklagt, daß er sich zuviel um die Seinen sorge. Dabei schwang er die Geißel, zerbrach und warf alles nieder, wie es ein Affe getan hätte. Und wenn er sein Opfer verletzt hatte, leugnete er, es je berührt zu haben. Da verstand ich, was auf die Stirn der Comtesse die haarscharfen Linien eingegraben hatte, die mir beim Wiedersehen aufgefallen waren. Edle Seelen besitzen ein Schamgefühl, das sie verhindert, ihre Schmerzen auszusprechen. Stolz verbergen sie deren Größe allen, die sie lieben; sie gehorchen einem Gefühl wollüstigen Mitleids für den Henker. Auch vermochte ich Henriette trotz meines Drängens dies Geständnis nicht mit einem Male zu entreißen; sie fürchtete, mich zu betrüben. Ihre Bekenntnisse waren von plötzlichem Erröten unterbrochen; aber ich erriet bald, wie sehr sich durch die Untätigkeit des Comte die häusliche Lage in Clochegourde verschlimmert hatte.

»Henriette«, sagte ich ihr nach einigen Tagen, um ihr zu zeigen, daß ich die Tiefe ihres neuen Elends ermessen hatte, »haben Sie nicht unrecht daran getan, Ihren ganzen Grundbesitz so vortrefflich einzurichten, daß der Comte keine Beschäftigung mehr darin findet?« – »Lieber!« sagte sie lächelnd, »meine Lage ist kritisch genug, meine ganze Aufmerksamkeit zu erfordern. Glauben Sie, daß ich alle Möglichkeiten wohl ins Auge gefaßt habe, sie sind alle erschöpft! In der Tat sind die Zänkereien mit jedem Tage schlimmer geworden. Da Monsieur de Mortsauf immer in meiner Nähe ist, kann ich ihre Wirkung nicht abschwächen, indem ich sie auf verschiedene Punkte verteile. Alles wäre gleich schmerzhaft für mich. Ich habe daran gedacht, Monsieur de Mortsauf zu zerstreuen. Ich riet ihm, eine Seidenraupenzucht in Clochegourde einzurichten, wo schon einige Maulbeerbäume stehen, Überreste der alten Seidenindustrie, die einst in der Touraine blühte. Aber ich habe eingesehen, daß er dann ebenso despotisch im Hause wäre und daß ich außerdem alle Lasten dieses Unternehmens allein zu tragen hätte. Verstehen Sie wohl, Herr Beobachter: in der Jugend werden die schlechten Eigenschaften des Menschen von der Gesellschaft niedergehalten, vom Spiel der Leidenschaft in ihrer Entfaltung gehemmt, von der Rücksicht auf Menschen eingedämmt; später, beim alternden Manne und in der Einsamkeit, brechen diese kleinen Fehler desto unbarmherziger hervor, je länger sie unterdrückt worden sind. Alle menschlichen Schwächen sind in ihrem innersten Wesen Feigheit. Sie geben weder Ruhe noch Frieden. Was man ihnen gestern bewilligt hat, verlangen sie heute, morgen und immer: sie setzen sich in Zugeständnissen fest und erweitern sie. Jede Macht ist gütig, sie fügt sich der bessern Einsicht, ist gerecht und friedlich, während die Leidenschaften, die der Schwäche entspringen, unbarmherzig sind; sie handeln am liebsten wie die Kinder, die Früchte, im geheimen gestohlen, den bei Tisch gebotenen vorziehen. So macht es Monsieur de Mortsauf das größte Vergnügen, mich zu überlisten; er, der niemanden hinterginge, betrügt mich mit wahrer Wonne, wenn nur seine List verborgen bleibt.«

Etwa einen Monat nach meiner Ankunft, eines Morgens nach dem Frühstück, nahm die Comtesse meinen Arm, schlüpfte durch ein Gittertor, das in den Obstgarten führte, und zog mich hinter sich her in die Reben.

»Ach, er wird mich noch umbringen!« sagte sie. »Und doch will ich leben, sei es auch nur für meine Kinder! Wie ist es nur möglich! Keinen Tag Rast, immer durch Dornen gehen müssen, bei jedem Schritte straucheln und jeden Augenblick seine Kräfte sammeln, um das Gleichgewicht zu behalten! Niemand kann solchen Aufwand an Energie aufbringen. Wenn ich nur wüßte, nach welcher Richtung ich meine Bemühungen wenden sollte! Wenn ich genau wüßte, wie ich mich schützen soll! Ich könnte mich damit abfinden. Aber nein, jeden Tag ist der Angriff ein anderer und überrascht mich immer in wehrlosem Zustand. Mein Leiden ist nicht ein einzelnes, es ist vielfältig! Felix! Felix! Sie ahnen nicht, welche schreckliche Form seine Tyrannei angenommen hat und welch grausame Ansprüche ihm seine Medizinbücher eingeben. Ach, lieber Freund!« brach sie ihr Geständnis ab und lehnte ihr Haupt an meine Schulter – »Was soll das werden? Was soll ich tun?« fuhr sie fort, sich ihrer unausgesprochenen Gedanken erwehrend; »Wie soll ich Widerstand leisten? Er wird mich umbringen! Nein, ich will mir selbst das Leben nehmen, und das wäre doch ein Verbrechen! . . . Fliehen? . . . Um meine Kinder? Mich scheiden lassen? . . . Aber wie soll ich nach fünfzehnjähriger Ehe meinem Vater sagen, daß ich es bei Monsieur de Mortsauf nicht aushalten kann, wo er doch in Gegenwart meiner Eltern immer gesetzt, vernünftig, höflich und geistreich sein wird? Haben übrigens verheiratete Frauen noch Vater oder Mutter? Sie gehören mit Leib, und Eigentum ihrem Manne. Ich lebte friedlich, wo nicht glücklich, ich schöpfte einige Kraft aus meiner Einsamkeit – das muß ich gestehen –, aber wenn ich dieses negativen Glückes beraubt bin, werde ich sicher noch wahnsinnig! Mein Widerstand stützt sich auf wichtige Gründe, die außerhalb meiner Person liegen. Ist es nicht ein Verbrechen, armen Geschöpfchen das Leben zu geben, die von vornherein zu dauerndem Leiden verdammt sind? Und doch wirft mein Verhalten so schwerwiegende Fragen auf, daß ich sie nicht allein entscheiden kann; ich bin gleichzeitig Richter und Partei. Morgen werde ich nach Tours gehen und dem Abbé Birotteau, meinem jetzigen Beichtvater, meine Zweifel vorlegen. Denn mein lieber, tugendreicher Abbé de la Berge ist gestorben. Obwohl er streng war, wird mir seine apostolische Glaubenskraft immer fehlen. Sein Nachfolger ist ein Engel an Milde, er läßt sich von Rührung übermannen, statt zu tadeln, und doch: welcher geschwächte Mut fände nicht im Glauben Stärkung? welche Vernunft würde nicht durch die Stimme des Heiligen Geistes aufgerichtet? – Mein Gott«, fuhr sie fort, ihre Tränen trocknend, den Blick gen Himmel gerichtet, »wofür strafst du mich? Aber wir müssen es glauben«, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm, »ja wollen es glauben: wir müssen durch den glühenden Schmelztiegel, um vollkommen und heilig in die höheren Sphären vorzudringen. Muß ich schweigen? Verbietest du mir, mein Gott, zu einem Freundesherzen zu schreien? Liebe ich ihn zu sehr?«

Sie drückte mich an ihr Herz, als fürchte sie, mich zu verlieren.

»Wer wird mich von diesen Zweifeln befreien? Mein Gewissen wirft mir nichts vor. Die Sterne leuchten vom Himmel hernieder auf die Menschen; warum sollte die Seele, der Stern in des Menschen Brust, nicht einen Freund in seinen Strahlenkreis hüllen, wenn man ihm nur reine Gedanken weiht?«

Ich hörte diese schreckliche Klage schweigend an und hielt die schlaffe Hand der Frau in meiner noch schlafferen Hand. Ich drückte sie mit einer Kraft, der Henriette mit gleicher Kraft antwortete.

»Aha – hier stecken Sie!« rief der Comte, der uns barhäuptig entgegenkam.

Seit meiner Rückkehr bestand er darauf, sich in unsere Unterhaltung zu mischen, vielleicht weil er eine Zerstreuung davon erhoffte, vielleicht weil er fürchtete, daß mir die Comtesse ihre Leiden anvertraue, vielleicht aber auch, weil er eifersüchtig war um einer Freude willen, die er nicht teilte.

»Wie er hinter mir her ist!« sagte sie im Ton der Verzweiflung. »Wir wollen in unsern Weinberg gehen und ihm so entfliehen. Bücken Sie sich, solange wir an der Hecke entlanggehen, damit er uns nicht sieht!«

Eine dicke Hecke diente uns als Schutzwall, laufend erreichten wir den Weinberg und waren bald weit vom Comte in einer Allee von Mandelbäumen.

»Liebe Henriette«, sagte ich dann, drückte ihren Arm an mein Herz und stand still, um sie in ihrer Qual zu betrachten, »Sie haben mich früher auf den gefährlichen Pfaden der großen Welt mit Weisheit geleitet. Erlauben Sie mir nun, Ihnen einige gute Ratschläge zu geben, die Ihnen helfen sollen, den Zweikampf, worin Sie unfehlbar erliegen müßten, ohne Sekundanten zu beenden. Sie kämpfen nicht mit gleichen Waffen. Messen Sie sich nicht länger mit einem Wahnsinnigen . . .« – »Still!« sagte sie und hielt die Tränen zurück, die aus ihren Augen stürzten. – »Hören Sie mich, Liebe! Nach einer einstündigen Unterhaltung, wie ich sie aus Liebe zu Ihnen ertragen muß, sind meine Gedanken oft verwirrt, mein Kopf ist schwer. Der Comte macht mich irre an meinem Verstand. Dieselben immer wiederholten Ideen graben sich gegen meinen Willen in mein Gehirn. Unzweideutige Monomanien sind nicht ansteckend, aber wenn der Irrsinn sich in der ganzen Art äußert, wie er die Dinge ansieht, wenn er sich hinter beständigen Diskussionen versteckt, kann er schlimme Verheerungen in seiner Umgebung anrichten. Ihre Geduld ist überirdisch. Aber sind Sie nicht ganz erschöpft, fast vernichtet? Um Ihretwillen, um der Kinder willen: ändern Sie Ihr Benehmen zum Comte! Ihre göttliche Nachgiebigkeit hat seinen Eigensinn gefördert. Sie haben ihn behandelt, wie eine Mutter ihr verwöhntes Kind behandelt. Aber jetzt, wenn Sie leben wollen – und Sie wollen es! –, jetzt entfalten Sie die Macht, die Sie über ihn haben! Sie wissen, er liebt und fürchtet Sie. Flößen Sie ihm noch mehr Furcht ein! Setzen Sie seinem schwanken Willen einen geradlinigen entgegen! Dehnen Sie Ihre Macht aus, wie er die Zugeständnisse, die Sie ihm machten, zu erweitern verstand! Schließen Sie seine Krankheit in eine geistige Sphäre ein, wie man Irrsinnige in eine Zelle schließt!« – »Liebes Kind«, sagte sie mit bitterem Lächeln, »nur eine herzlose Frau kann diese Rolle spielen. Ich bin Mutter, ich wäre ein schlechter Henker. Ja, ich weiß zu leiden, aber andere leiden machen? Niemals! Nicht einmal, um edle oder große Zwecke zu erreichen! Und dann: müßte ich mich nicht zum Lügen zwingen, meine Stimme verstellen, meine Stirn wappnen, meine Bewegungen fälschen? . . . Ich kann mich wohl zwischen Monsieur de Mortsauf und seine Kinder stellen, ich werde seine Schläge auffangen, damit sie keinen andern treffen, aber mehr vermag ich nicht, um so viel widerstreitende Interessen zu vereinigen.« – »Laß dich anbeten, Heilige, Dreifachheilige!« sagte ich, vor ihr hinkniend, küßte den Saum ihres Gewandes und trocknete meine Tränen daran. – »Wie aber – wenn er Sie tötet?«

Sie erblaßte und antwortete, den Blick gen Himmel gerichtet: »Gottes Wille geschehe!« – »Wissen Sie, was der König neulich Ihren Vater gefragt hat? ›Lebt denn dieser verteufelte Mortsauf noch immer?‹« – »Was ein Scherz im Munde des Königs ist«, antwortete sie, »ist hier ein Verbrechen.«

Trotz unserer Vorsichtsmaßregeln war der Comte unserer Spur gefolgt, er holte uns schweißgebadet unter einem Nußbaum ein, wo die Comtesse stehengeblieben war, um dies ernste Wort zu sprechen. Schöpfte er ungerechten Verdacht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls beobachtete er uns wortlos, ohne auf die Kühle zu achten, welche die Nußbäume verbreiteten. Nach wenigen inhaltlosen Worten, die von inhaltsschweren Pausen unterbrochen waren, klagte der Comte über Übelkeit und Kopfschmerzen. Er jammerte leise, ohne unser Mitleid herauszufordern, ohne uns seine Leiden in übertriebenen Farben zu malen. Wir beachteten das nicht im geringsten. Auf dem Heimweg fühlte er sich noch weniger wohl, sprach davon, sich ins Bett zu legen, und zog sich ohne viel Umstände zurück, mit einer Natürlichkeit, die ihm sonst nicht eigen war. Wir benutzten den Waffenstillstand, den uns seine Hypochonderlaune gewährte, und gingen, von Madeleine begleitet, auf unsere liebe Terrasse hinunter.

»Wir wollen eine Bootsfahrt machen«, sagte die Comtesse, nach kurzem Aufundabgehen. »Wir wollen zusehen, während der Verwalter Fische für uns fängt.«

Wir gingen durch die kleine Tür, gelangten ans Boot, sprangen hinein und ruderten langsam flußaufwärts. Wie drei Kinder, die sich über jede Kleinigkeit freuen, betrachteten wir die Gräser am Flußrand, die blauen und grünen Libellen; und die Comtesse wunderte sich, mitten in ihren zähen Kümmernissen so friedliche Freuden kosten zu können. Und doch: übt nicht die Stille der Natur, die unbekümmert um unsere Kämpfe ewig dieselbe bleibt, einen tröstlichen Liebreiz auf uns aus? Die Erregung einer zurückgedrängten Liebesbegierde ist wie die Bewegung des Wassers; die Blumen, die Menschenhand noch nicht verunziert hat, geben unsere geheimsten Träume wieder; das wollüstige Wiegen des Kahnes erinnert leise an die Gedanken, die in der Seele auf und nieder wogen. Diese doppelte Poesie lullte uns sanft ein. Die Worte, die mit der Natur auf den gleichen Ton gestimmt waren, hatten einen geheimnisvollen Zauber, und die Blicke strahlten heller in dem Licht, das die Sonne in breiten Fluten über die flammende Wiese goß. Der Fluß glich einem Pfade, auf dem wir hinflogen. Und da uns die gleichmäßige Marschbewegung nicht ablenkte, konnten unsere Gedanken die ganze Schöpfung umfassen: War nicht die stürmische Freude eines ausgelassenen kleinen Mädchens, dessen Bewegungen so anmutig, dessen Äußerungen so störend sind – war die nicht auch der lebendige Ausdruck zweier freier Seelen, die freudig jenes wunderbare, von Plato erträumte Idealgeschöpf bildeten, das allen bekannt ist, deren Jugend eine glückliche Liebe ausfüllte? Um Ihnen diese Stunde zu malen, nicht in ihren unbeschreibbaren Einzelheiten, sondern im Gesamtbild, will ich Ihnen sagen, daß wir einander in allen Wesen, in allen Dingen um uns liebten. Wir fanden das Glück, das jeder von uns wünschte, außer uns; es durchdrang uns so mächtig, daß die Comtesse ihre Handschuhe auszog und ihre schönen Hände ins Wasser tauchte, wie um eine heimliche Glut zu kühlen. Ihre Augen sprachen, aber ihr Mund, der sich wie eine Rosenknospe der Luft erschloß, hätte sich der Begierde geschlossen. Sie kennen die Harmonie tiefer und hoher Töne, die ganz aufeinander abgestimmt sind: sie erinnert mich stets an die Harmonie unserer beiden Seelen in diesem Augenblick, der niemals wiederkehren wird.

»Wo lassen Sie fischen«, fragte ich, »wenn Ihnen der Fischfang doch nur an Ihren eigenen Ufern erlaubt ist?« – »Nahe bei Pont-de-Ruan. Ich vergaß Ihnen zu sagen: der Fluß gehört uns jetzt von Pont-de-Ruan bis Clochegourde. Monsieur de Mortsauf hat vor kurzem vierzig Morgen Wiese gekauft von den Ersparnissen der beiden letzten Jahre und seiner rückständigen Pension. Wundert Sie das?« – »Mich? Ich wollte, das ganze Tal gehörte Ihnen!« rief ich aus. Sie antwortete mit einem Lächeln. Wir waren jetzt unterhalb von Pont-de-Ruan, in einer Ausbuchtung der Indre. Es wurde schon gefischt.

»Nun, wie steht's, Martineau?« fragte sie. »Ach, Madame la Comtesse, wir haben Pech. Seit drei Stunden sind wir an der Arbeit, flußaufwärts von der Mühle bis hierher, und haben nichts gefangen.«

Wir legten an, um dem letzten Auswerfen der Netze beizuwohnen, und stellten uns alle drei in den Schatten einer weißrindigen Pappel, wie sie an der Donau, der Loire und wahrscheinlich an allen großen Flüssen wächst und die im Frühling weiße seidige Flocken abwirft. Die Comtesse hatte ihre hoheitsvolle Heiterkeit wiedergefunden. Sie bereute es fast, mir ihre Leiden anvertraut und wie Hiob geschrien zu haben, statt wie Magdalena zu weinen, wie eine Magdalena ohne Lüge, ohne Feste, ohne Ausschweifungen, aber nicht ohne Duft und Schönheit. Das Netz, das man vor ihr herauszog, war voller Fische: Schleien, Barben, Hechte, Barsche und ein riesiger Karpfen zuckten auf dem Grase.

»Das ist ein abgekartetes Spiel!« rief der Verwalter.

Die Arbeiter rissen die Augen auf und bewunderten diese Frau, als sei sie eine Fee, deren Zauberstab ihre Netze berührt habe. In diesem Augenblick kam der Vorreiter durch die Wiese hergaloppiert. Sie fuhr entsetzt zusammen. Wir hatten Jacques nicht bei uns, und der erste Gedanke einer Mutter ist, wie Vergil so poetisch gesagt hat, ihre Kinder bei der geringsten Gefahr an die Brust zu drücken.

»Jacques!« rief sie, »wo ist Jacques? Was ist meinem Sohn geschehen?«

Sie liebte mich nicht! Hätte sie mich geliebt, so hätte sie für meine Leiden diesen Ausdruck einer verzweifelten Löwin gehabt.

»Madame la Comtesse! Dem Comte geht es schlechter!«

Sie atmete auf und lief, von Madeleine gefolgt, auf mich zu.

»Gehen Sie langsam nach Hause«, sagte sie mir, »damit dieses liebe Mädchen sich nicht erhitze. Sie sehen, Monsieur de Mortsaufs Marsch durch die Hitze hat ihn in Schweiß gebadet, und sein Aufenthalt unter dem Nußbaum hat vielleicht ein Unglück verschuldet.«

Dies Wort, das sich aus ihrer erregten Seele rang, zeigte, wie rein ihre Gedanken waren. Der Tod des Comte – ein Unglück?! Sie eilte nach Clochegourde zurück, ging durch eine Mauerbresche und durchschritt den Weinberg. Ich kehrte in der Tat langsam zurück. Henriettes Ausruf hatte mich erleuchtet, aber wie der Blitz, der die Ernte vernichtet. Während dieser Bootsfahrt glaubte ich ihrem Herzen am nächsten zu sein; jetzt fühlte ich voller Bitterkeit, daß ihre Worte aufrichtig waren. Der Geliebte, der nicht alles ist, ist nichts! So liebte denn ich allein – mit allen Begierden einer Liebe, die weiß, was sie will, die sich im voraus an erhofften Liebkosungen weidet und sich mit seelischer Wollust begnügt, weil sie von der Zukunft alle Wonnen erwartet. Wenn Henriette liebte, wußte sie nichts von den Freuden noch von den Stürmen der Leidenschaft. Sie zehrte vom Gefühle selbst, wie eine gottergebene Heilige. Ich war der Gegenstand, an den sich ihre Gedanken, ihr mißverstandenes Empfinden geheftet hatte wie ein Bienenschwarm an einen blühenden Baumzweig. Aber ich war nicht das Schicksal, ich war nur ein Zufall in ihrem Leben. ›Wer würde mir entthrontem König mein Reich wiedergeben?‹ fragte ich mich. In meiner wilden Eifersucht warf ich mir vor, nichts gewagt zu haben, die Bande einer Liebe, die nunmehr eher überzart als lebensfähig erschien, nicht fester geknüpft zu haben durch die Rechte, die der Besitz verleiht.

Das Unwohlsein des Comte, das vielleicht durch die Kühle unter dem Nußbaum hervorgerufen war, verschlimmerte sich in wenigen Stunden. Ich ging nach Tours, um einen Arzt, Monsieur Origet, zu holen, der mich aber erst am Abend nach Clochegourde begleiten konnte. Er blieb die ganze Nacht und den folgenden Tag dort. Er hatte durch den Vorreiter eine große Zahl Blutegel besorgen lassen, weil er einen Aderlaß für durchaus nötig hielt, aber seine Lanzette war zu Hause liegengeblieben. Sofort rannte ich nach Azay, bei abscheulichem Wetter, weckte den Wundarzt und zwang ihn, mir mit der Geschwindigkeit eines Vogels zu folgen. Zehn Minuten später wäre der Comte erlegen; der Aderlaß rettete ihn. Trotz dieses ersten Erfolges stellte der Arzt die Prognose auf eine bösartige Entzündung, eine Krankheit, wie sie nur Leute bekommen, die zwanzig Jahre gesund waren. Die Comtesse war niedergeschmettert und glaubte, an dieser verhängnisvollen Krise schuld zu sein. Sie hatte nicht die Kraft, mir für meine Bemühungen zu danken, warf mir aber hin und wieder ein Lächeln zu, das dasselbe besagen wollte wie der Kuß, den sie mir auf die Hand gedrückt; ich hätte gern Gewissensbisse einer unerlaubten Liebe darin gelesen, aber sie zeugten nur von einer reuigen Zerknirschung, die eine so reine Seele nicht hätte trüben sollen. Es war der Ausdruck einer bewundernden Zärtlichkeit für den, der ihr edel erschien, während sie allein sich eines eingebildeten Verbrechens zieh. Gewiß, sie liebte mich, wie Laura de Nover Petrarca liebte, und nicht, wie Francesca da Rimini Paolo begehrte: eine furchtbare Entdeckung für einen, der die Vereinigung dieser beiden Arten von Liebe ersehnte. Die Comtesse lag schlaff und mit hängenden Armen in einem schmutzigen Sessel, in diesem Zimmer, das dem Unterschlupf eines Wildschweins glich. Am folgenden Abend riet der Arzt der Comtesse, die die Nacht durchgewacht hatte, eine Krankenpflegerin zu nehmen; die Krankheit würde langwierig sein.

»Eine Pflegerin – nein! nein! Wir werden ihn pflegen!« rief sie, indem sie sich mir zuwandte. »Wir sind es ihm schuldig, ihn zu retten!«

Bei diesem Ausruf warf der Arzt uns einen durchdringenden, höchst erstaunten Blick zu. Die Worte waren allerdings geeignet, ihn auf einen verfehlten Anschlag schließen zu lassen; er versprach zweimal wöchentlich zu kommen, gab Monsieur Deslandes genaue Weisung und bezeichnete uns die drohenden Symptome, die es vielleicht erforderlich machten, ihn sofort zu holen.

Um der Comtesse wenigstens alle zwei Nächte etwas Ruhe zu verschaffen, bat ich sie, abwechselnd mit ihr wachen zu dürfen. So veranlaßte ich sie nicht ohne Mühe, in der dritten Nacht sich zur Ruhe zu begeben. Als alles im Hause ruhte und der Comte einen Augenblick einschlummerte, vernahm ich in Henriettes Zimmer schmerzliches Stöhnen; meine Besorgnis war so stark, daß ich sie aufsuchte. Ich fand sie auf ihrem Betstuhl kniend, in Tränen gebadet. Sie klagte sich an. »Mein Gott! Wenn das die Strafe für mein Murren ist, so werde ich mich nie mehr beklagen . . . Sie haben ihn allein gelassen?« rief sie aus, als sie mich erblickte. »Ich hörte Sie weinen und ächzen, war besorgt um Sie!« – »Oh, mir – mir geht's gut!« sagte sie.

Sie wollte sich davon überzeugen, ob Monsieur de Mortsauf schlief. Wir gingen zusammen hinunter und betrachteten ihn beim Schein der Lampe. Der Comte war eher durch den Blutverlust geschwächt, als daß er schlief; seine nervösen Hände zupften an der Decke.

»Man behauptet, das sei die Bewegung der Sterbenden«, sagte sie. »Ach, wenn er an der Krankheit stürbe, die wir verschuldet haben, würde ich mich nie wieder verheiraten! Ich schwöre es!« – Und sie streckte mit feierlicher Gebärde ihre Hand über den Comte aus. »Ich habe alles getan, um ihn zu retten«, sagte ich. »O ja – Sie sind gut! Aber ich – ich bin die große Sünderin!«

Sie beugte sich auf die leichenblasse Stirn, wischte den Schweiß mit ihrem Haare fort und küßte sie andächtig. Aber ich sah, nicht ohne eine geheime Genugtuung, daß sie diese Liebkosung erledigte wie eine Sühne.

»Blanche – trinken!« sagte der Comte mit tonloser Stimme. »Sie sehen, er kennt nur mich«, sagte sie, als sie ihm das Glas reichte, und mit ihrem Ton, ihrer liebevollen Art suchte sie des Gefühls, das uns verband, zu spotten und es dem Kranken zu opfern. »Henriette«, sagte ich, »legen Sie sich ein bißchen nieder; ich bitte Sie darum.« – »Nicht mehr Henriette!« unterbrach sie mich hastig und gebieterisch. – »Gehen Sie zur Ruhe, damit Sie nicht krank werden! Ihre Kinder, er selbst – gebieten Ihnen, sich zu pflegen. Es gibt Fälle, wo der Egoismus eine göttliche Tugend ist.« – »Ja«, sagte sie.

Sie entfernte sich und empfahl mir ihren Gemahl mit einer Geste, die beinahe wahnsinnig gewesen wäre, wenn nicht darin die Anmut der Kindheit, gepaart mit dem Flehen der Reue, gelegen hätte. Diese Szene, die, an ihrer sonstigen heiteren Seelenruhe gemessen, furchtbar schien, erschreckte mich. Ich fürchtete die Überreizung ihres Gewissens. Als der Arzt wiederkam, offenbarte ich ihm die Gewissensbisse eines verängstigten Hermelins, die die Seele meiner lichten Henriette gepackt hatten. Diese vertrauliche, aber sehr zurückhaltende Äußerung verscheuchte den Verdacht Monsieur Origets, und er beschwichtigte ihre schöne Seele, indem er ihr klarmachte, daß der Comte unter allen Umständen diese Krise hätte durchmachen müssen und daß sein Verhalten unter dem Nußbaum eher nützlich als schädlich gewesen sei, weil es der Krankheit zum Ausbruch verholfen habe.

Zweiundfünfzig Tage lang schwebte der Comte zwischen Leben und Tod; Henriette und ich wachten abwechselnd je sechsundzwanzig Nächte. Gewiß, Monsieur de Mortsauf verdankte seine Genesung unserer Pflege, der peinlichen Genauigkeit, mit der wir Monsieur Origets Befehle ausführten. Als wahrhaft philosophischer Arzt, den eine scharfe Beobachtungsgabe berechtigt, an edeln Handlungen zu zweifeln, wenn sie lediglich die Erfüllung einer Pflicht sind, konnte dieser Mann, der den heroischen Wettstreit zwischen der Comtesse und mir mit ansah, nicht umhin, uns mit durchdringenden Blicken zu beobachten, so sehr fürchtete er, seine Bewunderung sei unbegründet.

»In einer derartigen Krankheit«, sagte er mir bei seinem dritten Besuch, »kann der Tod durch eine Verschlimmerung des Gemütszustandes herbeigeführt werden, wenn das Seelenleben so völlig zerrüttet ist wie das des Comte. Der Arzt, die Pflegerin, alle, die den Kranken umgeben, haben sein Leben in ihren Händen, weil ein einziges Wort, eine Bewegung, die Herzensangst bekundet, so schädlich wirkt wie Gift.«

Während er so sprach, forschte er in meinem Gesicht und meinem Verhalten; aber er las in meinen Augen nur den klaren Ausdruck einer lauteren Seele. In der Tat, während der ganzen grausamen Krankheit erwachte in mir nicht der leiseste jener halb unbewußt schlechten Gedanken, die bisweilen das unschuldigste Gewissen beunruhigen. Für jeden, der die Natur als Ganzes betrachtet, zeigt sich in ihr der Hang zur Einheit auf dem Wege der Anpassung. Im Geistesleben muß ein entsprechendes Gesetz herrschen. In reiner Sphäre ist alles rein; bei Henriette atmete man Himmelsduft. Strafbare Wünsche verbannten jeden aus ihrer Nähe. So war sie nicht nur das Glück, sie war auch die Tugend. Als der Arzt uns immer gleich wachsam und besorgt fand, zeigte sich in seinen Worten und seinem Wesen eine gewisse milde Rührung; er schien sich zu sagen: ›Das sind die wahren Kranken, sie verbergen ihre Wunde und vergessen sie.‹ Die Veränderung in Monsieur de Mortsaufs Wesen war nach der Aussage dieses trefflichen Mannes bei gesundheitlich so heruntergekommenen Leuten etwas ziemlich Alltägliches. Der Comte war geduldig, folgsam, beklagte sich nie, zeigte die wunderbarste Fügsamkeit, er, der in gesunden Tagen nicht das geringste ohne Nörgelei tat. Der Grund dieser Unterwürfigkeit der Medizin gegenüber, die er früher geringgeachtet, war geheime Angst vor dem Tode: welch ein Widerspruch bei einem Manne von solch unleugbarer Tapferkeit! Diese Angst erklärt vielleicht auch manche Entgleisungen in seinem durch Leiden entstellten Wesen.

Soll ich's Ihnen gestehen, Natalie? Und werden Sie mir's glauben? Diese fünfzig Tage und der darauffolgende Monat waren die schönste Zeit meines Lebens. Ist die Liebe nicht für die Unendlichkeiten der Seele, was für ein schönes Tal der große Fluß ist, in den Regen, Flüßchen und Sturzbäche sich ergießen, in den Bäume und Blumen, Kieselsteine vom Ufer und ganze Felsblöcke stürzen? Gewitter verstärken ihn ebenso wie der langsame Tribut klarer Bäche. Dem, der wahrhaft liebt, wird alles Liebe. Nachdem die ersten großen Gefahren überstanden waren, gewöhnten sich die Comtesse und ich an die Krankheit. Trotz der Unordnung, die die Pflege des Comte mit sich brachte, wurde sein Zimmer, das wir in so schlechtem Zustand vorgefunden hatten, allmählich sauber und wohnlich; bald kamen wir uns darin vor wie zwei Wesen, die auf eine einsame Insel verschlagen sind. Das Unglück vereinsamt nicht nur, es bringt auch die kleinlichen Vorurteile der Gesellschaft zum Schweigen. Zudem führte uns das Interesse des Kranken in vielen Punkten zusammen, wie das bei keinem andern Ereignis erlaubt gewesen wäre. Wie oft begegneten sich unsere ehedem so scheuen Hände bei der Pflege des Comte! Mußte ich nicht Henriette unterstützen, ihr helfen? Sie glich einem Soldaten, der auf Posten steht. Oft vergaß sie zu essen; dann bot ich ihr, manchmal auf ihren Knien, ein kleines Mahl dar, das sie eilig zu sich nahm und bei dem ich tausend kleine Dienstleistungen verrichtete. Sie ließ mich hurtig alle Vorkehrungen treffen, die dem Comte Schmerzen ersparen konnten, und übertrug mir tausend kleine Geschäfte. Anfangs, während die drohende Gefahr wie in der Schlacht die feinen Unterschiede verwischte, die im täglichen Umgang streng beachtet werden, legte sie notgedrungen die strenge Zurückhaltung ab, die jede Frau, selbst die natürlichste, in Gegenwart Fremder oder ihrer Familie in Worten, Blicken und in ihrem ganzen Verhalten wahrt, die aber nicht mehr am Platze scheint, sobald sie im Negligé ist. Kam sie nicht beim ersten Vogelgesang, mich abzulösen, in ihrem Morgengewande, das mir bisweilen erlaubte, die strahlende Pracht ihrer Schönheit zu erraten, die ich in wahnwitziger Hoffnung mein eigen wähnte? So hoheitsvoll und stolz sie war, mußte sie so nicht zutraulich werden? Während der ersten Tage nahm übrigens die Gefahr den Vertraulichkeiten unsers engen Zusammenseins so sehr jede erotische Nebenbedeutung, daß sie nichts Böses darin sah. Dann, als ihr die Überlegung kam, dachte sie vielleicht, daß es für sie und für mich eine Beleidigung wäre, wollte sie ihr Verhalten ändern. So verloren wir allmählich die Scheu, als wären wir halbwegs verheiratet. Sie brachte mir alles Vertrauen entgegen. Sie war meiner und ihrer selbst sicher. So drang ich immer tiefer in ihr Herz ein. Die Comtesse wurde wieder meine Henriette, eine Henriette, die sich genötigt sah, den mehr zu lieben, der ihre zweite Seele sein wollte. Bald brauchte ich nicht mehr auf ihre Hand zu warten, die dem leisesten flehenden Blick rückhaltlos gehorchte; ich konnte, ohne daß sie sich meinen Blicken entzog, trunken ihre schönen Linien bewundern während der langen Stunden, in denen wir den Schlaf des Comte bewachten. Die dürftigen Wollüste, die wir uns erlaubten, diese gerührten Blicke, diese Worte, die, um den Comte nicht zu wecken, halblaut geflüstert wurden, immer wieder auftauchende Hoffnungen und Befürchtungen, kurz, die tausend Erlebnisse dieses innigen Bundes zweier lange getrennter Herzen hoben sich leuchtend vom schmerzhaft düstern Hintergrund des Krankenzimmers ab. Wir lernten unsere Seelen bis auf den Grund kennen, in einer Prüfung, der oft die stärksten Neigungen nicht gewachsen sind, weil sie ständiges Zusammensein nicht ertragen können, weil sie zurückschrecken vor der steten Berührung, die das Leben schwer und leicht erscheinen läßt. Sie wissen, welches Durcheinander eine Erkrankung des Hausherrn zur Folge hat, wie alle Geschäfte unterbrochen werden, wie man für nichts mehr Zeit findet. Die Störung seiner Lebensfunktionen hemmt alle Bewegungen des Hauswesens und der Familie. Obwohl immer alles auf Madame de Mortsauf zurückfiel, war der Comte doch außerhalb des Hauses noch nützlich; er unterhandelte mit den Pächtern, ging zu den Geschäftsleuten und nahm die Gelder ein. Sie war die Seele des Hauses, er der Leib. Ich ließ mich zu ihrem Intendanten ernennen, damit sie den Comte pflegen könne, ohne daß die Dinge draußen entgleisten. Sie nahm alles ganz einfach, ohne Dank hin; und diese geteilten Sorgen um das Hauswesen, diese in ihrem Namen ausgerichteten Befehle bildeten ein neues zartes Band zwischen uns. Oft unterhielt ich mich abends in ihrem Zimmer mit ihr von ihren Geschäften und den Kindern. Diese Unterredungen gaben unserm Eintagsbund noch mehr den Schein der Wirklichkeit. Wie gern Henriette sich dareinfand, mich die Rolle ihres Mannes spielen zu lassen! Ich nahm seinen Platz bei Tisch ein, wurde zum Verwalter geschickt, und das alles in größter Harmlosigkeit, aber nicht ohne die geheime Freude, die selbst die tugendhafteste Frau der Welt empfindet, wenn sie das neutrale Gebiet entdeckt, wo strenge Erfüllung ihrer Pflichten und Befriedigung ihrer uneingestandenen Wünsche sich treffen. Der Comte, durch die Krankheit unschädlich gemacht, lastete nicht mehr auf seiner Frau noch auf seinem Hause; da wurde die Comtesse sie selbst, sie hatte das Recht, sich mit mir zu beschäftigen und mir eine Menge kleiner Freundlichkeiten zu erweisen. Welche Wonne, als ich in ihr den halb unbewußten, doch reizvoll bekundeten Gedanken las, mir den ganzen Wert ihrer Persönlichkeit und ihrer Eigenschaften zu enthüllen, mich den Umschwung fühlen zu lassen, der in ihr vorging, sobald sie Verständnis fand. Die Blüte, die in der kalten Luft ihres Hauses verschlossen geblieben war, öffnete sich vor meinen Blicken – und nur für die meinen! Sie entfaltete sich mit demselben Maß von Freude, die ich selber, der arg Verliebte, bei ihrem Anblick empfand. Sie zeigte mir in den kleinsten Dingen des Lebens, wie gegenwärtig ich ihrer Seele war. An den Tagen, wo ich nach durchwachter Nacht bis zu später Stunde schlief, stand Henriette morgens vor allen andern als erste auf und ließ unbedingte Ruhe um mich her sein; ohne dazu aufgefordert zu sein, spielten Jacques und Madeleine in einiger Entfernung. Sie wandte tausend Listen an, um mir eigenhändig den Tisch decken zu können, und dann bediente sie mich mit einer sprudelnden Freude in allen Bewegungen, mit scheuer Schwalbenzartheit, mit hochroten Lippen, mit glühenden Wangen, einem Beben in der Stimme und mit luchsartigem Scharfblick.

Können solche Seelenerregungen überhaupt geschildert werden? Oft war sie von Müdigkeit überwältigt; aber wenn es in diesen Augenblicken der Ermattung sich um mich handelte, fand sie für mich wie für ihre Kinder neue Kräfte und raffte sich dazu hurtig, lebhaft und fröhlich auf. Wie sie es liebte, ihre Zärtlichkeit auszugeben! Ja, liebe Natalie, manche Frauen auf Erden teilen die Vorzüge der Engel und verbreiten wie sie das Licht, von dem Saint-Martin, der ›unbekannte Philosoph‹, sagte, es sei gedanken-, klang- und duftreich. Meiner ehrenhaften Gesinnung sicher, hob Henriette bisweilen den schweren Vorhang, der uns die Zukunft verbarg, und ließ mich in ihr zwei Frauen erkennen: das gefesselte Weib, das mich trotz seiner Herbheiten bestrickt hatte – und das freie Weib, dessen Milde meiner Liebe ewige Dauer verleihen sollte. Madame de Mortsauf glich dem Paradiesvogel, der in das kalte Europa verbannt ist und traurig auf seiner Stange hockt, stumm und todesmatt im Käfig, worin der Zoologe ihn aufbewahrt. Henriette glich diesem Vogel, wie er seine heimatlichen Lieder in einem Hain am Ufer des Ganges singt und, einem lebendigen Edelstein gleich, von Ast zu Ast hüpft, zwischen den Rosen einer allzeit blühenden riesigen Volkameria. Ihre Schönheit wurde schöner, ihr Geist lebhafter. Dies beständige Freudenfeuer blieb zwischen unsern Seelen geheim, denn das Auge des Abbés von Dominis, unsers Zeugen vor der Außenwelt, war für Henriette gefährlicher als das Monsieur de Mortsaufs; aber sie fand, wie ich, große Freude daran, ihren Gedanken immer eine geschickte Wendung zu geben: sie verbarg ihre Freude im Scherz und deckte zudem ihre Zärtlichkeitsbezeigungen mit dem leuchtenden Banner der Dankbarkeit.

»Wir haben Ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, Felix! – Wir können ihm wohl die Freiheiten gestatten, die wir Jacques gewähren, Monsieur l'Abbé.«

Der strenge Abbé antwortete mit dem freundlichen Lächeln des frommen Mannes, der in den Herzen liest und sie rein findet. Er hatte übrigens für die Comtesse die anbetende Verehrung, die man Engeln entgegenbringt. Zweimal in diesen fünfzig Tagen überschritt die Comtesse vielleicht in etwas die Grenzen, die unserer Freundschaft gesteckt waren; aber selbst diese beiden Ereignisse waren in einen Schleier gehüllt, der erst am Tage des großen Bekenntnisses gelüftet wurde. Ich erwartete sie eines Morgens zu Anfang der Krankheit des Comte, als sie gerade bereute, mich so streng behandelt und mir die unschuldigen Vorrechte entzogen zu haben, die meiner keuschen Zärtlichkeit eingeräumt waren; sie sollte mich ablösen. Von Müdigkeit übermannt, war ich, den Kopf an die Wand gelehnt, eingeschlafen. Ich erwachte plötzlich, als etwas Kühles meine Stirn berührte, das mir die Empfindung gab, als neige sich eine Rose darauf. Ich sah die Comtesse drei Schritte vor mir stehen und hörte sie sagen: »Ich komme.«

Ich ging. Als ich ihr aber einen guten Morgen wünschte, fühlte ich, daß ihre Hand feucht war und zitterte.

»Leiden Sie?« fragte ich. »Warum fragen Sie mich das?« entgegnete sie. Ich sah sie an, errötend und verwirrt: »Ich habe geträumt . . .«, antwortete ich.

Eines Abends, während eines der letzten Besuche Monsieur Origets, der mit Bestimmtheit von der Genesung gesprochen hatte, war ich mit Jacques und Madeleine unten an der Terrasse. Wir lagen alle drei auf den Stufen, ganz vertieft in unser Stäbchenspiel, das wir mit Strohhalmen und spitzen Haken ausführten. Monsieur de Mortsauf schlief. Während angespannt wurde, unterhielten sich der Arzt und die Comtesse leise im Salon. Monsieur Origet brach auf, ohne daß ich's bemerkte. Nachdem sie ihn zum Wagen begleitet hatte, lehnte Henriette an der Fensterbank, von wo aus sie uns wahrscheinlich eine Zeitlang, ohne daß wir's wußten, beobachtete. Es war einer der warmen Abende, an denen der Himmel kupferfarbene Töne annimmt und wo die tausend verworrenen Geräusche der Natur in der Ferne verhallen. Ein letzter Sonnenstrahl schmolz auf den Dächern, die Glöckchen der heimkehrenden Herden tönten von weitem herüber. Wir paßten uns dem Schweigen dieser lauen Stunde an, dämpften unsere Stimmen, um den Comte nicht zu wecken. Plötzlich hörte ich trotz des Raschelns ihres Kleides den Kehllaut eines gewaltsam unterdrückten Seufzers. Ich stürzte in den Salon, sah die Comtesse in der Fensternische sitzen, das Gesicht in ihr Taschentuch vergraben. Sie erkannte meinen Schritt und bedeutete mir mit einer gebieterischen Bewegung, daß sie allein bleiben wolle. Ich nahte mich mit angsterfülltem Herzen und wollte ihr das Taschentuch wegnehmen. Ihr Gesicht war in Tränen gebadet. Sie flüchtete in ihr Zimmer und erschien erst zum Abendgebet wieder. Zum ersten Mal seit fünfzig Tagen führte ich sie auf die Terrasse und fragte sie nach dem Grund ihrer Erregung. Aber sie heuchelte ausgelassene Fröhlichkeit, die sie mit Monsieur Origets Freudenbotschaft begründete.

»Henriette, Henriette!« sagte ich. »Sie kannten diese Botschaft schon, als Sie vorhin weinten. Zwischen uns beiden wäre eine Lüge eine Abscheulichkeit. Warum haben Sie mich gehindert, diese Tränen zu trocknen? Galten sie denn mir?« – »Ich überlegte mir«, sagte sie, »daß für mich diese Krankheit ein Ruhepunkt im Leiden gewesen sei. Jetzt, wo ich nicht mehr für Monsieur de Mortsauf zittere, muß ich für mich zittern.«

Sie hatte recht. Die Gesundheit des Comte kündete sich an durch die Wiederkehr seiner unmöglichen Launen. Er behauptete, daß weder seine Frau noch ich, noch der Arzt ihn zu pflegen verständen, daß wir alle über seine Krankheit und sein Wesen, seine Schmerzen und die geeigneten Heilmittel im unklaren seien. Origet, dem irgendeine Verrücktheit zu Kopf gestiegen sei, spräche von schlechten Säften, wo er sich doch nur um den Magenpförtner hätte kümmern sollen. Eines Tages sah er uns verschmitzt an, wie jemand, der uns durchschaut oder erraten hätte, und sagte lächelnd zu seiner Frau: »Nun, meine Liebe, wenn ich gestorben wäre, hätten Sie mir gewiß nachgetrauert. Aber gestehen Sie, Sie hätten sich getröstet.« – »Ich hätte Hoftrauer getragen, Rosa und Schwarz!« antwortete sie lachend, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Aber es entstanden heftige Szenen, besonders wegen der Speisen, die der Arzt weise bestimmte, ohne zu erlauben, daß man den Hunger des Rekonvaleszenten völlig befriedigte. Das Geschrei, das der Comte bei solchen Gelegenheiten anstellte, war schon in früheren Tagen unerhört gewesen, aber nun hatte sich seine Reizbarkeit noch verstärkt. Sie hatte gewissermaßen geschlummert. Die Comtesse stützte sich auf die Verordnungen des Arztes und den Gehorsam der Dienstboten. Ich bestärkte sie nachdrücklich darin, weil ich in diesem Kampf das Mittel sah, ihren Mann beherrschen zu lernen. So fand sie den Mut zum Widerstand, sie bot dem Wahnsinn und dem Geschrei eine klare Stirn; sie gewöhnte sich daran, den Comte für das zu nehmen, was er war, für einen Kindskopf, und seine Schmähungen ruhig anzuhören. Ich hatte das Glück, sie endlich die Leitung dieses kranken Verstandes an sich reißen zu sehen. Der Comte schrie, aber er gehorchte – und erst recht, wenn er viel geschrien hatte. Trotz dieser unzweifelhaften Erfolge weinte Henriette bisweilen beim Anblick dieses ausgemergelten blassen Greises, mit seiner Stirn, die vergilbter war als ein welkes Blatt, seinen farblosen Augen und zitternden Händen. Sie warf sich ihre Härte vor und widerstand nicht oft der Freude, die in den Augen des Comte aufleuchtete, wenn sie ihm seine Mahlzeiten etwas reichlicher bemaß, als es der Arzt erlaubt hatte. Sie zeigte sich übrigens in demselben Maße gütiger und liebenswürdiger zu ihm, als sie es mir gegenüber war; aber es gab doch Unterschiede, die mein Herz mit grenzenloser Freude erfüllten. Sie war aber keineswegs unermüdlich; sie verstand es, ihre Dienstboten zur Bedienung des Comte heranzuziehen, wenn dessen Launen zu schnell aufeinanderfolgten und er sich beklagte, nicht verstanden zu werden.

Die Comtesse wollte Gott ihre Dankbarkeit für die Wiederherstellung Monsieur de Mortsaufs zeigen. Sie ließ eine Messe lesen und bat mich, sie zur Kirche zu begleiten; ich führte sie hin, aber während der Messe besuchte ich Monsieur und Madame de Chessel. Als ich wiederkam, wollte sie mich tadeln.

»Henriette«, sagte ich, »ich bin einer Verstellung nicht fähig. Ich kann wohl ins Wasser springen, um meinen ertrinkenden Feind zu retten, ich kann ihm meinen Mantel geben, um ihn zu wärmen – kurz, ich könnte ihm verzeihen, aber nicht sein Unrecht vergessen.«

Sie schwieg und drückte meinen Arm an ihr Herz.

»Sie sind ein Engel! Sie meinten es gewiß ernst mit Ihren Danksagungen«, fuhr ich fort. »Die Mutter des ›Friedensfürsten‹ wurde aus den Händen des Pöbels, der sie töten wollte, gerettet. Auf die Frage der Königin: ›Was taten Sie?‹, antwortete jene: ›Ich betete für das Volk!‹ – So ist die Frau! Ich bin ein Mann – und naturgemäß unvollkommen.« – »Verleumden Sie sich nicht!« sagte sie, meinen Arm heftig schüttelnd, »vielleicht sind Sie besser als ich.« – »Ja«, entgegnete ich, »denn ich würde die Ewigkeit für einen einzigen Tag des Glückes opfern, und Sie! . . .« – ». . . und ich?« sagte sie und blickte mich stolz an.

Ich schwieg und schlug die Augen nieder.

»Ich?« entgegnete sie, »von welchem Ich wollen Sie sprechen? Ich fühle viele Ich in mir. Diese beiden Kinder«, fügte sie, auf Madeleine und Jacques zeigend, hinzu, »sind solche Ich! Felix«, rief sie mit herzzerreißendem Ton, »halten Sie mich denn für selbstsüchtig? Glauben Sie, ich könnte eine ganze Ewigkeit opfern, nur um den zu belohnen, der mir sein Leben hingibt? Dieser Gedanke ist fürchterlich, er schlägt jedem religiösen Empfinden ins Gesicht. Könnte sich eine so tief gesunkene Frau je wieder aufrichten? Würde ihr Glück sie freisprechen? . . . Ja, ich will Ihnen endlich mein innerstes Gewissen offenbaren: dieser Gedanke hat oft mein Herz durchbebt, ich habe ihn durch schwere Bußen gesühnt; er hat die Tränen verursacht, nach deren Grund Sie mich vorgestern fragten.« – »Messen Sie nicht, wie Frauen gemeinhin tun, gewissen Dingen zuviel Bedeutung bei? Sollten Sie nicht . . .« – »Oho!« unterbrach sie mich, »nehmen Sie sie etwa leichter?«

Diese Logik schnitt jede weitere Beweisführung ab.

»Nun gut!« sagte sie. »Sie sollen es wissen: ja, ich wäre feige genug, diesen armen Greis, dessen Leben ich bin, zu verlassen; aber, lieber Freund, diese zwei schwächlichen kleinen Wesen, die da vor uns hergehen, Madeleine und Jacques, würden die nicht bei ihrem Vater bleiben? Und ich frage Sie: Glauben Sie etwa, daß die Kinder auch nur drei Monate unter der verrückten Aufsicht leben könnten? Wenn bei einem Verstoß gegen meine Pflichten es sich nur um mich handelte . . .« Ein stolzes Lächeln glitt über ihre Züge. »Aber hieße es nicht, diese beiden Kinder töten? Ihr Untergang wäre unausbleiblich. – Ach Gott, warum reden wir von solchen Dingen? Heiraten Sie – und lassen Sie mich sterben!«

Diese Worte waren in einem so bitteren, tiefernsten Tone gesprochen, daß sie den Aufruhr meiner Leidenschaften erstickten.

»Sie haben da oben unter dem Nußbaum Ihren Schmerz hinausgeschrien, ich hier unter den Erlen – weiter nichts. In Zukunft werde ich schweigen!« – »Ihr Edelmut tötet mich!« sagte sie, die Blicke gen Himmel richtend.

Wir waren auf der Terrasse angelangt und fanden dort den Comte auf einem Sessel in der Sonne sitzend. Der Anblick dieses abgezehrten Gesichts, das kaum von einem schwachen Lächeln belebt wurde, erlöschte in mir die Flammen, die aus der Asche hervorgebrochen waren. Ich lehnte mich an das Geländer und betrachtete dies Bild: den Sterbenden zwischen seinen beiden schwächlichen Kindern, seine bleiche Frau, abgemagert von der Überanstrengung der Wachen, der beständigen Angst und vielleicht auch von den Freuden dieser zwei schrecklichen Monate. Doch hatte die Erregung der soeben erlebten Szene ihre Wangen unnatürlich gerötet. Beim Anblick dieser leidenden Familie, die von zitterndem Laubwerk eingerahmt war, durch das das graue Licht eines bewölkten Herbsthimmels rieselte, fühle ich in mir selbst sich die Bande lösen, die Leib und Seele zusammenhalten. Zum ersten Mal lernte ich den Spleen kennen, der, wie man sagt, die stärksten Kämpfer mitten im Gefecht ergreift, eine Art besonnener Verrücktheit, die aus dem Tapfersten einen Feigling, aus dem Ungläubigen einen Fanatiker macht, die uns gegen alles gleichgültig stimmt, selbst gegen die lebenskräftigsten Gefühle wie Ehre und Liebe; denn der Zweifel nimmt uns die Kenntnis unserer selbst und macht uns lebensüberdrüssig. Arme nervöse Geschöpfe, die euch der Reichtum eurer Natur rettungslos einem verhängnisvollen Geschick ausliefert – wo werdet ihr ebenbürtige Richter finden? Ich verstand, wieso der ehrgeizige Jüngling, der schon die Hand nach dem Feldherrnstab ausstreckte, der ein geschickter Diplomat und ein gleich furchtloser Krieger war, zum unschuldigen Mörder, wie ich ihn vor mir sah, hatte werden können. Konnte mein heute mit Rosen bekränztes Streben auch ein solches Ende finden? Entsetzt über die Ursache wie über die Wirkung, fragte ich mich wie der Ungläubige, wo denn da die Vorsehung bleibe; ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, die mir über die Wangen liefen.

»Was hast du, mein guter Felix?« sagte Madeleine mit ihrer kindlichen Stimme.

Und bald verscheuchte Henriette die schwarzen Nebel und Schatten mit einem teilnehmenden Blick, der sonnengleich in meine Seele strahlte. In diesem Augenblick brachte mir der alte Vorreiter einen Brief, dessen Anblick mir einen Ausruf des Staunens entlockte und der Madame de Mortsauf ihrerseits zittern machte. Ich erkannte das Kabinettssiegel, der König rief mich zurück. Ich reichte ihr den Brief, sie überflog ihn mit einem Blick.

»Er verläßt uns«, sagte der Comte. »Was soll aus mir werden?« seufzte sie. Zum ersten Mal sah sie ihre Wüste ohne Sonnenschein vor sich liegen.

Wir verharrten in einer gedankenlosen Stumpfheit, die uns alle gleichmäßig bedrückte; denn wir hatten nie so gut gefühlt, daß wir einander unentbehrlich seien. Die Comtesse hatte, selbst wenn sie von unwichtigen Dingen zu mir sprach, einen neuen Klang in der Stimme, als habe das Instrument einige Saiten verloren und als seien die andern gelockert. Ihre Bewegungen waren apathisch, ihre Blicke glanzlos. Ich bat sie, mir ihre Gedanken anzuvertrauen.

»Habe ich überhaupt welche?« sagte sie. Sie führte mich in ihr Zimmer, hieß mich auf dem Sofa Platz nehmen, durchsuchte eine Schublade ihres Waschtisches, ließ sich vor mir auf die Knie nieder und sagte: »Dies sind die Haare, die mir seit einem Jahre ausgefallen sind. Sie gehören in Wahrheit Ihnen; eines Tages werden Sie erfahren, wieso und warum.«

Ich neigte mich langsam zu ihr nieder, sie bückte sich nicht, um meinen Lippen zu entgehen, die ich andächtig, ohne sündhafte Trunkenheit, ohne kitzelnde Wollustempfindung, aber mit feierlicher Rührung auf ihre Stirn preßte. Wollte sie alles opfern? Ging sie nur, wie ich es getan, bis an den Rand des Abgrunds? Hätte die Liebe sie gezwungen, sich mir zu ergeben, so hätte sie nicht diesen tiefen Frieden, diesen frommen Blick gewahrt, hätte mir nicht mit so klarer Stimme gesagt: »Sie zürnen mir doch nicht mehr?«

Bei anbrechender Nacht reiste ich ab. Sie wollte mich ein Stück Weges begleiten. Unter dem Nußbaum blieben wir stehen. Ich zeigte ihn ihr und erinnerte sie daran, daß ich sie vor vier Jahren von hier aus entdeckt hatte.

»Das Tal war damals sehr schön!« rief ich aus. »Und jetzt?« entgegnete sie lebhaft. »Sie stehen unter dem Nußbaum, und das Tal ist unser!«

Sie beugte das Haupt, wir schieden.

Sie stieg mit Madeleine in ihren Wagen, ich in meinen. – Nach Paris zurückgekehrt, wurde ich glücklicherweise durch dringende Arbeiten in Anspruch genommen, die mich gewaltsam ablenkten und mich zwangen, der Gesellschaft fernzubleiben, die mich auch bald vergaß. Ich wechselte Briefe mit Madame de Mortsauf, der ich allwöchentlich mein Tagebuch schickte und die mir zweimal monatlich antwortete. Mein zurückgezogenes und arbeitsreiches Leben glich jenen dicht bewachsenen, blumenübersäten, weltverlassenen Winkeln, die ich noch kürzlich in den Wäldern bewundert hatte, als ich in den zwei letzten Wochen neue Gedichte aus Blumen machte.

O ihr, die ihr liebt, legt euch solche schöne Verpflichtungen auf! Unterwerft euch Regeln, wie sie die Kirche den Christen für jeden Tag vorschreibt! Es ist etwas Großes um die strenge Ordensregel, die die römische Kirche geschaffen hat; sie gräbt die Spuren der Pflicht immer tiefer in die Seele durch die Wiederholung von Handlungen, die Hoffnung und Furcht wachhalten. Die Gefühle fließen, immer lebendig, durch diese Kanäle, die das Wasser leiten und reinigen, die immer das Herz erfrischen und das Leben mit den reichen Schätzen eines verborgenen Glaubens befruchten, der die göttliche Quelle ist, wo sich der eine Gedanke einer einzigen Liebe vervielfältigt.

Meine Liebe, die ins Mittelalter zurückführte und an die Ritterzeit erinnerte, wurde bekannt. Vielleicht unterhielten sich der König und der Duc de Lenoncourt darüber, und vom Hofe aus verbreitete sich die gleichzeitig romantische und schlichte Geschichte eines jungen Mannes, der eine weltabgeschiedene schöne Frau fromm verehrte, eine Frau, die groß in ihrer Einsamkeit, treu auch ohne zwingende Pflicht war: so hieß es im ganzen Faubourg Saint-Germain. In den Salons wurde ich der Gegenstand lästiger Beobachtung, lästig, weil ein zurückgezogenes Leben Vorzüge birgt, die, sobald man sie erprobt, den Glanz der Berühmtheit unerträglich machen. Wie Augen, die nur an sanfte Farben gewöhnt sind, sich von grellem Licht verletzt fühlen, so gibt es gewisse Gemüter, denen heftige Kontraste mißfallen. So war ich damals; heute wundern Sie sich vielleicht darüber. Aber haben Sie Geduld: die Wunderlichkeiten des Vandenesse von heute werden ihre Erklärung finden! Ich sah also, daß die Frauen wohlwollend und die Gesellschaft sehr entgegenkommend zu mir waren. Nach der Verheiratung des Duc de Berry nahm der Hof wieder prunktvolle Formen an, die französischen Feste kehrten wieder. Die Besetzung durch fremde Truppen hatte aufgehört, der Wohlstand kehrte zurück, man konnte sich wieder freuen. Leute von hohem Rang und bedeutendem Vermögen strömten aus allen Teilen Europas in die Hauptstadt der Intelligenz, wo sich die Vorzüge und die Laster anderer Länder vergrößert und durch den französischen Geist verschärft zusammenfinden. Fünf Monate nach meiner Abreise von Clochegourde, mitten im Winter, schrieb mir mein guter Engel einen verzweifelten Brief, worin sie von einer schweren Krankheit ihres Sohnes erzählte, von der er zwar genesen war, die aber für die Zukunft Schlimmes befürchten ließ. Der Arzt hatte gesagt, daß man die Lunge schonen müsse. Das war ein schreckliches Wort. Von einem Arzt gesprochen, konnte es alle Stunden einer Mutter in Dunkel hüllen. Kaum atmete Henriette wieder auf, kaum war Jacques auf dem Wege der Besserung, als seine Schwester neue Sorgen heraufbeschwor. Madeleine, diese hübsche Pflanze, die in der mütterlichen Pflege so wohl gediehen war, machte die Krise ihres Alters durch, die aber für eine so zarte Gesundheit bedenklich war. Von der langen Anstrengung niedergeschlagen, die ihr Jacques' Krankheit verursacht hatte, stand die Comtesse diesem neuen Ereignis mutlos gegenüber, und der Anblick dieser beiden lieben kleinen Wesen machte sie ganz unempfindlich für die verdoppelten Qualen, die ihres Mannes Wesen ihr bereitete. So brausten immer trübere und drohendere Stürme über sie hin und vernichteten mit ihren derben Angriffen die in ihrem Herzen zutiefst wurzelnden Hoffnungen. Sie hatte sich übrigens der Tyrannei des Comte geopfert und, des Kampfes müde, das ganze gewonnene Gelände wieder preisgegeben. ›Als meine ganze Kraft sich um meine Kinder mühte‹, schrieb sie mir, ›konnte ich sie nicht mehr gegen Monsieur de Mortsauf ins Feld führen. Wie hätte ich mich seiner Übergriffe erwehren können, da ich gegen den Tod ankämpfte! Wenn ich heute schwach und allein zwischen den zwei melancholischen Wesen, die mich begleiten, einhergehe, fühle ich einen unüberwindlichen Abscheu gegen das Leben. Wie sollte ich einem Schicksalsschlag ausweichen, welchen zarten Gefühlen könnte ich nachgeben, wenn ich Jacques unbeweglich auf der Terrasse stehen sehe: das Leben spricht nur noch aus seinen schönen Augen, die in dem mageren Gesichtchen doppelt groß erscheinen, in tiefen Höhlen liegen wie bei einem Greis, und deren vorzeitig gereifter Ausdruck – traurige Prophezeiung! – mit seiner körperlichen Schwäche in Widerspruch steht. Wenn ich die hübsche Madeleine neben mir sehe, die sonst so lebhaft, einschmeichelnd und frisch, jetzt aber totenbleich ist, kommt es mir vor, als seien ihr Haar und ihre Augen verblaßt; sie wirft mir müde Blicke zu, als wollte sie Abschied von mir nehmen; keine Nahrung reizt sie, und wenn sie nach einer Speise verlangt, so erschreckt mich ihr seltsamer Geschmack. Das unschuldige Kind, das doch in meinem Herzen aufgewachsen ist, errötet, wenn es mir seine Wünsche anvertraut. Trotz meiner Bemühungen vermag ich meine Kinder nicht zu erheitern. Sie lächeln mir wohl zu, aber dies Lächeln wird ihnen nur durch meine freundliche Listen entlockt: es stammt nicht aus ihnen. Sie leiden darunter, meine Liebkosungen nicht erwidern zu können. Die Krankheit hat in ihrer Seele alles gelockert, selbst die Bande, die uns verknüpfen. Sie verstehen also, wie traurig Clochegourde ist: Monsieur de Mortsauf herrscht unumschränkt. – O mein Freund, mein Ruhm‹, schrieb sie weiter, ›Sie müssen mich wahrhaft liebhaben; um mich jetzt noch zu lieben, um mich, die Leblose, die Undankbare, die in Schmerzen Versteinerte, zu lieben! –‹

Damals, als ich mehr denn je im Innersten krank war, als ich ausschließlich in einer Seele lebte, der ich meine Tage zu weihen bestrebt war, von der lichtfrischen Brise des Morgens bis zur purpurnen Sehnsucht am Abend – damals traf ich in den Salons des Elysée Bourbon eine jener berühmten Ladies, die fast Königinnen sind. Gewaltige Reichtümer, die Abstammung von einer Familie, die sich seit den Zeiten des Eroberers rein von jeder Mischung erhalten hatte, die Ehe mit einem der hervorragendsten Greise der englischen Pairschaft – alle diese Vorzüge waren nur Zutaten, die die Schönheit dieser Dame, ihren Reiz, ihr Wesen, ihren Geist noch hoben; in ihrer Art war etwas, das mehr blendete als bestrickte. Sie war die Göttin des Tages und beherrschte die Pariser Gesellschaft, um so mehr, als sie die zu ihrem Erfolge nötigen Eigenschaften besaß, die Eisenhand in einem Samthandschuh, von der Bernadotte sprach. Sie kennen den seltsamen Charakter der Engländer, wie sie einen stolzen, unüberbrückbaren Meeresarm, einen kalten Kanal zwischen sich und die Fremden legen, die ihnen nicht vorgestellt sind. Für sie ist die Menschheit ein Ameisenhaufen, über den sie hinschreiten. Sie sehen ihresgleichen nur in den Leuten, die sie in ihrer Gesellschaft zulassen, die andern sprechen eine ihnen unverständliche Sprache: das sind wohl Lippen, die sich bewegen, und Augen, die sehen, aber weder Ton noch Blick erreicht sie. Es ist, als existierten diese Leute nicht für sie. So sind die Engländer gewissermaßen ein Bild ihrer Insel, wo das Gesetz alles regiert, wo alles in seiner Sphäre einförmig ist, wo die Ausübung von Tugenden nur das Ineinandergreifen von Rädern scheint, die zu bestimmten Stunden arbeiten. Um die englische Frau erheben sich glänzende Stahlgitter; sie ist eine Gefangene im Goldkäfig ihres Hauswesens, aber Futternapf und Trinknapf, die Käfigstange und die Nahrung sind Wunderwerke. Das alles gibt ihr einen unwiderstehlichen Reiz. Nie hat ein Volk der Scheinheiligkeit der verheirateten Frau besser vorgearbeitet als das englische, das sie bei jeder Gelegenheit zwischen Tod und gesellschaftliches Leben stellt; für sie gibt es zwischen Ehrlosigkeit und Ehre keine Abstufung; entweder ist das Vergehen vollständig oder überhaupt nicht, alles oder nichts – das ›Sein oder Nichtsein‹ Hamlets. Diese Alternative, verbunden mit der steten Geringschätzung, welche die Sitten ihr aufzwingen, macht die Engländerin zu einem in der Welt einzigartigen Wesen. Sie ist ein armes Geschöpf, das, der Not gehorchend, tugendhaft, aber bereit ist, sich wegzuwerfen, die in ihrem Herzen zu ewigen Lügen verdammt, aber äußerlich ganz entzückend ist, weil dieses Volk alles auf Äußerlichkeiten gibt. Daher die besondere Schönheit der Frauen dieses Landes: die Überspannung einer Zärtlichkeit, die für sie notgedrungen das Leben bedeutet, die übertriebene Pflege ihrer selbst, die Zartheit ihrer Liebe, die so anmutig in der berühmten Szene in ›Romeo und Julia‹ geschildert ist, wo das Genie Shakespeares mit einem Strich die englische Frau gemalt hat. Ihnen, die Sie englische Frauen um so vieles beneiden, was soll ich Ihnen Neues von diesen weißen Sirenen sagen, die scheinbar undurchdringlich und doch so leicht zu erforschen sind, die sich einbilden, Liebe genügte der Liebe, die den Spleen in die Freuden hineintragen, weil sie keine Abwechslung darin kennen, deren Seele nur einen Ton, deren Stimme nur einen Laut hat. Ozeane der Liebe, die der nicht kennt, der nicht in ihnen geschwommen hat. Dem wird etwas von der Poesie der Sinne stets verborgen bleiben, wie dem, der das Meer nicht gesehen hat, einige Saiten auf seiner Leier fehlen. Sie wissen, wohin ich mit diesen Worten hinaus will. Mein Abenteuer mit der Marquise Dudley gewann eine verhängnisvolle Berühmtheit. Ich war in einem Alter, wo die Sinne entscheidend auf unsere Entschlüsse einwirken. Ich war jung und meine Glut gewaltsam zurückgedrängt. Trotzdem leuchtete das Bild der Heiligen, die in Clochegourde ihr langsames Martyrium erlitt, in so hellem Glanz, daß ich den Versuchungen zu widerstehen vermochte. Diese Treue war der Nimbus, der Lady Arabellas Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Mein Widerstand reizte ihre Leidenschaft. Was sie, wie so viele Engländerinnen, wünschte, war das Glänzende, das Außergewöhnliche; sie wollte Pfeffer, scharfe Gewürze für die Speise ihres Herzens, wie viele Engländer, um ihren Geschmack zu reizen, pikante Zutaten zur Kost lieben. Die Farblosigkeit, worein eine stete Vollkommenheit aller Dinge das Leben dieser Frauen taucht, eine methodische Gleichmäßigkeit in den Gewohnheiten führt sie dahin, das Romantische und das schwer Erreichbare anzubeten. Ich verstand diesen Charakter nicht. Je mehr ich mich hinter kalte Geringschätzung verschanzte, desto leidenschaftlicher wurde Lady Dudley. Dieser Kampf, an den sie ihre ganze Ehre setzte, erregte die Aufmerksamkeit einiger Salons; das war für sie ein erstes Glück, das sie moralisch zum Siege verpflichtete. Ach, ich wäre gerettet gewesen, hätte mir jemand das abscheuliche Wort wiederholt, das ihr über Madame de Mortsauf und mich entschlüpft war! »Ich bin«, sagte sie, »dieser Turteltaubenseufzer überdrüssig.«

Ohne hier mein Verbrechen rechtfertigen zu wollen, möchte ich Ihnen doch zu bemerken geben, Natalie, daß ein Mann einer Frau gegenüber weniger Widerstandsmöglichkeiten hat, als sie Ihnen zur Verfügung stehen, um unsern Verfolgungen zu entgehen. Unsere Sitten verbieten unserm Geschlecht die Grausamkeiten des Widerstandes, die bei Ihnen eine Lockspeise für den Liebhaber sind und die zudem die Schicklichkeit von Ihnen fordert. Unsere Tugend dagegen verurteilt eine Gesetzgebung, die männlicher Selbstüberhebung entspringt, zur Lächerlichkeit. Wir überlassen Ihnen das Monopol der Bescheidenheit, damit Sie den Vorzug haben, Gunst zu erweisen; sobald aber die Rollen vertauscht werden, ist der Mann ein Opfer des Gespöttes. Obwohl meine Leidenschaft mich schützte, war ich doch nicht in dem Alter, wo man der dreifachen Versuchung des Stolzes, des Entgegenkommens und der Schönheit widersteht. Wenn Lady Arabella auf einem Ball, dessen Königin sie war, alle geernteten Lorbeeren mir zu Füßen legte, wenn sie meinen Blick erspähte, um zu sehen, ob mir ihre Toilette gefiele, und vor Wollust erschauerte, wenn sie meinen Beifall fand, dann wirkte ihre Erregung ansteckend auf mich. Sie hielt sich übrigens auf einem Gebiet, wo ich ihr nicht entfliehen konnte. Es war mir fast unmöglich, gewisse Einladungen, die vom diplomatischen Korps ausgingen, abzuschlagen. Ihr Rang öffnete ihr alle Salons, und mit der Geschicklichkeit, die Frauen entfalten, um ihr Ziel zu erreichen, ließ sie sich bei Tisch von der Gastgeberin den Platz neben mir zuweisen; und dann flüsterte sie mir ins Ohr: »Wenn ich geliebt würde wie Madame de Mortsauf, so möchte ich Ihnen alles opfern!«

Lachend stellte sie mir die demütigendsten Bedingungen und versprach mir unbedingte Geheimhaltung oder bat mich, es nur zu dulden, daß sie mich liebe. Eines Tages sagte sie mir diese Worte, die einem verschüchterten Gewissen und den zügellosen Begierden des jungen Mannes in gleicher Weise genügten: »Ihre Freundin stets, und Ihre Geliebte, wann Sie wollen!«

Endlich benutzte sie meine Ritterlichkeit, um mich zu Fall zu bringen. Sie bestach meinen Kammerdiener, und nach einer Abendgesellschaft, wo sie so schön gewesen war, daß sie meine Begierden erregt haben mußte, fand ich sie bei mir zu Hause vor. Das Gerücht von diesem auffallenden Benehmen drang nach England, dessen aristokratische Gesellschaft über den Fall ihres schönsten Engels bestürzt war. Lady Dudley stieg von ihrer Wolke am englischen Himmel nieder, fügte sich in ihr Geschick und wollte durch ihre Aufopferung die in den Schatten stellen, deren Tugend diese berühmte Katastrophe verursacht hatte. Lady Arabella fand Vergnügen daran, mir wie der Versucher auf der Zinne des Tempels die reichsten Länder ihres heißen Reiches zu zeigen.

Lesen Sie, ich beschwöre Sie, meinen Bericht mit Nachsicht! Es handelt sich hier um eins der interessantesten Probleme des Menschenlebens, um eine Krise, wie sie die meisten Menschen durchzumachen haben und die ich erklären möchte, sei es auch nur, um einen Leuchtturm auf dieser Klippe zu entzünden. Diese schöne Lady, so schlank, so zart, diese Frau mit dem Milchteint, so schwank, so zerbrechlich, so sanft, mit einschmeichelndem Gesicht, das von rötlichblondem, feinem Haar eingerahmt war, dies Wesen, dessen Glanz schillernd und flüchtig schien, hatte eine eiserne Natur. Das feurigste Pferd widersteht ihrem nervigen Handgelenk nicht, ihrer scheinbar so weichen Hand, die nichts ermüdet; sie hat einen Fuß, leicht wie eine Hindin, einen kleinen, sehnigen, hagern Fuß von unglaublich anmutiger Form; ihre Kraft scheut im Kampfe vor nichts zurück; kein Mann kann ihr zu Pferde folgen, sie würde den Preis bei einem Hürdenrennen über Zentauren davontragen. Sie schießt auf Damwild und Hirsche, ohne ihr Pferd anzuhalten. Ihr Körper weiß nichts von Schweiß. Sie saugt das Feuer aus der Atmosphäre und muß im Wasser leben, wenn sie überhaupt leben will. Auch ist ihre Leidenschaft rein afrikanisch, ihre Sehnsucht rast wie Wüstenwind, in ihren Blicken malen sich die glühenden Weiten der Wüste voll Himmelsblau und Liebe, mit nie getrübter Atmosphäre, mit ihren kühlen Sternennächten. Welch ein Gegensatz zu Clochegourde! Der Orient und der Okzident! Die eine schlürft alle Feuchtigkeit aus der Luft, die andere strömt ihre Seele aus und hüllt ihre Getreuen in einen lichten Dunstkreis; die eine lebhaft und schlank, die andere langsam und üppig. – Kurz, haben Sie schon einmal über die allgemeine Bedeutung der englischen Sitten nachgedacht? Bedeuten sie nicht die Vergöttlichung der Materie, einen bestimmten, bewußten und weise angewandten Epikurismus? Was es auch sage oder tue, England ist materialistisch, vielleicht ohne es zu wissen, es macht Ansprüche auf Religion und Moral, die den göttlichen Atem nicht kennen und aus denen die katholische Seele abwesend ist, deren befruchtende, wohltätige Wirkung sich durch nichts ersetzen läßt, selbst nicht durch die bestgespielte Heuchelei. Es besitzt im höchsten Maße die Lebenskunst, auch die kleinsten Einzelheiten zu vervollkommnen, diese Kunst, die zum Beispiel ihren Pantoffel zum köstlichsten der Welt macht, ihrer Wäsche einen undefinierbaren Duft verleiht, die Schränke mit Zedernholz auslegt; die zur bestimmten Stunde einen trefflichen, geschickt zubereiteten Tee eingießt, jedes Stäubchen verbannt, von unten bis oben Teppiche auf die Stufen legt, selbst die Kellerwände tüncht, den Klopfer an der Tür blank putzt, die Federn am Wagen geschmeidig macht, kurz, die aus dem alltäglichen Leben eine nahrhafte, sanfte, glänzende und reinliche Hülle macht und darin die Seele im Genuß erstickt. Diese Kunst führt zu der schrecklichen Eintönigkeit satten Wohlbehagens, zu einem Leben ohne Gegensätze, woraus jede Ursprünglichkeit verbannt ist, diese Kunst macht einen zur Maschine. So lernte ich mitten in diesem englischen Luxus eine Frau kennen, die vielleicht einzig in ihrem Geschlecht dastand, die mich in die Schlingen einer neu auflebenden Liebe lockte und deren verschwenderischer Freigebigkeit ich strenge Enthaltsamkeit entgegensetzte. Eine solche Liebe hat eine erdrückende Schönheit, eine ihr eigene Elektrizität, die uns oft durch die elfenbeinernen Tore ihres Halbschlafs in alle Himmel führt, die einen auf geflügeltem Zelter durch die Lüfte trägt. Eine schrecklich undankbare Liebe, die lachend über die Leichen derer schreitet, die sie gemordet hat; Liebe ohne Gedächtnis, grausame Liebe, die der englischen Politik gleicht, die fast alle verführt. Das Problem ist Ihnen schon klarer. Der Mensch besteht aus Materie und Geist; in ihm hört die Tierheit auf und beginnt das Göttliche. Daher der Kampf, der sich in uns allen abspielt zwischen unserer künftigen Bestimmung, die wir ahnen, und unsern Instinkten aus früheren Existenzen, die wir noch nicht ganz abgestreift haben: daher der Widerstreit zwischen fleischlicher und göttlicher Liebe. Der eine löst sie zur Einheit auf, der andere verzichtet; der eine durchforscht das ganze weibliche Geschlecht, um dort die Befriedigung seiner niedern Gelüste zu finden, der andere schafft sich ein weibliches Ideal in einer einzigen Frau, die für ihn die Welt darstellt. Die einen schwanken unentschieden zwischen den Wollüsten des Leibes und denen des Geistes hin und her, die andern vergeistigen das Fleisch und fordern von ihm, was es nicht geben kann. Behalten Sie diese allgemeinen Merkmale der Liebe im Auge; ziehen Sie ferner die Antipathien und Sympathien in Betracht, die in der Verschiedenheit der Naturen begründet sind und die gegebene Versprechungen zunichte machen zwischen Leuten, die sich noch nicht auf die Probe gestellt haben; denken Sie endlich an die trügerischen Hoffnungen derer, die besonders in Gedanken, Gefühlen oder in Handlungen leben und die in ihrem Beruf verirrt und verkannt sind, eine Mischung zweier gleich zwiespältiger Wesen: dann werden Sie Nachsicht haben für die traurigen Geschicke, denen die Gesellschaft mitleidlos begegnet. Nun, Lady Arabella befriedigt die Instinkte, Organe, Gelüste, Laster und Tugenden der feinkörnigen Materie, woraus wir gebildet sind. Sie war die Herrin meines Leibes, Madame de Mortsauf war die Braut meiner Seele. Die Liebe, welche die Geliebte befriedigt, hat Grenzen, denn die Materie ist begrenzt; ihre Fähigkeiten und Kräfte sind bemessen und können der Übersättigung nicht entrinnen. Oft fühlte ich eine unbestimmte innere Leere in Paris bei Lady Dudley. – Die Unendlichkeit ist das Gebiet des Herzens; in Clochegourde war die Liebe unbegrenzt. Ich liebte Lady Arabella leidenschaftlich, und so sicher die Bestie in ihr großartig war, so besaß sie auch einen überlegenen Verstand; ihre spöttische Unterhaltung umfaßte alles. Aber Henriette betete ich an. Des Nachts weinte ich vor Glück, des Morgens weinte ich vor Reue. – Es gibt Frauen, die schlau genug sind, ihre Eifersucht hinter engelhafter Güte zu verbergen; es sind die, die gleich Lady Arabella über dreißig Jahre alt sind. Die wissen dann zu fühlen und zu berechnen, allen Saft aus der Gegenwart zu pressen und an die Zukunft zu denken; sie unterdrücken oft berechtigtes Schluchzen mit der Energie des Jägers, der seiner Wunde nicht achtet, wenn er dem Geschmetter des Halali folgt. Ohne von Madame de Mortsauf zu reden, versuchte Arabella sie in meiner Seele zu töten, wo sie sie immer wieder vorfand, und ihre Leidenschaft entfachte sich am Hauch dieser unüberwindlichen Liebe. Um durch Vergleiche zu siegen, die zu ihren Gunsten ausfallen mußten, zeigte sie sich weder argwöhnisch noch zänkisch oder gar neugierig, wie es die meisten jungen Frauen sind. Aber der Löwin gleich, die eine Beute ergriffen und in ihre Höhle geschleppt hat, wachte sie darüber, daß nichts ihr Glück trübe, und hütete mich wie einen ungehorsamen Besiegten. Unter ihren Augen schrieb ich an Henriette; nie las sie eine einzige Zeile; nie suchte sie auf irgendeine Weise die Adresse, die auf meinen Briefen stand, zu ermitteln. Ich war im Vollbesitz meiner Freiheit. Sie schien sich zu sagen: ›Wenn ich ihn verliere, habe ich allein die Schuld.‹ – Und sie stürzte sich stolz auf eine Liebe, so opferfähig, daß sie mir ohne Zögern ihr Leben gegeben hätte, wenn es von ihr gefordert worden wäre. Endlich redete sie mir ein, daß sie sich auf der Stelle töten würde, wenn ich sie verließe. Man mußte sie bei der Gelegenheit die Sitte der indischen Witwenverbrennung rühmen hören, der zufolge die Frau sich auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes verbrennen läßt.

»Obwohl in Indien diese Sitte ausschließlich der adligen Kaste vorbehalten und in dieser Hinsicht Europäern wenig verständlich ist, weil sie nicht einsehen können, wieviel hoheitsvolle Verachtung anderer in diesem Vorrechte liegt, so müssen Sie doch zugeben, daß bei unsern verflachten modernen Sitten die Aristokratie sich nur durch Ausnahmegefühle auszeichnen kann. Wie anders kann ich den Bürgern beibringen, daß das Blut in meinen Adern dem ihren nicht gleicht, als dadurch, daß ich anders sterbe als sie? Frauen von niederer Herkunft können auch Diamanten, kostbare Stoffe, Pferde, ja selbst Wappen haben, die doch uns vorbehalten sein sollten: denn heute kauft man sich einen guten Namen. Aber erhobenen Hauptes lieben, dem Gesetze zum Trotz, für den Abgott, den man sich auserkoren hat, sterben und aus seinen Leinentüchern sich Leichentücher schneiden, Himmel und Erde einem Manne unterwerfen und dem Allmächtigen das Recht rauben, jemanden zum Gott zu erheben, ihn für nichts, nicht einmal für die Tugend, aufgeben; denn dem Geliebten sich im Namen der Pflicht entziehen, heißt das nicht: sich an etwas hingeben, was nicht er ist? (sei's nun Mensch oder Idee – immer ist es ein Verrat!), das ist eine Größe, an die gemeine Frauen nicht hinanreichen können; für sie gibt es nur zwei mögliche Wege, die breite Straße der Tugend oder den schlammigen Weg der Kurtisane.«

Sie rief, wie Sie sehen, meinen Stolz an, schmeichelte allen Eitelkeiten, indem sie sie vergötterte, und stellte mich so hoch, daß sie nur zu meinen Füßen leben konnte. Auch zeigte sich ihre ganze Verführungskunst in ihrer Sklavinnenpose und ihrer völligen Unterwürfigkeit. Sie konnte tagelang schweigend zu meinen Füßen liegen und mich anschauen, die Stunden des Genusses erspähend wie eine Odaliske und sie durch geschicktes Gebaren beschleunigend, doch ganz so, als scheine sie geduldig zu warten. Mit welchen Worten soll ich die ersten sechs Monate schildern, während welcher ich der Raub der aufregenden Genüsse einer wollustreichen Liebe war, welche die Freuden mit der Kunst der Erfahrung immer neu gestaltete, aber ihr Wissen unter den Wallungen der Leidenschaft verbarg? Diese Genüsse, die plötzliche Offenbarung der Poesie der Sinne sind das starke Band, das junge Leute mit älteren Frauen verknüpft; aber dieses Band ist die Kette des Sträflings; es läßt in der Seele eine unauslöschliche Spur zurück und flößt ihr von vornherein Geringschätzung ein für frische, unschuldige, nur blütenreiche Liebe, die es nicht versteht, berauschende Getränke in seltsam ziselierten Goldpokalen zu bieten, die mit Edelsteinen von unauslöschlichem Feuer besetzt sind. Während ich die Wollüste sog, die ich erträumt hatte, ohne sie zu kennen, die ich in meinen Liebessträußen zum Ausdruck gebracht und die ein seelischer Bund tausendfach glühender macht, fehlte es mir nicht an Scheingründen, um die Freude zu rechtfertigen, mit der ich aus dieser schönen Schale trank. Oft, wenn in unendlicher Erschlaffung meine Seele sich von der Leidenschaft löste und hoch über der Erde schwebte, sagte ich mir, daß solche Wonnen ein Mittel seien, die Materie zu vernichten und den herrlichen Aufschwung des Geistes zu beflügeln. Oft nützte Lady Dudley, wie so viele Frauen, die Verzückung aus, in die mich das Übermaß des Glückes versetzte, um mich durch Gelübde an sich zu ketten, und unter dem Peitschenhieb der Begierde entriß sie mir Lästerungen des Engels von Clochegourde. Ich war ein Verräter geworden, ich wurde ein Heuchler. Ich fuhr fort, an Madame de Mortsauf zu schreiben, als sei ich noch derselbe Knabe mit dem geschmacklosen kleinen blauen Anzug, der Knabe, den sie so sehr liebte. Aber ich muß gestehen, daß ihre Gabe des Zweiten Gesichts mich entsetzte, wenn ich an das Unheil dachte, das die geringste Indiskretion in meinem hübschen Traumschloß anrichten konnte. Mitten im Genuß packte mich oft ein eisiger Schmerz, ich hörte den Namen ›Henriette‹ von einer überirdischen Stimme rufen, wie das ›Kain, wo ist Abel?‹ der Heiligen Schrift. Meine Briefe blieben unbeantwortet. Eine schreckliche Herzensangst befiel mich; ich wollte nach Clochegourde aufbrechen. Arabella widersetzte sich dem nicht, aber natürlich sprach sie davon, mich in die Touraine zu begleiten. Ihre Laune wurde durch die Schwierigkeit der Unternehmung noch aufgestachelt; ihre Ahnungen, die ein unerhofftes Glück gerechfertigt hatte –: alles hatte in ihr eine wirkliche Liebe erzeugt, die sie zu einer ganz einzigartigen machen wollte. Ihr weiblicher Scharfblick ließ sie in dieser Reise ein Mittel sehen, mich völlig von Madame de Mortsauf loszulösen; während ich, von Furcht geblendet, von wahrer, naiver Leidenschaft hingerissen, die Falle nicht sah, worin ich mich fangen sollte. Lady Dudley machte die demütigsten Zugeständnisse und kam allen Einwendungen zuvor. Sie erklärte sich bereit, in der Nähe von Tours, unter fremdem Namen und verkleidet, auf dem Lande zu wohnen, nie bei Tage auszugehen und mich nur nachts zu treffen, wenn niemand uns sehen könnte. Ich ritt von Tours nach Clochegourde. Ich hatte meine guten Gründe, so zu reisen, denn ich brauchte für meine nächtlichen Unternehmungen ein Pferd. Ich besaß einen Araber, den Lady Esther Stanhope der Marquise geschickt hatte und den diese gegen das berühmte Bild von Rembrandt austauschte, in dessen Besitz ich auf so merkwürdige Weise gelangt war.

Ich schlug den Weg ein, den ich sechs Jahre zuvor zu Fuß gegangen war, und hielt unter dem Nußbaum das Pferd an. Von dort sah ich Madame de Mortsauf im weißen Kleide am Rande der Terrasse. Alsbald jagte ich mit Blitzesschnelle zu ihr hin und war in wenigen Minuten an der Mauer angelangt. Ich war in gerader Linie geritten, wie in einem Wettrennen. Sie hörte die gewältigen Sätze der ›Wüstenschwalbe‹, und als ich an der Terrasse plötzlich anhielt, sagte sie: »Ach, da sind Sie!«

Diese vier Worte schmetterten mich nieder; sie wußte von meinem Abenteuer. Wer hatte ihr Kunde davon gegeben? Ihre Mutter, deren gemeinen Brief sie mir später zeigte. Die gleichgültige, schwache Stimme, die früher so lebensvoll geklungen hatte, der matte, blasse Ton verrieten einen reifen Schmerz, hauchten einen Duft wie von welken, toten Blüten. Der Sturmwind der Untreue, vergleichbar den Hochwassern der Loire, die ein Stück Land für alle Zeiten unter Sand begraben, war über ihre Seele gebraust und hatte eine Wüste geschaffen, da, wo früher reiche Auen grünten. Ich führte mein Pferd durch die kleine Pforte, es legte sich auf meinen Befehl auf den Rasen, und die Comtesse, die langsamen Schrittes herangekommen war, rief: »Das schöne Tier!«

Sie stand da mit gekreuzten Armen, damit ich ihre Hand nicht ergreifen könne; ich erriet ihre Absicht.

»Ich will Monsieur de Mortsauf benachrichtigen«, sagte sie und ging.

Ich stand da wie angewurzelt, beschämt, sah, wie sie sich entfernte, immer edel in ihrer Haltung, gemessen stolz, weißer, als ich sie je gesehen; aber an der Stirn trug sie das gelbe Siegel bitterster Melancholie und neigte das Haupt wie eine regenschwere Lilie.

»Henriette!« rief ich aus mit der Verzweiflung eines Mannes, der sich sterben fühlt.

Sie wandte sich nicht um, blieb nicht stehen, verschmähte mir zu sagen, daß sie mir diesen Namen entzogen habe, daß sie nicht mehr darauf antwortete; sie ging unbeirrt weiter. Wohl werde ich mich in diesem irdischen Jammertal, wo Millionen Völker in den Staub gesunken sind, deren Seele jetzt über dem Erdball schwebt, in meiner ganzen Klarheit fühlen, unter dieser Menge, die vom Ruhm der unendlichen leuchtenden Himmelsgefilde bestrahlt ist; aber ich werde mich noch lange nicht so zerknirscht fühlen wie angesichts dieser weißen Gestalt, die hinaufstieg, wie in den Straßen einer Stadt eine Überschwemmung unerbittlich steigt, die gleichmäßigen Schrittes zu ihrem Schlosse Clochegourde emporschritt, der Stätte des Ruhms und der Qual dieser christlichen Dido! Ich verfluchte Arabella mit einer Verwünschung, die sie auf der Stelle getötet hätte, wenn sie sie hätte hören können. Sie, die mir alles geopfert hatte, wie man alles einem Gotte opfert! Ich war versunken in eine Welt schwermütiger Gedanken, sah rings um mich nur Unendlichkeit des Schmerzes. – Dann kamen sie alle herunter. Jacques lief stürmisch, wie Knaben in seinem Alter laufen. Madeleine, eine Gazelle mit ersterbenden Blicken, begleitete ihre Mutter. Ich drückte Jacques an mein Herz und goß über ihn die Flut meiner Empfindungen und die Tränen aus, die seine Mutter verschmäht hatte. Monsieur de Mortsauf kam auf mich zu, streckte mir beide Arme entgegen, drückte mich an sich, küßte mich auf beide Wangen und rief aus: »Felix, ich habe erfahren, daß ich Ihnen das Leben verdanke!«

Madame de Mortsauf kehrte uns unterdessen den Rücken zu unter dem Vorwand, der erstaunten Madeleine das Pferd zeigen zu wollen. »Zum Teufel, so sind die Weiber!« rief der Comte zornig aus; »sie bewundern Ihr Pferd.«

Madeleine kehrte sich um und kam auf mich zu. Ich küßte ihr die Hand, während ich die errötende Comtesse ansah.

»Sie scheint viel wohler, unsere Madeleine.« – »Armes Mädel!« sagte die Comtesse und küßte sie auf die Stirn. »Ja, zur Zeit geht's ihnen allen gut«, sagte der Comte, »ich allein, mein lieber Felix, bin zerrüttet wie ein alter Turm, der bald einstürzt.« – »Es scheint, der General hat noch immer seine düstern Grillen«, erwiderte ich, zu Madame de Mortsauf gewendet. »Wir haben alle unsere ›blue devils‹«, antwortete sie. »Heißt so nicht der englische Ausdruck?«

Wir gingen zusammen den Weg zum Weinberg hinauf und fühlten alle, daß sich etwas Ernstes ereignet hatte. Sie wünschte durchaus nicht, mit mir allein zu sein. Immerhin war ich ihr Gast.

»Nanu – und Ihr Pferd?« sagte der Comte, als wir draußen waren. »Sie werden schon sehen«, sagte die Comtesse, »ich bin immer im Unrecht, ob ich an Ihr Pferd denke oder nicht.« – »Nun ja«, sagte er, »man muß jedes Ding zu seiner Zeit tun.« – »Ich gehe schon«, sagte ich, denn dieser kalte Empfang fing an mir unerträglich zu werden. »Ich allein kann es leiten und richtig unterbringen. Mein Groom kommt im Wagen von Chinon und wird es verpflegen.« – »Kommt der Groom auch aus England?« fragte sie. »Es gibt sonst nirgends anständige«, antwortete der Comte, der vergnügt wurde, da er seine Frau traurig sah.

Die kühle Zurückhaltung seiner Frau reizte ihn zum Widerspruch, er erdrückte mich mit seiner Liebenswürdigkeit. Da erfuhr ich, wie drückend die Freundschaft eines Ehemannes ist. Denken Sie nicht etwa, daß ihre Freundlichkeiten eine edle Seele dann vergiften, wenn ihre Frau uns die Liebe schenkt, die ihnen vorenthalten wird; nein, sie werden hassenswert und unerträglich an dem Tage, wo diese Liebe im Schwinden ist. Das gute Einvernehmen mit dem Gatten, das die nötige Vorbedingung für derlei Liebesbeziehungen ist, erscheint dann als bloßes Mittel; es fällt einem zur Last wie jedes Mittel, das der Zweck nicht mehr heiligt.

»Mein lieber Felix«, sagte der Comte, indem er meine Hände ergriff und sie herzlich drückte, »nehmen Sie es Madame de Mortsauf nicht übel, Frauen müssen alle einmal garstig sein; ihre Schwäche entschuldigt sie. Sie können natürlich nicht die Gleichmäßigkeit der Laune haben, die bei uns in Charakterstärke begründet ist. Sie hat Sie wirklich sehr gern, ich weiß es, aber . . .«

Während dieser Worte des Comte entfernte sich Madame de Mortsauf unauffällig, so daß wir beide allein blieben.

»Felix«, sagte er dann leise, während er seiner Frau nachsah, die mit ihren Kindern zum Schloß zurückkehrte, »ich weiß wirklich nicht, was mit Madame de Mortsauf vorgeht. Seit sechs Wochen ist ihr Wesen wie umgewandelt. Sie, die sonst so sanft, so ergeben war, ist jetzt unglaublich mürrisch.«

Manette erzählte mir später, daß die Comtesse einer tiefen Erschlaffung verfallen war, die sie für die Quälereien des Comte unempfindlich machte. Da er kein geduldiges Ziel mehr fand, das er mit seinen Pfeilen durchbohren konnte, wurde der Comte immer unruhiger, wie ein Kind, welches das arme Insekt, das es quält, nicht mehr zucken sieht. Jetzt brauchte er einen Vertrauensmann, wie der Henker einen Helfer braucht.

»Versuchen Sie doch«, sagte er nach einer Weile, »Madame de Mortsauf ein wenig auszuforschen. Eine Frau hat vor ihrem Mann immer Geheimnisse, aber Ihnen wird sie vielleicht den Grund ihres Kummers anvertrauen. Sollte es mich auch die Hälfte meiner Tage und die Hälfte meines Vermögens kosten, ich würde alles opfern, um sie glücklich zu sehen. Sie ist in meinem Leben so unentbehrlich! Wenn ich in meinem Alter diesen Engel nicht mehr zur Seite hätte, wäre ich der unseligste Mensch; ich möchte gern ruhig sterben. Sagen Sie ihr, daß sie mich nicht mehr lange zu ertragen braucht; mit mir – Felix, mein armer Freund – mit mir geht's zu Ende, ich weiß es, ich verberge die traurige Wahrheit; warum meine Lieben im voraus betrüben? Immer der Magenpförtner, lieber Freund! Ich habe nun endlich den Grund meiner Krankheit erkannt: die Überempfindsamkeit hat mich gemordet. In der Tat schlagen alle Erregungen auf die gastrischen Nerven . . .« – »So daß Leute von Gemüt am Magen zugrunde gehen!« sagte ich lächelnd. »Lachen Sie nicht, Felix, nichts ist wahrer! Zu heftige seelische Schmerzen überreizen den Nervus sympathicus. Diese Überspannung der Empfindsamkeit ruft eine ständige Reizung der Magenschleimhäute hervor. Wenn dieser Zustand andauert, hat er zunächst unmerkliche Verdauungsstörungen zur Folge: die Magensäfte verschlechtern sich, der Appetit schwindet, und die Verdauung wird unregelmäßig. Bald machen sich heftige Schmerzen fühlbar, sie werden immer schlimmer und mit jedem Tage häufiger, und dann erreicht die allgemeine Zerrüttung ihren Gipfel, als ob sich in den Speisebrei ein Gift mischte. Die Schleimhaut verdickt sich, die Klappe am Magenpförtner wird hart, und es entsteht eine Drüsenverhärtung, die tödlich ist. Und dort, mein Lieber, stehe ich jetzt: die Verhärtung schreitet weiter, ohne daß man sie aufhalten könnte. Sehen Sie nur meinen strohgelben Teint, meine trockenen, glänzenden Augen, meine außerodentliche Magerkeit! Ich verdorre. Nun ja – von der Auswanderung habe ich den Keim dieser Krankheit mitgebracht; ich habe damals soviel gelitten. Meine Ehe, die das Übel wieder hätte gutmachen können, hat, statt meine kranke Seele zu heilen, die Wunde wieder zum Bluten gebracht. Was erwartete mich hier? Ewige Besorgnisse um die Kinder, häusliche Schwierigkeiten, zerrüttetes Vermögen, Sparsamkeit, die tausend Entbehrungen nötig machte, unter denen meine Frau und noch mehr ich selbst litt. Endlich noch ein Geheimnis, das ich nur Ihnen anvertrauen darf. – Mein herbstes Leid ist das: Blanche ist zwar ein Engel, aber sie versteht mich nicht, sie weiß nichts von meinen Leiden und verschlimmert sie. Ich verzeihe ihr. Wissen Sie, es ist schrecklich zu sagen, aber eine weniger tugendhafte Frau hätte mich glücklicher gemacht, sie hätte sich zu allerhand Linderungen meines Zustandes hergegeben; und von so etwas hat Blanche keine Ahnung, sie ist naiv wie ein Kind. Dazu kommt, daß meine Leute mich plagen, sie sind alle Schafsköpfe, die Griechisch verstehen, wenn ich Französisch spreche. Als dann unser Vermögen sachte, sachte sich hob, als ich weniger Schwierigkeiten hatte, da war das Übel schon geschehen, ich kam schon in die Zeit der Appetitlosigkeit; – dann die große Krankheit, die Origet so verkehrt behandelt hat! Kurz, wie ich hier gehe und stehe, habe ich keine sechs Monate mehr zu leben . . .«

Ich hörte den Comte entsetzt an. Beim Wiedersehen war mir der trockene Glanz der Augen und die strohgelbe Farbe der Stirn der Comtesse aufgefallen. Ich zog den Comte nach Hause und hörte nur scheinbar auf seine von medizinischen Auseinandersetzungen durchzogenen Klagen; aber ich dachte nur an Henriette und wollte sie beobachten. Ich traf die Comtesse im Salon, wo sie der Mathematikstunde beiwohnte, die der Abbé de Dominis Jacques gab, während sie Madeleine einen Stickereistich erklärte. Früher hätte sie am Tage meiner Ankunft alle Beschäftigungen wohl aufzuschieben gewußt, um sich ganz mir zu widmen; aber meine Liebe war so tief und wahr, daß ich den Kummer über den Gegensatz zwischen einst und jetzt in meinem Herzen verschloß. Denn ich sah die verhängnisvolle Strohfarbe, die auf diesem himmlischen Antlitz dem göttlichen Schimmer glich, den italienische Maler um die Stirn der Heiligen gelegt haben. Ich fühlte meine Seele vom Eishauch des Todes berührt. Dann, als das Feuer ihrer Blicke, die nicht mehr wie früher feucht glänzten, auf mich fiel, erbebte ich. Da erst bemerkte ich einige Änderungen, die der Kummer verursacht hatte und die mir im Freien nicht aufgefallen waren: die feinen Linien, die bei meinem letzten Besuch erst eben auf der Stirn angedeutet waren, hatten sich tief eingegraben; ihre bläulich geäderten Schläfen schienen glühend und hohl, ihre Augen lagen tiefer unter der weicheren Wölbung der Brauen, und tiefe Schatten dunkelten darum. Sie war krank wie eine Frucht, auf der Fäulnisflecke sichtbar werden und die, den Wurm im Herzen, eine frühzeitige Scheinreife zeigt. Ich, dessen ganzer Ehrgeiz es war, Ströme von Glück in ihre Seele zu gießen, hatte ich nicht die Quelle getrübt, an der ihr Leben sich erfrischte, ihr Mut sich stählte? Ich setzte mich neben sie und sagte mit einer Stimme, die voll Reue war: »Sind Sie mit Ihrer Gesundheit zufrieden?« – »Ja«, antwortete sie, und tauchte ihren Blick in meinen, »meine Gesundheit – hier ist sie!« und sie wies auf Jacques und Madeleine.

Madeleine hatte in ihrem Kampf mit der Natur gesiegt und war mit fünfzehn Jahren eine reife Frau. Sie war gewachsen, Rosenfarbe blühte wieder auf ihren brünetten Wangen. Sie hatte die Sorglosigkeit des Kindes verloren, das allem gerade ins Gesicht sieht, und fing an, die Augen zu senken; ihre Bewegungen wurden spärlich und gemessen wie die ihrer Mutter; ihre Taille war schlank, und die Anmut ihrer Büste begann sich zu entfalten; schon glättete Eitelkeit ihre wundervollen schwarzen Haare, die gescheitelt ihre Spanierinnenstirn umrahmten. Sie glich den hübschen Statuetten des Mittelalters, deren Umrisse so fein, deren Formen so zart sind, daß das Auge, das sie liebkost, für ihre Zerbrechlichkeit fürchtet. Aber die Gesundheit, diese Frucht so mühsamer Anstrengungen, legte den zarten Flaum des Pfirsichs auf ihre Wangen und längs ihres Nackens den seidigen Schimmer, worin, wie bei ihrer Mutter, das Licht spielte. Sie würde leben! Gott wollte es, du liebe Knospe der schönsten Menschenblüte – es stand geschrieben auf den langen Wimpern deiner Lider, auf der Rundung deiner Schultern, die versprachen, sich üppig zu entfalten wie die der Mutter. Dies brünette junge Mädchen mit der pappelschlanken Taille bildete einen seltsamen Gegensatz zu Jacques, dem schmächtigen Jungen von siebzehn Jahren, dessen stark entwickelter Kopf, dessen ausgeprägte Stirn erschreckten und dessen fieberische müde Augen seiner tiefen sonoren Stimme entsprachen. Die Stimme hatte zuviel Klang, wie der Blick zuviel Gedankentiefe verriet. Das war die Intelligenz, die Seele, das Herz Henriettes, deren rasche Flamme den widerstandsfähigen Körper verzehrte; denn Jacques hatte den milchweißen Teint und die glühende Röte junger Engländerinnen, die von der Krankheit gebrandmarkt sind und in absehbarer Zeit hingemäht werden sollen. Trügerische Gesundheit! Ich folgte der Bewegung, mit der Henriette, nachdem sie mir Madeleine gezeigt hatte, auf Jacques wies, der auf einer schwarzen Tafel vor dem Abbé de Dominis geometrische Figuren und algebraische Berechnungen ausführte. Ich erschrak beim Anblick dieses unter Blumen versteckten Todes und ehrte den Irrtum der armen Mutter.

»Wenn ich sie so sehe, bringt die Freude meine Schmerzen zum Schweigen, wie mein eigenes Leid verstummt und verschwindet, wenn ich sie krank weiß. Mein Freund«, sagte sie, und ihr Auge erglänzte vor mütterlicher Wonne, »wenn andere Neigungen uns enttäuschen, so wiegen die hier belohnten Gefühle, die erfüllten und erfolggekrönten Pflichten die Niederlage wohl auf, die wir anderwärts erleiden. Jacques wird wie Sie ein Mann von hoher Bildung, von großem Wissen sein; er wird wie Sie ein Ruhm seines Vaterlandes sein, wo er vielleicht eine leitende Stellung einnehmen wird dank Ihrer einflußreichen Hilfe. Aber ich will sehen, daß er seiner ersten Liebe treu bleibt. Madeleine, das liebe Geschöpfchen, hat jetzt schon ein goldenes Herz; sie ist rein wie der Schnee auf den höchsten Alpengipfeln; sie wird die Opferfähigkeit der Frau und deren anmutige Klugheit besitzen; sie ist stolz, sie wird eine würdige Lenoncourt sein! Die früher so geplagte Mutter ist nun glücklich, ungetrübten, unendlichen Glückes voll; ja, mein Leben ist ausgefüllt, ist reich. Sie sehen, Gott läßt meine Freuden aus der reinen erlaubten Liebe blühen und gibt den Genüssen einen bittern Beigeschmack, den Genüssen, zu denen ein gefährlicher Hang mich hinzog . . .« – »Schön!« rief der Abbé erfreut aus, »Monsieur le Vicomte weiß soviel wie ich . . .«

Während er seinen Beweis zu Ende führte, fing Jacques an zu hüsteln.

»Genug für heute, mein lieber Abbé«, sagte die Comtesse bewegt, »und vor allem keine Chemiestunde! – Nun reiten Sie ein wenig spazieren!« fuhr sie fort und ließ sich von ihrem Sohne mit der würdigen und zugleich zärtlichen Wollust einer Mutter küssen; ihre Augen waren auf mich gerichtet, als wolle sie meine Erinnerungen kränken. »Gehen Sie, Liebling, seien Sie vorsichtig!« – »Aber», sagte ich, als sie Jacques lange nachsah, »Sie haben mir nicht geantwortet. Leiden Sie manchmal an irgendwelchen Schmerzen?« – »Ja, bisweilen habe ich Magenbeschwerden. Wenn ich in Paris wäre, würde mir die Ehre eines gastrischen Fiebers, der Modekrankheit, zuteil werden.« – »Meine Mutter leidet oft und viel«, ergänzte Madeleine. »Ach«, sagte sie, »Sie interessieren sich für meine Gesundheit? . . .«

Madeleine, erstaunt über die tiefe Ironie, die aus ihren Worten sprach, sah uns nacheinander an. Meine Augen zählten die rosa Blumen auf den Kissen der graugrünen Sessel.

»Diese Situation ist unerträglich!« flüsterte ich ihr ins Ohr. »Habe ich sie etwa geschaffen?« fragte sie. »Liebes Kind«, fügte sie laut hinzu, mit der erheuchelten Fröhlichkeit, hinter der Frauen ihre Rache verbergen, »kennen Sie denn keine moderne Geschichte? Sind Frankreich und England nicht immer Feinde gewesen? Madeleine weiß das, sie wird Ihnen sagen, daß ein großes Meer sie trennt, ein kaltes, stürmisches Meer.«

Die Vasen auf dem Kamin waren durch Kandelaber ersetzt, wahrscheinlich um mir die Freude zu machen, sie mit Blumen zu füllen. Ich fand sie später in ihrem Zimmer wieder. Als mein Diener kam, ging ich hinaus, um ihm meine Anweisungen zu geben. Er hatte einige Dinge mitgebracht, die ich in mein Zimmer bringen wollte.

»Felix«, sagte die Comtesse, »Sie müssen wissen, das einstige Zimmer meiner Tante ist jetzt Madeleines Zimmer. Sie wohnen über dem Zimmer des Comte.«

Ich war schuldig, aber ich hatte ein Herz. Alle diese Worte waren Dolchstiche, die mich mit unbedingter Sicherheit an der empfindlichsten Stelle trafen. Seelische Leiden haben keine absolute Bedeutung; sie hängen ganz ab von der Feinheit der Seele, und die Comtesse hatte die ganze Reihe von Leiden schmerzlich durchlaufen. Aber aus ebendiesem Grunde wird auch die beste Frau um so grausamer sein, je gütiger sie gewesen ist. Ich sah sie an, aber sie neigte das Haupt. Ich ging in mein neues Zimmer, das freundlich in Weiß und Grün gehalten war. Dort brach ich in Tränen aus. Henriette hörte mich, kam und brachte mir einen Blumenstrauß.

»Henriette«, sagte ich, »sind Sie so weit, daß Sie den verzeihlichsten Fehler nicht entschuldigen können?« – »Nennen Sie mich nie mehr Henriette!« antwortete sie, »die arme Frau existiert nicht mehr. Aber Sie werden in Madame de Mortsauf eine treue Freundin finden, die Ihnen liebevolle Anteilnahme entgegenbringt. Felix, wir wollen später miteinander sprechen. Wenn Sie noch ein wenig Zärtlichkeit für mich bewahren, so warten Sie, bis ich mich wieder an Sie gewöhnt habe. Und sobald Worte mir das Herz weniger zerreißen, sobald ich wieder etwas Mut finde – ja, dann . . . Sehen Sie dieses Tal«, sagte sie und zeigte auf die Indre, »sein Anblick schmerzt mich, ich liebe es noch immer.« – »Ach! Verderben über England und alle seine Frauen! Ich reiche mein Entlassungsgesuch beim König ein, ich sterbe hier mit Ihrer Absolution.« – »Nein! Lieben Sie diese Frau! Henriette existiert nicht mehr, und das ist kein leeres Gerede, Sie werden sehen.«

Sie zog sich zurück; der Ton ihrer letzten Worte enthüllte mir ihren abgründigen Schmerz. Ich stürzte hinaus, hielt sie fest und sagte: »Lieben Sie mich denn nicht mehr?« – »Sie haben mir mehr Leid zugefügt als alle andern zusammen. Heute leide ich weniger, also liebe ich Sie weniger. Aber nur in England sagt man: ›Weder nie noch immer!‹ Hier sagen wir: ›Immer!‹ Seien Sie vernünftig! Machen Sie meinen Schmerz nicht schlimmer, und wenn Sie leiden, denken Sie daran, daß ich lebe.«

Sie entzog mir ihre Hand, die kalt, bewegungslos, aber feucht in der meinen lag, und lief geschwind über den Flur, wo sich diese wahrhaft traurige Geschichte zugetragen hat. Bei Tisch bereitete mir der Comte ein Martyrium, das ich nicht geahnt hatte.

»Ist denn die Marquise Dudley nicht in Paris?« fragte er. Ich wurde blutrot und sagte: »Nein!« – »Ist sie nicht etwa in Tours?« fuhr der Comte fort. »Sie ist nicht geschieden; sie kann nach England reisen. Ihr Mann wäre sicher sehr glücklich, wenn sie zu ihm zurückkehrte«, antwortete ich eifrig. »Hat sie Kinder?« fragte Madame de Mortsauf mit völlig veränderter Stimme. »Zwei Söhne«, antwortete ich. »Wo sind sie?« – »In England, beim Vater.« – »Felix, seien Sie ehrlich! – Ist sie wirklich so schön, wie man behauptet?« – »Wie können Sie nur so eine Frage stellen?« rief die Comtesse aus. »Die Frau, die man liebt, ist immer die schönste von allen Frauen.« – »Ja, stets«, sagte ich stolz und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht aushielt. »Sie haben Glück! Ja, Sie sind ein beneidenswerter Schlingel! In meiner Jugend hätte mich eine derartige Eroberung verrückt gemacht.« – »Genug!« sagte Madame de Mortsauf mit einem Blick auf Madeleine. »Ich bin doch kein Kind!« rief der Comte, dem es Freude machte, sich wieder jung zu fühlen. Nach Tisch führte mich die Comtesse auf die Terrasse, und als wir allein dort waren, rief sie aus.: »Ist's möglich?! Gibt es Frauen, die ihre Kinder einem Manne opfern? Vermögen, gesellschaftliche Stellung – das verstehe ich. Vielleicht die Ewigkeit! Aber die Kinder! Sich seiner Kinder berauben!« – »Ja, und diese Frauen möchten noch mehr zu opfern haben, sie geben alles! . . .«

Der Comtesse stürzte ihre Welt ein, ihre Gedanken verwirrten sich. Von dieser Großzügigkeit ergriffen, vermutete sie, daß das Glück ein solches Opfer rechtfertigen müsse; sie vernahm den Empörungsschrei ihres Fleisches und stand wie versteinert angesichts ihres verlorenen Lebens. Aber sie erhob sich groß und heilig, hochragenden Hauptes.

»So lieben Sie denn diese Frau wahrhaft, Felix!« sagte sie mit Tränen in den Augen, »sie soll meine glücklichere Schwester sein. Ich verzeihe ihr die Schmerzen, die sie mir gebracht hat, wenn sie Ihnen das gibt, was Sie hier nicht finden durften und was ich Ihnen nicht mehr bieten kann. Sie haben recht gehabt: ich habe Ihnen nie gesagt, daß ich Sie liebte, und ich habe Sie nie geliebt, wie die Kinder dieser Welt lieben. Aber wenn sie nicht wahrhaft Mutter ist, wie kann sie lieben?« – »Liebe Heilige«, antwortete ich, »ich müßte weniger bewegt sein, als ich es bin, um dir zu erklären, daß du siegreich über ihr schwebst, daß sie ein irdisches Weib ist, eine Tochter gefallener Geschlechter, während du eine Tochter des Lichts bist, mein angebeteter Engel; dir gehört mein Herz, ihr mein Leib. Sie weiß es und ist verzweifelt; sie würde gern mit dir tauschen, sollte es sie auch das grausamste Opfer kosten. Aber alles steht unumstößlich fest: dir die Seele, dir die Gedanken, die reine Liebe, dir die Jugend und das Alter; ihr die Begierden und die Genüsse flüchtiger Leidenschaft. Dir mein ganzes Gedenken, ihr das tiefste Vergessen!« – »O sprechen Sie! Sagen Sie mir das immer wieder, lieber Freund!« Sie setzte sich auf eine Bank und brach in Tränen aus. »Tugend, Felix, heiliger Wandel, Mutterliebe – sind also doch kein Wahn! Oh, gießen Sie diesen Balsam auf meine Wunden! Wiederholen Sie dies Wort, das mich dem Himmel zurückgewinnt, wohin ich gleichen Fluges mit Ihnen streben wollte! Segnen Sie mich mit einem Blick, mit einem geweihten Wort, so will ich Ihnen die Schmerzen verzeihen, die ich seit zwei Monaten um Ihretwillen erduldet habe.« – »Henriette, es gibt Geheimnisse in unserm Leben, die Ihnen verschlossen sind. Ich bin Ihnen in einem Alter begegnet, wo das Gefühl noch den Drang unserer Natur zu unterdrücken vermag. Aber verschiedene Erlebnisse, deren Erinnerung mich noch in der Todesstunde erwärmen würde, müssen Ihnen bewiesen haben, daß es mit dem Alter zu Ende ging; Ihr steter Sieg war es, seine stummen Wonnen zu verlängern. Liebe ohne Besitz lebt von der äußersten Anspannung ihrer Sehnsucht; dann kommt ein Augenblick, wo alles in uns Schmerz ist, in uns, die wir Ihnen so wenig gleichen. Wir besitzen eine Macht, die sich nicht verleugnen läßt, wofern wir Männer sein wollen. Der Nahrung beraubt, die es stärken sollte, verzehrt sich das Herz selbst, es verfällt einer Erschlaffung, die nicht der Tod ist, ihm aber vorangeht. So läßt sich die Natur nicht länger um ihr Recht betrügen; beim geringsten Anlaß erwacht sie mit einer Heftigkeit, die dem Wahnsinn gleicht. – Nein, ich habe nicht geliebt, ich verdurstete mitten in der Wüste!« – »Der Wüste?« sagte sie bitter und wies auf das Tal hin; »und wie klug er zu reden weiß! Wieviel feine Unterschiede er macht! Die Treue ist nicht so geistreich.« – »Henriette«, bat ich, »streiten wir nicht wegen einiger gewagter Ausdrücke. Nein, meine Seele hat nicht gezweifelt, aber ich bin nicht Herr meiner Sinne gewesen. Jene Frau weiß wohl, daß du die einzige Geliebte bist. Sie spielt eine untergeordnete Rolle in meinem Leben, sie weiß es und fügt sich darein. Ich habe das Recht, sie zu verlassen wie eine Kurtisane!« – »Und dann? . . .« – »Sie sagte, sie würde sich töten«, antwortete ich. Ich dachte, dieser Entschluß müßte Henriette überraschen; aber es glitt nur ein verächtliches Lächeln über ihre Züge, ein Lächeln, das noch ausdrucksvoller war als die Gedanken, die es verriet.

»Mein liebes Gewissen«, fuhr ich fort, »wenn du meinen Widerstand und die Macht der Versuchungen, die mich schließlich zu Falle brachten, bedenken wolltest, so verständest du diese verhängnisvolle . . .« – »O ja – verhängnisvoll!« sagte sie. »Ich habe zu fest an Sie geglaubt; ich glaubte, Sie besäßen die Tugend des Priesters, die Tugend . . . Monsieur de Mortsaufs!« Sie sagte das hart und ironisch. »Alles ist vorbei!« fuhr sie nach einer Pause fort. »Ich schulde Ihnen vieles, mein Freund, Sie haben in mir die Glut des körperlichen Lebens gelöscht, der schlimmste Teil des Weges ist zurückgelegt. Das Alter naht, nun bin ich leidend, fast kränklich. Ich könnte nicht für Sie die glänzende Fee sein, die das Füllhorn ihrer Gunst über den Glücklichen ausgießt. Seien Sie Lady Arabella treu! – Madeleine, die ich so gut für Sie erzog: wem wird sie nun gehören? Arme Madeleine! – Arme Madeleine!« klang es wie ein schmerzliches Echo nach. »Sie hätten sie hören müssen, wie sie mir sagte: ›Mutter, Sie sind gar nicht nett zu Felix!‹ – Das liebe Kind!«

Sie sah mich an unter den milden Strahlen der Sonne, die durch das Laubwerk glitten; und von Mitleid um unser zertrümmertes Glück ergriffen, versenkte sie sich in unsere so reine Vergangenheit und gab sich Betrachtungen hin, deren Glück ich mich nicht entziehen konnte. Wir griffen unsere Erinnerungen wieder auf, unsere Blicke streiften vom Tal zum Weinberg, von den Fenstern Clochegourdes nach Frapesle, wir banden träumend die duftenden Sträuße, die Gedichte unserer Wünsche. Das war ihre letzte Wollust, der sie sich mit der Reinheit einer christlichen Seele hingab. Es trat ein Schweigen ein, traurig und bedeutsam. Wir verfielen in tiefe Schwermut. Sie glaubte meinen Worten und sah sich dort, wo ich sie hinstellte: im Himmel.

»Mein Freund«, sagte sie, »ich gehorche Gott, denn in alledem verrät sich sein Wille.«

Erst später verstand ich den Sinn dieser Worte. Wir stiegen langsam die Terrasse hinauf, sie nahm meinen Arm, lehnte sich wehmütig darauf, ihre Wunden bluteten; aber sie blieb stark.

»So ist das menschliche Leben«, sagte sie. »Womit hat Monsieur de Mortsauf sein trauriges Geschick verdient? . . . Das beweist uns das Vorhandensein eines besseren Lebens. Wehe denen, die sich darüber beklagen, den Weg der Tugend gegangen zu sein!«

Darauf erwog sie so folgerichtig den Wert des Lebens, betrachtete es so ernst von allen Seiten, daß ich aus diesen ruhigen Betrachtungen ersah, welch ein Ekel vor allen Dingen der Welt sie ergriffen hatte. Als wir auf der Freitreppe anlangten, ließ sie meinen Arm los und sagte dieses letzte Wort: »Wenn Gott uns Gefühl und Freude für das Glück gegeben hat, ist es dann nicht auch seine Pflicht, die unschuldigen Seelen zu belohnen, die hienieden nur Trübsal gefunden haben? Entweder ich habe recht, oder es gibt keinen Gott – und unser Leben ist weiter nichts als ein bittrer Schmerz.«

Bei diesen Worten eilte sie ins Haus, und ich fand sie auf dem Sofa liegend, als habe die Stimme sie niedergeschmettert, die den Apostel Paulus zu Boden warf.

»Was fehlt Ihnen?« fragte ich. »Ich weiß nicht mehr, was Tugend ist«, sagte sie, »ich bin mir meiner Tugend nicht mehr bewußt.«

Als ob wir beide versteinert wären, standen wir da und hörten auf den Klang des Wortes wie auf den eines Steines, der in einen Abgrund geworfen wird.

»Wenn ich mich in meinem Leben geirrt habe, so hat sie recht – sie!« rief sie aus.

So folgte ihr letzter Kampf ihrer letzten Wollust. Als der Comte kam, klagte sie, die sonst nie klagte. Ich beschwor sie, zu mir von ihren Schmerzen zu sprechen; aber sie weigerte sich und ging zu Bett, während ich als Beute ewig neuer Gewissensbisse zurückblieb. Madeleine begleitete ihre Mutter; und tags darauf erfuhr ich, daß die Comtesse starkes Erbrechen gehabt habe, was, wie sie sagte, auf die Aufregungen des Tages zurückzuführen sei. Ich, der ich mein Leben für sie hätte hingeben wollen, ich tötete sie!

»Lieber Comte«, sagte ich zu Monsieur de Mortsauf, der mich zu einer Partie Tricktrack nötigte, »ich halte die Comtesse für schwer krank. Es ist noch Zeit, sie zu retten. Rufen Sie Origet, und bitten Sie Ihre Frau, seine Ratschläge zu befolgen!« – »Origet, der mich an den Rand des Grabes gebracht hat?« unterbrach er mich. »Nein, nein; ich werde Carbonneau zu Rate ziehen.«

Während dieser Woche, besonders in den ersten Tagen, verwandelte sich alles für mich in Schmerz, ich hatte ein Gefühl wie von beginnender Herzlähmung, meine Eitelkeit und meine Seele wurden schwer verletzt. Man muß der Mittelpunkt aller Gefühle, der Blicke und der Seufzer, man muß das Lebensprinzip, der Lichtquell aller Menschen gewesen sein, wenn man das schreckliche Gefühl der Leere verstehen will, das mich befiel. Es war alles wie früher, aber der Geist, der es belebte, war erloschen wie eine ausgeblasene Flamme. Ich verstand, warum es für Liebende ein trauriger Zwang ist, sich nicht wiederzusehen, wenn einmal die Liebe verflogen ist. Nichts mehr bedeuten, wo man herrschte; von stummer Todeskälte, statt von freudvoll lebendigen Lebensstrahlen umgeben zu sein: die Vergleiche zwischen einst und jetzt drücken nieder. Bald sehnte ich mich zurück nach der schmerzlichen Freudlosigkeit, die meine Jugend verdüstert hatte: meine Verzweiflung wurde so tief, daß die Comtesse gerührt war. Eines Tages nach Tisch, während wir am Ufer entlanggingen, machte ich einen letzten Versuch, ihre Vergebung zu erlangen. Ich bat Jacques, mit seiner Schwester voranzugehen, überließ den Comte sich selbst und führte Madame de Mortsauf zum Boot.

»Henriette«, sagte ich, »ein Wort – um der Barmherzigkeit willen! Oder ich werfe mich in die Indre! Ich habe gefehlt, ja, das ist wahr; aber bin ich nicht wie ein Hund mit meiner rührenden Treue? Wie er kehre ich beschämt zurück; wenn er schlecht gehandelt hat, so wird er gezüchtigt; aber er verehrt die Hand, die ihn schlägt. Zerbrechen Sie mich, aber geben Sie mir Ihr Herz zurück! . . .« – »Armes Kind«, sagte sie, »sind Sie nicht immer noch mein Sohn?«

Sie nahm meinen Arm und ging schweigend zu Jacques und Madeleine, mit denen sie den Weg nach Clochegourde über den Weinberg einschlug, während ich mit dem Comte zurückblieb, der von seinen Nachbarn auf die Politik zu sprechen kam.

»Wir wollen schnell nach Hause«, sagte ich; »Sie sind barhaupt, und der Abendtau könnte Ihnen schaden!« – »Ja, Sie haben Mitleid mit mir, mein lieber Felix«, antwortete er, meine Absicht mißverstehend. »Meine Frau hat mich nie trösten wollen. Vielleicht war es ein Grundsatz von ihr.«

Früher hätte sie mich nie mit ihrem Mann allein gelassen; jetzt bedurfte es eines besonderen Vorwandes, wenn ich mich ihr nähern wollte. Sie stand bei ihren Kindern und erklärte Jacques die Regeln des Tricktrack.

»Da sieht man's«, sagte der Comte, der stets eifersüchtig auf die Liebe war, die sie an seine Kinder verschenkte; »das sind die, denen man mich opfert. Die Ehemänner, lieber Felix, ziehen immer den kürzeren. Die tugendhafteste Frau findet noch immer ein Mittel, ihren innersten Wunsch zu befriedigen, das heißt, ihrem Manne Liebe zu stehlen.« Sie fuhr mit ihren Liebkosungen fort, ohne zu antworten. »Jacques!« rief der Comte, »kommen Sie einmal her!« Jacques sträubte sich ein wenig. »Ihr Vater ruft Sie, gehen Sie, mein Sohn!« sagte die Mutter und schob ihn vorwärts. »Sie lieben mich auf Befehl!« sagte der Alte, der seine Lage manchmal durchschaute. »Monsieur«, antwortete sie und fuhr wiederholt mit der Hand über Madeleines Haar, das nach der Art der ›Belle Ferronnière‹ gekämmt war, »seien Sie nicht ungerecht gegen die armen Frauen; das Leben wird ihnen nicht leicht gemacht, und vielleicht sind die Tugenden einer Mutter ihre Kinder.« – »Meine Liebe«, antwortete der Comte, der plötzlich logisch sein wollte, »was Sie da sagen, bedeutet, daß ohne ihre Kinder die Frauen auf die Tugend pfeifen würden und ihre Männer sitzenließen.« Die Comtesse erhob sich schnell und führte Madeleine hinaus. »Das ist die Ehe, mein Lieber!« sagte der Comte. – »Wollen Sie etwa durch Ihren Aufbruch sagen, daß ich Unsinn schwatze?« schrie er, nahm seinen Sohn bei der Hand und näherte sich seiner Frau, die er mit wütenden Blicken maß. »Im Gegenteil, Monsieur! Sie haben mich erschreckt, Ihre Bemerkung tut mir unendlich weh.« Sie sprach mit hohler Stimme und warf mir einen angstvollen Blick zu. »Wenn die Tugend nicht darin besteht, sich für Mann und Kinder aufzuopfern, was ist denn dann Tugend?« – »Sich aufzuopfern!?« entgegnete der Comte, und jede Silbe fiel wie ein Hammerschlag auf das Herz jener, die ihm ausgeliefert war. »Was opfern Sie denn Ihren Kindern? Was opfern Sie mir? Wen? Was? Antworten Sie! . . . Werden Sie antworten? Was geschieht denn hier? Was wollen Sie mir sagen?« – »Monsieur«, antwortete sie, »möchten Sie denn um Gottes willen geliebt werden, oder soll Ihre Frau um der Tugend selbst willen tugendhaft sein?« – »Madame hat recht!« fiel ich ein. Meine Stimme war bewegt und hallte in ihren Herzen wider, in die ich meine auf ewig verlorenen Hoffnungen warf und die ich mit dem Ausdruck meines höchsten Schmerzes beruhigte; meine dumpfe Verzweiflung brachte ihren Wortstreit zum Schweigen, wie beim Aufbrüllen des Löwen alles verstummt. »Ja, das schönste Vorrecht, das uns die Vernunft gegeben hat, ist die Fähigkeit, unsere Tugenden denen zugute kommen zu lassen, deren Glück unser Werk ist und die wir weder durch Berechnung noch durch Pflicht, sondern allein durch unerschöpfliche freiwillige Liebe beglücken.« In Henriettes Augen glänzte eine Träne. »Und, lieber Comte, wenn zufällig eine Frau gegen ihren Willen einem Gefühl unterworfen wäre, das die Gesellschaft nicht billigt, so müssen Sie zugeben, daß, je unwiderstehlicher dieses Gefühl ist, desto größer ihre Tugend wird, wenn sie es erstickt, sich ihren Kindern, ihrem Manne opfert. Diese Theorie ist übrigens nicht auf mich anwendbar, der ich leider ein Beispiel vom Gegenteil bin, noch auf Sie, der Sie damit nichts zu tun haben.«

Eine zugleich feuchte und glühende Hand legte sich auf die meine und drückte leise darauf.

»Sie sind eine schöne Seele«, sagte der Comte, der nicht ohne Anmut seine Hand um die Taille seiner Frau legte und sie sanft an sich zog. »Verzeihen Sie, meine Liebe, einem armen Kranken, der wohl mehr Liebe begehrt, als er verdient!« – »Es gibt Herzen, die eitel Großmut sind«, antwortete sie und lehnte ihr Haupt an seine Schulter, der diesen Satz auf sich bezog.

Die Comtesse merkte es, und ein Zittern überlief sie. Ihr Kamm fiel, ihr Haar löste sich, sie erblaßte. Ihr Mann, der sie stützte, stieß ein dumpfes Stöhnen aus, als er sie ohnmächtig werden sah, nahm sie auf den Arm, als sei sie seine Tochter, und trug sie auf das Sofa im Salon. Wir standen um sie herum. Henriette hielt meine Hand in der ihren, als wolle sie mir sagen, daß wir zwei allein den tiefen Sinn dieses scheinbar so einfachen Vorfalles verständen, der für sie furchtbar war.

»Ich habe unrecht«, sagte sie leise, als der Comte uns allein ließ, um ein Glas Orangenblütenwasser zu holen. »Ich habe Ihnen bitter unrecht getan. Ich wollte, daß Sie verzweifeln sollten, statt Sie mit Freude aufzunehmen. Lieber, Sie sind von einer wunderbaren Güte, wie nur die Leidenschaft sie kennt. Männer können verschiedenartig gut sein; sie sind es aus Verachtung, aus Bewunderung, aus Berechnung oder aus Charakterschwäche; aber Sie, mein Freund, sind soeben unbedingt ›gut‹ gewesen.« – »Vielleicht«, antwortete ich, »aber Sie wissen: was in mir Größe sein kann, kommt von Ihnen. Haben Sie denn vergessen, daß ich Ihr Werk bin?« – »Dies Wort genügt, um eine Frau glücklich zu machen«, antwortete sie, als der Comte gerade eintrat. »Ich fühle mich wohler«, fuhr sie fort und erhob sich. »Ich brauche frische Luft.«

Wir gingen zur Terrasse, die vom Duft der sterbenden Akazienblüten überhaucht war. Sie hatte meinen rechten Arm ergriffen und preßte ihn an ihr Herz. Sie litt. Aber es waren nach ihrem eigenen Ausdruck Schmerzen, die sie liebte. Sie wäre wahrscheinlich gern mit mir allein gewesen, aber ihre Phantasie, die unerfahren in weiblichen Listen war, fand kein Mittel, den Comte und ihre Kinder zu entfernen. So sprachen wir von gleichgültigen Dingen, während sie sich den Kopf zerbrach, um einen Augenblick zu gewinnen, wo sie mir ihr Herz ausschütten könnte.

»Es ist lange her, daß ich nicht spazierengefahren bin«, sagte sie, als sie sah, wie schön der Abend war. »Comte, lassen Sie doch, bitte, anspannen! Ich will eine kleine Fahrt machen.«

Sie wußte, daß vor dem Tischgebet jede Aussprache unmöglich sei, und fürchtete, der Comte möchte Tricktrack spielen. Wir hätten einander auf der lauen, duftenden Terrasse treffen können, sobald ihr Mann zur Ruhe gegangen wäre; aber sie scheute vielleicht davor zurück, im Dunkel zu bleiben, das wollüstige Lichter durchzuckten, an der Balustrade entlangzuwandeln, von wo aus der Blick die Indre sich durch die Wiesen winden sah. Wie eine Kathedrale mit ihren dunkeln und schweigenden Hallen zum Gebete ladet, so läßt das mondbeleuchtete Laubwerk, das von starken Düften durchweht und von tausend leisen Frühlingsgeräuschen belebt ist, alle Fasern erzittern und schwächt die Willenskraft. Die Natur beruhigt die Leidenschaft der Greise, junge Herzen regt sie auf. Wir wußten es. Zwei Glockenschläge riefen zum Gebet; die Comtesse fuhr zusammen.

»Meine liebe Henriette, was fehlt Ihnen?« – »Henriette existiert nicht mehr! Lassen Sie sie in Ruhe! Sie war anspruchsvoll, launisch; jetzt haben Sie eine friedliche Freundin, deren Tugend sich durch die Worte gestählt fühlt, die Ihnen der Himmel eingegeben hat. Wir werden von alledem später sprechen; wir müssen pünktlich zum Gebet erscheinen. Heute bin ich an der Reihe, es zu sprechen.«

Als die Comtesse die Worte sprach, in denen sie Gott um Beistand in allen Widerwärtigkeiten des Lebens bat, tat sie es mit einer Inbrust, die nicht mir allein auffiel. Ihr Zweites Gesicht schien ihr die schreckliche Aufregung gezeigt zu haben, der sie durch meine Schuld entgegenging: ich hatte meine Verabredung mit Arabella vergessen.

»Wir haben Zeit, drei Gänge Tricktrack zu spielen, bis die Pferde angespannt sind«, sagte der Comte und führte mich in den Salon. »Sie fahren dann mit meiner Frau. Ich lege mich schlafen.«

Wie alle unsere Partien war auch diese stürmisch. Die Comtesse konnte in ihrem Zimmer oder auch in dem Madeleines die Stimme ihres Mannes hören.

»Sie verstoßen auffallend gegen die Regeln der Gastfreundschaft!«, sagte sie zum Comte, als sie wieder eintrat.

Ich sah sie starr an. Ich konnte mich nicht an ihre Schroffheiten gewöhnen. Früher hätte sie sich gehütet, mich vor der Tyrannei des Comte zu schützen. Damals liebte sie es, mich ihre Leiden teilen und sie ihretwegen geduldig ertragen zu sehen.

»Ich gäbe mein Leben«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »Sie noch einmal leise sagen zu hören: ›Armer Liebling! Armer Liebling!‹«

Sie sah zu Boden: sie erinnerte sich der Stunde. Sie sah zu mir hinüber, aber mit gesenktem Blick, und aus ihren Augen sprach die Freude der Frau, die erkennt, daß einem die flüchtigste Liebkosung von ihr höher steht als die tiefsten Wonnen einer andern Liebe. Und wie jedesmal, wenn ich gleiches Unrecht erlitt, verzieh ich ihr, weil ich mich verstanden fühlte.

Der Comte verlor, er erklärte, daß er müde sei, um abbrechen zu können, und wir schlenderten zusammen um den Rasenplatz und warteten auf den Wagen. Endlich ließ er uns allein. Da brach eine so helle Freude aus meinen Zügen, daß mir die Comtesse einen fragenden, zugleich neugierigen und überraschenden Blick zuwarf.

»Henriette existiert noch!« sagte ich. »Und sie liebt mich noch! Sie beleidigen mich in der offenkundigen Absicht, mir weh zu tun. Ich kann also noch glücklich sein!« – »Es war noch etwas von der Frau übriggeblieben«, antwortete sie erschrocken, »und auch das zerstören Sie in diesem Augenblick! Gott sei Lob! Er gibt mir Mut, mein verdientes Martyrium zu ertragen. Ja, ich liebe Sie noch zu sehr, ich war im Begriff, mich zu vergessen. Die Engländerin hat einen Abgrund in mir erhellt.«

In diesem Augenblick stiegen wir in den Wagen; der Kutscher fragte, wohin er fahren sollte.

»Durch die Avenue auf die Straße von Chinon; Sie fahren uns dann durch die Karlsheide und den Weg von Sache zurück.« – »Was für ein Tag ist heute?« fragte ich, plötzlich erregt. »Sonnabend.« – »Fahren wir anderswohin, Madame. Samstags wimmelt die Straße von Marktleuten, die nach Tours gehen, und wir würden von ihren Karren belästigt.« – »Tun Sie, was ich Ihnen sage!« rief sie dem Kutscher zu.

Wir kannten jeder des andern geringste Veränderung zu gut, um uns unsere leiseste Erregung verbergen zu können. Henriette hatte verstanden.

»Sie haben nicht an die Marktleute gedacht, als Sie diese Nacht wählten«, sagte sie mit einem leisen Anflug von Ironie. »Lady Dudley ist in Tours. Sie erwartet Sie hier in der Nähe, leugnen Sie nicht! ›Was für ein Tag ist heute? . . .‹, ›Marktleute‹, ›Karren‹, – früher, wenn wir zusammen ausgingen, haben Sie nie daran gedacht.« – »Das beweist, daß ich in Clochegourde alles vergesse«, sagte ich. »Sie erwartet Sie?« – »Ja.« – »Um wieviel Uhr?« – »Zwischen elf und zwölf.« – »Wo?« – »In der Heide.« – »Betrügen Sie mich nicht! Doch nicht etwa unter dem Nußbaum?« – »In der Heide!« – »Wir gehen hin«, sagte sie, »ich will sie sehen!«

Als ich diese Worte hörte, betrachtete ich mein Leben als endgültig abgeschlossen. Ich beschloß im Augenblick, durch meine Vermählung mit Lady Dudley dem schmerzhaften Hinundherzerren ein Ende zu machen, das mein Gefühlsleben erschöpfte. Mein Schweigen beleidigte die Comtesse, deren ganze Größe ich noch nicht kannte.

»Ärgern Sie sich nicht über mich, Lieber«, sagte sie mit ihrer goldhellen Stimme, »das ist meine Strafe! Sie werden nie mehr so geliebt werden, wie Sie hier geliebt wurden« – und sie legte die Hand aufs Herz –, »habe ich es Ihnen nicht gestanden? Die Marquise Dudley rettet mich. Ihr sollen die Unreinlichkeiten überlassen sein, ich beneide sie nicht darum; mir die glorreiche Liebe der Engel! Ich bin seit Ihrer Ankunft lange Wege gegangen, ich habe mir ein Urteil über das Leben gebildet. Je mehr Sie sich erhöhen, desto mehr müssen Sie leiden, desto weniger Mitgefühl finden Sie. Statt in der Tiefe zu leiden, leiden Sie in den Lüften, wie der hochstrebende Adler, der den Pfeil eines rohen Hirten im Herzen davonträgt. Ich verstehe jetzt, daß Himmel und Erde unversöhnliche Gegensätze sind. Ja, für den, der in den Höhen leben kann, gibt es nur noch Gott. Dann soll sich unsere Seele von allen irdischen Dingen lösen. Es gilt, seine Freunde zu lieben, wie man seine Kinder liebt, ihretwegen, nicht um seiner selbst willen. Das Ich verursacht Jammer und Leiden. Mein Herz wird höher steigen als der Adler; dort gibt es eine Liebe, die nicht trügt. Das gemeine Leben zieht uns hinab, es läßt die Selbstsucht der Sinne über die Engel in uns siegen. Die Freuden der Leidenschaft sind stürmisch und furchtbar und fordern den Preis entnervender Unruhen, welche die Kraft unserer Seele brechen. Ich bin bis an das Ufer des Meeres gekommen, wo die Stürme wüten; ich habe sie zu sehr aus der Nähe gesehen. Sie haben mich oft in ihren Gischt gehüllt, die Woge hat sich nicht immer zu meinen Füßen gebrochen; ich habe Ihre rauhe, kalte Umarmung gefühlt. Ich muß zu den Höhen zurückkehren; am Rande dieses gewaltigen Meeres müßte ich zugrunde gehen. Ich sehe in Ihnen wie in allen, die mich betrübt haben, die Beschützer meiner Tugend. Mein Leben war voller Qualen, aber ich konnte mich ihnen zum Glück gewachsen zeigen; so blieb es rein von sündigen Leidenschaften, ohne verlockende Rast, stets Gott geweiht. Unsere Freundschaft war der unsinnige Versuch, die Bemühung zweier ahnungsloser Kinder, ihrem Herzen, den Menschen und Gott genugzutun . . . Welche Torheit! – Ach!« sagte sie nach einer Pause, »wie nennt Sie diese Frau?« »Amadeus!« antwortete ich, »Felix ist ein Mensch für sich, der stets nur Ihnen gehören wird.« – »Es wird Henriette schwer, zu sterben«, sagte sie, und ein frommes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber sie wird dem ersten Ansturm der demütigen Christin, der stolzen Mutter, der Frau erliegen, deren Tugend, gestern noch schwankend, heute gefestigt ist. Was soll ich Ihnen sagen? Nun ja, mein Leben steht im Einklang mit sich selbst, in den größten wie in den kleinsten Dingen. Das Herz, in das die ersten Wurzeln meiner Zärtlichkeit sich hätten senken sollen, das Herz meiner Mutter, blieb mir verschlossen, sosehr ich auch versuchte, mich hineinzuschmiegen. Ich war ein Mädchen, ich kam nach drei toten Söhnen und versuchte vergebens, ihren Platz in der Liebe meiner Eltern auszufüllen; ich vermochte nicht, die Wunde zu heilen, die der Familienstolz erlitten hatte. Als ich nach dieser düstern Jugend meine verehrungswürdige Tante kennenlernte, atmete ich auf. Aber bald entriß sie mir der Tod. Monsieur de Mortsauf, dem ich gehöre, hat mich immer nur verletzt, unaufhörlich, ohne es zu wissen, der Arme! Seine Liebe hat den naiven Egoismus, womit die Kinder die Eltern lieben. Er weiß nichts von den Schmerzen, die er mir verursacht; er weiß, ihm ist alles im voraus verziehen. Meine Kinder, diese lieben Kinder, die durch all ihre Leiden mit meinem Fleisch, durch all ihre Eigenschaften mit meiner Seele, durch ihre unschuldigen Freuden mit meiner Natur verwachsen sind: sind mir diese Kinder nur geschenkt, um zu zeigen, wieviel Kraft und Geduld die Brust einer Mutter umschließt? O ja, meine Kinder sind meine Tugenden. Sie wissen, wie ich mich in ihnen, unter ihnen, trotz ihnen gegeißelt habe. Mutter werden bedeutete für mich, das Recht ewigen Leidens zu erwerben. Als Hagar in der Wüste schrie, da ließ ein Engel für diese zu sehr geliebte Sklavin eine frische Quelle hervorsprudeln. Aber ich! Als die lautere Quelle, zu der Sie mich führen wollten, bei Clochegourde aus dem Boden sprang, da spendete sie nur bitteres Wasser. Ja, Sie haben mir unerhörte Qualen bereitet. Gott wird gewiß dem verzeihen, der in der Liebe nur Leid gefunden hat. Aber wenn mir von Ihnen die heftigsten all meiner Schmerzen kamen, so hatte ich sie vielleicht verdient. Gott ist nicht ungerecht. Ja, Felix, ein Kuß, der flüchtig auf eine Stirn gedrückt wird, ist vielleicht soviel wert wie ein Verbrechen, vielleicht muß man die Schritte bitter büßen, die man bei abendlichen Gängen vor Mann und Kindern vorauseilte, wie man mit Gedanken und Erinnerungen allein sein wollte, die ihnen nicht gehörten; man muß es büßen, daß dabei die Seele einer andern vermählt war. Wenn der ganze innere Mensch sich um die Stelle zusammenzieht, die er den Liebkosungen darbietet, ist das vielleicht die schlimmste aller Sünden! Sünde ist es, sich eine Zukunft zu erträumen, die den Tod eines Menschen verlangt; Sünde, sich für künftige Zeit eine angstlose Mutterschaft auszumalen, schöne Kinder, die des Abends mit dem von allen vergötterten Vater spielen unter den gerührten Augen einer glücklichen Mutter. Ja, ich habe gesündigt, schwer gesündigt. Ich habe Gefallen gefunden an den Bußübungen, die die Kirche auferlegt und die doch die Fehler nicht sühnen konnten, gegen die der Priester wohl zu nachsichtig war. Gott hat, so scheint es, zur Strafe das Herz meiner Irrungen getroffen und den mit seiner Rache betraut, für den sie begangen wurden. Ich gab Ihnen mein Haar; hieß das nicht: mich Ihnen versprechen? Warum trug ich mit Vorliebe weiße Kleider? Ich wollte Ihre Lilie sein. Sie hatten mich zum erstenmal hier in einem weißen Kleid gesehen. Ich habe meinen Kindern viel Liebe entzogen. Sie sehen wohl, Felix, jedes Leiden hat seine Bedeutung. Schlagen Sie, schlagen Sie fester zu als Monsieur de Mortsauf und meine Kinder! Diese Frau ist ein Werkzeug des göttlichen Zornes. Ich will ihr ohne Haß begegnen, ich werde ihr zulächeln. Als Christin, Gattin und Mutter muß ich sie lieben. Wenn es wahr ist, daß ich Ihr Herz vor entwürdigenden Berührungen bewahrt habe, so kann mich diese Engländerin nicht hassen. Eine Frau muß die Mutter ihres Geliebten lieben – und ich bin Ihre Mutter! O ja, Sie haben sich immer über seine Kälte beklagt. Und ich war in Wirklichkeit nur Ihre Mutter. Verzeihen Sie, daß ich, ohne es zu wollen, zu Ihnen hart war, als Sie hier ankamen; denn eine Mutter soll sich freuen, wenn sie ihren Sohn so geliebt weiß!« Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und wiederholte: »Verzeihen Sie, verzeihen Sie!«

Da hörte ich unbekannte Laute; es war weder ihre Mädchenstimme mit ihrem fröhlichen Klang noch ihre Frauenstimme mit dem gebieterischen Tonfall, noch waren es die Seufzer der wunden Mutter, es war eine herzzerreißende, eine neue Stimme, die Stimme neuer Leiden:

»Was Sie betrifft, Felix«, fuhr sie lebhafter fort, »so sind Sie der Freund, der nicht schlecht handeln kann. Sie haben in meinen Augen nichts verloren. Machen Sie sich keine Vorwürfe, keine Gewissensbisse! War es nicht der Gipfel der Selbstsucht, als ich von Ihnen verlangte, einer unerreichbaren Zukunft zuliebe die höchsten Freuden zu opfern, Freuden, um derentwillen eine Frau ihre Kinder verläßt, ihre Stellung einbüßt, die Ewigkeit vergißt. Wie oft habe ich Sie mir überlegen gefunden! Sie waren groß und edel, ich kleinlich und sündhaft! – So, nun habe ich's gesagt, ich kann für Sie nur ein fernes, strahlendes und kaltes, aber ungeschwächtes Licht sein. Nur, Felix, sorgen Sie dafür, daß meine Liebe zu dem Bruder, den ich mir erwählt habe, erwidert werde. Haben Sie mich lieb! Die Liebe einer Schwester hat keinen traurigen Nachgeschmack, sie kennt keine Hindernisse. Sie werden der nachsichtigen Seele nichts vorzulügen brauchen, die an Ihrem schönen Leben teilnehmen, die über Ihr Leid trauern, über Ihre Freude sich freuen und die Frauen lieben wird, die Sie glücklich machen; sie wird außer sich sein, wenn Sie verraten werden. Ich habe nie einen Bruder gehabt, den ich so lieben konnte. Seien Sie großherzig genug, alle Eigenliebe abzulegen, um unsere bis jetzt zweifelhaften und unruhigen Beziehungen in diese sanfte, heilige Liebe zu verwandeln! So kann ich dann weiterleben. Ich werde damit beginnen, Lady Dudley die Hand zu drücken.«

Sie weinte nicht. Während sie diese Worte voll bitterer Weisheit sprach, die den letzten Schleier von ihrer schmerzensreichen Seele nahmen, zeigte sie mir, wie viele Bande sie an mich knüpften, welch kräftige Ketten ich gebrochen hatte. Wir waren so sehr entrückt, daß wir den Regen nicht merkten, der in Strömen niederfiel.

»Wollen Madame la Comtesse nicht einen Augenblick hier einkehren?« fragte der Kutscher, auf die Hauptherberge von Ballan weisend.

Sie nickte zustimmend, und wir blieben etwa eine halbe Stunde unter dem Torbogen, zum großen Staunen der Leute, die sich fragten, warum Madame de Mortsauf nachts um elf Uhr noch unterwegs sei. Fuhr sie nach Tours? Kehrte sie von dort zurück? – Als das Gewitter vorüber war, verwandelte sich der Regen in ein feines Rieseln; der Mond schien auf die höheren Nebelschichten, die vom Winde gejagt wurden, der Kutscher kam heraus und ging zu meiner großen Freude zum Wagen zurück.

»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« rief ihm die Comtesse leise zu. – Wir schlugen den Weg durch die Karlsheide ein, wo es wieder heftiger zu regnen begann. Mitten in der Heide hörte ich das Bellen von Arabellas Lieblingshund. Ein Pferd brach aus einem Eichengehölz hervor, setzte über den Weg, sprang über einen Graben, den die Besitzer angelegt hatten, um ihre beiden Gebiete zu trennen in diesem Brachland, das man urbar machen zu können glaubte; und Lady Dudley hielt in der Heide an, um den Wagen vorbeifahren zu sehen.

»Welche Freude, sein Kind so zu erwarten, wenn man es ohne Sünde kann«, sagte Henriette.

Das Bellen des Hundes hatte Lady Dudley angezeigt, daß ich in dem Wagen sei; sie glaubte wohl, daß ich sie wegen des schlechten Wetters im Wagen abhole. Als wir an die Stelle kamen, wo sich die Marquise aufhielt, flog sie bis an den Rand des Weges, mit einer Gewandheit, die Henriette wie ein Wunder anstaunte. Aus Scherz pflegte Arabella mich bei der letzten Silbe meines Namens zu nennen, die sie englisch aussprach; dieser Ruf nahm auf ihren Lippen einen feenhaften Reiz an. Sie wußte, daß sie nur von mir verstanden werde, wenn sie rief: »My Dee!«

»Er ist's, Madame«, sagte die Comtesse, und beim Mondschein betrachtete sie das phantastische Wesen, dessen ungeduldiges Gesicht seltsam von langen aufgelösten Locken umrahmt war.

Sie wissen, mit welcher Geschwindigkeit Frauen einander abschätzen. Die Engländerin erkannte ihre Rivalin und bewährte sich glorreich als Engländerin. Sie umfaßte uns beide mit einem Blick von echt englischer Verachtung und schoß pfeilgeschwind in die Heide hinaus.

»Schnell nach Clochegourde!« rief die Comtesse, der dieser herbe Anblick das Herz spaltete.

Der Kutscher lenkte um, um auf die Straße von Chinon zu kommen, die besser war als die von Saché. Als der Wagen wieder die Heide entlangfuhr, hörten wir den rasenden Galopp von Arabellas Pferd und den Lauf ihres Hundes. Sie streiften die Wälder jenseits der Heide.

»Sie flieht, Sie verlieren sie auf immer!« sagte Henriette. »Gut, so soll sie gehen, ich werde ihr nicht nachtrauern!« – »O die armen Frauen!« rief die Comtesse voll schaudernden Mitleids. »Wohin geht sie nur?« – »Zur Grenadière, einem kleinen Hause bei Saint-Cyr«, antwortete ich. »Sie geht allein dahin«, sagte Henriette in einem Ton, der mir bewies, wie solidarisch sich die Frauen in Liebesangelegenheiten fühlen und wie sie einander nie aufgeben.

Im Augenblick, als wir in die Avenue von Clochegourde einbogen, bellte Arabellas Hund fröhlich vor dem Wagen her.

»Sie hat uns überholt!« rief die Comtesse. Und nach einer Pause: »Ich habe nie eine schönere Frau gesehen! Welche Hand! Und welche Gestalt! Ihr Teint stellt die Lilie in den Schatten, ihre Augen haben diamantenen Glanz! Aber sie reitet zu gut. Sie muß es lieben, ihre Kraft zu entfalten; ich halte sie für tatkräftig und leidenschaftlich, und dann setzt sie sich zu kühn über die gute Sitte hinweg. Die Frau, die keine Gesetze anerkennt, wird bald nur noch auf ihre Launen hören. Die soviel zu glänzen lieben, haben gewöhnlich nicht die Gabe der Beständigkeit. Nach meiner Auffassung verlangt Liebe nach mehr Ruhe; ich denke sie mir wie einen tiefen See, dessen Grund das Senkblei nicht finden kann, wo Stürme zwar heftig sein können, aber selten . . . und nicht über ein gewisses Maß hinausgehend; zwei Wesen leben auf einer Blumeninsel im See, weit von der Welt, deren Pracht und Glanz sie beleidigen würde. Aber die Liebe muß wohl bei jedem anders sein, und ich habe vielleicht unrecht. Wenn sich die Erscheinungen in der Natur, den Forderungen des Klimas entsprechend, zu verschiedenerlei Gestalt bequemen, warum sollte es nicht ebenso bei verschiedenen Individuen mit den Gefühlen bestellt sein? . . . Gewiß, die Gefühle, die in ihrer Gesamtheit gleichen Gesetzen gehorchten, unterscheiden sich nur in ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Jede Seele hat ihre Art und ihre Weise. Die Marquise ist die starke Frau, die vor Entfernungen nicht zurückschreckt, die mit männlicher Energie handelt; sie würde ihren Geliebten aus der Gefangenschaft erretten, Gefängniswärter, Wachen und Henker töten, während manche Wesen weiter nichts können als von ganzer Seele lieben; in der Gefahr knien sie hin, beten und sterben. Die ganze Frage ist die, welche von den beiden Frauen Ihnen am besten gefällt . . . Aber die Marquise liebt Sie, sie hat Ihnen so viele Opfer gebracht; vielleicht wird sie Sie noch immer lieben, wenn bei Ihnen die Liebe schon aufgehört hat.« – »Lieber Engel, erlauben Sie, daß ich die Worte wiederhole, die Sie einmal an mich richteten: ›Woher wissen Sie alle diese Dinge?‹« – »Jedes Leid bringt eine Lehre mit sich, und ich habe in so vieler Beziehung gelitten, daß ich viel weiß.«

Mein Diener hatte gehört, daß wir über die Terrasse zurückkehren wollten. Er hielt mein Pferd gesattelt und gezäumt in der Avenue bereit. Der Hund Arabellas hatte das Pferd gewittert, und seine Herrin, von berechtigter Neugier getrieben, war ihm durch den Wald gefolgt. Dort hielt sie sich wohl versteckt.

»Schließen Sie Frieden mit der Marquise!« sagte Henriette mit einem Lächeln, das ihre Traurigkeit nicht verriet. »Sagen Sie ihr, wie sehr sie sich über meine Absichten getäuscht hat. Ich wollte ihr den ganzen Wert des Schatzes zeigen, der ihr zugefallen ist. Mein Herz hat für sie nur freundliche Gefühle: Zorn und Verachtung sind ihm durchaus fremd. Erklären Sie ihr, daß ich ihre Schwester und nicht ihre Rivalin bin!« – »Ich bleibe hier!« rief ich aus. »Haben Sie nie empfunden«, sagte sie mit strahlendem Märtyrerstolz, »daß gewisse Rücksichten einer Beleidigung gleichkommen? Gehen Sie! Gehen Sie!«

Ich eilte zu Lady Dudley, ich war gespannt, in welcher Gemütsverfassung sie sich befinde.

›Wenn sie doch nur zornig sein und mich verlassen wollte‹, dachte ich, ›dann ginge ich gleich nach Clochegourde zurück!‹

Der Hund führte mich unter eine Eiche, wo die Marquise mir entgegenstürzte und schrie: »Away! Away!«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihr nach Saint-Cyr zu folgen, wo wir um Mitternacht anlangten.

»Diese Dame erfreut sich einer vollkommenen Gesundheit«, sagte Arabella beim Absteigen.

Nur die sie kennen, verstehen, wieviel Sarkasmus in dieser trocken hingeworfenen Bemerkung lag, die sagen wollte: ›Ich wäre an ihrer Stelle gestorben!‹

»Ich verbiete dir, eine einzige deiner dreischneidigen Bemerkungen gegen Madame de Mortsauf zu schleudern!« antwortete ich. »Nehmen das Euer Gnaden übel, wenn man das Wohlbefinden eines Wesens feststellt, das Eurem werten Herzen so teuer ist? Französische Frauen, so sagt man, hassen selbst den Hund ihres Geliebten. Wir in England lieben alles, was unsere Herren und Meister lieben, wir hassen alles, was sie hassen, weil wir ganz in ihnen leben. Erlauben Sie mir also, diese Dame zu lieben, wie Sie selbst sie lieben. Nur, liebes Kind«, und sie umschlang mich mit ihren regenfeuchten Armen, »wenn du mich verrietest, würde ich weder stehen noch liegen, würde nicht in einer lakaienbewehrten Karosse fahren noch in der Karlsheide lustwandeln, noch wäre ich in irgendeiner Heide irgendeines Landes in irgendeiner Welt, noch in meinem Bett, noch unter dem väterlichen Dach. Ich würde aufhören zu sein! . . . Ich bin in Lancashire geboren, in dem Lande, wo die Frauen aus Liebe sterben. Dich kennen und dich aufgeben! Keiner Gewalt gebe ich dich preis, selbst nicht dem Tode! Denn ich stürbe mit dir!«

Sie führte mich in ihr Zimmer, wo schon der ganze Zauber der Behaglichkeit entfaltet war.

»Liebe sie, mein Herz!« sagte ich heiß. »Sie liebt dich, ja, sie liebt dich ernsthaft und aufrichtig.« – »Aufrichtig, mein Kleiner?« sagte sie, ihr Reitkleid ablegend.

Liebende sind eitel. Ich wollte diesem stolzen Geschöpf die Erhabenheit von Henriettes Charakter klarmachen. Während die Zofe, die kein Wort Französisch verstand, ihr Haar ordnete, versuchte ich, Arabella Madame de Mortsauf zu schildern, indem ich von ihrem Leben erzählte und die großen Gedanken wiederholte, die ihr die Wandlung eingegeben hatte, in der sonst alle Frauen kleinlich und boshaft werden. Obwohl Arabella nicht im geringsten aufzumerkem schien, überhörte sie keins meiner Worte.

»Freut mich wirklich über die Maßen«, sagte sie, als wir allein waren, »deine Vorliebe für diese Art christlicher Unterhaltungen kennenzulernen; auf meinen Gütern lebt ein Pfarrer, der es wie sonst niemand versteht, Predigten zu verfassen; unsere Bauern verstehen sie, so sehr paßt diese Prosa sich dem Zuhörer an. Ich werde morgen meinem Vater schreiben und ihn bitten, mir den Menschen mit dem nächsten Schiff zu schicken. Du sollst ihn in Paris vorfinden. Wenn du ihn erst einmal gehört hast, wirst du nur noch ihn hören wollen, um so mehr, als er sich einer tadellosen Gesundheit erfreut. Seine Moral wird dir keine von den Erschütterungen verursachen, die zum Weinen rühren; sie fließt friedlich dahin wie eine klare Quelle und verhilft zum wonnigsten Schlaf. Wenn es dir paßt, kannst du dann deiner Vorliebe für Predigten genügen, während du dein Abendbrot verdaust. Die englische Moral, liebes Kind, ist der Moral der Touraine um ebensoviel überlegen, wie unsere Stahl- und Silberwaren und unsere Pferde euren Klingen und Pferden überlegen sind. Tu mir den Gefallen, meinen Pfarrer anzuhören! Versprich es mir! Ich bin nur eine Frau, mein Liebster. Ich kann lieben; ich kann für dich sterben, wenn du es wünschest, aber ich habe weder in Eton noch in Oxford, noch in Edinburgh studiert. Ich bin nicht Doktor und nicht Geistlicher, ich wäre nicht imstande, dir mit Moral zu dienen; dazu bin ich ganz ungeeignet und würde mich bei einem Versuch sehr ungeschickt zeigen. Ich werfe dir nicht deinen Geschmack vor. Wenn du einen noch viel verkommeneren hättest, würde ich versuchen, mich ihm anzupassen, denn ich wünsche, daß du alles bei mir findest, was dir zusagt: Liebesfreuden, Tafelfreuden, kirchliche Freuden, guten Claret und christliche Tugend. Soll ich heute abend ein härenes Gewand anziehen? Sie hat es wirklich gut, die Frau, die dich mit Moral bewirten darf. Auf welcher Universität machen denn die Französinnen ihre Examina? Ich Ärmste, ich kann nur mich hingeben, ich bin nur deine Sklavin . . .« – »Warum bist du denn dann fortgelaufen? Ich wollte euch nebeneinander sehen.« – »Bist du verrückt, my Dee? Ich ginge als Lakai verkleidet von Paris nach Rom, ich unternähme für dich die wahnwitzigsten Dinge, aber wie kann ich auf der Straße mit einer Frau sprechen, die mir nicht vorgestellt ist? . . . und die sofort eine Predigt in drei Teilen begonnen hätte? Ich will mich gern mit Bauern unterhalten; es kann sein, daß ich einen Arbeiter bitte, sein Brot mit mir zu teilen, wenn ich Hunger habe, ich gebe ihm Geld, und alles ist in bester Ordnung. Aber einen Wagen anhalten, wie es die Wegelagerer in England tun, das verträgt sich nicht mit meinem Sittenkodex. Du kannst wirklich nichts als lieben, armes Kind – was weißt du vom Leben? Übrigens gleiche ich dir noch nicht in allem, Engel! Ich schwärme nicht für Moral, aber um dir zu gefallen, bin ich der größten Anstrengung fähig. Laß nur gut sein, ich werde es lernen, ich werde versuchen, mir den Predigerton anzueignen. Mit mir verglichen wird Jeremias bald nur noch ein Possenreißer sein. Ich werde mir keine Liebkosung mehr erlauben, ohne sie mit Bibelsprüchen zu begleiten!«

Sie gebrauchte ihre Macht; sie mißbrauchte sie, sobald sie in meinen Augen den glutheißen Blick sah, der ihr verriet, daß ich ihren Zauberkünsten erlag. Sie siegte über alles. Freudig stellte ich über alle frömmelnden Spitzfindigkeiten die Größe der Frau, die sich preisgibt, die auf ihre Zukunft verzichtet und aus der Liebe ihre einzige Tugend macht.

»Sie liebt sich also mehr als dich, sie zieht etwas außer dir Liegendes dir vor! Wie können wir etwas in uns anders bewerten als nach eurem Maßstab? Keine Frau, sei sie auch eine noch so große Moralistin, kann einem Mann ebenbürtig sein. Schreitet über uns hinweg, tötet uns, erschwert nie mit uns euer Leben; an uns ist es, zu sterben, an euch, groß und stolz zu leben! Haltet ihr für uns den Dolch bereit, so haben wir für euch nur Liebe und Verzeihung! Kümmert sich die Sonne um die Mückchen, die in ihren Strahlen tanzen und von ihrem Licht leben? Sie bestehen, solange sie können. Wenn die Sonne schwindet, sterben sie . . .« – »Oder sie fliegen weg!« unterbrach ich sie. »Oder sie fliegen weg!« wiederholte sie mit einer Gleichgültigkeit, die selbst den Mann verstimmt hätte, der entschlossen gewesen wäre, die seltsame Gewalt zu gebrauchen, mit der sie ihn bekleidete. »Glaubst du, daß es einer Frau würdig sei, einem Mann Tugendbutterbrötchen zu reichen, um ihm so klarzumachen, daß sich Religion und Liebe nicht vertragen? Bin ich denn so gottlos? Entweder man gibt sich, oder man verweigert sich; aber sich verweigern und moralisieren, das heißt doppelte Qual bereiten; und das verstößt gegen Recht und Billigkeit aller Länder! Hier werden dir nur ausgezeichnete Sandwiches von der Hand deiner Dienerin Arabella zubereitet, deren ganze Moral darin besteht, Liebkosungen zu ersinnen, wie sie noch kein Mann erfahren hat und wie nur die Engel sie eingeben.«

Ich kenne nichts, was einen mürber macht, als der von einer Engländerin gehandhabte Scherz. Sie setzt ihren ganzen beredten Ernst und den Schein pomphafter Überzeugung daran, hinter dem Engländer die großen Albernheiten ihres vorurteilsreichen Lebens zu verbergen. Der französische Scherz gleicht einer Spitze, womit die Frauen die Freude, die sie geben, und die Neckereien, die sie ersinnen, schmücken; es ist ein geistiger Schmuck, anmutig wie ihre Toilette. Aber der englische Scherz ist eine Säure, die ihr Opfer so zersetzt, daß nur noch ein glattes und geschabtes Skelett übrigbleibt. Die Zunge einer geistreichen Engländerin gleicht der des Tigers, der das Fleisch bis auf die Knochen wegreißt, wenn er nur spielt. Der Spott ist die allmächtige Waffe des Teufels, der einem zugrinst: ›Ist das alles?‹ Spott läßt ein tödliches Gift in der Wunde zurück, die er mit Absicht schlug. In dieser Nacht wollte Arabella ihre Macht beweisen, wie ein Sultan, der, um sein Vermögen zu zeigen, sich den Scherz erlaubt, Unschuldigen die Köpfe abzuschlagen.

»Mein Engel«, sagte sie, als sie mich in den Halbschlaf gelullt hatte, wo man alles vergißt, ausgenommen das Glück, »auch ich habe eine Moral erfunden. Ich fragte mich, ob es wohl Sünde sei, dich zu lieben, ob ich damit gegen die göttlichen Gebote verstieße; und ich fand, daß es nichts Frömmeres oder Natürlicheres geben könne als meine Liebe. Warum sollte Gott Wesen erschaffen, die schöner sind als die andern, wenn nicht, um uns ein Zeichen zu geben, daß wir sie anbeten müssen? Ein Verbrechen wäre es, dich nicht zu lieben! Bist du nicht ein Engel? Jene Dame beleidigte dich, indem sie dich mit den übrigen Sterblichen verwechselt. Die Regeln der landläufigen Moral finden auf dich keine Anwendung. Gott hat dich über alles gestellt. Heißt dich lieben nicht: sich Gott nähern? Kann er es einer armen Frau verübeln, wenn sie sich nach dem Göttlichen sehnt? Dein großes, lichtes Herz gleicht so sehr dem Himmel, daß ich das Opfer einer Täuschung wurde, wie die Nachtfalter, die sich an den festlichen Kerzen verbrennen. Wird man sie für ihren Irrtum strafen? Oder besser: war es denn ein Irrtum? Bedeutet es nicht die hehre Anbetung des Lichts? Sie gehen an einem Übermaß von Frömmigkeit zugrunde, wenn es überhaupt ein ›Zugrundegehen‹ ist, sich dem, was man liebt, hinzugeben. Ich habe die Schwäche, dich zu lieben, während jene Frau die Kraft hat, sich in ihrer katholischen Kapelle zu verschanzen. Zieh die Stirn nicht kraus; du glaubst, ich nähme es ihr übel? Nicht im geringsten, mein Kleiner. Ich verehre ihre Tugend, die sie bewogen hat, dich freizugeben, und es mir so möglich machte, dich zu erobern, dich auf ewig festzuhalten. Denn du bist auf ewig mein! Nicht wahr?« – »Ja.« – »Auf ewig?« – »Ja.« – »Du begnadigst mich also – Sultan? Ich allein habe erraten, was du wert bist. Sie versteht den Landbau, sagst du. Ich überlasse diese Wissenschaft den Pächtern und bebaue lieber – dein Herz.«

Ich versuche, mir ihr berauschendes Geplauder ins Gedächtnis zurückzurufen, um Ihnen ein richtiges Bild von dieser Frau zu geben und zu rechtfertigen, was ich Ihnen von ihr gesagt habe, und um Ihnen so die Lösung des Konflikts verständlich zu machen. Aber wie soll ich Ihnen die hübsche Begleitung zu diesen Worten beschreiben? Es waren Ausgelassenheiten, die sich den erstaunlichsten Phantasien unserer Träume vergleichen ließen; manchmal Schöpfungen, die meinen Liebessträußen glichen: Anmut paarte sich mit Kraft; Zärtlichkeiten und ihre langsam weiche Wollust wechselten mit den vulkanischen Ausbrüchen jäher Leidenschaft. Bald waren es die raffiniertesten Klangfärbungen, die sie dem Konzert unserer Sinne entlockte; dann Verschlingungen wie die spielender Schlangen; endlich die einschmeichelndsten Reden, verträumt mit lachenden Gedanken, kurz, alles, was der Geist zur Erhöhung der Sinnesfreude erfinden kann. Durch die Blitzschläge ihrer stürmischen Liebe wollte sie in meinem Herzen die Eindrücke vernichten, die Henriettes keusche, andächtige Hingabe zurückgelassen hatte. Die Marquise hatte die Comtesse ebensogut gesehen, wie Madame de Mortsauf sie; beide hatten einander richtig beurteilt. Die Heftigkeit Arabellas zeigte mir den ganzen Umfang ihrer Besorgnis und ihre geheime Bewunderung für die Rivalin. Am nächsten Morgen waren ihre Augen voller Tränen, sie hatte nicht geschlafen.

»Was fehlt dir?« fragte ich. »Ich fürchte, meine übertriebene Liebe könnte mir schaden«, antwortete sie, »ich habe alles gegeben; jene Frau ist klüger als ich, sie besitzt etwas, was du noch begehren kannst. Wenn du sie mir vorziehst, so vergiß mich. Ich werde dich nicht mit meinen Leiden, meinen Gewissensbissen, meinen Qualen belästigen; nein, ich werde fern von dir sterben wie eine Pflanze, der die Sonne genommen ist.«

Es gelang ihr, mir Liebesbeteuerungen zu entreißen, die sie mit trunkener Freude erfüllten – und wahrlich, was soll man einer Frau sagen, die am Morgen weint! Wenn wir ihr am Abend vorher nicht widerstanden haben, müssen wir wohl oder übel am Tag darauf lügen; denn die männliche Moral macht in Liebesdingen aus der Lüge eine Pflicht.

»Gut – ich will großmütig sein«, sagte sie, ihre Tränen trocknend. »Kehre zu ihr zurück! Ich will dich nicht der Gewalt meiner Liebe, sondern deinem eigenen freien Willen zu verdanken haben. Wenn du zurückkommst, so werde ich erlauben, daß du mich ebensosehr liebst, wie ich dich liebe – was mir immer unmöglich schien.«

Sie überredete mich, nach Clochegourde zurückzukehren. Nur einem Manne, der wie ich vom Glück gesättigt war, konnte es entgehen, welche Torheit ich damit beging. Weigerte ich mich, nach Clochegourde zu gehen, so sprach ich Lady Dudley den Sieg über Henriette zu und mußte mich von ihr nach Paris entführen lassen. Andererseits – beleidigte ich nicht Madame de Mortsauf, indem ich zu ihr zurückkehrte? (Und in diesem Fall mußte ich nur noch sicherer zu Arabella zurückkehren!) Hat eine Frau jemals solche Verbrechen gegen die Liebe verziehen? Wenn sie nicht ein vom Himmel gestiegener Engel ist und mehr als die Liebe, die gen Himmel strebt, so muß eine liebende Frau es vorziehen, ihren Geliebten Todespein ausstehen zu sehen, als ihn mit einer andern glücklich zu wissen. Je mehr sie liebt, desto mehr muß sie sich verletzt fühlen. Deshalb begab ich mich, als ich Clochegourde verließ, um nach der Grenadière zu gehen, in eine Lage, der die eigentliche Liebe meiner Wahl nicht gewachsen war, die aber meiner zufälligen Liebe zugute kam. Die Marquise hatte alles sorgfältig berechnet, sie gestand mir später, daß sie, vor der Begegnung mit Madame de Mortsauf in der Heide, entschlossen gewesen sei, mich durch Streifzüge um Clochegourde zu kompromittieren.

Als ich die Comtesse begrüßte, die blaß und niedergeschlagen war, wie jemand, der eine schmerzvolle, schlaflose Nacht gehabt hat, da regte sich in mir plötzlich – nicht das Taktgefühl, aber der Spürsinn, der junge edle Herzen die ganze Tragweite der Handlungen erkennen läßt, die in den Augen der Masse gleichgültig, nach den Gesetzen großer Seelen aber verbrecherisch sind. Gleich einem Kinde, das spielend und blumenpflückend in den Abgrund geraten ist und mit Schaudern merkt, daß es ihm unmöglich sein wird, wieder herauszukommen, das zwischen sich und dem menschenbewohnten Land unüberwindliche Hindernisse sieht, sich bei hereinbrechender Nacht ganz einsam fühlt und wildes Geheul hört – solch einem Kinde gleich verstand ich alsbald, daß wir durch Welten voneinander getrennt waren. Ein großer Jammer schwoll in unser beider Seelen wie ein Widerhall des schauerlichen ›Consummatum est‹, das am Karfreitag in den Kirchen dröhnt, zu derselben Stunde, da der Heiland starb, und das junge Seelen eisig anpackt, denen die Religion eine erste Liebe ist. Alle Illusionen Henriettes waren mit einem Schlage erstorben; ihr Herz hatte eine Leidensgeschichte durchgemacht. Sie, die den Genuß immer scheu gemieden hatte, die nie in seinen betäubenden Umarmungen gelegen hatte: erriet sie heute die Wollüste erwiderter Liebe und wagte nicht, mich anzusehen? Denn sie entzog mir das Licht, das seit sechs Jahren mein Leben überstrahlte. Sie wußte also, daß die Quelle des Lichts, das in unsern Augen leuchtete, von unserer Seele gespeist war, daß die Blicke nur als Weg dienten, um einander seelisch zu durchdringen, um eins zu werden, sich wieder zu trennen und miteinander zu spielen, wie Frauen, die ohne Mißtrauen einander alles sagen. Ich empfand bitter meine Schuld, daß ich unter dieses Dach, wo die Sinnesfreude unbekannt war, mit einem Gesicht eintrat, auf dem die Flügel des Genusses ihren schillernden Staub zurückgelassen hatten. Wenn ich tags zuvor Lady Dudley allein hätte weggehen lassen, wenn ich nach Clochegourde zurückgekehrt wäre, wo Henriette mich vielleicht erwartete – vielleicht . . . nun ja: vielleicht hätte Madame de Mortsauf sich nicht so unerbittlich vorgenommen, nur noch meine Schwester zu sein. Aus allen ihren Liebenswürdigkeiten sprach ein übertriebener Kraftaufwand; sie zwang sich gewaltsam in ihre Rolle. Während des Frühstücks hatte sie tausend kleine Aufmerksamkeiten für mich, demütigende Aufmerksamkeiten, sie pflegte mich wie einen Kranken, den sie bemitleidete.

»Sie sind ja sehr früh spazierengegangen«, sagte der Comte. »Da müssen Sie wohl sehr hungrig sein, Sie, dessen Magen noch nicht ruiniert ist.«

Dieser Satz, der auf den Lippen der Comtesse nicht das Lächeln einer eingeweihten Schwester hervorrief, bewies mir vollends, wie unhaltbar und lächerlich meine Lage sei.

Ich konnte unmöglich meine Tage in Clochegourde und die Nächte in Saint-Cyr zubringen. Arabella hatte mit meinem Zartgefühl und mit der Seelengröße Madame de Mortsaufs gerechnet. Während dieses endlosen Tages fühlte ich, wie schwer es ist, der Freund einer Frau zu werden, die man lange begehrt hat. So einfach dieser Übergang ist, wenn die Jahre ihn vorbereitet haben – in der Jugend bedeutet er eine Krankheit. Ich schämte mich, ich fluchte der Wollust; ich wäre glücklich gewesen, wenn Madame de Mortsauf mein Blut gefordert hätte. Ich konnte ihre Rivalin nicht nach Herzenslust zerfleischen; sie mied es, von ihr zu sprechen, und Arabella zu verleumden, wäre eine Gemeinheit gewesen, die mich Henriette verächtlich gemacht hätte, weil sie bis in die geheimsten Falten ihres Herzens großzügig und edel war. Nach fünf Jahren trautesten, wohligsten Einvernehmens wußten wir uns nichts zu sagen; unsere Worte entsprachen nicht unsern Gedanken, wir versteckten einander unsere heftigen Schmerzen, während sonst das Unglück unser treuester Vermittler gewesen war. Henriette heuchelte Fröhlichkeit, für sich und für mich; aber sie war traurig. Obwohl sie fortwährend versicherte, daß sie meine Schwester sei, und obwohl sie ein Weib war, fand sie kein Mittel, unserer Unterhaltung aufzuhelfen, und wir verharrten lange in beklemmendem Schweigen. Sie vergrößerte meine innere Qual, indem sie zu glauben vorgab, sie sei das einzige Opfer dieser Lady.

»Ich leide mehr als Sie«, sagte ich in einem Augenblick, als der Schwester eine zu weibliche Ironie entschlüpfte. »Wieso?« antwortete sie in dem hoheitsvollen Ton, den Frauen annehmen, wenn man ihre Gefühle herabsetzen will. »Nun ja, das ganze Unrecht ist auf meiner Seite.«

Es kam ein Zeitpunkt, wo die Comtesse mir gegenüber einen kalten und gleichgültigen Ton anschlug, der mir das Herz zerriß. Ich beschloß, abzureisen. Abends auf der Terrasse sagte ich der versammelten Familie Lebewohl. Alle folgten mir bis zum Rasenplatz, wo mein Pferd ungeduldig stampfte, weshalb sie alle ein wenig zurückblieben. Als ich die Zügel ergriffen hatte, kam sie auf mich zu.

»Wir wollen ein Stückchen allein auf der Avenue zu Fuß gehen«, sagte sie.

Ich bot ihr meinen Arm, wir durchschritten langsam die Höfe, als freuten wir uns des gemeinsamen Rhythmus unserer Bewegungen, und kamen an eine Baumgruppe, die eine Ecke der äußern Umfriedigung ausfüllte.

»Leben Sie wohl, mein Freund!« sagte sie und stand still – und legte ihren Kopf an meine Brust und ihre Arme um meinen Hals. »Leben Sie wohl – wir werden einander nicht wiedersehen! Gott hat mir die traurige Gabe verliehen, die Zukunft zu schauen; erinnern Sie sich nicht des Schreckens, der mich eines Tages befiel, als Sie so schön, so jung wiederkamen und ich Sie mir den Rücken zuwenden sah, wie heute, wo Sie Clochegourde verlassen, um nach der Grenadière zu gehen? Nun, heute nacht habe ich abermals einen Blick in unser Geschick werfen können. Mein Freund, wir sprechen zum letztenmal miteinander. Ich werde Ihnen kaum mehr einige Worte sagen können, denn es wird nicht mehr mein ganzes Ich sein, das zu Ihnen spricht. Der Tod hat schon etwas in mir vernichtet. Sie werden meinen Kindern ihre Mutter genommen haben! Sie müssen sie ihnen ersetzen, Sie können es! Jacques und Madeleine lieben Sie, als hätten sie immer Ihretwegen gelitten.« – »Sterben?« sagte ich entsetzt, während ich sie anblickte und das trockene Feuer ihrer glänzenden Augen sah, von dem man allen, die es nicht bei ihren von dieser schrecklichen Krankheit befallenen Lieben gesehen haben, nur einen Begriff geben kann, wenn man ihre Augen mit polierten Silberkugeln vergleicht. »Sterben? . . . Henriette, ich befehle dir, zu leben! Du hast mir früher Gelübde abverlangt; heute fordere ich eins von dir: Schwöre mir, daß du Origet konsultieren und ihm in allem gehorchen willst . . .« – »Wollen Sie sich denn der göttlichen Güte widersetzen?« unterbrach sie mich mit dem Schrei der Verzweiflung, die sich empört, weil sie mißverstanden wird. – »Lieben Sie mich denn nicht genug, um mir blind in allem zu gehorchen, wie es jene elende Lady tut?« – »Ja, alles tu ich, was du willst!« rief sie, von einer Eifersucht getrieben, die sie in einem Augenblick alle Schranken niederreißen hieß, die sie selbst errichtet hatte. »Ich bleibe hier«, sagte ich und küßte sie auf die Augen.

Da erschrak sie. Sie riß sich entsetzt aus meiner Umarmung, und lehnte sich an einen Baum. Dann eilte sie dem Hause zu, ohne sich umzudrehen. Aber ich folgte ihr; sie weinte und betete. Am Rasenplatz ergriff ich ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll. Diese unerwartete Unterwürfigkeit rührte sie.

»Trotz allem immer dein!« sagte ich; »denn ich liebe dich, wie dich deine Tante liebte.«

Sie zuckte zusammen und drückte mir heftig die Hand.

»Einen Blick!« sagte ich, »noch einen unserer alten Blicke! – Die Frau, die sich ganz gibt«, rief ich aus, als ich das Licht ihrer Augen in meiner Seele fühlte, »gibt weniger Leben, als du soeben mir geschenkt hast! Henriette, du bist die meist – die einzig Geliebte!« – »Ich werde leben«, sagte sie, »aber auch Sie sollen Heilung suchen und finden!«

Dieser Blick hatte den Eindruck von Arabellas Sarkasmen verwischt. So war ich das Spielzeug der beiden unversöhnlichen Leidenschaften, die ich Ihnen geschildert habe und deren Einfluß ich abwechselnd unterworfen war. Ich liebte einen Engel und einen Dämon. Zwei gleich schöne Frauen, von denen die eine alle Tugenden besaß, die wir aus Wut über unsere Unvollkommenheit geißeln; die andere alle Laster, die wir aus Eigennutz in den Himmel heben. – Ich ging die Avenue hinunter und drehte mich von Zeit zu Zeit um. Madame de Mortsauf stand an den Baum gelehnt zwischen ihren Kindern, die mit den Taschentüchern winkten. Da war ich plötzlich stolz in meinem Herzen, weil ich mich als Herr über zwei so erhabene Geschicke fühlte; weil ich die Sonne – wenn auch nicht in gleicher Art – zweier so außergewöhnlicher Frauen war, daß ich so große Leidenschaften entflammt hatte, die unerwidert, tödlich gewesen wären. Für diese Anwandlung von Hochmut bin ich doppelt gestraft worden – glauben Sie mir! Ich weiß nicht, welcher böse Geist mir eingab, an Arabellas Seite den Augenblick abzuwarten, wo Verzweiflung oder der Tod des Comte mir Henriette zuführen würde; denn Henriette liebte mich noch: ihre Härten, ihre Tränen, ihre Gewissensbisse, ihre christliche Ergebung zeugten von einem Gefühl, das in ihrem wie in meinem Herzen unauslöschlich war. Während ich im Schritt durch die hübsche Avenue ritt und darüber nachdachte, war ich nicht mehr fünfundzwanzig, ich war fünfzig Jahre alt. Gerät der junge Mann nicht viel eher als die Frau in einem Augenblick vom dreißigsten ins sechzigste Lebensjahr? Umsonst versuchte ich, solche häßliche Gedanken zu verscheuchen. Sie ließen mich nicht los. Vielleicht waren sie in den Tuilerien, unter dem Deckgetäfel des königlichen Kabinetts, vorbereitet worden? Wer konnte dem ernüchternden Geist Ludwigs XVIII. widerstehen, der behauptete, daß man nur im reifen Alter wahre Leidenschaften haben könne, weil die Leidenschaft erst schön und wild sei, wenn ein Gefühl der Ohnmacht sich hineinmische, und weil man dann bei jedem Genuß dem Spieler bei seinem letzten Einsatze gleiche. Als ich am Ende der Avenue angelangt war, kehrte ich um und eilte blitzschnell zurück, weil ich Henriette noch immer, und allein, auf ihrem Platze stehen sah. Ich sagte ihr ein letztes Lebewohl, ich vergoß sühnende Tränen, deren Grund ihr verborgen blieb. Aufrichtige Tränen, die unbewußt jener ewig verlorenen schönen Liebe gelten, jenen jungfräulichen Erregungen, jenen Blumen, die im Leben nicht wieder blühen. Denn später gibt der Mann nicht mehr, er nimmt. Er liebt sich selbst in seiner Geliebten, während er in der Jugend seine Geliebte in sich liebte; später impfen wir der Frau, die uns liebt, unsern Geschmack, vielleicht unsere Laster ein – am Morgen des Lebens zwingt uns die Geliebte ihre Tugenden, ihre Zartheiten auf; lächelnd mahnt sie uns zum Schönen und lehrt uns durch ihr Beispiel, Opfer zu bringen. Wehe dem, der nicht seine Henriette gehabt hat! Wehe dem, der nicht eine Lady Dudley gekannt hat! Der eine wird, wenn er heiratet, seine Frau nicht festhalten können, den andern wird vielleicht seine Geliebte verlassen. Aber glücklich der, der jene beiden in einer Frau vereinigt findet – glücklich, Natalie, der Mann, der Sie liebt.

Wieder in Paris angelangt, verkehrten Arabella und ich intimer als vorher. Allmählich verzichteten wir beide auf die gesellschaftlichen Rücksichten, die ich früher beobachtet hatte und deren strenge Beobachtung die Gesellschaft oft veranlaßt, eine zweideutige Stellung wie die Arabellas zu entschuldigen, die Gesellschaft, die so gern über den bloßen Schein hinausdringen will, heißt ihn gut, sobald sie das Geheimnis kennt, das er verbirgt. Liebende, die gezwungen sind, in der großen Gesellschaft zu leben, werden immer unrecht daran tun, die Schranken umzustoßen, welche die Gesetzgebung des Salons aufrichtet; sie werden unrecht daran tun, nicht mit peinlichster Sorgfalt alle Äußerlichkeiten, die die Sitte verlangt, zu beachten, und zwar noch mehr ihretwegen als um der andern willen. Die zu überwindenden Schwierigkeiten, der äußerlich zu wahrende Respekt, das unerläßliche Komödienspielen und Verschleiern des Geheimnisses, diese ganze Kriegskunst einer glücklichen Liebe füllt das Leben aus, reizt die Begierde und schützt das Herz vor Abstumpfung durch die Gewohnheit. Aber jugendlich verschwenderisch, wie sie sind, holzen erste Leidenschaften ihre Wälder schonungslos ab, statt sie zu pflegen. Arabella ließ bürgerliche Vorurteile nicht gelten. Sie hatte sich ihnen nur mir zuliebe unterworfen. Dem Henker gleich, der im voraus seine Beute bezeichnet, um sie im geeigneten Augenblick an sich zu reißen, war sie bestrebt, mich vor ganz Paris bloßzustellen, damit ich ihr ganz überliefert werde. Auch wandte sie ihre ganze Koketterie auf, um mich in ihrem Hause festzuhalten; denn sie war mit ihrer eleganten Skandalgeschichte nicht zufrieden, die, da Beweise fehlten, nur zu leisem Flüstern hinter schützenden Fächern berechtigte. Als ich sie so glücklich sah, weil sie eine Unvorsichtigkeit begangen hatte, die über ihr Verhältnis zu mir keinen Zweifel bestehen ließ, wie hätte ich da nicht an ihre Liebe glauben sollen? Ich verzweifelte, weil ich in den Wonnen einer ungesetzmäßigen Ehe ertrunken war, weil ich mein Schicksal besiegelt sah, das den althergebrachten Anschauungen und den Lehren Henriettes ins Gesicht schlug. Von da an lebte ich in einer Art von Raserei, dem Schwindsüchtigen gleich, der, wenn er sein Ende nahen fühlt, nicht erlaubt, daß man auf sein Atmen horche. In meinem Herzen war ein geheimer Winkel, wo ich nicht ohne Schmerzgefühl Einkehr halten konnte; ein Rachegeist gab mir ohne Unterlaß Gedanken ein, die ich nicht auszudenken wagte. Meine Briefe an Henriette offenbarten ihr meine seelische Krankheit und schmerzten sie zutiefst. ›Mein Glück, das mit so vielen verlorenen Wonnen erkauft war, sollte wenigstens vollkommen sein‹, schrieb sie in der einzigen Antwort, die ich erhielt. Und ich war nicht glücklich! Liebe Natalie, Glück ist ein absoluter Wert, es kennt keine Vergleiche. Nachdem die erste Glut verraucht war, verglich ich die beiden Frauen miteinander; bis dahin hatte ich den Gegensatz noch nicht des nähern prüfen können. Jede große Leidenschaft übt einen so starken Druck auf unsere Natur aus, daß sie zunächst alle Unebenheiten unseres Wesens ausgleicht und die gewohnheitsmäßige Furche unserer guten und schlechten Eigenschaften ausfüllt. Aber später treten bei zwei Liebenden, die aufeinander eingelebt sind, die ursprünglichen Charakterzüge wieder hervor. Da fangen sie an, einander zu richten, und in dieser Gegenwirkung gegen die Leidenschaft entsteht oft ein entzweiendes Mißfallen: und das führen oberflächliche Leute ins Feld, wenn sie dem menschlichen Herzen Unbeständigkeit vorwerfen! Soweit waren wir nun. Arabellas verführerische Reize blendeten mich weniger, ich fing an, meine Genüsse gewissermaßen zu analysieren, und stellte, vielleicht ohne es zu wollen, Untersuchungen an, die zu Lady Dudleys Nachteil ausfielen. – Zunächst fand ich, daß ihr der Geist fehlte, der die Französin vor allen auszeichnet und sie zu der liebenswertesten Frau macht, nach Aussage aller, denen die Wechselfälle des Lebens es ermöglicht haben, die besondere Eigenart der Liebe in den verschiedenen Ländern zu erproben. Wenn die Französin liebt, ist sie wie umgewandelt; ihre vielberufene Gefallsucht stellt sie in den Dienst ihrer Liebe; ihre gefährliche Eitelkeit opfert sie und kennt keinen andern Ehrgeiz mehr als den, recht zu lieben. Die Interessen, Feindschaften und Freundschaften ihres Geliebten macht sie zu den ihren; im Handumdrehen erwirbt sie den erfahrenen Scharfblick des Geschäftsmannes, sie studiert das Gesetzbuch, erfaßt die Technik des Geldwesens und beherrscht die Kasse des Bankiers; sie, die von Haus aus fahrig und verschwenderisch ist, wird nicht mehr fehlgehen und kein Goldstück verschwenden. Sie wird zugleich Mutter, Erzieherin und Arzt, und all das mit einer leichten glücklichen Anmut, die bis ins kleinste hinein ihre unendliche Liebe atmet: sie vereinigt in sich die schätzenswertesten Vorzüge der Frauen aller Länder und verbindet diese Mischung durch ihren Geist, diese ganze französische Pflanze, die alles belebt, erlaubt, rechtfertigt und die Abwechslung in die Eintönigkeit eines Gefühls hineinträgt, das nur in einer Zeitform gern konjugiert wird. Die Französin liebt immer, ohne nachzulassen oder müde zu werden, in jedem Augenblick, gleichviel ob sie in Gesellschaft oder ob sie allein ist. In Gegenwart Fremder findet sie einen Tonfall, der nur in einem Ohr widerhallt; selbst ihr Schweigen ist beredt; sie weiß einen mit gesenkten Augen anzuschauen. Sind ihr gelegentlich einmal Wort- und Augensprache untersagt, so schreibt ihr Fuß ihre Gedanken in den Sand. Ist sie allein, so offenbart sie selbst im Traum ihre Leidenschaft; kurz, sie unterwirft ihrer Liebe die ganze Welt. Die Engländerin dagegen unterwirft der Welt ihre Liebe. Sie ist durch ihre Erziehung an eisige Zurückhaltung und das steif egoistische britische Wesen gewöhnt, von dem ich sprach; so ist es ihrem Herzen ein leichtes, sich mechanisch zu öffnen und zu schließen wie eine englische Maschine. Sie besitzt eine undurchdringliche Maske, die sie mit der größten Seelenruhe vorbindet oder ablegt. Leidenschaftlich wie eine Italienerin, wenn niemand sie sieht, wird sie vornehm kühl, sobald Leute zugegen sind. Da kommen dem angebetetsten Manne Zweifel an seiner Macht, wenn er die völlige Unbeweglichkeit ihrer Züge, die unerschütterliche Ruhe ihrer Stimme, die unbedingte Sicherheit des Auftretens wahrnimmt, die der Engländerin – außerhalb des Boudoirs! – eigen ist. In solchen Augenblicken grenzt die Verstellungskunst hart an Gleichgültigkeit, die Engländerin hat alles vergessen! Fürwahr, die Frau, die ihre Liebe wie ein Kleid ablegen kann, berechtigt zur Annahme, daß sie ihre Liebe auch ebensoleicht wechseln kann. Der Stolz des Mannes bäumt sich dagegen auf, die Frau ihre Liebe so aufzunehmen, unterbrechen und wieder aufnehmen zu sehen, als wäre sie weiter nichts als eine Stickerei! Diese Frauen sind zu sehr Herr über sich selbst, um einem ganz zu gehören; sie messen der Gesellschaft eine zu große Bedeutung bei, als daß unsere Herrschaft über sie vollkommen sein könnte. Wo die Französin den Geduldigen mit einem Blick vertröstet und ihrem Unwillen gegen Eindringlinge in hübschen Neckereien Luft macht, verharrt die Engländerin in tiefem Schweigen, das reizt und beleidigt. Diese Frauen haben so sehr die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit auf einem Piedestal zu stehen, daß die Allgewalt der Mode sich selbst auf ihre Freuden erstreckt. Wer die Zurückhaltung übertreibt, muß auch die Liebe übertreiben, so glauben wenigstens die Engländerinnen. Ihnen ist die Form alles, ohne daß die Liebe zur Form jedoch bei ihnen zum Kunstsinn wurde. Man kann sagen, was man will: der Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus erklärt den Gegensatz, der die Seele der Französin so hoch über die kühl berechnende Seele der Engländerin stellt. Der Protestantismus zweifelt, er untersucht und tötet den Glauben; er bedeutet also den Tod für die Kunst und die Liebe. Wo die Gesellschaft herrscht, müssen die Menschen, die ihr angehören, gehorchen; aber Liebende fliehen sie, ihnen ist sie unerträglich. Sie werden verstehen, wie tief ich mich gekränkt fühlte, als ich erkannte, daß Lady Dudley der Gesellschaft nicht entraten könne und daß ihr der echt englische Umschwung von einer Verfassung zur andern so geläufig sei. Sie brachte nicht etwa der Gesellschaft ein Opfer; nein, ihr Wesen offenbarte sich von selbst in zwei entgegengesetzten Gewohnheiten. Wenn sie liebte, kannte sie keine Grenzen; keine Frau aus irgendeinem Lande wäre ihr gleich gewesen, sie war ein ganzes Serail. Aber kaum war der Vorhang auf diese zauberische Traumszene gefallen, so verlor sie selbst die Erinnerung daran. Sie erwiderte keinen Blick, kein Lächeln; sie glich der Frau des Diplomaten, die Worte und Bewegungen schön abrunden muß; ihr Gleichmut machte mich ungeduldig, ihre Förmlichkeit schien mich zu verhöhnen. So drückte sie die Liebe auf den Standpunkt eines Bedürfnisses herab, statt sie durch die Begeisterung zum Ideal zu erheben. Sie äußerte weder Furcht noch Bedauern noch Begierde; aber zur bestimmten Zeit flammte ihre Zärtlichkeit wie ein jäh entfachtes Feuer auf und schien ihre Zurückhaltung Lügen zu strafen. Welcher von diesen beiden Frauen sollte ich glauben? Aus tausend Nadelstichen blutend, fühlte ich den gewaltigen Unterschied zwischen Henriette und Arabella . . . Wenn Madame de Mortsauf mich einen Augenblick allein ließ, schien sie der Luft den Auftrag zu geben, mich an sie zu erinnern; während sie fortging, sprachen die Falten ihres Kleides zu meinen Augen; wenn sie wiederkam, grüßte des Kleides weiches Rascheln fröhlich mein Ohr. Unendliche Zärtlichkeit lag in der Art, wie sie die Lider senkte, wenn sie zu Boden sah. Ihre wohllautende Stimme war eine ununterbrochene Liebkosung; ihre Gespräche entsprangen einem leitenden Gedanken, sie stimmte stets mit sich selbst überein; ihre Seele war nicht in zwei Welten gespalten, in eine von Feuer und eine von Eis . . . Kurz, Madame de Mortsauf setzte ihren Geist und ihr ganzes Feingefühl daran, ihre Gedanken zu äußern, sie hatte ihren Kindern und mir gegenüber eine Art geistiger Koketterie. Arabellas Verstand dagegen machte das Leben nicht angenehmer, sie brauchte ihn nicht zu meinen Gunsten, er war nur in der Gesellschaft und für die Gesellschaft vorhanden; sie war weiter nichts als spöttisch. Es machte ihr Spaß, zu zerfleischen, zu beißen, nicht um sich zu belustigen, sie folgte einfach einem Bedürfnis ihrer Natur. Madame de Mortsauf hätte ihr Glück keusch vor aller Blicken versteckt; Lady Arabella wollte ihres vor ganz Paris zur Schau tragen, und – seltsame Ironie! – sie blieb in den Grenzen der guten Sitte, während sie mit mir im Bois de Boulogne paradierte. Diese Mischung von Prahlerei und Würde, von Liebe und Kälte verletzte bald meine Leidenschaftlichkeit, bald meine Keuschheit; und da ich solch rasche Temperaturwechsel nicht vertragen konnte, litt meine Laune erheblich. Ich bebte noch vor Leidenschaft, während sie schon wieder ihre gemachte Zurückhaltung anlegte. Wenn ich mich erkühnte, mich – oh, mit wieviel rücksichtsvoller Schonung! – zu beklagen, so wandte sie ihre dreifach gewetzte Zunge gegen mich und bot mir eine Blütenlese aus prahlerischer Leidenschaftlichkeit und dem englischen ›Scherz‹, von dem ich Ihnen eine Probe gegeben habe. Sobald wir in etwas nicht übereinstimmten, war es ihr ein Fest, mein Herz zu kränken und meinen Verstand zu demütigen; sie knetete mich wie Teig. Wenn ich ihr vorhielt, daß man in allen Dingen maßhalten solle, verzerrte sie meine Gedanken und führte sie ad absurdum. Wenn ich ihre kühle Haltung tadelte, fragte sie, ob sie mich etwa im Theater vor ›tout Paris‹ küssen solle. Sie verpflichtete sich so ernstlich dazu, daß ich bei ihrer Sucht, von sich reden zu machen, fürchten mußte, sie werde ihr Versprechen halten. So wahr ihre Liebe im Grunde war, hatte sie nie etwas Andächtiges, Heiliges, Tiefes wie bei Henriette: sie war unersättlich wie sandiger Boden. Madame de Mortsauf verstand mich in jedem, dem kleinsten; im Tonfall oder im Blick erriet sie die Regungen meiner Seele; die Marquise ließen ein Blick, ein Händedruck, ein sanftes Wort durchaus kalt. Mehr noch: das Glück des Vorabends galt ihr am Tage nichts mehr; keinerlei Beweis von Zärtlichkeit rührte sie; sie hatte ein solches Bedürfnis nach Unruhe, Lärm, nach heftigen Aufregungen, daß wahrscheinlich nichts in dieser Beziehung an ihr Ideal heranreichte; daher ihre rasenden Liebesversuche. Bei dieser ganzen überspannten Liebeslaune dachte sie an sich, nicht an mich. Der Brief der Madame de Mortsauf war das Licht, das noch in meine Tage hineinstrahlte; er zeigte, wie sehr die tugendhafteste Frau dem innersten Wesen der Französin treu sein kann; er verriet ihre stete Wachsamkeit, ihr tiefes Verständnis für alle meine Geschicke; dieser Brief muß Ihnen bewiesen haben, wie liebevoll sich Henriette meiner materiellen Interessen, meiner politischen Beziehungen, meiner geistigen Errungenschaften annahm; mit welcher Innigkeit sie mein Leben, soweit es ihr erlaubt war, in ihren Gedankenkreis hineinzog. In all diesen Angelegenheiten verhielt sich Lady Dudley so gleichgültig wie nur eine Bekannte. Sie erkundigte sich niemals nach meinen Geschäften, meinem Vermögen, meiner Arbeit, nach den Schwierigkeiten meiner Laufbahn, meinen feindlichen oder freundschaftlichen Beziehungen zu andern Männern. Sie war verschwenderisch, ohne freigebig zu sein, und schied Liebe und Interessen wirklich zu sehr. Henriette, das weiß ich, ohne es erfahren zu haben, hätte für mich aufzubringen gewußt, wie sie für sich selbst nicht verlangte. In einer Katastrophe, wie sie oft die höchstgestellten und reichsten Männer ereilt – die Geschichte beweist es! –, hätte ich mich um Rat an Henriette gewandt; aber ich hätte mich lieber ins Gefängnis schleppen lassen, als Lady Dudley ein Wort zu sagen.

Soweit habe ich nun vom Gegensatz in den Gefühlen gesprochen; er zeigte sich aber auch in den Dingen des äußern Lebens. In Frankreich ist der Luxus eine Wesensäußerung; in ihm spiegeln sich persönliches Denken wider und selbständiges, künstlerisches Empfinden; er charakterisiert den Besitzer. Im Verkehr zweier Liebenden gibt er der kleinsten Einzelheit Wert, weil er ein Grundgedanke des geliebten Wesens ist. Aber der englische Luxus, dessen Überfeinerungen mich erst geblendet hatten, ist unpersönlich. Lady Dudley tat nichts von ihrem Wesen hinzu, die Diener machten ihn, er war gekauft. Die tausend zarten Aufmerksamkeiten, die in Clochegourde so angenehm berührten, waren in Arabellas Augen Sache der Dienerschaft; jeder Diener hatte seine Pflicht und sein Spezialgebiet. Ihrem Hausmeister lag es ob, die besten Lakaien zu wählen, genau als ob es sich um Pferde gehandelt hätte. Diese Frau trat ihren Leuten nie menschlich näher; der Tod des besten Dieners hätte sie nicht gerührt, denn um Geld konnte sie sich ja wieder einen gleich tüchtigen verschaffen. Was ihren Nächsten betraf, so habe ich nie in ihren Augen eine Träne des Mitleids für fremdes Unglück gesehen; ihre Selbstsucht war übrigens so naiv, daß man darüber lachen mußte. Die Purpurgewänder der großen Dame verhüllten ein bronzehartes Wesen. Allerdings, der reizenden Tänzerin, die sich abends auf dem Teppich rollte und all die klingenden Glöckchen ihres Liebestaumels schüttelte, der wurde es nicht schwer, einen jungen Mann mit der empfindungslosen, harten Engländerin auszusöhnen. Auch wurde mir nur ganz allmählich klar, daß ich meine Liebe auf den Stein gesät, wo sie keine Frucht tragen konnte. Madame de Mortsauf hatte dieses Wesen bei ihrer kurzen Begegnung sofort durchschaut; ich erinnerte mich ihrer prophetischen Worte. Henriette behielt in allem recht. Arabellas Liebe wurde mir unerträglich. Ich habe seitdem bemerkt, daß fast alle Frauen, die gut reiten, wenig Gemüt haben. Es fehlt ihnen, wie den Amazonen, die Brust; ihr Herz ist an irgendeiner Stelle verhärtet.

Ich begann Arabellas Liebe als drückendes Joch zu empfinden. Ich war körperlich und seelisch ermattet. Ich sah ein, wieviel Heiligkeit ein echtes Gefühl erst der Liebe verleiht; die Erinnerung an Clochegourde verfolgte mich; trotz der Entfernung atmete ich den Duft seiner Rosen, fühlte die wohlige Wärme seiner Terrasse, hörte das Schlagen der Nachtigallen, und im schrecklichen Augenblick, wo ich unter mir das steinige Bett des verrauschenden Gießbaches erblickte, da ward mir ein Schlag versetzt, der jetzt noch in meinem Leben widerhallt, denn zu jeder Stunde findet er ein Echo in mir. Ich arbeitete im Kabinett des Königs, der um vier Uhr ausgehen sollte; der Duc de Lenoncourt hatte den Hofdienst. Als er ihn eintreten sah, erkundigte sich der König nach dem Befinden der Comtesse. Ich warf jäh den Kopf zurück. Der König nahm Anstoß an dieser Bewegung und warf mir einen der Blicke zu, die gewöhnlich scharfe Verweise einleiteten, wie er sie so gut zu erteilen wußte.

»Majestät, meine Tochter liegt im Sterben«, antwortete der Duc. »Wollen Euer Majestät mir gütigst einen Urlaub gewähren?« sagte ich mit Tränen in der Stimme, ohne seines drohenden Zornes zu achten. »Eilen Sie, Mylord!« antwortete er und lächelte über die feinspöttische Spitze, die er jedem seiner Worte gab; so ersparte er mir, weil er geistreich sein konnte, einen Verweis.

Der Duc, der mehr Höfling als Vater war, bat nicht um Urlaub; er stieg in die königliche Karosse und begleitete den Herrscher. Ich brach auf, ohne Abschied von Lady Dudley zu nehmen: sie war zum Glück ausgegangen, und ich schrieb ihr, daß ich im Dienste des Königs verreist sei. An der Croix-de-Berny begegnete ich Seiner Majestät, die von Verrières zurückkam. Während der König einen Strauß, der ihm gereicht wurde, zu seinen Füßen hinfallen ließ, warf er mir einen erdrückenden Blick tiefster Ironie zu, der zu sagen schien: ›Wenn du es in der Politik zu etwas bringen willst, so komme bald zurück. Halte dich nicht dabei auf, mit den Toten zu parlamentieren!‹ Der Duc winkte mir melancholisch mit der Hand zu. Die zwei pomphaften achtspännigen Karossen, die goldbetreßten Obersten, in große Staubwirbel gehüllt, rasten an mir vorbei, während die Menge ›Vive le roi!‹ rief. Es war mir, als sei der Hof über die Leiche Madame de Mortsaufs hinweggesprengt, mit der Gefühllosigkeit, welche die Natur für unser Unglück übrig hat. Obwohl der Duc ein trefflicher Mann war, würde er wahrscheinlich, nachdem der König sich zurückgezogen hatte, eine Partie Whist mit dem Bruder des Königs spielen. Und die Duchesse – hatte längst den ersten Schlag gegen die Tochter geführt, indem sie ihr als einzige von Lady Dudley sprach.

Meine überstürzte Reise glich einem Traum, aber dem Traum eines glücklosen Spielers. Ich war verzweifelt darüber, keine Nachrichten erhalten zu haben. Hatte der Beichtvater die Strenge so weit getrieben, mir den Zutritt zu Clochegourde zu verweigern? Ich beschuldigte in meinem Innern Madeleine und Jacques, den Abbé de Dominis, alle, ja selbst Monsieur de Mortsauf. Hinter Tours, bei den Saint-Sauveur-Brücken, als ich den pappelgesäumten Weg nach Poncher einschlug, den ich früher auf meiner Suche nach meiner Unbekannten so sehr bewundert hatte, traf ich Monsieur Origet. Er erriet, daß ich nach Clochegourde ginge, ich, daß er von dort komme. Wir ließen jeder unsern Wagen halten und stiegen aus, ich, um Nachrichten einzuholen, er, um sie mir zu geben.

»Nun, wie geht es Madame de Mortsauf?« fragte ich. »Ich glaube nicht, daß Sie sie noch am Leben finden«, antwortete er. »Sie stirbt eines schrecklichen Todes, sie verhungert! Als sie mich im verflossenen Juni rufen ließ, konnte schon keine Kunst mehr die Krankheit bekämpfen. Sie wies die schrecklichen Symptome auf, die Monsieur de Mortsauf Ihnen wohl geschildert hat, weil er sich einbildete, sie selbst zu haben. Die Comtesse stand damals nicht unter dem vorübergehenden Einfluß einer durch innere Kämpfe hervorgerufenen Erschütterung, die der Arzt leiten und zum Bessern wenden kann; auch litt sie nicht an einer eben erst einsetzenden Krise, die sich wieder gutmachen läßt; nein, die Krankheit war schon auf einem Punkte angelangt, wo alle Kunst umsonst ist. Ihr Zustand ist die unabwendbare Folge eines tiefen Kummers, wie eine tödliche Wunde die Folge eines Dolchstiches ist. Ihr jetziger Zustand ist durch die Lähmung eines Organs hervorgerufen, dessen Funktionen für das Leben ebenso unentbehrlich sind wie die des Herzens. Der Kummer hat wie ein Dolchstich gewirkt. Glauben Sie mir: Madame de Mortsauf stirbt an einer verborgenen Seelenqual!« – »An einer verborgenen . . .?« sagte ich; »sind ihre Kinder nicht krank gewesen?« – »Nein«, sagte er und sah mich bedeutungsvoll an, »und seit ihr Leben ernstlich bedroht ist, hat Monsieur de Mortsauf sie nicht mehr gequält. Ich kann nichts mehr tun. Monsieur Deslandes aus Azay genügt; es gibt kein Heilmittel, und die Schmerzen sind furchtbar. Reich, jung und schön sein – und abgezehrt, vom Hunger gealtert sterben! Denn sie wird Hungers sterben. Seit vierzig Tagen ist ihr Magen wie verschlossen und weist jegliche Nahrung ab.«

Monsieur Origet drückte die Hand, die ich ihm reichte. Er hatte sie mit fast respektvoller Gebärde gefordert.

»Mut, Monsieur!« sagte er und wandte den Blick gen Himmel.

Seine Worte drückten Mitleid aus für Leiden, die er mit mir zu teilen glaubte; er ahnte nicht, daß er mir Gift gereicht hatte. Ich eilte in meinen Wagen und versprach dem Kutscher ein gutes Trinkgeld, wenn er rechtzeitig ankäme.

Trotz meiner Ungeduld glaubte ich den Weg in wenigen Minuten zurückzulegen, so sehr war ich in bittere Betrachtungen vertieft, die einander in meiner Seele jagten. Sie stirbt vor Kummer, und ihren Kindern geht es gut; sie stirbt durch meine Schuld! Mein strafendes Gewissen sprach mir die vernichtenden Urteile, die während des ganzen Lebens und manchmal darüber hinaus nachhallen. Welche Ohnmacht in der menschlichen Gerechtigkeit! Sie rächt nur offenkundige Vergehen. Weshalb trifft der Tod oder die Schmach den Mörder, der mit einem Schlage tötet, der uns großmütig im Schlafe überrascht und dem ewigen Schlummer überantwortet oder der unvermutet zuschlägt und einem den Todeskampf erspart? Warum ist ein glückliches Leben, warum die Achtung aller dem Mörder beschieden, der tropfenweise Gift in die Seele träufelt und das Leben langsam untergräbt, ehe er es ganz vernichtet? Wieviel ungerächte Morde, wieviel Nachsicht für elegante Verbrechen, wieviel Freisprechungen für den Totschlag, der durch seelische Verfolgung verursacht wird! Ich weiß nicht, welche rächende Hand plötzlich den bemalten Vorhang hob, der die Gesellschaft verdeckt. Ich sah in Gedanken verschiedene der Opfer, die Ihnen ebenso bekannt sind wie mir: Madame de Beauséant, die wenige Tage vor meiner Abreise sterbend in die Normandie zurückreiste! Die Duchesse de Langeais, die arme Verratene! Lady Brandon, die in der Touraine ankam und dort in dem schlichten Hause starb, wo Lady Dudley zwei Wochen weilte, getötet, Sie wissen, durch welch schreckliche Katastrophe! Unsere Zeit ist reich an solchen Beispielen. Wer kennt nicht die arme junge Frau, die sich vergiftet hat, weil die Eifersucht sie zwang, die vielleicht auch Madame de Mortsauf tötete! Wen hat das Geschick des reizenden jungen Mädchens nicht bewegt, das gleich einer vom vergifteten Insekt zerstochenen Blume in zweijähriger Ehe zugrunde gegangen ist als Opfer ihrer keuschen Unwissenheit, als Opfer eines Elenden, dem Ronquerolles, Montriveau, de Marsay die Hand reichen, weil er ihren politischen Plänen dient! Wer hat nicht gezittert bei dem Bericht von den letzten Augenblicken jener Frau, die keine Bitte zu beugen vermochte und die nie ihren Mann hat wiedersehen wollen, nachdem sie großmütig seine Schulden bezahlt hatte? Hat Madame d'Aiglemont nicht den Tod von nahem gesehen, und würde sie ohne die Fürsorge meines Bruders noch leben? Welt und Wissenschaft sind Mitwisser der Verbrechen, für die es keinen Gerichtshof gibt. Es scheint, als stürbe niemand an Kummer, an Verzweiflung, an Liebe, an verborgenem Elend, an vergeblich gehegten Hoffnungen, die immer wieder gepflanzt und dann entwurzelt werden. Die moderne Namengebung hat raffinierte Bezeichnungen, um alles zu erklären, wie ›gastrisches Fieber‹, ›Herzbeutelentzündung‹ und die tausend Frauenleiden, deren Namen man sich ins Ohr flüstert; das sind Freibriefe für die Särge, die von erheuchelten Tränen begleitet werden, Tränen, welche die Hand des Notars gar bald abwischt. Liegt solchem Unglück ein Gesetz zugrunde, das wir nicht kennen? Muß der Hundertjährige notgedrungen den Erdboden mit Leichen besät und ihn ringsum verödet haben, um sich selbst so hoch zu erheben, wie der Millionär sich die Arbeit von einer Unzahl von Kleinindustrien zunutze macht? Gibt es ein starkes giftiges Lebensprinzip, das sanfte und zarte Geschöpfe verschlingt? Gott, gehörte denn auch ich zu dieser Tigerrasse? Reue umklammerte mein Herz mit ihren brennenden Fingern, und meine Wangen waren von Tränen überronnen, als ich in die Avenue von Clochegourde einbog an einem regnerischen Oktobermorgen, der das welke Pappellaub von den Bäumen ablöste, die auf Henriettes Geheiß gepflanzt worden waren. O diese Allee, wo sie mit dem Taschentuch, gewinkt hatte, als wolle sie mich zurückrufen! Lebte sie noch? Würde ich ihre beiden weißen Hände auf meinem gebeugten Haupte ruhen fühlen? In einer Sekunde zahlte ich all die Freuden ab, die mir Lady Arabella gespendet hatte, und fand sie teuer erkauft. Ich schwor, sie nie wiederzusehen, und faßte einen Haß gegen ganz England. Obwohl Lady Dudley nur eine Abart des Typus war, schloß ich alle Engländerinnen in mein finsteres Gericht ein.

Als ich nach Clochegourde kam, erhielt ich einen neuen Schlag. Ich fand Jacques, Madeleine und den Abbé de Dominis am Fuß eines Holzkreuzes kniend, das in der Ecke eines Feldes stand und das bei der Anlegung eines neuen Gitters mit in die Umfriedigung hineingenommen worden war. Weder der Comte noch die Comtesse hatten das Kreuz entfernen wollen. Ich sprang aus meinem Wagen und eilte mit tränenüberströmtem Antlitz auf die Betenden zu; mein Herz stand still beim Anblick dieser beiden Kinder und des ernsten Geistlichen, die alle Gott anflehten. Der alte Vorreiter stand in einiger Entfernung mit entblößtem Haupt.

»Nun?« sagte ich zum Abbé de Dominis, während ich Jacques und Madeleine auf die Stirn küßte. Sie warfen mir einen kalten Blick zu, ohne ihr Gebet zu unterbrechen.

Der Abbé stand auf, ich stützte mich auf seinen Arm und fragte: »Lebt sie noch?« Er nickte bejahend voll sanfter Trauer. »Sprechen Sie, ich flehe Sie an, um unseres leidenden Heilandes willen! Warum beten Sie hier am Fuß des Kreuzes? Warum sind Sie nicht bei ihr? Warum sind die Kinder an einem so kalten Morgen draußen? Sagen Sie mir alles, damit ich nicht aus Unwissenheit ein Unglück anrichte!« – »Seit mehreren Tagen will die Comtesse ihre Kinder nur noch zu bestimmten Stunden sehen. Vielleicht«, fuhr er nach einer Pause fort, »sollten Sie einige Stunden warten, ehe Sie Madame de Mortsauf wiedersehen; sie ist sehr verändert! Aber man muß sie auf dieses Wiedersehen vorbereiten, Sie könnten ihre Schmerzen vermehren . . . Der Tod – der Tod wäre eine Wohltat für sie.«

Ich drückte die Hand dieses frommen Mannes, dessen Blick und Stimme fremde Wunden linderten, statt sie aufzureißen.

»Wir beten hier alle für sie«, fuhr er fort, »denn sie, die Heilige, die Ergebene, die Todesbereite, empfindet seit einigen Tagen ein geheimes Grauen vor dem Tode; sie wirft auf alle, die von Leben strotzen, zum ersten Mal Blicke, die finstere Gefühle des Neides verraten. Ihr Delirium rührt, glaube ich, weniger von Todesfurcht her als von einem innern Taumel, von den welken Blüten ihrer Jugend, die gärend verdorren. Ja, der Böse ringt mit dem Himmel um diese schöne Seele. Die Comtesse kämpft ihren Kampf im Garten Gethsemane; sie weint über die weißen Rosen, die ihr Haupt – wie das einer andern Jephthastochter – umkränzten und die, eine nach der andern, zur Erde gesunken sind. Warten Sie, zeigen Sie sich noch nicht! Sie brächten für sie etwas vom Glanz des Hofes mit; auf Ihren Zügen würde sie einen Abglanz weltlicher Feste sehen und in erneute Klagen ausbrechen. Haben Sie Mitleid mit einer Schwäche, wie sie Gott selbst seinem menschgewordenen Sohne verziehen hat . . . Was für ein Verdienst wäre es übrigens, ohne Gegner zu siegen? . . . Erlauben Sie, daß ihr Beichtvater oder ich, zwei verfallene Greise, deren Anblick sie nicht schmerzt, daß wir sie auf die unerwartete Begegnung mit Ihnen und auf Erregungen vorbereiten, die ihr der Abbé Birotteau untersagt hatte. Aber in allen Dingen dieser Welt läßt sich eine göttliche Fügung nachweisen, ein frommes Auge erkennt sie; und wenn Sie hierhergekommen sind, so hat Sie vielleicht einer der himmlischen Sterne geleitet, die in der geistlichen Welt strahlen und die zum Grabe wie zur Krippe führen.«

Er sagte mir, daß seit sechs Monaten die Leiden der Comtesse mit jedem Tage schlimmer würden, trotz der Bemühungen Origets. Zwei Monate lang war der Arzt jeden Abend nach Clochegourde gekommen, um dem Tod seine Beute zu entreißen; denn die Comtesse hatte gesagt: »Retten Sie mich!«

»Aber um den Leib zu heilen, hätte man erst das Herz gesund machen müssen!« hatte eines Tages der alte Arzt ausgerufen.

»Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto bitterer werden die Worte dieser sanften Frau«, sagte der Abbé de Dominis. »Sie schreit zur Erde, sie solle sie festhalten, statt zu Gott zu schreien, er möge sie zu sich nehmen. Dann bereut sie, gegen des Höchsten Beschlüsse gemurrt zu haben. Dieser Zwiespalt zerreißt ihr das Herz; es ist ein schrecklicher Kampf zwischen Fleisch und Geist, und oft siegt das Fleisch . . . ›Ihr kommt mir teuer zu stehen‹, hat sie eines Tages zu Madeleine und Jacques gesagt und sie von ihrem Lager weggestoßen. Aber im selben Augenblick führte mein Anblick sie zu Gott zurück, und sie sagte Mademoiselle Madeleine diese Engelsworte: ›Das Glück anderer wird die Freude derer, die selbst nicht mehr glücklich sein können‹ – und ihr Ton war so herzzerreißend, daß ich meine Augen feucht werden fühlte. Sie fällt, das ist wahr, aber nach jedem Fehltritt erhebt sie sich höher gen Himmel.«

Ich war niedergeschlagen von all diesen Hiobsposten, die das Geschick mir sandte und die in dieser großen Leidenssymphonie durch schmerzliche Modulationen zum Trauerthema, zum Schrei der sterbenden Liebe hinführten; ich rief aus: »Glauben Sie, daß diese schöne, abgemähte Lilie im Himmel neu erblühen wird?« – »Sie haben sie noch als Blume hier verlassen«, antwortete er, »aber Sie werden sie wiederfinden – verzehrt, im Feuer der Leiden gereinigt und licht wie ein Diamant, der in der Asche vergraben ist. Ja, dieser leuchtende Geist, dieser himmlische Stern wird strahlend aus den Wolken hervortreten und ins Reich des Lichts eingehen.«

Ich drückte diesem Gottesmann die Hand, mein Herz floß über von Dankbarkeit. Da streckte der Comte sein völlig weißes Haupt zum Fenster heraus. Er kam überrascht auf mich zugeeilt.

»Sie hat wahr gesprochen! Da ist er! – ›Felix, Felix, da kommt Felix!‹ hat Madame de Mortsauf geschrien . . . Mein Freund«, sagte er mit schreckenswirrem Blick, »der Tod ist da. Warum hat er nicht einen alten Narren wie mich gepackt, den er doch schon verwüstet hatte?«

Ich ging auf das Schloß zu und raffte meine ganze Kraft zusammen. Aber auf der Schwelle des langen Flurs, der vom Rasenplatz durch das ganze Haus bis zur Freitreppe führte, paßte mich der Abbé Birotteau ab: »Die Comtesse bittet Sie, ein wenig zu warten«, sagte er.

Ich blickte um mich und sah die Leute kommen und gehen, alle geschäftig, schmerztrunken und auch wohl überrascht über die Befehle, die Manette ihnen erteilte.

»Was gibt's?« fragte der Comte, über den Trubel erschreckt, einmal aus Furcht vor dem traurigen Ereignis, dann auch aus angeborener Ängstlichkeit. »Die Laune einer Kranken«, antwortete der Abbé. »Madame la Comtesse will Monsieur le Vicomte so nicht empfangen. Sie spricht von Toilette machen: wozu sich ihr widersetzen?«

Manette holte Madeleine, und wir sahen das junge Mädchen einige Augenblicke, nachdem sie eingetreten war, wieder herauskommen. Wir fünf, Jacques und sein Vater, die beiden Abbés und ich, gingen schweigend auf dem Rasenplatz auf und ab, am Haus entlang und noch weiter hinaus. Ich blickte nach Montbazon und Azay hinüber, sah das herbstliche Tal, dessen Trauergewand jetzt wie bei jeder Gelegenheit meinen innersten Gefühlen entsprach. Plötzlich bemerkte ich die liebe Kleine, die nach den letzten Herbstblumen suchte und sie pflückte, wahrscheinlich um Sträuße zu winden. Als ich bedachte, was diese Antwort auf meine Liebesbemühungen zu bedeuten habe, fühlte ich mich zutiefst erschüttert. Ich schwankte, mein Blick verschleierte sich, und die beiden Abbés, die neben mir her gingen, trugen mich an den Rand einer Terrasse, wo ich einige Augenblicke wie gebrochen, aber nicht völlig besinnungslos liegenblieb.

»Armer Felix!« sagte der Comte. »Sie hatte verboten, Ihnen zu schreiben. Sie weiß wohl, wie lieb Sie sie haben.«

Obwohl ich mich auf alles gefaßt gemacht hatte, war meine Kraft bei einer kleinen Aufmerksamkeit zusammengebrochen, die alle meine Glückserinnerungen zusammenfaßte.

›Da ist nun‹, dachte ich, ›diese Heide, dürr wie ein Skelett, von grauem Licht erhellt; in ihrer Mitte steht ein einsamer Blütenbusch, den ich früher auf meinen Gängen nicht ohne unheilahnendes Beben bewunderte.‹ – Das ist das Bild dieser düstern Stunde. Alles war unheimlich in dem ehemals so lebendigen, so heitern kleinen Herrensitz; alles weinte, alles zeugte von Verzweiflung und Verlassenheit. Die Alleen waren nur halb geharkt, die begonnenen Arbeiten waren liegengeblieben, die Arbeiter starrten nach dem Schlosse hin. Obwohl es Weinlesezeit war, hörte man weder Lärm noch Stimmengewirr; die Weinberge schienen leer zu stehen, so tief war das Schweigen. Wir gingen umher wie Menschen, deren Schmerz zu tief ist, als daß sie gleichgültige Worte sprächen; wir hörten dem Comte zu, dem einzigen, der zu reden vermochte. Nach wenigen Sätzen, welche die Gewohnheitsliebe zu seiner Frau ihm eingab, kam er bald, einem natürlichen Hange folgend, dahin, sich über die Comtesse zu beklagen: Seine Frau habe sich nie pflegen und nie auf seinen guten Rat hören wollen. Er habe zuerst die Symptome der Krankheit festgestellt, denn er habe sie an sich selbst studiert und bekämpft und sei ganz von selbst gesund geworden, ohne andere Hilfsmittel als gute Diät und Vermeidung jeder heftigen Erregung. Er hätte wohl auch die Comtesse heilen können, aber ein Ehemann dürfe solche Verantwortung nicht auf sich nehmen, besonders wenn er seine Erfahrung in jeder Hinsicht leider verschmäht sähe. Trotz seiner Vorstellungen habe die Comtesse Monsieur Origet kommen lassen; Origet, der ihn selbst seinerzeit so schlecht gepflegt habe, töte ihm jetzt seine Frau. Wenn diese Krankheit, wie man behaupte, durch übermäßige Sorgen verursacht sei, so hätte er viel mehr Grund, sie zu haben; denn was wären wohl die Sorgen seiner Frau? Die Comtesse sei glücklich und kenne weder Leid noch Schwierigkeiten. Die Vermögensverhältnisse seien dank seiner Bemühungen und seiner genialen Ideen durchaus befriedigend; auch lasse er Madame de Mortsauf in Clochegourde regieren. Seine Kinder seien wohlerzogen und gesund und gäben keinerlei Grund mehr zu Beängstigungen . . . Woher könne das Übel denn wohl kommen? – Und er diskutierte und äußerte abwechselnd tiefste Verzweiflung und lächerliche Beschuldigungen. Bald aber rief eine Erinnerung in ihm die Bewunderung wach, die seine edle Frau verdiente: ein paar Tränen quollen aus seinen Augen, die so lange trocken geblieben waren.

Madeleine brachte mir die Nachricht, daß ihre Mutter mich erwarte. Der Abbé Birotteau folgte mir. Das ernste junge Mädchen blieb bei ihrem Vater und sagte, die Comtesse wünsche mit mir allein zu sein, weil sie die Gegenwart mehrerer Personen zu sehr ermüden würde. Die Feierlichkeit dieses Augenblicks erzeugte in mir die Empfindung von innerer Glut und äußerer Kälte, die uns in den wichtigsten Augenblicken des Lebens niederdrückt. Der Abbé Birotteau, einer der Menschen, die Gott liebhat, die er mit Sanftmut und Einfalt, Geduld und Milde kleidet, nahm mich beiseite.

»Monsieur«, sagte er, »Sie müssen wissen, daß ich mein Menschenmögliches getan habe, um diese Zusammenkunft zu verhindern. Das Seelenheil dieser Heiligen verlangte es; ich habe nur an die Comtesse, nicht an Sie gedacht. Jetzt, wo Sie die Frau wiedersehen werden, zu der Ihnen der Zutritt von den Engeln hätte verwehrt werden sollen, jetzt werde ich mich zwischen Sie beide stellen, um Madame de Mortsauf gegen Sie und vielleicht gegen sich selbst zu verteidigen. Ehren Sie ihre Schwäche! Ich bitte Sie um Mitleid für sie, nicht als Priester, sondern als bescheidener Freund, von dem Sie nicht wußten und der Ihnen Gewissensbisse ersparen möchte. Unsere liebe Kranke stirbt tatsächlich vor Hunger und Durst. Seit heute morgen ist sie die Beute einer fieberischen Erregung, wie sie diesem schrecklichen Tode vorangeht, und ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß sie zäh am Leben hängt. Der Schrei ihres empörten Fleisches erstirbt in meinem Herzen, wo er ein sanftes Echo von früher weckt; aber Abbé de Dominis und ich haben die heilige Pflicht übernommen, der edlen Familie das Schauspiel dieses Todeskampfes zu ersparen. Sie alle erkennen ihren Morgen- und Abendstern nicht mehr, der Gatte, die Kinder, die Diener – alle fragen: ›Wo ist sie?‹ – so sehr hat sie sich verändert. Bei Ihrem Anblick werden die Klagen von neuem beginnen. Unterdrücken Sie alle weltlichen Gedanken! Verzichten Sie auf die Eitelkeiten des Herzens! Seien Sie an der Comtesse Lager ein Bundesgenosse des Himmels! Diese Heilige darf nicht in einer Stunde des Zweifels sterben, mit Worten der Empörung auf den Lippen dahinscheiden.«

Ich antwortete nicht. Mein Schweigen beunruhigte den armen Beichtvater. Ich sah, ich hörte, ich ging – und war doch nicht mehr auf dieser Erde. Die Frage: ›Was ist denn geschehen? Wie werde ich sie wiedersehen, da mich jedermann so vorsichtig vorbereitet?‹ – diese Frage weckte in mir doppelt grausame, weil unklare Befürchtungen; sie umfaßte die Gesamtheit meiner Schmerzen. Wir kamen an die Tür des Zimmers, die der Beichtvater ängstlich öffnete. Da sah ich nun Henriette in weißem Kleide, auf ihrem kleinen Sofa sitzend, vor dem Kamin, den zwei große Blumensträuße schmückten. Blumen auch auf dem Tischchen vor dem Fenster. Der grenzenlos erstaunte Ausdruck des Abbé Birotteau, als er diesen festlichen Schmuck und die Veränderung des Zimmers sah, das plötzlich sein früheres Aussehen wiedergewonnen hatte, ließ mich erraten, daß die Sterbende die ganze traurige Szenerie eines Krankenlagers aus ihrem Zimmer verbannt hatte. Sie hatte ihre letzte Lebenskraft aufgewendet, das unordentliche Zimmer instand zu setzen, um den würdig zu empfangen, den sie jetzt über alles liebte. In einer Flut von Spitzen erschien ihr abgemagertes Gesicht, das die grünliche Blässe einer Magnolienblüte hatte, wie auf einer gelben Leinwand die ersten Umrisse der Kreidezeichnung eines geliebten Antlitzes; aber um nachfühlen zu können, wie tief sich die Geierklaue in mein Herz einbohrte, müssen Sie sich in dieser Skizze die Augen völlig ausgeführt und voller Leben denken; es waren tiefliegende Augen, die in dem erloschenen Gesicht in ungewohntem Glanze leuchteten. Sie besaß nicht mehr die ruhige Majestät, die ihr sonst stets der über Leiden davongetragene Sieg verlieh. Ihre Stirn, der einzige Teil des Gesichts, der seine schöne Form bewahrt hatte, zeugte von kampflustiger Kühnheit und verhaltenen Drohungen. Trotz der Wachstöne ihres schmalen Gesichts strahlte es eine innere Glut aus, dem flüchtigen Goldschimmer vergleichbar, der an heißen Tagen über den Feldern schwebt, Ihre hohlen Schläfen, ihre eingefallenen Wangen zeigten den Knochenbau ihres Kopfes, und das Lächeln der weißen Lippen glich entfernt dem Grinsen des Todes. Das auf der Brust überkreuzte Kleid verriet die Magerkeit ihrer einst so schönen Büste. Ihr Gesichtsausdruck sagte genug: sie wußte, daß sie verändert war; es war Verzweiflung in ihrem Blick. Das war nicht mehr meine liebreizende Henriette noch die erhabene und heilige Madame de Mortsauf. Sie schien nur hoch das namenlose Etwas, von dem Bossuet spricht, das mit dem Nichts rang und das Hunger und getäuschte Hoffnungen in den Verzweiflungskampf gegen den Tod trieben. Sie erriet meine schmerzliche Überraschung, gerade weil ich mich bemühte, sie zu verbergen. Ihre farblosen Lippen verzogen sich über ihren hungrigen Zähnen zu einem erzwungenen Lächeln, wie es die Ironie der Rache, die Erwartung der Freude, die Trunkenheit der Seele und die Wut der Enttäuschung findet.

»Das ist mein Tod, mein armer Felix«, sagte sie, »und Sie lieben den Tod nicht. Der schreckliche Tod! Der Tod, vor dem jedes Geschöpf, selbst der unerschrockenste Liebhaber zurückbebt! Hier hört die Liebe auf, ich wußte es wohl. Lady Dudley wird Sie nie über ihr verändertes Aussehen erstaunt sehen. Ach, warum habe ich Sie so sehr herbeigesehnt, Felix – nun sind Sie endlich gekommen, und ich lohne Ihnen dieses Opfer mit dem furchtbaren Schauspiel, das den Comte de Rancé zum Trappisten machte – ich, die ich doch in Ihrer Erinnerung schön und groß bleiben wollte, die ich wie eine unverwelkliche Lilie dort leben wollte . . . Ich nehme Ihnen Ihren Traum. Wahre Liebe berechnet nicht; aber fliehen Sie nicht, bleiben Sie! Monsieur Origet hat mich heute morgen viel wohler gefunden; ich werde zum Leben zurückkehren, ich werde unter Ihren Blicken gesunden. Und wenn ich erst ein wenig gekräftigt bin und etwas Nahrung zu mir nehmen kann, werde ich wieder schön; ich bin ja kaum fünfunddreißig Jahre alt, ich kann noch viele schöne Jahre verleben. Das Glück macht wieder jung, ich will das Glück kennen! Ich habe wonnige Pläne geschmiedet. Wir lassen sie hier in Clochegourde und reisen zusammen nach Italien.«

Tränen traten in meine Augen, ich wandte mich zum Fenster, als wollte ich die Blumen bewundern. Der Abbé Birotteau stürzte auf mich zu und beugte sich über den Strauß. »Keine Tränen!« flüsterte er mir ins Ohr.

»Henriette, lieben Sie denn unser schönes Tal nicht mehr?« sagte ich, um meine unvermittelte Bewegung zu begründen. »Doch!« antwortete sie und führte mit einer kosenden Bewegung ihre Stirn an meine Lippen, »aber ohne Sie ist es mir verderblich . . . Ohne dich!« verbesserte sie sich und streifte meine Ohren mit ihren heißen Lippen, um die zwei Worte wie zwei Seufzer hineinzuhauchen.

Ich war entsetzt über diese leidenschaftliche Liebkosung, die den schrecklichen Reden der beiden Abbés recht gab. In diesem Augenblick zerrann mein Staunen, ich konnte wieder klar denken; aber mein Wille war nicht stark genug, um das nervöse Zucken zu unterdrücken, das mich während dieser ganzen Szene nicht verließ. Ich hörte hin, ohne zu antworten, oder vielmehr: ich antwortete mit einem starren Lächeln und beifälligem Nicken, um sie nicht zu reizen. Ich ging mit ihr um wie eine Mutter mit ihrem Kind. Nachdem mir die Wandlung in ihrem Wesen aufgefallen war, bemerkte ich, daß die Frau, die früher so hoheitsvoll und erhaben war, in ihrem Verhalten, in ihrer Stimme, ihrem Benehmen, ihren Blicken, in Worten und Gedanken die naive Unwissenheit eines Kindes äußerte, seine unschuldige Anmut, seinen Drang nach Bewegung und seine tiefe Sorglosigkeit gegen alles, was nicht sein Begehren oder es selbst ist, kurz, alle Schwächen, die das Kind dem Schutz der Erwachsenen empfehlen. Ist es bei allen Sterbenden so? Legen sie alle die gesellschaftlichen Verkleidungen ab, die das Kind noch nicht angelegt hat? Oder ließ die Comtesse am Rande der Ewigkeit von allen menschlichen Gefühlen nur noch die Liebe gelten, und drückte sie wie Chloe deren sanfte Unschuld aus?

»Wie früher werden Sie mich der Gesundheit zurückgewinnen, Felix, und mein Tal wird mir wohltun. Wie sollte ich das nicht essen, was Sie mir reichen! Sie sind ein so guter Krankenpfleger, und dann sind Sie so strotzend von Kraft und Gesundheit, daß Ihre Lebenswucht ansteckend wirken muß. Mein Freund, beweisen Sie mir doch, daß ich nicht sterben kann; nicht, um alles betrogen; sterben kann! Sie glauben alle, daß der Durst mir die heftigsten Schmerzen verursache; o ja, ich leide brennenden Durst, mein Freund, es tut mir weh, das Wasser der Indre zu sehen; aber mein Herz ist von brennenderem Durst verzehrt: mich dürstet nach dir!« sagte sie mit erstickter Stimme und nahm meine Hände in die ihren, glühenden, und zog mich an sich, um mir diese Worte ins Ohr zu flüstern. »Meine Todespein war, dich nicht zu sehen! Hast du mir nicht befohlen, zu leben? Ich will auch reiten lernen, ich will alles kennen: Paris, Feste, Freuden!«

Ach, Natalie! dieser jammervolle Schrei, den die Grobheit der Sinne aus der Entfernung kalt erscheinen läßt, gellte in des alten Priesters und meinen Ohren: der Klang dieser herrlichen Stimme malte die Kämpfe eines ganzen Lebens, die Seelenpein einer wahren, getäuschten Liebe. Die Comtesse stand ungeduldig auf, wie ein Kind, das nach einem Spielzeug verlangt. Als der Beichtvater sein Beichtkind in diesem Zustande sah, fiel der arme Mann plötzlich auf die Knie, faltete die Hände und murmelte Gebete.

»Ja, leben!« sagte sie und hieß mich aufstehen, um sich auf mich zu stützen, »von Wirklichkeiten, nicht von Lügen leben! Alles in meinem Leben war Lüge! Ich habe sie in den letzten Tagen gezählt, diese Betrügereien. Ist es möglich, daß ich sterbe, ich, die ich nie gelebt habe? Ich, die ich nie jemanden iri der Heide abgeholt habe!« Sie hielt inne, schien zu lauschen und spürte durch die Wände irgendeinen Geruch. »Felix, die Winzerinnen essen jetzt, und ich, ich, die Herrin«, sagte sie mit Kinderstimme, »ich leide Hunger. So ist es auch mit der Liebe. Die dort sind glücklich.« – »Kyrie eleison!« sagte der arme Abbe, der mit gefalteten Händen, den Blick nach oben gerichtet, seine Litaneien betete.

Sie warf ihre Arme um meinen Hals, küßte mich leidenschaftlich, preßte mich an sich und sagte: »Sie entrinnen mir nicht mehr. Ich will geliebt sein! Ich werde Torheiten begehen wie Lady Dudley. Ich werde Englisch lernen, um recht gut ›My Dee‹ sagen zu können.«

Sie nickte mir mit dem Kopf zu, wie früher, wenn sie mich allein ließ und mir bedeuten wollte, daß sie gleich wiederkäme.

»Wir essen zusammen«, sagte sie. »Ich will Manette benachrichtigen . . .« Ein Ohnmachtsanfall unterbrach sie; ich legte sie völlig angekleidet aufs Bett. »Sie haben mich schon einmal so getragen«, sagte sie, als sie die Augen aufschlug. Sie war sehr leicht, aber vor allem sehr fieberisch. Während ich sie trug, fühlte ich, daß ihr ganzer Körper glühte. Monsieur Deslandes trat ein und war erstaunt, das Zimmer so geschmückt zu finden; aber mein Anblick schien ihm alles zu erklären. »Man leidet viel, bis man stirbt«, sagte sie mit veränderter Stimme.

Er setzte sich, befühlte den Puls der Kranken, stand rasch auf, sprach leise zum Priester und ging hinaus. Ich folgte ihm.

»Was wollen Sie tun?« fragte ich. »Ihr einen furchtbaren Todeskampf ersparen«, sagte er. »Wer hätte so viel Zähigkeit erwarten können? Daß sie überhaupt noch lebt, können wir uns nur durch die Art, wie sie immer gelebt hat, erklären. Das ist der einundzwanzigste Tag, daß die Comtesse weder gegessen noch getrunken, noch geschlafen hat.«

Monsieur Deslandes rief Manette, der Abbé Birotteau führte mich in den Garten.

»Wir wollen den Arzt handeln lassen«, sagte er. »Mit Manettes Hilfe wird er sie in einen Opiumrausch hüllen . . . Nun, Sie haben es gehört . . . wenn man sie überhaupt für diese Wahnsinnsregungen verantwortlich machen kann.«

»Nein«, sagte ich, »das ist sie nicht mehr.«

Ich war vor Schmerz ganz verblödet, mit jedem Augenblick nahmen die Einzelheiten dieser Szene größere Dimensionen an. Ich lief durch die kleine untere Tür der Terrasse und setzte mich in das Boot, um mich zu verbergen und allein an meinen Gedanken zu zehren. Ich suchte mich loszureißen von der Kraft, die doch mein Leben selbst war: ein Martyrium, das dem gleicht, das Tataren über Ehebrecher verhängen: Sie legen ein Glied des Schuldigen in einen Stock und geben ihm ein Messer. Er muß es abschneiden, wenn er nicht verhungern will. Mein Leben war verfehlt. Die Verzweiflung gab mir die widersinnigsten Gedanken ein. Bald wollte ich mit ihr sterben, bald mich in der Meilleraye, einem neugegründeten Trappistenkloster, einschließen. Mein getrübter Blick sah die äußern Dinge nicht mehr; ich betrachtete die Fenster des Zimmers, wo Henriette litt, und glaubte das Licht zu sehen, das in der Nacht leuchtete, wo ich mich ihr verlobte. Hätte ich nicht das einfache Leben führen sollen, das sie mir geraten hatte, mich in meiner politischen Arbeit ihr bewahren sollen? Hatte sie mir nicht befohlen, ein großer Mann zu werden, um mich vor niedern und schmählichen Leidenschaften zu schützen, die ich nun, wie alle Männer, kosten mußte? War Keuschheit nicht eine vornehme Auszeichnung, die ich mir nicht zu bewahren gewußt hatte? Die Liebe, wie sie Arabella verstand, widerte mich an. Als ich gerade mein gebeugtes Haupt erhob und mich fragte, woher mir in Zukunft Licht und Hoffnung kommen sollten, welches Interesse ich noch am Leben hätte, zitterte plötzlich ein leises Geräusch durch die Luft; ich wandte mich zur Terrasse und sah dort Madeleine allein langsamen Schrittes auf und ab gehen. Ich ging hinauf, um das liebe Kind zu fragen, weshalb sie mich am Fuß des Kreuzes so kalt angeblickt hätte. Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt. Als sie mich auf sich zukommen sah, stand sie auf und tat, als ob sie mich nicht bemerkt hätte; sie wollte nicht mit mir allein sein. Ihr Gang. war eilig, er sagte genug.

Sie haßte mich. Sie floh den Mörder ihrer Mutter. Als ich über die Terrassen nach Clochegourde zurückkam, sah ich Madeleine wie eine Statue unbeweglich stehen und auf den Hall meiner Schritte lauschen. Jacques saß auf einer Stufe, und seine Haltung bekundete dieselbe Gleichgültigkeit, die mir schon bei unsern gemeinsamen Spaziergängen aufgefallen war und mir Gedanken nahegelegt hatte, wie man sie zunächst in einen Winkel der Seele zurückdrängt, um sie dann später hervorzuholen und in aller Ruhe zu erforschen. Ich habe bemerkt, daß junge Leute, die den Keim des Todes in sich tragen, gegen Sterbeszenen unempfindlich sind. Ich wollte diese verschlossene Seele befragen. Hatte Madeleine ihre Gedanken für sich behalten, hatte sie ihren Haß auf Jacques übertragen?

»Du weißt«, sagte ich, um eine Unterhaltung einzuleiten, »daß du an mir den treuesten aller Brüder hast.« – »Ihre Freundschaft ist mir nutzlos, ich werde meiner Mutter folgen«, sagte er und warf mir einen schmerzscheuen Blick zu. »Jacques!« rief ich, »auch du?« Er hustete, entfernte sich von mir, und als er wiederkam, zeigte er mir sein blutiges Taschentuch. »Verstehen Sie das?« sagte er.

So hatte jeder von ihnen sein tragisches Geheimnis. Später bemerkte ich, daß Bruder und Schwester einander auswichen, Kaum war Henriette tot, so fiel in Clochegourde alles in sich zusammen.

»Madame schläft!« verkündete Manette, beglückt, daß die Comtesse nicht mehr litt.

In solch schrecklichen Augenblicken, deren unvermeidliches Ende jedermann absehen kann, wird man unzurechnungsfähig. Man glaubt an jeden Schimmer, der Hoffnung verspricht. Minuten sind Jahrhunderte, die man möglichst angenehm ausfüllen möchte. Man wünscht, die Kranken könnten auf Rosen ruhen, man möchte ihre Leiden auf sich nehmen und fleht, daß sie von ihrem letzten Seufzer nichts wissen.

»Monsieur Deslandes hat die Blumen entfernen lassen, weil sie zu stark auf Madames Nerven wirkten«, sagte Manette.

So hatten denn die Blumen ihr Delirium verschuldet, sie war nicht verantwortlich dafür. Das Liebesleben der Natur; die Feier der Befruchtung, die Liebkosungen der Pflanzen hatten sie mit ihren Düften berauscht und hatten wahrscheinlich in ihr die Tränen glücklicher Liebe geweckt, die seit Henriettes Jugend warteten, daß sie vergossen würden.

»Kommen Sie doch, Monsieur Felix«, sagte Manette, »sehen Sie Madame an, sie ist engelschön!«

Ich trat ins Zimmer der Sterbenden, als eben die Sonne unterging und die Dachfirste des Schlosses von Azay vergoldete. Alles war still und rein. Ein sanftes Licht erleuchtete das Lager, auf dem Henriette im Opiumschlaf ruhte. Ihr körperliches Leben war gewissermaßen aufgehoben; die Seele allein herrschte auf diesem Antlitz, die klar war wie ein schöner Himmel nach dem Sturm. Blanche und Henriette, diese beiden göttlichen Erscheinungen derselben Frau, erglänzten um so schöner, als meine Erinnerung, meine Gedanken, meine Phantasien, der Wirklichkeit nachhelfend, den Verfall der Züge wieder gutmachten; und auf ihre Züge warf die siegreiche Seele Licht-wellen, die mit der stillen Flut des Atmens zusammenflossen. Die beiden Abbés saßem am Rande des Bettes. Der Comte stand da wie vom Blitz gerührt, als er die Banner des Todes über dem geliebten Wesen wehen sah. Ich nahm auf dem Sofa den Platz ein, wo sie gesessen hatte; dann wechselten wir alle vier Blicke, in denen Bewunderung für diese himmlische Schönheit sich mit Tränen des Schmerzes paarten. Das Licht auf ihrem Antlitz verkündete, daß Gott in einer seiner schönsten Tempel zurückgekehrt sei. Der Abbé de Dominis und ich teilten uns in einer Zeichensprache unsere Gedanken mit. Ja, die Engel hielten Wache bei Henriette; ihre Schwerter leuchteten über dieser edlen Stirn, auf der die hehre Tugend wieder thronte, auf der früher eine geradezu sichtbare Seele lag, mit der die Geister ihrer Sphäre sich unterhielten. Die Linien ihres Antlitzes verklärten sich, alles in ihr wurde größer und majestätischer unter den unsichtbaren Weihrauchbecken der Seraphim, die sie bewachten. Die grünlichen Farbtöne der körperlichen Krankheit waren einem reinen Weiß gewichen, der matten, kalten Blässe des nahenden Todes. Jacques und Madeleine traten ein: uns alle überlief ein Schauer, als Madeleine in einem Anbetungsdrang vor dem Bett niederstürzte, die Hände faltete und die erhabenen Worte rief: »Endlich wieder meine Mutter!«

Jacques lächelte; er war sicher, seiner Mutter dahin zu folgen, wohin sie ging.

»Sie erreicht den sichern Hafen«, sagte der Abbé Birotteau.

Der Abbé de Dominis sah mich an, als wollte er fragen: ›Habe ich nicht gesagt, daß der Stern leuchtend noch einmal aufginge?‹

Madeleines Augen waren auf ihre Mutter geheftet; sie atmete, wenn die Mutter atmete, kaum hörbar, wie sie. Wir lauschten dem Atem der Kranken mit ängstlicher Spannung in der steten Furcht, daß dieser letzte Faden, mit dem sie noch am Leben festhielt, risse. Einem Engel gleich, der an den Pforten des Heiligtums wacht, war das junge Mädchen gespannt und gefaßt, stark und niedergebeugt zugleich. Da begannen im Dorfe die Abendglocken zu läuten. Sanfte Luftwellen trugen die schwebenden Klänge zu uns herüber, die uns verkündeten, daß zu dieser Stunde die ganze Christenheit die Worte wiederhole, mit denen der Engel die Frau begrüßte, die alle Sünden ihres Geschlechts sühnte. An jenem Abend erschien uns das ›Ave Maria‹ als ein Gruß des Himmels. Die Weissagung war so unverkennbar und die Entscheidung so nahe, daß wir in Tränen ausbrachen. Das Säuseln des Abendwindes, das melodische Rascheln des Laubes, das verstummende Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten, die Stimmen des Wassers, der Klageton der Unke: die ganze Natur sagte der schönsten Lilie des Tales, ihrem schlicht ländlichen Dasein ein letztes Lebewohl. Dieses Zusammenklingen überirdischer und natürlicher Lieder bildete eine so ergreifende Abschiedshymne, daß wir von neuem zu schluchzen begannen. Die Tür stand offen, aber wir waren in diesen schrecklichen Anblick so vertieft, als wollten wir jede Einzelheit des Bildes auf ewig unserer Seele einprägen, daß wir nicht bemerkt hatten, wie die Leute im Nebenzimmer niederknieten und leise Gebete murmelten. All diese armen, vertrauenden Menschen hatten noch gehofft, ihre Herrin zu behalten, und die allzu deutliche Todesbotschaft übermannte sie. Auf einen Wink des Abbés Birotteau ging der Vorreiter hinaus, um den Priester von Saché zu holen. Der Arzt stand am Bette, ruhig wie die Wissenschaft selbst, und hielt die schlaffe Hand der Kranken; er machte dem Beichtväter ein Zeichen, um ihm zu bedeuten, daß dieser Schlaf die letzte schmerzlose Stunde sei, die dem heimgerufenen Engel auf Erden bliebe. Der Augenblick war gekommen, ihr die Letzte Ölung zu geben. Um neun Uhr wachte sie sanft auf, sah uns erstaunt, aber mild an, und wir schauten alle unsere Angebetete in der ganzen Schöne ihrer schönsten Tage.

»Mutter, du bist zu schön, um zu sterben!« rief Madeleine, »du wirst leben und gesund sein.« – »Liebes Kind, ich werde leben, aber in dir«, sagte sie lächelnd.

Dann umarmte die Mutter ihre Kinder, die Kinder umschlangen die Mutter: ein herzzerreißender Anblick.

Monsieur de Mortsauf küßte seine Frau andächtig auf die Stirn. Die Comtesse errötete, als sie mich sah.

»Lieber Felix«, sagte sie, »das ist, glaube ich, der erste und einzige Kummer, den ich Ihnen bereite. Aber vergessen Sie, was ich Ärmste in meinem Irresein gesagt haben mag.« Sie reichte mir die Hand, ich führte sie an meine Lippen, da fragte sie mit ihrem anmutigen Tugendlächeln: »Wie früher, Felix?«

Wir verließen alle das Zimmer und gingen in den Salon, damit die Kranke ihre letzte Beichte ablegen könne. Ich stellte mich neben Madeleine. In Gegenwart aller konnte sie mich nicht fliehen, ohne eine Unhöflichkeit zu begehen. Aber nach der Art ihrer Mutter sah sie niemanden an; sie verharrte in tiefem Schweigen, ohne nur ein einziges Mal den Blick auf mich zu richten.

»Liebe Madeleine«, sagte ich leise »was haben Sie gegen mich? Weshalb diese Kälte . . . angesichts des Todes? . . .« »Ich glaube zu hören, was meine Mutter eben jetzt sagt«, antwortete sie. Ihre Kopfhaltung erinnerte an die Muttergottes von Sagres, diese schmerzahnende Jungfrau, die bereit ist, die Welt zu schützen, in der ihr Sohn sterben wird. »Und Sie verurteilen mich im selben Augenblick, wo Ihre Mutter mich freispricht . . . Und bin ich denn schuldig?«

»Sie, immer nur Sie!«

Ihr Ton verriet einen bewußten Haß – den unerbittlichen Haß eines Korsen. So sind die Urteile derer, die aus Mangel an Menschenkenntnis keinerlei mildernde Umstände bei einem Verstoß gegen die Gesetze des Herzens gelten lassen. Eine Stunde verrann in tiefem Schweigen.

Der Abbé Birotteau, der die Generalbeichte der Comtesse de Mortsauf entgegengenommen hatte, trat ein; wir gingen ins Krankenzimmer zurück. Henriette hatte sich, einer Eingebung folgend, wie sie edlen Seelen eigen, die ja untereinander alle sinnesverwandt sind, in ein langes Gewand hüllen lassen, das ihr als Leichentuch dienen sollte. Wir fanden sie aufrecht sitzend, schön im doppelten Glanz ihrer Sühne und ihrer Hoffnung. Ich sah im Kamin die schwere Asche meiner Briefe, die soeben verbrannt worden waren; dies Opfer, so sagte mir ihr Beichtvater, hatte sie erst in der Stunde des Todes bringen wollen. Sie strahlte uns alle mit ihrem alten Lächeln an. Ihre tränenfeuchten Augen sprachen von einer höchsten Offenbarung, sie sah schon die himmlischen Freuden des Gelobten Landes.

»Lieber Felix«, sagte sie, reichte mir ihre Hand und drückte die meine, »bleiben Sie! Sie sollen einer der letzten Szenen meines Lebens beiwohnen, die nicht die wenigst peinliche sein wird, in der Sie aber eine große Rolle spielen.«

Sie winkte, die Tür wurde geschlossen. Auf ihre Aufforderung setzte sich der Comte; der Abbe Birotteau und ich blieben stehen. Ai;f Manette gestützt, stand die Comtesse auf, kniete vor dem Comte nieder und bestand darauf, in dieser Stellung zu verharren. Dann, als Manette hinausgegangen war, erhob sie das Haupt, das sie auf die Knie des erstaunten Comte gelegt hatte.

»Obwohl ich mich Ihnen stets als treue Gattin erwiesen habe«, sagte sie mit erstickter Stimme, »ist es möglich, daß ich meinen Pflichten nicht immer genügt habe. Ich habe eben zu Gott gefleht, mir die Kraft Zu geben, Sie um Verzeihung zu bitten. Ich habe vielleicht in eine Freundschaft, die außerhalb der Familie lag, noch liebevollere Zärtlichkeit hineingetragen, als die war, die ich Ihnen schuldete. Vielleicht habe ich Sie gereizt, indem ich Ihnen den Vergleich nahelegte zwischen dieser Zärtlichkeit und diesen Gedanken und denen, die ich Ihnen widmete. Ich habe«, flüsterte sie, »eine tiefe Freundschaft empfunden, deren ganze Größe niemand, selbst der nicht, dem sie galt, ermessen hat. Obwohl ich nach menschlichem Gesetz tugendhaft geblieben und Ihnen stets eine untadelige Gattin gewesen bin, haben oft, unwillkürlich oder mir unbewußt, schlimme Gedanken mein Herz durchflogen, und ich fürchte jetzt, daß ich sie zu bereitwillig aufnahm. Aber da ich Sie zärtlich geliebt habe und Ihre ergebene Gattin geblieben bin, da die Wolken, die meinen Himmel durchzogen; ihn nicht getrübt haben, sehen Sie mich hier mit reiner Stirn Ihren Segen erflehen. Ich werde ohne jedes Gefühl der Bitterkeit sterben, wenn ich aus Ihrem Mund ein sanftes Wort für Ihre Blanche, für die Mutter Ihrer Kinder vernehme, wenn Sie ihr all das verzeihen, was sie sich selbst erst dann verzieh, als der höchste Richter, vor dem wir alle stehen, sie freigesprochen hatte.« – »Blanche, Blanche!« rief der Greis und vergoß plötzlich Tränen über das Haupt seiner Frau, »willst du mich töten?« Er hob sie mit ungewohnter Kraft,zu sich empor, küßte sie andächtig auf die Stirn, und sie so haltend, sagte er: »Habe nicht ich dich um Verzeihung zu bitten? Bin nicht ich oft hart gewesen? Übertreibst du nicht deine kindlichen Gewissensbisse?« – »Mag sein«, antwortete sie, »aber, mein Freund, seien Sie nachsichtig gegen die Schwächen der Sterbenden! Beruhigen Sie mich! Wenn Sie an die Todespforte gelangen, werden Sie daran denken, daß ich Sie im Weggehen so gesegnet habe. Erlauben Sie, daß ich unserm Freunde hier das Unterpfand eines tiefen Gefühls hinterlasse?« sagte sie und wies auf einen Brief auf dem Kaminsims. »Er ist jetzt mein Adoptivsohn, weiter nichts. Mein Herz, lieber Comte, macht seine Testamente, mein Letzter Wille betraut diesen lieben Felix mit heiligen Pflichten. Ich glaube nicht, ihn überschätzt zu haben; sorgen Sie, daß ich Sie nicht überschätzt habe, als ich auf Ihre Erlaubnis rechnete, ihm einige Gedanken vermachen zu dürfen. Ich bin immer noch ein Weib«, sagte sie und neigte mit sanfter Wehmut ihr Haupt, »und nach der Verzeihung bitte ich Sie gleich um eine Gunst . . . Lesen Sie das, aber erst nach meinem Tode!« wandte sie sich zu mir und reichte mir das geheimnisvolle Schreiben.

Der Comte sah seine Frau erbleichen, er nahm sie in seine Arme und trug sie auf das Bett, wo wir sie alle umringten.

»Felix«, sagte sie, »ich habe vielleicht unrecht gegen Sie gehandelt. Ich hab£ Ihnen wohl Enttäuschungen bereitet, als ich Sie Freuden erhoffen ließ, vor deren Gewährung ich dann wieder zurückschreckte. Aber danke ich es nicht der Festigkeit der Gattin und der Mutter, daß ich jetzt mit allen versöhnt sterbe? So werden Sie mir auch verzeihen, Sie, der Sie mich so oft beschuldigt haben und dessen Ungerechtigkeit mich erfreute.«

Der Abbé Birotteau legte seine Finger auf ihre Lippen. Da neigte die Sterbende ihr Haupt, eine Schwäche befiel sie, sie bewegte die Hände, um zu bedeuten, daß die Geistlichen, ihre Kinder und die Dienstboten eintreten sollten. Dann wies sie mit bedeutsamer Geste auf den Comte und auf ihre Kinder, die eben eintraten. Der Anblick dieses Vaters, dessen geheimen Wahnsinn wir allein kannten und der jetzt die Stütze dieser zarten Wesen sein sollte, legte ihr die stumme, flehentliche Bitte nahe, die wie eine heilige Glut auf die Seele fiel. Ehe sie die Letzte Ölung erhielt, bat sie ihre Leute um Verzeihung, wenn sie sie manchmal barsch behandelt hätte; sie forderte sie auf, für sie zu beten, und empfahl jeden einzelnen der Fürsorge des Comte. Sie gestand großherzig, daß sie während der letzten Monate unchristliche Klagen geführt habe, die ihre Leute wohl hätten verletzen können, aber diesen Mangel an Unterwürfigkeit unter Gottes Willen schrieb sie ihren unerträglichen Leiden zu. Schließlich dankte sie dem Abbe Birotteau öffentlich und mit rührender Liebe dafür, daß er ihr die Nichtigkeit aller irdischen Dinge gezeigt habe. Als sie aufgehört hatte zu sprechen, begannen die Gebete. Dann gab ihr der Priester von Sache die heilige Wegzehrung. Wenige Augenblicke später stockte ihr Atem, eine Wolke sank über ihre Augen, die sich gleich wieder öffneten. Sie warf mir einen letzten Blick zu und starb vor aller Augen; vielleicht vernahm sie noch unser aller Schluchzen. Als sie ihren letzten Seufzer aushauchte, das letzte Leiden eines langen Lebens voll Leid, fühlte ich in mir einen Ruck, der mein ganzes Wesen erschütterte. Der Comte und ich blieben während der ganzen Nacht am Totenbette mit den beiden Abbés und dem Priester; beim Schein der Kerzen hielten wir Totenwache. Da lag sie nun friedlich auf ihrem Bette, wo sie so viel Schmerzen erduldet hatte.

Das war meine erste Berührung mit dem Tode. Während dieser ganzen Nacht wandte ich den Blick nicht von Henriette ab; ich war gebannt von dem geläuterten Ausdruck, den die Ruhe nach allen Stürmen verleiht, von der Blässe des Gesichts, zu dem ich noch mit allen meinen zärtlichen Gefühlen sprach, das aber auf meine Liebe keine Antwort mehr gab. Wie hoheitsvoll diese kalte Ruhe war, wie gedankenschwer! Welche Schönheit in dieser unbedingten Ruhe, welche Gewalt in dieser Unbeweglichkeit! Die ganze Vergangenheit liegt noch hier, wo schon die Zukunft beginnt. Ach, ich liebte sie im Tode ebenso, wie ich sie lebend geliebt hatte! Gegen Morgen begab sich der Comte zur Ruhe; die drei Geistlichen schliefen ermüdet ein in dieser Stunde, die sich so schwer auf Wachende herabsenkt. Da konnte ich denn ohne Zeugen ihre Stirn küssen mit der ganzen Liebesglut, wie ich sie nie hatte berühren dürfen.

Tags darauf, an einem kühlen Herbstmorgen, begleiteten wir die Comtesse zu ihrer letzten Ruhestätte. Der alte Vorreiter, die beiden Martineaus und Manettes Mann trugen den Sarg. Wir gingen langsam den Weg hinunter, den ich an dem Tage, als ich sie wiederfand, so fröhlich herauf gestürmt kam. Wir gingen durch das Tal der Indre bis zum kleinen Friedhof von Saché. Es war ein bescheidener kleiner Dorffriedhof an der Rückseite der Kirche, auf dem Kamm eines Hügels. Dort wollte sie aus christlicher Demut begraben sein, unter einem schlichten schwarzen Holzkreuz, wie eine arme Bauersfrau, hatte sie gesagt. Als ich auf halbem Wege vom Tal aus die Dorfkirche und den Friedhof erblickte, befiel mich ein nervöses Frösteln. Ach, wir haben alle in unserm Leben ein Golgatha, wo wir mit blutendem Herzen die dreiunddreißig ersten Jahre unsers Lebens verlieren. Da fühlen wir auf unserm Haupte den Dornenkranz statt der Rosenkrone. Dieser Hügel sollte für mich der Berg der Sühne sein. Eine gewaltige Volksmenge folgte uns, die zusammengeströmt war, damit die Tote von der Trauer des ganzen Tales begleitet werde, wo sie in aller Stille so viele edle Handlungen vollbracht hatte. Man erfuhr durch Manette, ihre Vertraute, daß sie, um den Armen zu helfen, an ihrer Toilette sparte, wenn ihr Geldvorrat nicht reichte. Bald waren es arme nackte Kinder, die sie bekleidete, sie schickte Kinderwäsche, sie half armen Müttern, kaufte den Müllern im Winter Getreide ab für altersschwache Greise, schenkte einem armen Haushalt eine Kuh und handelte in allem als Christin, Mutter und gütige Herrin. Ein andermal gab sie jungen Leuten, die sich liebten, eine Mitgift oder kaufte einen Rekruten frei, und was die edlen Gaben einer gutherzigen Frau mehr sind, die sich den Wahlspruch gewählt hat: ›Das Glück anderer ist der Trost derer, die selbst nicht mehr glücklich sein können.‹ – Seit drei Tagen wurden diese Dinge am Abend in allen Dörfern herumerzählt, und nun waren die Dankbaren von überall zusammengeströmt. Ich ging mit Jacques und den beiden Abbés hinter dem Sarge her. Nach dem Brauch des Landes waren Madeleine und der Comte zu Hause geblieben. Manette hatte darauf bestanden, sich uns anzuschließen.

»Arme Madame, arme Madame, jetzt ist sie glücklich!« hörte ich sie mehrmals unter Schluchzen sagen. Als der Leichenzug die Mühlenstraße verließ, hörte man einstimmiges Klagen und Seufzen: es war, als beweinte das Tal seine Seele. Die Kirche war voller Menschen. Nach dem Gottesdienst gingen wir auf den Friedhof, wo sie nahe beim Kreuz begraben werden sollte. Als ich Erde und Steine auf den Sarg rollen hörte, verließ mich die Kraft, ich schwankte und bat die beiden Martineau, mich zu stützen. Sie führten mich halbtot nach dem Schlosse von Saché, dessen Besitzer mir höflich Gastfreundschaft anboten, die ich dankend annahm. Ich muß Ihnen gestehen, ich wollte nicht nach Clochegourde zurückkehren, auch in Frapesle wollte ich nicht sein, weil ich von dort aus Henriettes Schloß sah. Hier war ich nahe bei ihr. Ich blieb mehrere Tage in einem Zimmer, dessen Fenster auf das stille, einsame Tal hinabsahen, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Es ist eine breite Erdfalte, die von zweihundertjährigen Eichen gesäumt ist und durch die bei starkem Regen ein Gießbach fließt. Dies Landschaftsbild entsprach der ernsten und feierlichen Betrachtung, der ich mich hingeben wollte. Während des Tages, welcher der schrecklichen Nacht folgte, hatte ich zur Genüge empfunden, wie lästig meine Gegenwart den Bewohnern Clochegourdes wäre. Der Comte hatte beim Tode Henriettes heftige Erschütterungen erfahren, aber er war auf dies Ereignis gefaßt gewesen, und im Grunde seines Wesens war er gleichgültig. Ich hatte das oft bemerkt; und als die kniende Comtesse mir den Brief überreichte, den ich nicht öffnen durfte, als sie von ihrer Liebe zu mir sprach, hatte mir der mißtrauische Mann nicht den vernichtenden Blick zugeworfen, den ich erwartete. Die Worte Henriettes hatte er dem allzu feinen Zartgefühl ihres Gewissens, dessen Reinheit er kannte, zugeschrieben. Diese egoistische Gleichgültigkeit war natürlich. Die Seelen dieser beiden Wesen hatten sich nicht mehr vermählt als ihre Leiber. Zwischen ihnen hatten nie die innigen Beziehungen bestanden, welche die Gefühle immer neu beleben. Sie hatten nie Leid und Freude miteinander geteilt, die festen Bande, die uns an tausend Stellen verwunden, weil sie mit allen Fasern unsers Wesens verwachsen sind, weil sie zu tief in unsere Herzen eingeschnitten und die Seele berührt haben. Madeleines Feindschaft verschloß mir die Tür von Clochegourde. Dieses harte junge Mädchen war nicht gewillt, am Sarge ihrer Mutter ihren Haß zu verleugnen; ich hätte mich sehr unwohl gefühlt zwischen dem Comte, der nur von sich selbst sprach, und Madeleine, die mir einen unüberwindlichen Widerwillen gezeigt hätte, und das an dem Ort, wo einst die Blumen selbst mich gekost hatten, wo jede Stufe beredt war, wo meine Erinnerungen Balkone, Balustraden und Terrassen, Bäume und Aussichtspunkte mit Poesie umrankten . . . Gehaßt werden, wo mich alles geliebt hatte: der Gedanke war mir unerträglich. Auch war mein Entschluß sofort gefaßt. Das war also das Ende der größten Liebe, die je ein Menschenherz erfüllt hatte. In den Augen Fremder war mein Verhalten tadelnswert, aber mein Gewissen rechtfertigte es . . . So enden die schönsten Gefühle und die größten Dramen der Jugend. Wir brachen fast alle in der Morgenstunde auf, in der ich damals von Tours kam. Wir bemächtigten uns der Welt mit liebedurstigem Herzen, und wenn unsere Schätze im Tiegel geschmolzen sind, wenn wir Menschen und Ereignisse aus der Nähe gesehen haben, schrumpft unmerklich alles zusammen, wir finden wenig Gold in viel Asche. Das ist das Leben, das wirkliche Leben: große Ansprüche, kleine Ereignisse. Ich sann lange über mich selbst nach, was ich tun sollte nach diesem Schicksalsschlag, der meine ganze Ernte zerstört hatte. Ich beschloß, mich in die Händel der Politik und der Wissenschaft zu stürzen, die gewundenen Pfade des Ehrgeizes einzuschlagen, die Frau aus meinem Leben zu verbannen, ein kalter, leidenschaftsloser Staatsmann zu sein und der Heiligen, die ich geliebt hatte, treu zu bleiben. Meine Gedanken verloren sich in Weiten, während meine Blicke an dem herrlichen Laubwerk der übergoldeten Eichen mit ihren strengen Kronen und ihrem bronzenen Stamm hafteten. Ich fragte mich, ob Henriettes Tugend nicht Unwissenheit und ob ich wirklich an ihrem Tode schuld sei. Schließlich, an einem milden Herbstmittag, wie es in der Touraine so schöne gibt, bei einem letzten Lächeln des Himmels, las ich ihren Brief, den ich ihrem Wunsche gemäß erst nach ihrem Tode öffnen sollte. Sie werden sich denken können, was ich beim Lesen empfand!


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