Honoré de Balzac
Louis Lambert
Honoré de Balzac

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I.

Gnädiges Fräulein, wenn sie diesen Brief gelesen haben – wenn Sie ihn überhaupt lesen – liegt mein Leben in Ihren Händen, denn ich liebe Sie, und für mich ist die Hoffnung, geliebt zu werden, gleichbedeutend mit leben. Ich weiß nicht, ob andere, wenn sie mit Ihnen von sich sprachen, sich schon der Worte bedient haben, die ich gebrauche, um Ihnen von dem Zustand meiner Seele zu sprechen; glauben Sie jedoch an die Wahrheit meiner Äußerungen, sie sind schwach, aber aufrichtig. Vielleicht ist es Unrecht, auf diese Weise meine Liebe einzugestehen. Ja, die Stimme meines Herzens riet mir, still zu warten, bis meine Leidenschaft Sie gerührt hätte, um sie dann zu vernichten, wenn ihr stummer Ausdruck Ihnen mißfiel, oder aber, bis ich Gnade vor Ihren Augen gefunden hätte. Aber nachdem ich lange auf die Klugheit gehört habe, vor der ein junges Herz sich scheut, habe ich, indem ich Ihnen schreibe, dem Instinkt gehorcht, der noch dem Sterbenden nutzlose Schreie entreißt. Ich brauche meine ganze Kraft, um dem Stolz des Unglücks Schweigen zu gebieten und um die Hindernisse zu überschreiten, die das Vorurteil zwischen Sie und mich aufgerichtet hat. Ich mußte viele Bedenken unterdrücken, um Sie trotz Ihres Vermögens zu lieben! Mußte ich nicht, um Ihnen zu schreiben, der Verachtung die Stirn bieten, die die Frauen oft der Liebe gegenüber haben, deren Geständnis nur wie eine Schmeichelei mehr aufgenommen wird? Man muß sich mit allen Kräften dem Glück entgegenwerfen, muß zur Liebe hingezogen werden wie eine Pflanze zum Licht, muß sehr unglücklich gewesen sein, um die Qualen und Ängste dieser geheimen Erwägungen zu besiegen, in denen die Vernunft uns tausendfach die Unfruchtbarkeit der im Grunde des Herzens verborgenen Wünsche zeigt, wo jedoch die Hoffnung uns allem Trotz bieten läßt. Ich war so glücklich, während ich Sie im stillen bewunderte, ich war so ganz versunken in die Betrachtung Ihrer schönen Seele, daß, während ich Sie ansah, ich mir fast nichts Höheres mehr vorstellen konnte. Nein, ich hätte noch nicht gewagt, zu Ihnen zu sprechen, wenn ich nicht von Ihrer Abreise gehört hätte. Welchen Qualen hat dieses eine Wort mich ausgesetzt! Mein Kummer hat mich die ganze Größe meiner Zuneigung zu Ihnen erkennen lassen, sie ist grenzenlos. Gnädiges Fräulein, kaum werden Sie – ich wünschte es wenigstens – den Schmerz empfinden, der durch die Furcht hervorgerufen wird, das einzige Glück verlieren zu müssen, das für uns auf dieser Erde sich erschloß, das einzige, das ein wenig Licht in die Dunkelheit des Elends geworfen hat. Gestern fühlte ich, daß mein Leben nicht mehr in mir ist, sondern in Ihnen. Es gibt nur mehr eine Frau für mich auf der Welt, wie es nur noch einen Gedanken in meiner Seele gibt. Ich wage nicht, es Ihnen zu sagen, vor welche Alternative mich die Liebe zu Ihnen gestellt hat. Da ich Sie nur Ihnen selbst verdanken möchte, muß ich es vermeiden, mich Ihnen mit allem Nimbus des Unglücks zu zeigen. Ist dieser Nimbus auf edle Seelen nicht wirksamer als der des Glücks? Ich werde Ihnen also viel verschweigen. Ja, ich habe einen zu schönen Begriff von der Liebe, als daß ich sie mit Gedanken, die ihrer Natur fremd sind, entweihen möchte. Wenn meine Seele der Ihren würdig ist, wenn mein Leben rein ist, dann wird Ihr edles Herz es schon empfinden und Sie werden mich verstehen! Es liegt in der Bestimmung des Mannes, sich derjenigen anzutragen, die ihn an das Glück glauben läßt; aber Ihr Recht ist es, auch das wahrste Gefühl zurückzuweisen, wenn es nicht mit den wirren Stimmen Ihres Herzens sich vereinbaren läßt; das weiß ich. Wenn das Schicksal, das Sie mir bereiten, meiner Hoffnung entgegen ist, so rufe ich, gnädiges Fräulein, die Zartheit Ihrer jungfräulichen Seele an und das wundertätige Mitleid der Frau. Auf den Knien flehe ich Sie an: verbrennen Sie meinen Brief, vergessen Sie alles. Spielen Sie nicht mit einem ehrfürchtigen Gefühl, das sich zu tief in die Seele eingegraben hat, als daß es je wieder darin verwischt werden könnte. Brechen Sie mein Herz, aber zerreißen Sie es nicht. Möge die Äußerung meiner ersten Liebe, einer jungen und reinen Liebe, nur in einem jungen und reinen Herzen widerklingen! Mag sie darin sterben, wie ein Gebet sich in dem Busen Gottes verliert! Ich bin Ihnen Dankbarkeit schuldig: ich habe köstliche Stunden damit zugebracht, Sie anzuschauen und mich dabei den süßesten Träumen meines Lebens hinzugeben; krönen Sie dieses lange und vergängliche Glück nicht mit ein paar Mädchenspötteleien. Begnügen Sie sich lieber damit, mir nicht zu antworten. Ich werde mir Ihr Stillschweigen auszulegen wissen und Sie werden mich nicht mehr wiedersehen. Wenn ich dazu verdammt sein soll, das Glück für immer zu begreifen und es für immer zu verlieren; wenn ich wie der vertriebene Engel bin, der das Gefühl der himmlischen Freuden bewahrt hat, aber für immer an eine Welt des Schmerzes gebunden ist, dann werde ich das Geheimnis meiner Liebe bewahren wie das meines Elends. Und somit Gott befohlen! – Ja, ich vertraue Sie dem an, zu dem ich für Sie beten will, Ihnen ein schönes Leben zu bereiten. Denn wenn ich auch aus Ihrem Herzen vertrieben bin, in das ich ohne Ihr Wissen heimlich eingedrungen war, will ich Sie doch nie mehr verlassen. Was für einen Wert hätten sonst die heiligen Worte dieses Briefes, meines ersten und vielleicht letzten Gebetes? Wenn ich eines Tages aufhörte, an Sie zu denken, Sie glücklich oder unglücklich zu lieben, verdiente ich da nicht meine Ängste?

 

II.

Sie reisen nicht? So bin ich also geliebt, ich armes, unscheinbares Geschöpf? Meine liebe Pauline, Sie kennen die Macht des Blickes nicht, an den ich glaube und den Sie mir zugeworfen haben, um mir zu sagen, daß Sie mich erwählt haben, Sie, die Sie jung und schön sind und die Welt zu Ihren Füßen sehen. Damit Sie mein Glück verstehen, müßte ich Ihnen mein Leben erzählen. Hätten Sie mich zurückgestoßen, es wäre alles für mich zu Ende gewesen. Ich habe zu viel gelitten! Ja, Geliebte, diese wohltuende und köstliche Liebe war ein letzter Versuch zu einem glücklichen Leben, nach dem meine Seele sich sehnte, meine Seele, die schon zerbrochen war durch nutzlose Arbeit, aufgezehrt durch Ängste, die mich für mich fürchten ließen, zernagt von Verzweiflung, die mich oft dazu überreden wollte zu sterben. Nein, kein Mensch aus der Welt kennt das Entsetzen, das mir meine verhängnisvolle Phantasie schafft. Oft erhebt sie mich in alle Himmel, aber plötzlich läßt sie mich von schwindelnder Höhe auf die Erde herabstürzen. Ein kleiner Kraftaufschwung, der seltene und geheime Zeuge einer ganz besonderen Hellsichtigkeit, sagt mir zuweilen, daß ich viel vermag. Ich hülle dann die Welt in meine Gedanken ein, ich schaffe, ich bilde sie, ich verstehe sie oder glaube doch, sie zu verstehen; aber plötzlich erwache ich dann, allein, und bin in einer tiefen Nacht, ein jämmerliches Geschöpf! Ich vergesse die Helle, die ich noch eben erblickte, ich sehe keine Hilfe und vor allem kein Herz, zu dem ich flüchten kann. Dieses Elend meines seelischen Lebens wirkt auch auf mein physisches. Die Natur meines Geistes liefert mich schutzlos den Freuden des Glückes aus, so wie der furchtbaren Klarheit der Reflexion, die sie zerstört, indem sie sie analysiert. Da ich die traurige Fähigkeit mitbekommen habe, mit dem gleichen Scharfblick die Hindernisse wie auch die Erfolge zu sehen, so bin ich glücklich und unglücklich zugleich! Als ich Ihnen begegnete, da hatte ich das Gefühl von einer engelhaften Natur; ich atmete die Luft, die meiner brennenden Brust wohltat, ich hörte jene Stimme in mir, die nie täuscht und die mir ein glückliches Leben verhieß. Aber ich sah auch all die Schranken, die uns trennten, ahnte zum ersten Mal die Vorurteile der Welt, verstand sie in dem ganzen Umfang ihrer Niedrigkeit; und die Hindernisse erschreckten mich mehr, als der Anblick des Glückes mich beseligte: ich empfand sogleich die schreckliche Reaktion, durch die meine ausströmende Seele auf sich selbst zurückgeworfen wurde; das Lächeln, das Sie auf meinen Lippen hervorgerufen hatten, verwandelte sich plötzlich in bittere Verzerrung, und ich versuchte, kalt zu bleiben, während mein Blut kochte, aufgewühlt durch tausend widersprechende Gefühle. Ich hatte wieder die schmerzende Empfindung, an die ich mich durch dreiundzwanzig Jahre unterdrückter Seufzer und verratener Mitteilsamkeit noch immer nicht habe gewöhnen können. Ach, Pauline, der Blick, mit dem Sie mir das Glück verkündet haben, hat mein Lehen wieder erwärmt, hat mein Elend in Glückseligkeit verwandelt: jetzt hätte ich gern noch mehr gelitten. Meine Liebe ist plötzlich ganz groß geworden. Meine Seele war ein weites Land, dem die Wohltaten der Sonne fehlten: Ihr Blick hat auf einmal Licht daraufgeworfen. Liebe Vorsehung! Sie werden alles für mich arme Waise sein, der ich keine anderen Verwandten habe als meinen Onkel. Sie werden meine ganze Familie bedeuten, wie Sie schon jetzt mein einziger Reichtum sind und die ganze Welt für mich darstellen. Haben Sie nicht alle Schätze der Menschheit durch Ihren keuschen, wundervollen und scheuen Blick auf mich geschüttet? Ja, Sie haben mir ein unglaubliches Vertrauen, einen unglaublichen Mut gegeben. Jetzt kann ich alles wagen. Ich war mutlos nach Blois zurückgekehrt. Fünf Jahre Studium in Paris hatten mir die Welt als Gefängnis gezeigt. Ich trug Komplexe des Wissens in mir und wagte nicht, davon zu sprechen. Der Ruhm schien mir ein Blendwerk, dem sich eine wirklich große Seele nicht hingeben dürfe. Meine Ideen hätten sich nur unter dem Schutze eines Mannes ausbreiten können, der kühn genug dazu war, auf die Bretter der Presse zu steigen und mit lauter Stimme zu den Dummköpfen zu sprechen, die er verachtet. Diese Unerschrockenheit fehlte mir. Ich ging also fort, durch die Widerstände dieser Menge zerbrochen, und ich verzweifelte daran, je von ihr gehört zu werden. Ich stand zu hoch und zu tief! Ich schluckte meine Gedanken herunter wie andere ihre Demütigungen. Ich war dahin gekommen, die Wissenschaft zu verachten und ihr vorzuwerfen, daß sie nichts zum wirklichen Glück beitrage. Aber seit gestern ist alles in mir verwandelt. Um Ihretwillen erstrebe ich die Palmen des Ruhmes und alle Triumphe des Talentes. Ich will mein Haupt auf Ihre Knie legen, damit die Augen der Welt auf Ihnen ruhen, wie ich alle Idee und alle Kräfte in meine Liebe legen will. Der größte Ruhm ist ein Gut, das von keiner anderen Macht geschaffen werden kann als von der des Genies! So kann ich Ihnen also, wenn ich will, ein Lager von Lorbeer bereiten. Aber wenn die friedlichen Huldigungen der Wissenschaften nicht genug sind, so habe ich noch das Schwert und das Wort in mir, ich werde eine Laufbahn der Ehre und des Ehrgeizes durchrasen, auf der andere sich nur hinschleppen. Sagen Sie es mir nur, Pauline, ich werde alles sein, was Sie wollen, daß ich sei. Mein eiserner Wille kann alles. Ich werde geliebt! Sollte ein Mann mit diesem Bewußtsein nicht alles bezwingen können? Der kann alles, der alles will! Seien Sie der Preis des Erfolges, und morgen schon begebe ich mich in die Arena; für einen Blick wie der, den Sie mir zuwarfen, überschreite ich die tiefsten Abgründe. Sie haben mich die sagenhaften Taten der Ritter und die wundersamen Erzählungen aus ›Tausend und eine Nacht‹ begreifen gelehrt. Jetzt glaube ich an die fantastischen Forderungen der Liebe und an das Gelingen alles dessen, was Gefangene unternehmen, um ihre Freiheit zurückzuerlangen. Sie haben tausend Tugenden, die in mir schlummerten, geweckt: Geduld und Resignation, alle Kräfte des Herzens und der Seele. Ich lebe durch Sie und – köstlicher Gedanke – für Sie. Jetzt hat alles einen Sinn für mich in diesem Leben. Ich begreife alles, selbst die Nichtigkeiten des Reichtums. Ich ertappe mich dabei, Ihnen alle Perlen Indiens zu Füßen legen zu wollen; ich stelle mir vor, wie Sie unter den schönsten Blumen liegen oder auf dem weichesten Linnen, und aller Glanz der Erde scheint mir kaum Ihrer würdig, für die ich über die Akkorde und Strahlen verfügen möchte, die von den Harfen der Seraphine ertönen und von den Sternen des Himmels herniederleuchten. Armer Dichter! Meine Worte bieten Ihnen Schätze an, die ich nicht besitze, ich kann Ihnen nur mein Herz geben, in dem Sie immer herrschen werden. Dort liegt all mein Besitz! Aber liegen nicht schon Schätze in einer ewigen Dankbarkeit, in einem Lächeln, dessen Ausdruck unablässig durch ein unwandelbares Glück wechselt, in dem dauernden Bemühen meiner Liebe, die Wünsche Ihres liebenden Herzens zu erraten? Hat uns ein himmlischer Blick nicht gesagt, daß wir uns immer verstehen können? So kann ich jetzt allabendlich zu Gott beten, ein Gebet, das erfüllt ist von Ihnen: ›Mach, daß meine Pauline glücklich sei!‹ Aber werden Sie denn nicht meine Tage erfüllen, wie Sie schon mein Herz erfüllen? Mit Gott! ich kann Sie nur noch Gott anvertrauen.

 

III.

Pauline, sage mir, ob ich Dir gestern in irgend etwas mißfallen habe! Laß diesen Stolz des Herzens fallen, der all die Qualen verursacht, die ein liebendes Wesen im geheimen erleidet. Zürne mir! Seit gestern liegt, ich weiß nicht was für eine unbestimmte Angst, Dir weh getan zu haben, auf meinem Herzen, das durch Dich so sanft und reich geworden war. Oft wird der leiseste Schleier, der sich zwischen zwei Seelen legt, eine erzene Mauer. In der Liebe gibt es keine leichten Vergehen. Wer das Wesen dieses schönen Gefühls begriffen hat, der muß auch alle seine Qualen empfinden, und wir müssen unablässig darüber wachen, daß wir uns nicht durch ein unbedachtes Wort verletzen. Sicher habe ich Schuld, mein teures Gut, wenn von Schuld die Rede sein muß. Ich bilde mir nicht ein, ein Frauenherz in dem ganzen Ausmaß seiner Zärtlichkeit, in der ganzen Anmut seiner Hingabe zu kennen, aber ich will immer versuchen, den Wert dessen zu erraten, was Du mir von den Geheimnissen des Daseins offenbaren willst. Sprich, antworte mir sofort! Die Traurigkeit, in die uns das Gefühl eines Unrechtes versenkt, ist furchtbar, sie umhüllt das ganze Leben und läßt an allem zweifeln. Ich habe heute Morgen am Rande des Hohlwegs gesessen, habe die Türme von Villenoix gesehen und wagte nicht, bis zu unserer Hecke zu gehen. Wenn Du wüßtest, was ich alles in meiner Seele sah! Welch traurige Gespenster an mir vorüberzogen unter diesem grauen Himmel, dessen kalter Anblick meine düstere Stimmung noch verstärkte. Ich hatte dunkle Vorahnungen. Ich hatte Furcht, daß ich Dich nicht glücklich mache. Ich muß Dir alles sagen, meine liebe Pauline. Es gibt Augenblicke, in denen der Geist, der mich belebt, sich von mir zu entfernen scheint. Ich bin wie von meiner Kraft verlassen. Alles lastet dann auf mir, jede Fiber meines Körpers stirbt ab, alle Sinne versagen, mein Blick wird verschwommen, meine Zunge erstarrt, die Phantasie erlischt, die Wünsche sterben und nur meine menschlichen Kräfte allein bestehen noch. Du könntest dann in dem ganzen Glanze Deiner Schönheit vor mir stehen, könntest Dein holdestes Lächeln und Deine zartesten Worte an mich verschwenden, es würde eine böse Macht aufstehen und mich blind machen und mir die entzückendsten Melodien in schrille Töne verwandeln. In solchen Augenblicken steigt, glaube ich, irgend ein Widerspruchsgeist in mir auf, der mich auf dem Grund des sicheren Besitzes das Nichts schauen läßt. Dieser mitleidslose Dämon mäht alle Blumen ab, spottet über die zartesten Gefühle und fragt mich: »Nun, und nachher?« Er macht das schönste Werk zunichte, indem er es mir in seinen Bestandteilen zeigt und mir den Mechanismus der Dinge enthüllt, wobei er mir deren harmonische Ergebnisse verbirgt. In jenen schrecklichen Augenblicken, in denen sich der böse Engel meines Seins bemächtigt, in denen sich das göttliche Licht in meiner Seele verdunkelt, ohne daß ich wüßte warum, bin ich traurig und leide, möchte ich taub und stumm sein, wünsche ich den Tod herbei, da ich in ihm allein Ruhe erblicke. Diese Stunden des Zweifels und der Unrast sind vielleicht notwendig; sie lehren mich wenigstens, nach dem Aufschwung, der mich bis in den Himmel erhoben hat, wo ich mit vollen Händen nach den Ideen greife, nicht stolz zu werden. Denn immer, wenn ich lange die weiten Felder des Geistes durchwandert und wenn ich mich in lichten Gedanken bewegt habe, dann stürze ich, müde und erschöpft, in diese Hölle zurück. In solchen Augenblicken, mein Engel, müßte eine Frau an meiner Liebe zweifeln, sie könnte es wenigstens. Oft, wenn sie verstimmt wäre, elend oder traurig, würde sie die Wohltat einer erfinderischen Zärtlichkeit verlangen, und ich hätte nicht einmal einen Blick, um sie zu trösten. Ich schäme mich, Pauline, es einzugestehen, daß ich dann wohl mit Dir weinen könnte, aber nichts würde mir ein Lächeln entreißen. Eine Frau findet freilich in ihrer Liebe die Kraft, ihre Schmerzen zu stillen! Für ihr Kind, für den Geliebten kann sie leidend lächeln. Kann ich denn für Dich, Pauline, es der Frau nicht gleich tun in ihrer himmlischen Zartheit? Seit gestern zweifle ich an mir selbst. Wenn ich Dir einmal habe mißfallen können, so muß ich fürchten, öfter durch meinen verhängnisvollen Dämon aus unserer schönen Sphäre entführt zu werden. Wenn ich viele solcher schrecklichen Augenblicke hätte, wenn meine grenzenlose Liebe die schlechten Stunden meines Lebens nicht wettmachen kann, wenn es mein Schicksal ist, so zu bleiben, wie ich bin? . . . Verhängnisvolle Frage! Die Macht ist ein unheilvolles Geschenk, wenn das, was ich in mir fühle, Macht ist. Pauline, gehe fort von mir, verlasse mich! Ich möchte lieber alle Qualen des Lebens ertragen als den Schmerz, Dich durch mich unglücklich zu sehen. Aber vielleicht hat der Dämon nur so viel Macht über meine Seele bekommen, weil keine sanften und weißen Hände bei mir waren, um ihn zu verjagen. Noch nie hat mir eine Frau den Balsam des Trostes gereicht, und ich weiß nicht, ob, wenn in solchen Augenblicken der Mattigkeit ihre Flügel über mir rauschten, sich nicht neue Kräfte in meinem Herzen entfalten würden. Vielleicht ist diese grausame Melancholie nur eine Frucht meiner Einsamkeit, einer der Schmerzen der verlassenen Seele, die klagt und ihre Schätze mit ungekannten Schmerzen bezahlt. Den leichten Freuden die leichten Leiden, dem unermeßlichen Glück die unerhörte Qual! Was für ein Urteilsspruch! Wenn er wahr wäre, sollten wir nicht für uns zittern, die wir so übermenschlich glücklich sind? Wenn uns die Natur die Dinge nach ihrem Wert verkauft, in welchen Abgrund müssen wir fallen? Ach, die Liebenden sind am besten daran, die mitten aus Jugend und Liebe heraus zusammen sterben! Welch eine Traurigkeit! Ahnt meine Seele eine böse Zukunft voraus? Ich prüfe und frage mich, ob etwas in mir ist, was Dir den leisesten Kummer bereiten könnte. Ich liebe Dich vielleicht als Egoist. Ich lege auf Dein liebes Haupt vielleicht eine Last, die schwerer ist, als meine Liebe Deinem Herzen wohltun kann. Wenn in mir eine unerbittliche Macht ist, der ich gehorche, wenn ich fluchen muß, wo Du die Hände zum Gebet faltest, wenn traurige Gedanken mich beherrschen, wo ich doch lieber zu Deinen Füßen säße, um mit Dir zu spielen, wie ein Kind, wirst Du dann nicht eifersüchtig sein auf diesen fordernden und unheimlichen Dämon? Verstehst Du denn auch, Du mein Herz, daß ich fürchte, Dir nicht ganz zu gehören, und daß ich gern auf alle Macht, auf allen Ruhm der Welt verzichten möchte, um Dich zu meinem ewigen Gedanken zu machen, um in unserer wundervollen Liebe ein schönes Leben und eine schöne Dichtung zu sehen; um meine ganze Seele in sie hineinzulegen, meine Kräfte in sie zu vergraben, und von jeder Stunde die Freuden zu fordern, die sie uns schuldig ist? Aber sieh, in dem Maße, wie die Erinnerung an unsere Liebe mir zurückkommt, verteilen sich die Wolken meiner Traurigkeit. Leb wohl! Ich verlasse Dich, um Dir noch mehr anzugehören. Mein geliebtes Herz, ich erwarte ein Wort, ein Zeichen, das mir den Frieden des Herzens zurückgibt. Wenn ich nur wüßte, ob ich meine Pauline wirklich traurig gemacht habe, oder ob nur ein unbestimmter Ausdruck Deines Gesichtes mich irre geführt hat. Ich möchte mir nicht vorzuwerfen haben, nach einem glücklichen Leben zu Dir gekommen zu sein, ohne ein Lächeln voller Liebe, ohne ein gutes Wort. Die Frau, die man liebt, betrüben, ist – für mich – ein Verbrechen, Pauline. Sage mir die Wahrheit, sage mir keine großmütige Lüge, aber nimm Deiner Verzeihung alle Grausamkeit.

 

Fragment

Ist eine so tiefe Zuneigung ein Glück? Ja, denn Jahre des Leids wiegen nicht eine Stunde der Liebe auf. Gestern huschte Deine Traurigkeit wie ein Schatten über meine Seele. Warst Du traurig oder hast Du gelitten? Ich habe gelitten. Woher kam dieser Schmerz? Schreibe mir schnell. Warum habe ich es nicht erraten? So sind wir also noch nicht vollkommen durch den Gedanken vereinigt? Ich sollte in einer Entfernung von zwei Meilen oder von tausend Meilen Deinen Kummer und Deine Schmerzen fühlen. Ich werde so lange nicht glauben, Dich zu lieben, solange mein Leben nicht so eng mit dem Deinen verbunden ist, daß wir ein und dasselbe Leben, ein und dasselbe Herz, ein und denselben Gedanken haben. Ich muß da sein, wo Du bist, sehen, was Du siehst, fühlen, was Du fühlst, und Dir in Gedanken folgen. Habe ich nicht als erster gewußt, daß Dein Wagen umgefallen, daß Du verletzt warst? Aber auch an jenem Tage hatte ich Dich nicht verlassen, ich sah Dich. Als mein Onkel mich fragte, warum ich so blaß geworden sei, sagte ich zu ihm: »Fräulein von Villenoix ist soeben gestürzt.« Warum habe ich da gestern nicht in Deiner Seele lesen können? Wolltest Du mir die Ursache Deines Kummers verbergen? Ich glaube erraten zu haben, daß Du bei dem gefürchteten Salomon, bei dem es mir eiskalt über den Rücken läuft, vergebliche Anstrengungen zu meinen Gunsten gemacht hast. Dieser Mann stammt nicht aus unserm Himmel. Warum willst Du, daß unser Glück, das in nichts dem Glück der anderen gleicht, sich den Gesetzen der Welt anpaßt? Aber ich liebe Deine tausend Bedenken, Deine Religion, Deine Gewissenhaftigkeit zu sehr, als daß ich nicht dem geringsten Deiner Einfälle gehorchen sollte. Was Du tun mußt, muß gut sein; es gibt nichts Reineres als Deine Gedanken, wie es nichts Schöneres gibt als Dein Antlitz, in dem sich Deine edle Seele widerspiegelt. Ich werde Deinen Brief abwarten, ehe ich mich auf den Weg mache, dem holden Augenblick entgegen, den Du mir gönnst. – Ach, wenn Du wüßtest, wie ich beim Anblick der Türme zittere, wenn ich sie endlich im Lichte des Mondes sehe, unseres Freundes, unseres einzigen Vertrauten.

 

IV.

Leb wohl, Ruhm, Zukunft, Leben, das ich mir erträumte. Jetzt, innig Geliebte, ist mein Ruhm, Dein zu sein, Deiner würdig, meine Zukunft ist einzig die Hoffnung, Dich zu sehen. Und mein Leben? Besteht es nicht darin, zu Deinen Füßen zu sitzen, mich unter Deinen Blicken auszuruhen, in dem Himmel, den Du mir geschaffen hast, aufzuatmen? Alle meine Kräfte, alle meine Gedanken sollen Dir gehören. Dir, die mir jene berauschenden Worte gesagt hat: »Ich fordere Deine Schmerzen.« Hieße es nicht, der Liebe die Freude, dem Glücke seine Augenblicke, Deiner himmlischen Seele Gefühle rauben, wenn ich dem Studium Stunden opferte, der Welt Ideen, den Dichtern Dichtungen? Nein, geliebtes Leben, alles will ich für Dich aufbewahren, ich will Dir alle Blumen meiner Seele bringen. Gibt es etwas, schön, kostbar genug unter den Schätzen der Erde und des Geistes, um ein Herz zu ehren, das so reich und so rein ist wie das Deine, dem ich das meine zu verbinden wage? Ja, zuweilen glaube ich, in meinem Dünkel, daß ich ebenso zu lieben verstünde wie Du. Aber nein, Du bist ein Engel in Frauengestalt: in dem Ausdruck Deiner Gefühle wird immer mehr Reiz, in Deiner Stimme mehr Wohllaut, in Deinem Lächeln mehr Anmut liegen als in dem meinen. Ja, laß mich glauben, daß Du ein Geschöpf aus einer höheren Sphäre bist als der, in der ich lebe; Du hast das stolze Bewußtsein, aus ihr herabgestiegen zu sein, und ich das, Dich verdient zu haben; und vielleicht wirst Du nicht enttäuscht sein, daß Du zu mir Armem und Unglücklichem gekommen bist. Ja, wenn die schönste Wohnung einer Frau ein Herz ist, das ihr ganz gehört, dann wirst Du immer in dem meinen herrschen. Kein Gedanke, keine Tat wird je dieses Herz, dieses kostbare Heiligtum verdunkeln, solange Du darin wohnen willst, aber wohnst Du denn nicht immer darin? Hast Du mir nicht dieses köstliche Wort gesagt: »Jetzt und immer«? »Et nunc et semper!« Ich habe dieses fromme Wort unter Dein Bild eingegraben, es ist Deiner würdig, wie es Gottes würdig ist. Er ist »Jetzt und immer«, wie es meine Liebe sein wird. Nein, nein, nie wird das erschöpft sein, was unermeßlich, unendlich, grenzenlos ist! Und so ist das Gefühl, das ich in mir für Dich empfinde; ich habe dessen unermeßliche Weite geahnt, wie wir den Raum nach dem Maß eines seiner Teile ahnen. Ich habe unaussprechliche Freuden gehabt, ganze Stunden seliger Andacht, wenn ich mich an eine Deiner Bewegungen erinnerte oder an den Ton eines Satzes. Es werden also Erinnerungen aufsteigen, unter deren Wucht ich zusammenbrechen werde, wenn schon das Erinnern einer holden und vertrauten Stunde mich vor Freude weinen läßt, mich ergreift, mir durchs Herz dringt und eine nicht zu stillende Quelle des Glücks wird. Lieben, das ist das Leben der Engel! Ich glaube, nie wird die Freude für mich aufhören, die ich empfinde, wenn ich Dich sehe. Durch diese Freude, die die bescheidenste von allen ist, zu der es aber immer an Zeit fehlt, lernte ich die ewigen Verzückungen kennen, in der die Seraphim und die Geister vor Gott stehen: nichts ist natürlicher, als wenn aus seinem Wesen ein Licht aufsteigt, das ebenso fruchtbar ist an neuen Gefühlen, wie es das Licht Deiner Augen ist, Deiner hohen Stirn, Deines schönen Antlitzes, das das himmlische Abbild Deiner Seele ist. Die Seele, dieses andere Ich, gibt die reine Form, denn sie vergeht nie und macht unsere Liebe unsterblich. Ich wünschte, es gäbe eine andere Sprache als die, deren ich mich bediene, um Dir die wieder auflebende Wonne meiner Liebe auszudrücken. Aber wenn es eine solche gibt, die wir selbst geschaffen haben, wenn unsere Blicke lebendige Worte sind, müssen wir uns da nicht sehen, um durch die Augen das Fragen und Antworten des Herzens zu vernehmen, das so stark und so durchdringend ist, daß Du mir eines Abends, als ich garnicht sprach, sagtest: »Schweig!« Weißt Du das noch, geliebtes Leben? Wenn ich fern von Dir bin, wenn ich in dem Dunkel der Trennung lebe, muß ich dann nicht menschliche Worte gebrauchen, die zu schwach sind, um göttliche Gefühle wiederzugeben? Die Worte deuten wenigstens die Furchen an, die diese Gefühle in meine Seele graben, wie das Wort »Gott« unvollkommen die Idee zusammenfaßt, die wir von diesem geheimnisvollen Urquell aller Dinge haben. Trotz der Gelehrsamkeit and Unendlichkeit der Sprache habe ich nie in ihren Ausdrücken etwas gefunden, was Dir die süße Umschlingung schildern könnte, durch die ich mich mit Dir verbunden fühle, wenn ich an Dich denke. Und mit welchem Wort sollte ich schließen, wenn ich aufhöre Dir zu schreiben, ohne Dich doch zu verlassen? Was bedeutet »Lebewohl«, wenn nicht sterben? Aber ist der Tod denn ein Lebewohl? Verbindet sich meine Seele nicht noch enger mit der Deinen? O, Du mein ewiger Gedanke! Sonst bot ich Dir auf den Knien mein Herz und mein Leben an; was für eine neue Blüte des Gefühls werde ich jetzt in meiner Seele finden, um sie Dir zu geben? Hieße das nicht, Dir einen Teil von dem geben, was Du schon ganz besitzest? Bist Du nicht meine Zukunft? Wie ist mirs um die Vergangenheit leid! Diese Jahre, die nicht mehr uns gehören, möchte ich Dir alle geben, damit Du in ihnen herrschest, wie Du über mein jetziges Leben herrschst. Aber was war mein Leben zu der Zeit, da ich Dich nicht kannte? Ein Nichts, wäre ich nicht so unglücklich gewesen.

 

Fragment

Geliebter Engel, welch ein schöner Abend war der gestrige! Wieviel Schätze besitzt Dein teures Herz! Deine Liebe ist wohl unerschöpflich wie die meine? Jedes Wort brachte mir neue Freuden, und jeder Blick macht sie nur noch tiefer. Der ruhige Ausdruck Deines Antlitzes gibt unsern Gedanken einen unbegrenzten Horizont. Ja, alles war unendlich wie der Himmel und lieblich wie seine azurne Bläue. Die Zartheit Deiner angebeteten Züge strahlte durch ein unerklärliches Wunder in Deinen anmutigen Bewegungen, Deinen ruhigen Gesten wider. Ich wußte wohl, daß Du ganz Anmut und ganz Liebe warst, aber ich ahnte nicht, wie verschiedenartig Deine Anmut sein konnte. Alles vereinigte sich, um eine süße Wollust in mir zu erwecken, um Dich inständig um die erste Gunst zu bitten, die eine Frau immer verweigert, gewiß, um sie sich rauben zu lassen. Aber nein, Du, Seele meines Lebens, Du weißt wohl nie im voraus, was Du meiner Liebe gewahren kannst, und Du wirst Dich hingeben, ohne daß Du es vielleicht willst. Du bist wahr und gehorchst nur Deinem Herzen. Wie der holde Ton Deiner Stimme sich mit den zarten Harmonien der reinen Luft und des stillen Himmels verbindet! Nicht ein Vogelschrei, nicht ein Lusthauch. Die Einsamkeit und wir! Das unbewegliche Laub zitterte nicht einmal in diesen wunderbaren Farben des Sonnenunterganges, die Licht und Schatten zugleich sind. Du hast diese himmlische Poesie gespürt, Du, die so viel verschiedene Gefühle verbindet und die Augen so oft zum Himmel emporhob, nur, um mir nicht zu antworten! Du, die so stolz und so heiter ist, so demütig und so gebieterisch, Du gibst Dich ganz mit der Seele, mit dem Gedanken hin und entziehst Dich den zaghaftesten Liebkosungen? Geliebte Koketterie des Herzens! Sie klingen noch immer in meinem Ohr, die süßen Worte, die halb gestammelt waren wie Kinderworte, und die weder ein Versprechen waren noch ein Geständnis, die aber der Liebe ihre schönen Hoffnungen ließen ohne Furcht und ohne Qual! Welch eine keusche Erinnerung für immer! Wie erschlossen sich alle Blumen, die im Grunde der Seele aussprießen und die ein Nichts vernichten kann, die gestern aber sich belebten und befruchteten. So wird es immer sein, nicht wahr, Geliebte? Während ich mich des Morgens all der frischen, lebendigen Wonne erinnere, die in jenem Augenblick aufquoll, empfinde ich ein Glück in der Seele, das mich die wahre Liebe wie einen Ozean von ewigen und immer neuen Freuden spüren läßt, in den man sich mit wachsender Seligkeit stürzt. Jeder Tag, jedes Wort, jede Liebkosung, jeder Blick muß den Tribut seiner vergangenen Freuden noch hinzufügen. Ja, die Herzen, die groß genug sind, um nichts zu vergessen, müssen bei jedem Herzschlag von ihren vergangenen Glückseligkeiten leben wie von all denen, die die Zukunft verheißt. Das träumte ich früher, und heute ist es kein Traum mehr. Bin ich nicht auf dieser Erde einem Engel begegnet, der mich alle Freuden kosten läßt, vielleicht, um mich dafür zu entschädigen, daß ich alle Schmerzen ertragen habe? Engel des Himmels, ich grüße dich mit einem Kuß.

Ich schicke Dir diese Hymne, die meinem Herzen entströmt, denn Dir verdanke ich sie. Aber sie wird Dir nur schwer eine Vorstellung von meiner Dankbarkeit geben können und von den Morgengebeten, die mein Herz täglich der Frau schickt, die mir das ganze Evangelium des Herzens in dem einen göttlichen Wort gesagt hat: »Glaube!«

 

V.

Wie, geliebtes Herz, kein Hindernis mehr? Wir werden einander angehören dürfen, jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick, immer! Wir werden alle Tage unseres Lebens glücklich sein können, wie wir es nur flüchtig in seltenen Augenblicken waren! Wie, unsere reinen, tiefen Gefühle werden sich in tausend holde Zärtlichkeiten kleiden, wie ich sie erträumt habe! Dein kleiner Fuß wird sich für mich entblößen; Du wirst ganz mein sein! Dieses Glück tötet mich, erdrückt mich. Mein Kopf ist zu schwach, er zerspringt bei der Heftigkeit meiner Gedanken. Ich weine und lache, ich fasele! Jede Freude ist wie ein glühender Pfeil, der mich durchsticht und versengt. In meiner Phantasie sehe ich Dich vor meinen entzückten, geblendeten Augen in den unzähligen und mutwilligen Formen, in die die Wollust sich kleidet. Unser ganzes Leben liegt vor mir, mit all seinen Wirbeln, seiner Ruhe, seinen Freuden. Es wallt auf, breitet sich aus, schläft ein, und erwacht dann wieder jung und frisch. Ich sehe uns beide vereint, wie wir in gleichem Schritt gehen, von dem gleichen Gedanken leben, immer einer im Herzen des anderen, einander verstehend, einander hörend, wie das Echo, das die Töne über den Raum hinweg empfängt und zurückgibt; kann man lange leben, wenn man auf diese Weise sein Leben stündlich aufzehrt? werden wir nicht in der ersten Umarmung sterben? Und was wird erst geschehen, wenn schon der süße Kuß an jenem Abend, da sich unsere Seelen verbanden, uns unsere Kräfte raubte? dieser Kuß ohne Dauer, Auflösung aller meiner Wünsche, ohnmächtiger Dolmetsch all der Gebete, die meiner Seele in den Stunden, da wir getrennt waren, entströmten und die wie Gewissensbisse auf dem Grunde meines Herzens verborgen waren? Ich, der ich mich wieder in die Hecke lagern mußte, um das Geräusch Deiner Schritte zu hören, wenn Du ins Schloß gingest, ich werde Dich also bewundern dürfen, so lange ich will, werde sehen, wie Du Dich bewegst, wie Du lachst, spielst, sprichst, gehst! Freuden ohne Ende! Du weißt nicht, was ich für Glückseligkeiten empfinde, wenn ich Dich kommen und gehen sehe: man muß ein Mann sein, um diese tiefen Erregungen fühlen zu können. Jede Deiner Bewegungen verursacht mir mehr Glückseligkeit als einer Mutter der Anblick ihres spielenden oder schlafenden Kindes. Ich liebe Dich mit allen Arten der Liebe. Der Zauber der geringsten Deiner Bewegungen ist immer wieder neu für mich. Ich glaube, ich werde die Nächte damit zubringen, Deinen Atem einzuatmen, ich möchte in allen Deinen Lebensäußerungen sein, möchte die Substanz Deines Gedankens, möchte Du selbst sein. Mit einem Wort: ich verlasse Dich nie mehr! Kein menschliches Gefühl wird mehr unsere Liebe stören, die unendlich ist in ihren Wandlungen und rein wie alles, was eines ist; unsere Liebe ist weit wie das Meer, weit wie der Himmel. Du bist mein, ganz mein! Ich darf also tief in Deine Augen blicken, um dort Deine geliebte Seele zu ahnen, die sich abwechselnd verbirgt und enthüllt, und um Deine Wünsche zu erspähen. Geliebte, höre an, was ich Dir noch nicht zu sagen wagte, was ich Dir aber heute gestehen kann. Ich empfand eine Scheu in meiner Seele, die sich dagegen sträubte, meine Gefühle ganz auszudrücken, und ich versuchte, sie in die Form der Gedanken einzukleiden. Jetzt aber möchte ich mein Herz ganz nackt hinstellen, möchte Dir die ganze Glut meiner Träume sagen, Dir das heiße Begehren meiner Sinne enthüllen, die durch die Einsamkeit, in der ich lebte, aufgespeichert waren und aufgeweckt wurden durch Dich! Durch Dich, die Du so lieblich in der Erscheinung und so anziehend im Wesen bist. Aber kann ich Dir zum Ausdruck bringen, wie ich durch diese ungekannte Glückseligkeit, ein geliebtes Weib zu besitzen, aufgewühlt hin, durch diese Glückseligkeit welcher zwei durch die Liebe eng verbundene Seelen die Kraft unerhörter Verschmelzung geben müssen? Wisse, Pauline, stundenlang war ich in einer wahren Betäubung, die durch die Heftigkeit meiner leidenschaftlichen Wünsche verursacht war, und war versunken in dem Gefühl einer Zärtlichkeit, wie in einem bodenlosen Abgrund. In solchen Augenblicken verdichtete sich und verschmolz mein ganzes Leben, meine Gedanken und meine Kräfte zu dem, was man Begierde nennt; es gibt kein anderes Wort für diese namenlose Trunkenheit! Und jetzt kann ich Dir gestehen, daß ich an dem Tage, da ich die Hand zurückwies, die Du mir mit so schöner Geste reichtest – was Dich an meiner Liebe zweifeln ließ – ich mich in einem Zustand des Wahnsinns befand, in dem man einen Mord ersinnt, um eine Frau zu besitzen. Ja, hätte ich Deinen Händedruck, den Du mir botest, ebenso tief gefühlt, wie Deine Stimme in meinem Herzen widerhallte, ich weiß nicht, wohin mich die Leidenschaftlichkeit meines Verlangens geführt hätte. Aber ich kann schweigend viel erdulden. Warum soll ich von meinen Schmerzen sprechen, da meine Sehnsucht Wirklichkeit geworden ist? Jetzt darf ich aus unserm ganzen Leben eine einzige Liebkosung machen! Liebe Geliebte, es liegt ein solcher Glanz auf Deinen schwarzen Haaren, daß ich mit Tränen in den Augen viele Stunden damit hätte zubringen können, Deine geliebte Gestalt anzuschauen, wenn Du mir nicht, Dich wegwendend, gesagt hättest: »Genug, Du machst mich schamrot!« Morgen wird also unsere Liebe bekannt! Ach, Pauline, die Blicke der andern, die allgemeine Neugier schnürt mir das Herz zusammen. Wir wollen nach Villenoix gehen und dort, fern von allen, bleiben. Ich wünschte, kein Geschöpf mit menschlichem Antlitz beträte das Heiligtum, in dem Du mein sein wirst; ich wünschte sogar, daß es nach uns nicht mehr bestünde, daß es zerstört würde. Ja, ich möchte vor der ganzen Natur ein Glück verbergen, das wir allein verstehen, das wir allein empfinden können und das so groß ist, daß ich mich hineinwerfen könnte, um zu sterben: es ist ein Abgrund. Erschrick nicht über die Tränen, die diesen Brief genetzt haben, es sind Freudentränen. Mein einziges Glück, wir werden uns also nie mehr verlassen!«

 

Im Jahre 1825 fuhr ich mit der Post von Paris in die Touraine. In Mer nahm der Schaffner einen Fahrgast nach Blois auf. Er ließ ihn in den Teil des Wagens einsteigen, in dem ich mich befand, und sagte scherzend zu ihm: »Hier wird Sie niemand stören, Herr Lefebvre!« Und in der Tat, ich war der einzige Fahrgast. Als ich den Namen hörte und einen Greis mit weißen Haaren erblickte, der mindestens achtzig Jahre alt zu sein schien, mußte ich natürlich an Lamberts Onkel denken. Nach einigen einleitenden Fragen erfuhr ich denn auch, daß ich mich nicht geirrt hatte. Der Alte war zur Weinernte nach Mer gefahren und kehrte nun nach Blois zurück. Sofort fragte ich ihn nach meinem ehemaligen »Gefährten«. Beim ersten Wort wurde das Gesicht des alten Oratorianers, das schon an sich ernst und streng war wie das eines alten Soldaten, der viel gelitten hat, traurig und düster; die Falten auf seiner Stirn zogen sich leicht zusammen; er preßte die Lippen aufeinander, sah mich mit einem fragenden Blick an und sagte dann zu mir: »So haben Sie ihn denn seit der Schule nicht wiedergesehen?«

»Nein«, antwortete ich ihm. »Aber wir sind alle beide Schuld daran, daß wir uns vergessen haben. Sie wissen, junge Leute führen ein so abenteuerliches und unruhiges Leben, wenn sie von der Schulbank kommen, daß man sich erst wiederfinden muß, um zu wissen, wie sehr man sich noch liebt. Doch manchmal kommen einem die Jugenderinnerungen zurück, man kann einander nicht ganz vergessen, besonders, wenn man so eng miteinander befreundet war wie Lambert und ich. Man nannte uns ›Der Dichter-und-Pythagoras‹.«

Ich nannte ihm meinen Namen, und als er ihn hörte, verdüsterte sich sein Gesicht noch mehr.

»So kennen Sie also seine Geschichte nicht?« begann er wieder. »Mein armer Neffe wollte die reichste Erbin von Blois heiraten, aber am Vorabend seiner Hochzeit wurde er irrsinnig!«

»Lambert irrsinnig!« schrie ich vor Entsetzen aus. »Und wodurch? Er besaß den reichsten Geist, den gescheitesten Kopf, das schärfste Urteil, das mir je begegnete. Ein schöner Genius, der vielleicht nur einen zu großen Hang zur Mystik hatte; aber das beste Herz von der Welt! So ist ihm denn etwas ganz Außergewöhnliches zugestoßen?«

»Ich sehe, daß Sie ihn gut gekannt haben,« sagte der Greis.

Und so sprachen wir denn von Mer bis Blois von meinem armen Kameraden und machten lange Abschweifungen, durch die ich die Einzelheiten erfuhr, die ich zu dieser Erzählung geordnet habe. Ich berichtete seinem Onkel von unsern geheimen Studien, von der Art der Beschäftigung seines Neffen, und der Greis erzählte mir die Ereignisse in Lamberts Leben, seitdem ich ihn verlassen hatte. Nach Herrn Lefebvre hatte Lambert schon vor seiner Heirat Anzeichen von Wahnsinn gehabt; aber da er diese Symptome mit allen jenen teilte, die leidenschaftlich lieben, so erschienen sie mir weniger charakteristisch, als ich von der Heftigkeit seiner Liebe erfuhr und Fräulein von Villenoix kennen lernte. In der Provinz, wo Ideen etwas so seltenes sind, mußte ein Mensch, der wie Louis von neuen Gedanken und von einem System erfüllt war, zum mindesten für einen Sonderling gelten. Seine Art zu sprechen mußte Erstaunen erregen, umso mehr, da er überhaupt wenig sprach. Louis sagte zum Beispiel: »Dieser Mensch ist nicht aus meinem Himmel«, wo andere sagen würden: »Wir werden keinen Scheffel Salz zusammen essen.« Jeder Mensch von Talent hat seine besonderen Eigenheiten. Je größer das Genie ist, desto auffallender sind die Eigentümlichkeiten, die die verschiedenen Grade von Originalität ausmachen. In der Provinz gilt ein Original für halb verrückt. Die ersten Worte von Herrn Lefebvre ließen mich also an dem Irrsinn meines Schulfreundes zweifeln. Während ich dem Greis zuhörte, kritisierte ich im Innern seine Erzählung. Der ernsteste Vorfall hatte sich ein paar Tage vor der Hochzeit der beiden Liebenden ereignet. Louis hatte ein paar charakteristische Anfälle von Starrsucht gehabt. Neunundfünfzig Stunden war er unbeweglich geblieben mit starren Augen, ohne zu sprechen und zu essen; ein rein nervöser Zustand übrigens, in den bestimmte Menschen zu Zeiten heftiger Leidenschaft verfallen können; ein seltenes Phänomen jedoch, dessen äußere Anzeichen den Ärzten aber durchaus bekannt sind. Das Merkwürdige war nur, daß Louis nicht schon früher Anfälle dieser Krankheit gehabt hatte, da sein Hang zur Ekstase und die Art seines Denkens ihn dafür wie geschaffen sein ließen. Aber seine äußere wie innere Konstitution war so stark, daß sie bis dahin dem übergroßen Kräfteverbrauch wohl standgehalten hatte. Die gewaltige Erregung, die ihm die Erwartung der höchsten physischen Lust verursachen mußte, die bei ihm noch durch die Keuschheit des Körpers und die Stärke der Seele gesteigert war, hatte diese Krisis herbeigeführt, deren Wirkungen ebenso wenig bekannt sind wie ihre Ursachen. Die Briefe, die der Zufall aufbewahrt hat, beweisen übrigens deutlich den Übergang von dem reinen Idealismus, in dem er lebte, zur heftigsten Sinnlichkeit. Früher waren uns diese Art Phänomene bewundernswert erschienen, denn Lambert hatte in ihnen die gelegentliche Scheidung unserer beiden Naturen erblickt und die Symptome eines völligen Fehlens jenes »inneren Wesens«, das sonst seine unbekannten Fähigkeiten unter der Herrschaft einer unerforschten Ursache entfaltet. Diese Krankheit nun, die ein ebenso tiefer Abgrund war wie der Schlaf, hing mit den Beweisführungen zusammen, die Lambert in seiner »Abhandlung über den Willen« gebracht hatte. Als mir Herr Lefebvre von dem ersten Anfall Louis' sprach, entsann ich mich plötzlich einer Unterhaltung, die wir nach der Lektüre eines medizinischen Buches über den gleichen Gegenstand gehabt hatten.

»Ein tiefes Nachdenken, eine schöne Ekstase sind vielleicht«, so hatte er damals abschließend gesagt, »der Anfang von Starrsucht.«

An dem Tage, da er diesen Gedanken so kurz ausdrückte, hatte er versucht, die Phänomene des Geistes durch eine Kette von Wirkungen miteinander zu verbinden, wobei er Schritt für Schritt alle Auswirkungen der Intelligenz verfolgte und bei den einfachen Bewegungen des rein tierischen Instinktes begann, der so vielen Wesen genügt, vor allem gewissen Menschen, deren Kräfte in einer rein mechanischen Arbeit aufgehen. Dann ging er zur Verbindung der Gedanken über und kam so zum Vergleich, zur Reflexion, zur Meditation und schließlich zur Ekstase und zur Starrsucht. Lambert glaubte mit dem kindlichen Selbstbewußtsein der Jugend, den Plan zu einem schönen Buche entworfen zu haben, wenn er auf diese Weise die verschiedenen Stufen der inneren Kräfte des Menschen staffelförmig aufstellte. Ich besinne mich, daß wir durch einen jener Zufälle, die an Prädestination glauben lassen, das große Martyrologium in die Hände bekamen, in dem die merkwürdigsten Tatsachen über die völlige Abtötung des Körpers stehen, zu der der Mensch in den Paroxysmen seiner inneren Fähigkeiten gelangen kann. Während Lambert über die Wirkungen des Fanatismus nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß die Gesamtheit der Ideen, denen wir den Namen Gefühle geben, sehr gut die materielle Auswirkung irgend eines Fluidums sein könnte, das die Menschen mehr oder minder reichlich hervorbringen, nach Art ihrer Organe, die die zeugenden Substanzen aus dem Milieu nehmen, in dem sie leben. Wir waren leidenschaftlich interessiert, und mit dem Eifer, mit dem Kinder ihre Unternehmungen betreiben, versuchten wir, den Schmerz zu ertragen, »indem wir an etwas anderes dachten«. Wir bemühten uns sehr, um Erfahrungen zu machen, die denen der Verzückten aus dem letzten Jahrhundert glichen, und deren religiöser Fanatismus der menschlichen Wissenschaft einmal von Nutzen sein wird. Ich stellte mich zu Beispiel auf Lamberts Magen und blieb dort mehrere Minuten lang stehen, ohne ihm den geringsten Schmerz zu verursachen. Aber trotz dieser tollen Versuche bekamen wir doch keinen Anfall von Starrsucht. – Diese Abschweifung schien mir notwendig, um meine ersten Zweifel zu erklären, die Herr Lefebvre jedoch völlig verscheuchte.

»Als sein Anfall vorüber war,« sagte er, »fiel mein Neffe in einen Zustand tiefen Entsetzens, in eine Melancholie, die nichts verscheuchen konnte. Er hielt sich für impotent. Ich überwachte ihn mit der Aufmerksamkeit einer Mutter und überraschte ihn glücklicherweise in dem Augenblick, da er an sich die Operation vornehmen wollte, der Origines sein Talent zu verdanken glaubte. Ich brachte ihn sofort nach Paris, um ihn der Pflege des Herrn Esquirol anzuvertrauen. Während der Reise blieb Louis in einem fast dauernden Schlafzustand und erkannte mich nicht. In Paris hielten ihn die Ärzte für unheilbar und rieten einstimmig, ihn in der tiefsten Einsamkeit zu belassen, die Ruhe nicht zu stören, die für seine, zwar unwahrscheinliche Heilung notwendig war, und ihn in ein luftiges Zimmer zu bringen, in dem immer gedämpftes Licht war.« – »Fräulein von Villenoix, der ich Louis' Zustand verheimlicht hatte«, begann er wieder, wobei er die Augen halb schloß, »deren Heirat aber nun für unmöglich galt, kam nach Paris und hörte dort das Urteil der Ärzte. Sogleich wünschte sie meinen Neffen zu sehen, der sie kaum wiedererkannte. Dann wollte sie, nach Art schöner Seelen, alles Notwendige für seine Heilung selbst tun. ›Ich wäre ja dazu verpflichtet gewesen‹, sagte sie, ›wenn er mein Gatte geworden wäre; sollte ich für meinen Geliebten weniger tun?‹ So brachte sie Louis nach Villenoix, wo beide seit zwei Jahren wohnen.«

Anstatt meine Reise fortzusetzen, machte ich in Blois halt, in der Absicht, Louis zu sehen. Der gute Lefebvre gab nicht zu, daß ich anderswo als in seinem Hause abstiege, wo er mir das Zimmer seines Neffen zeigte, dessen Bücher und alles, was ihm gehört hatte. Bei jedem Gegenstand entfuhr dem Greis ein schmerzlicher Ausruf, der die Hoffnungen verriet, die Lamberts frühreifes Genie in ihm hatte aufkeimen lassen, und die tiefe Trauer, in die ihn dieser unwiderbringliche Verlust versetzt hatte.

»Dieser junge Mensch wußte alles«, sagte er und legte den Band auf den Tisch, der die Werke Spinozas enthielt. »Wie konnte ein so gut ausgestatteter Kopf so zerstört werden?«

»Aber«, antwortete ich ihm, »ist es denn nicht vielmehr eine Wirkung seines gewaltigen Organismus? Wenn er wirklich dieser in all ihren Erscheinungen noch unbeobachteten Krisis zum Opfer gefallen ist, die wir Wahnsinn nennen, so möchte ich dafür in seiner Leidenschaftlichkeit die Ursache sehen. Seine Studien, seine Lebensführung hatten seine Kräfte und Fähigkeiten derart gesteigert, daß darüber hinaus bei der geringsten Übererregung die Natur versagen mußte; die Liebe hat ihn also zerbrochen oder hat ihn zu einer neuen Ausdrucksform erhoben, die wir vielleicht verleumden, wenn wir sie benennen, ohne sie zu kennen. Vielleicht sah er in dem Glück seiner Ehe ein Hindernis für die Vervollkommnung seiner inneren Sinne und für seinen Flug durch die geistigen Welten?«

»Mein lieber Herr«, entgegnete der Greis, nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, »Ihre Schlußfolgerungen sind sicher sehr logisch; aber selbst wenn ich sie verstände, würde mich dieses traurige Wissen über den Verlust meines Neffen trösten?«

Der Onkel Lamberts war einer von den Menschen, die nur durch das Gefühl leben.

Am nächsten Tag brach ich nach Villenoix auf. Der gute Alte begleitete mich bis an das Tor von Blois. Als wir auf dem Wege waren, der nach Villenoix führt, blieb er stehen und sagte:

»Sie werden begreifen, daß ich nicht dorthin gehe. Aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. In Gegenwart von Fräulein von Villenoix tun Sie so, als merkten Sie nicht, daß Louis wahnsinnig ist!« Er blieb unbeweglich an der Stelle stehen, an welcher ich ihn verlassen hatte und von wo er mir nachsah, bis er mich aus den Augen verlor. Ich ging nicht ohne große Erregung auf das Schloß von Villenoix zu. Meine Gedanken wuchsen mit jedem Schritt auf diesem Wege, den Louis so oft zurückgelegt hatte, das Herz voller Hoffnung, die Seele aufgewühlt durch die Erregung der Liebe. Die Bäume und Sträucher, die Abwechselungen dieses gewundenen Weges, der zu beiden Seiten durch kleine Schluchten unterbrochen war, bekamen ein eigenes Interesse für mich. Ich wollte in ihnen die Eindrücke und Gedanken meines armen Freundes wiederfinden. Zweifellos hatten die abendlichen Gespräche am Rande dieser Hecke, bis zu der ihm seine Geliebte entgegenkam, Fräulein von Villenoix in die Geheimnisse dieser edlen und weiten Seele eingeweiht, wie es Jahre vorher auch mir geschehen war.

Aber was mich am meisten beschäftigte und meiner Pilgerfahrt neben den fast religiösen Gefühlen, die mich leiteten, beinahe einen Anstrich von Neugier gab, war dieser wunderbare Glaube von Fräulein von Villenoix, von dem der Greis mir erzählt hatte: war sie mit der Zeit von dem Irrsinn ihres Geliebten angesteckt worden, oder war sie so tief in seine Seele eingedrungen, daß sie alle Gedanken verstand, selbst die verwirrtesten? Ich verlor mich in diesem wunderbaren Gefühlsproblem, das die schönsten Eingebungen und die schönste Aufopferung der Liebe noch übertraf. Denn daß einer für den andern starb, war ein fast gewöhnliches Opfer. Aber für eine einzige Liebe treu leben, ist ein Heroismus, der einst Fräulein Dupuis unsterblich gemacht hat. Wenn der große Napoleon und Lord Byron dort Nachfolger hatten, wo sie geliebt hatten, dann darf man die Witwe Bolingbrokes bewundern; aber während Fräulein Dupuis von der Erinnerung an mehrere Jahre des Glückes zehren konnte, hatte Fräulein von Villenoix nur die Liebe in ihren ersten Erregungen gekannt und war für mich daher der Typ von einer Aufopferung im weitesten Sinne des Wortes. War sie selbst fast irrsinnig geworden, so war sie erhaben; aber verstand, erklärte sie den Irrsinn, dann gesellte sie zu der Schönheit eines großen Herzens das Wunder einer Leidenschaft, die wert war, ergründet zu werden.

Als ich die hohen Türme des Schlosses sah, deren Anblick den armen Lambert so oft erregt haben mochte, klopfte mein Herz heftig. Ich hatte mich in sein Leben und in seine Lage hineinversetzt, indem ich mir alle Ereignisse unserer Jugend zurückrief. Endlich kam ich in einen großen stillen Hof und ging bis in die Vorhalle des Schlosses, ohne jemandem zu begegnen. Aus das Geräusch meiner Schritte kam eine alte Frau herbei, der ich den Brief übergab, den Herr Lefebvre an Fräulein von Villenoix geschrieben hatte. Bald kam dieselbe Frau zurück und führte mich in einen niedrigen Raum, der mit schwarzen und weißen Marmorfliesen ausgelegt war und dessen Fensterläden geschlossen waren; ganz im Hintergrund desselben erblickte ich endlich Louis Lambert.

»Nehmen Sie Platz, mein Herr!« sagte eine sanfte Stimme zu mir, die mir tief ins Herz drang.

Fräulein von Villenoix stand neben mir, ohne daß ich sie bemerkt hatte, und hatte mir geräuschlos einen Stuhl gebracht, auf den ich mich jedoch anfangs noch nicht setzte. Die Dunkelheit war so tief, daß mir Fräulein von Villenoix und Louis nur wie zwei dunkle Massen vorkamen, die sich von dem Hintergrund dieser dämmerigen Atmosphäre abhoben. Ich setzte mich nieder, von einem Gefühl ergriffen, wie es uns oft gegen unsern Willen unter den düsteren Bogen einer Kirche überkommt. Meine Augen, vom Sonnenlicht noch geblendet, gewöhnten sich nur langsam an diese künstliche Nacht.

»Der Herr ist dein Schulfreund!« sagte sie zu ihm.

Lambert antwortete nicht. Endlich konnte ich ihn sehen, und es bot sich mir ein Anblick dar, wie er sich einem für immer ins Gedächtnis eingräbt. Er stand und hatte beide Ellenbogen auf eine aus der Holztäfelung hervorspringende Leiste gestützt, sodaß sein Oberkörper unter der Last des nach vorn geneigten Kopfes nachzugeben schien. Sein Haar, das so lang war wie Frauenhaar, fiel auf seine Schultern und umgab sein Gesicht, daß es den Büsten glich, welche die großen Männer aus der Zeit Ludwigs XIV. darstellen. Sein Antlitz war vollkommen bleich. Er hatte die nicht zu bezwingende Angewohnheit, ein Bein gegen das andere zu reiben, wodurch ein gräßliches Geräusch entstand. Neben ihm auf einem Brett lag eine mit Moos gestopfte Matratze.

»Er legt sich nur sehr selten hin«, sagte Fräulein von Villenoix zu mir, »aber wenn er es tut, dann schläft er immer gleich mehrere Tage hintereinander.«

Louis blieb so, wie ich ihn jetzt sah, Tag und Nacht stehen, mit starren Augen, ohne, wie wir es zu tun pflegen, die Lider zu bewegen. Nachdem ich Fräulein von Villenoix gefragt hatte, ob ein wenig mehr Licht Lambert kein Unbehagen verursachen würde, öffnete ich auf ihre Antwort ein wenig die Vorhänge und konnte so den Ausdruck auf dem Gesicht meines Freundes sehen. Ach, er hatte schon tiefe Runzeln und weiße Haare, in seinen Augen war kein Glanz mehr, sie waren glasig geworden wie die eines Blinden. Alle Züge schienen wie durch einen Krampf nach oben gezogen. Ich versuchte mehrmals, mit ihm zu sprechen, aber er hörte mich nicht. Er war eine irdische Hülle, die man dem Grab entrissen hatte, ein Beutestück, das das Leben dem Tod oder der Tod dem Leben abgerungen hatte. Wohl eine Stunde lang war ich in eine unerklärliche Träumerei versunken, in tausend traurige Gedanken. Ich hörte Fräulein von Villenoix zu, die mir in allen Einzelheiten von diesem wieder zum Kinde gewordenen Manne erzählte. Plötzlich hörte Louis auf, seine Beine aneinander zu reiben, und sagte mit langsamer Stimme: »Die Engel sind weiß«.

Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den dieses Wort auf mich machte und der Klang dieser so geliebten Stimme, deren schmerzlich erwarteter Ton mir nun für immer verloren schien. Ohne daß ich es hindern konnte, füllten sich meine Augen mit Tränen. Wie eine Ahnung fuhr es mir blitzschnell durch die Seele und ließ mich daran zweifein, ob Louis den Verstand auch wirklich verloren hätte. Zwar war ich sicher, daß er mich weder sah noch hörte, aber der Wohllaut seiner Stimme, der eine himmlische Glückseligkeit offenbarte, gab diesen Worten eine unwiderstehliche Macht. Sein Wort, eine unvollständige Offenbarung aus einer unbekannten Welt, klang in unsern Seelen wider wie das wunderbare Läuten einer Kirchenglocke in der tiefen Nacht. Es setzte mich nun nicht mehr in Erstaunen, daß Fräulein von Villenoix Louis geistig für völlig klar hielt. Vielleicht hatte das Leben der Seele das Leben des Körpers vernichtet. Vielleicht hatte seine Gefährtin, gleich mir, in jenem Augenblick eine unbestimmte Vorstellung von jener klingenden und blühenden Welt, die wir im weitesten Sinne »Himmel« nennen. Diese Frau, dieser Engel, blieb unentwegt dort vor einem Strickrahmen sitzen, und jedesmal, wenn sie die Nadel zog, blickte sie Lambert traurig und liebevoll zugleich an. Da ich außerstande war, dieses furchtbare Schauspiel noch länger zu ertragen – denn ich vermochte es nicht, wie Fräulein von Villenoix, alle seine Geheimnisse zu erraten – verließ ich den Raum, und wir gingen ein paar Augenblicke auf und ab, um von ihr und Lambert zu sprechen.

»Natürlich muß Louis irrsinnig erscheinen,« sagte sie zu mir, »aber er ist es nicht, wenn das Wort irrsinnig sich nur auf diejenigen beziehen soll, deren Gehirn aus unbekannten Ursachen gestört ist und deren Handlungen unzusammenhängend erscheinen. Aber bei meinem Gatten ist alles logisch miteinander verknüpft. Wenn er Sie nicht physisch erkannt hat, so glauben Sie nicht, daß er Sie nicht gesehen habe. Ihm ist es gelungen, sich von seinem Körper loszumachen, und er sieht uns in einer anderen Form, ich weiß freilich nicht, in welcher. Wenn er spricht, sagt er wunderbare Dinge. Nur vollendet er oft durch das Wort eine Idee, die in seinem Geist begonnen hat, oder er beginnt einen Satz, den er dann im Geiste vollendet. Den anderen Menschen würde er geistesgestört erscheinen, mir, die ich in seinen Gedanken lebe, sind alle seine Ideen klar. Ich gehe den gleichen Weg, den sein Geist geht; und wenn ich auch nicht alle Umwege kenne, so treffe ich doch am Ziel mit ihm zusammen. Wem ist es nicht schon oft geschehen, daß er an etwas ganz Belangloses dachte und dabei, durch Ideen oder Erinnerungen veranlaßt, zu einem ernsten Gedanken geführt wurde? Ein Denker, der irgend ein nichtssagendes Wort – den unschuldigen Ausgangspunkt schnellen Denkens ausgesprochen hat, vergißt und verschweigt die abstrakten Folgerungen, die ihn zu seinem Schluß geführt haben, und er greift erst wieder zum Wort, um das letzte Glied dieser Kette von Reflexionen zu zeigen. Die gewöhnlichen Sterblichen, denen diese schnelle geistige Vision unbekannt ist, und die von der inneren Arbeit der Seele nichts wissen, lachen über den Träumer und behandeln ihn wie einen Irrsinnigen, wenn diese Art von Vergeßlichkeit oft bei ihm bemerkbar ist. Louis ist nun immer so: er bewegt sich unablässig im Raum des Gedankens und durchquert ihn mit der Schnelligkeit einer Schwalbe; ich kann ihm dabei folgen. Das ist die Geschichte seines Wahnsinns. Vielleicht wird Louis eines Tages in das Leben zurückkehren, in dem wir vegetieren; aber wenn er die Luft des Himmels atmen darf, ehe es uns verstattet ist, warum sollen wir da wünschen, ihn wieder unter uns zu sehen? Ich bin zufrieden, sein Herz klopfen zu hören; und mein ganzes Glück besteht darin, bei ihm zu sein. Ist er nicht ganz mein? In drei Jahren habe ich ihn zweimal für ein paar Tage ganz besessen: in der Schweiz, wohin ich ihn gebracht hatte, und in der Bretagne auf einer Insel, wo er Seebäder nehmen sollte. Ich bin zweimal überglücklich gewesen. Ich kann von Erinnerungen leben.«

»Und schreiben Sie die Worte auf, die ihm entschlüpfen?« fragte ich sie.

»Warum sollte ich das?« antwortete sie.

Ich schwieg. Unser menschliches Wissen war so klein vor dieser Frau.

»In der ersten Zeit,« begann sie von neuem, »wenn er sprach, habe ich seine Sätze wohl festhalten können, aber dann habe ich aufgehört, es zu tun. Ich verstand damals nichts davon.«

Ich bat sie mit einem Blick, den sie verstand. Hier folgt das, was ich der Vergessenheit habe entreißen können.

  1. Hienieden ist alles das Produkt einer »ätherischen Substanz«, der gemeinsamen Basis mehrerer Phänomene, die unter den unzulänglichen Namen »Elektrizität«, »Wärme«, »Licht«, »galvanisches und magnetisches Fluidum« bekannt sind. Die Gesamtheit der Wandlungen dieser Substanz schafft das, was man gemeinhin die Materie nennt.
  2. Das Gehirn ist die Retorte, in die das »Tier« alles das hineinträgt, was, nach dem Vermögen dieses Apparates, jeder seiner Teile von dieser »Substanz« verarbeiten kann und aus dem es als Willen verwandelt wieder herauskommt.
    Der Wille ist ein Fluidum, das jedem Wesen, das mit Bewegung begabt, eigen ist. Daher die unzähligen Formen, nach denen das »Tier« strebt und die die Ergebnisse seiner Verbindung mit der »Substanz« sind. Seine Instinkte sind das Produkt der Notwendigkeit, das das Milieu, in dem es sich entwickelt, ihm auferlegt. Daher seine Verschiedenartigkeiten.
  3. Im Menschen wird der Wille zu einer Kraft, die ihm eigen ist und die an Intensität diejenige aller Gattungen übertrifft.
  4. Durch seine dauernde Nahrungsaufnahme ist der Wille mit der »Substanz« verbunden, die er in allen Wandlungen wiederfindet, indem er sie mit dem Gedanken durchdringt, welcher seinerseits ein besonderes Produkt des menschlichen Willens ist, der mit den verschiedenen Formen der Substanz in Verbindung steht.
  5. Aus der größeren oder geringeren Vollkommenheit des menschlichen Organismus resultieren die unzähligen Formen, nach denen der Gedanke strebt.
  6. Der Wille äußert sich durch die Organe, die gewöhnlich die fünf Sinne benannt werden, aber nur ein einziger Sinn sind: die Fähigkeit zu sehen. Gefühl, Geschmack, Gehör und Geruch sind nur ein Sehen, das sich den Wandlungen der Substanz anpaßt, die der Mensch in seinen beiden Stadien aufnehmen kann: verwandelt und nicht verwandelt.
  7. Alle Dinge, die durch die Form in das Bereich des einzigen Sinnes, des Sehens, fallen, beschränken sich auf einige elementare Körper, deren Grundstoffe in der Luft und im Licht oder in den Grundstoffen von Luft und Licht enthalten sind. Der Ton ist eine Abwandlung der Luft, alle Farben sind Abwandlungen des Lichtes, jeder Duft ist eine Verbindung von Luft und Licht. So haben die vier Darstellungsarten der Materie, die sich auf den Menschen beziehen: der Ton, die Farbe, der Duft und die Form ein und denselben Ursprung. Denn der Tag wird nicht mehr fern sein, an dem man den Zusammenhang der Grundstoffe des Lichtes mit denen der Luft erkennen wird. Der Gedanke, der sich auf das Licht bezieht, drückt sich in dem Wort aus, das dem Reich des Klanges entlehnt ist. Für ihn rührt also alles von der Substanz her, deren verschiedene Formen sich nur durch die »Zahl« unterscheiden, durch eine gewisse »Dosierung«, deren Zusammenstellung die Individuen oder Dinge aus den sogenannten »Naturreichen« hervorbringen.
  8. Wenn die Substanz in einer hinreichenden »Zahl« absorbiert ist, macht sie aus dem Menschen einen Apparat von gewaltiger Kraft, die mit dem Prinzip der Substanz selbst in Verbindung steht und auf die organisierte Natur in der Weise großer Ströme wirkt, die die kleinen aufnehmen. Das Wollen setzt diese Kraft in Bewegung, die vom Gedanken unabhängig ist und die durch ihre Konzentration einige der Eigenschaften der Substanz erhält, wie die Schnelligkeit des Lichtes und das Eindringen der Elektrizität, wozu man noch das hinzufügen muß, was sie selbst vermag. Es besteht aber im Menschen ein ursprüngliches und herrschendes Phänomen, das keine Analyse duldet. Man mag den ganzen Menschen zerlegen, man wird vielleicht die Elemente des Gedankens und des Willens finden, aber immer begegnet man – ohne es erklären zu können – diesem X, an dem ich mich früher immer gestoßen habe. Dieses X ist das Wort, dessen Übermittlung diejenigen verbrennt und verzehrt, die nicht vorbereitet sind, es zu empfangen. Es erzeugt unablässig die Substanz.
  9. Der Zorn, so wie jede Äußerung der Leidenschaft, ist ein Strom der menschlichen Kraft, der elektrisch wirkt. Dieser Schlag, wenn er sich entlädt, wirkt auf die anwesenden Personen, selbst wenn diese weder sein Ziel noch seine Ursache sind. Begegnet man nicht Menschen, die durch ein Entladen ihres Wollens die Gefühle der Massen leiten?
  10. Der Fanatismus und alle Gefühle sind lebendige Kräfte. Diese Kräfte werden hei gewissen Wesen zu Strömen des Willens, die alles vereinen und mit sich reißen.
  11. Wenn der Raum existiert, so geben gewisse Fähigkeiten die Kraft, ihn mit einer solchen Schnelligkeit zu durchschreiten, daß ihre Wirkungen seiner Aufhebung gleichkommen. Von deinem Bett bis zur Grenze der Welt gibt es nur zwei Schritte: den Willen – den Glauben! –
  12. Tatsachen sind nichts, sie existieren nicht; es bleiben von uns nichts übrig als Ideen.
  13. Die Welt der Ideen teilt sich in drei Sphären: in die des Instinkts, in die der abstrakten Begriffe und in die des Schauens.
  14. Der größte Teil der sichtbaren Menschheit, und zugleich ihr schwächster Teil, bewohnt die Sphäre des Instinkts. Die Instinkte entstehen, arbeiten und vergehen ohne sich zu dem zweiten Grad der menschlichen Intelligenz, den abstrakten Begriffen, zu erheben.
  15. Bei den abstrakten Begriffen beginnt die Gesellschaft. Wenn die abstrakten Begriffe mit dem Instinkt verglichen eine fast göttliche Kraft sind, so sind sie, wenn man sie mit dem Schauen vergleicht, das allein Gott erklären kann, nur eine gewaltige Schwäche! Die abstrakten Begriffe umfassen eine ganze Natur viel virtueller im Keim als das Samenkorn das System einer Pflanze und deren Frucht. Aus den abstrakten Begriffen entstehen die sozialen Gesetze, Interessen, Ideen und Künste. Sie sind der Ruhm und das Verderben der Welt: der Ruhm, weil sie die Gesellschaft geschaffen haben, das Verderben, weil sie den Menschen daran hindern, zum Schauen zu gelangen, welches einer der Wege zum Unendlichen ist. Der Mensch beurteilt alles nach seinen abstrakten Begriffen: das Gute, das Böse, die Tugend, das Laster. Seine Formeln des Rechts sind seine Wage, seine Gerechtigkeit ist blind; die Gerechtigkeit Gottes aber ist sehend, darin liegt alles. Es gibt notwendigerweise Zwischenwesen, die das Reich des Instinktmenschen vom Reich des abstrakten Menschen trennen und bei denen sich das »Instinktive« mit dem »Abstrakten« vieler Abarten vermischt. Bei den einen ist mehr Instinktives als Abstraktes vorhanden, bei den andern ist es umgekehrt. Dann gibt es Wesen, bei denen sich beides neutralisiert, indem es durch gleichartige Kräfte wirkt.
  16. Die Gabe des Schauens besteht darin, die Dinge der materiellen Welt ebenso gut wie diejenigen der geistigen Welt in ihren ursprünglichen und ihren in der Folge abgewandelten Arten zu sehen. Die schönsten menschlichen Genien sind diejenigen, die von den Dunkelheiten des Abstrakten ausgegangen sind, um zum Licht des Schauens zu gelangen (species, schauen, nachsinnen, alles sehen und auf einmal; speculum, Spiegel oder Mittel, eine Sache zu begreifen indem man sie ganz sieht). Jesus war ein Seher, er sah das Geschehene in seinen Wurzeln und in seinen Früchten, in der Vergangenheit, die es hervorgebracht, in der Gegenwart, in der es sich darstellt, in der Zukunft, in der es sich entfaltet. Sein Schauen durchdrang die Einsicht des Anderen. Die Vollkommenheit des inneren Schauens erzeugt die Sehergabe. Das »Sehen« bringt die Intuition mit sich. Die Intuition ist eine der Gaben des »inneren Menschen«, dessen Attribut die Seherkraft ist. Sie wirkt durch eine nicht zum Bewußtsein kommende Empfindung, von der derjenige, der ihr gehorcht, nichts weiß: Napoleon entfernte sich instinktiv von seinem Platz, ehe eine Kugel dorthin traf.
  17. Zwischen der Sphäre des Schauens und derjenigen der abstrakten Begriffe gibt es, wie zwischen dieser und der des Instinkts, Wesen, bei denen die verschiedenen Eigenschaften der beiden Reiche sich miteinander vermengen und Mischwesen hervorbringen: die Genies.
  18. Die Sehergabe ist naturgemäß der vollkommenste Ausdruck des Menschen, der Ring, der die sichtbare Welt mit der höheren verbindet: der schauende Mensch handelt, sieht und fühlt durch sein Inneres. Der abstrakte Mensch denkt, der Instinktive handelt.
  19. Daher gibt es drei Stufen für den Menschen: der instinktive steht unter dem Maß, der abstrakte steht in gleicher Höhe desselben, der Schauende über demselben. Die Sehergabe öffnet dem Menschen seinen wirklichen Lebensweg, das Unendliche beginnt in ihm aufzugehen, er ahnt sein Schicksal.
  20. Es gibt drei Welten: die natürliche, die geistige, die göttliche. Die Menschheit geht durch die natürliche Welt hindurch, die weder in ihrem inneren Wesen noch in ihren äußeren Fähigkeiten feststeht. Die geistige Welt ist feststehend im Wesen und beweglich in ihren Fähigkeiten. Die göttliche Welt ist feststehend sowohl in ihren Fähigkeiten als auch in ihrem Wesen. Es gibt daher einen materiellen, einen geistigen, einen göttlichen Kult; drei Formen, die sich durch das Handeln, das Wort, das Gebet auswirken, oder anders ausgedrückt: durch die Tatsachen, den Verstand und die Liebe. Der Instinktive will Tatsachen, der Abstrakte beschäftigt sich mit den Ideen, der Seher sieht das Ende, strebt Gott zu, den er vorempfindet oder betrachtet.
  21. Vielleicht wird eines Tages der umgekehrte Sinn von »Et Verbum caro factum est« der Inbegriff eines neuen Evangeliums sein, das sagt: Und das Fleisch wird Wort werden; es wird das Wort Gottes sein.
  22. Die Auferstehung vollzieht sich durch den Wind des Himmels, der die Welt rein fegt. Der Engel, der vom Wind getragen ist, sagt nicht: »Tote, stehet auf!«, er sagt vielmehr: »die Lebenden sollen auferstehen!«

Dies sind die Gedanken, die ich nicht ohne große Mühe in eine Form gekleidet habe, die unserm Verständnis entspricht. Es waren noch andere, denen sich Pauline, ich weiß nicht aus welchen Gründen, noch ganz besonders erinnerte und die ich niedergeschrieben habe. Aber sie bringen den Geist zur Verzweiflung, sobald man weiß, welchem Intellekt sie entstammen und man sie dann zu verstehen sucht. Ich führe noch einige an, um das Bild dieser Gestalt zu vervollständigen, vielleicht auch, weil in seinen letzten Ideen Lambert die Welt noch besser umfaßt als in den vorhergehenden, die sich nur auf die animalische Bewegung zu beziehen scheinen. Aber zwischen diesen beiden Arten von Bruchstücken besteht doch eine offensichtliche Beziehung für das Auge der im übrigen recht seltenen Menschen, die sich gern in solche Abgründe des Geistes stürzen.

  1. Alles hienieden besteht nur durch Bewegung und Zahl.
  2. Die Bewegung ist im gewissen Sinne die wirkende Zahl.
  3. Die Bewegung ist das Produkt einer Kraft, die sowohl vom Wort als auch von einem Widerstand – der Materie – erzeugt wird. Ohne diesen Widerstand wäre die Bewegung ohne Resultat, ihre Wirkung wäre unendlich. Die Anziehungskraft Newtons ist an sich kein Gesetz, sondern eine Wirkung des allgemeinen Gesetzes der Bewegung der Welt.
  4. Die Bewegung bringt durch den Widerstand eine Verbindung hervor: das Leben; ist das eine oder das andere stärker, so hört das Leben auf.
  5. Nirgends ist Bewegung unfruchtbar, überall erzeugt sie die Zahl; aber sie kann durch einen höheren Widerstand neutralisiert werden, wie in den Mineralien.
  6. Die Zahl, auf der alle Verschiedenheiten beruhen, erzeugt auch die Harmonie, die in ihrer höchsten Bedeutung die Verbindung ist zwischen den Teilen und der Einheit.
  7. Ohne Bewegung wäre alles ein und dasselbe. Ihre Erzeugnisse, die mit ihrem Wesen identisch sind, unterscheiden sich nur durch die Zahl voneinander, die die Eigenschaften hervorgebracht hat.
  8. Der Mensch hat Beziehungen zu den Eigenschaften, der Engel hat Beziehungen zum Sein.
  9. Der Mensch kann, sobald er seinen Körper der elementaren Bewegung verbindet, dahin gelangen, sich durch sein Inneres dem Lichte zu verbinden.
  10. Die Zahl ist ein geistiges Zeichen, das nur dem Menschen zugehört und durch das er zur Kenntnis des Wortes gelangen kann.
  11. Es gibt eine Zahl, über die der Unreine nicht hinauskommt: die Zahl, in der die Schöpfung zu Ende ist.
  12. Die Einheit ist der Ausgangspunkt alles dessen gewesen, was je geschaffen wurde; daraus gingen die zusammengesetzten Körper hervor; aber das Ende muß dem Anfang genau gleich sein. Daher die folgende geistige Formel: zusammengesetzte Einheit, veränderliche Einheit, feststehende Einheit.
  13. Das Universum ist also die Verschiedenheit in der Einheit. Die Bewegung ist das Mittel, die Zahl das Ergebnis. Das Ende ist die Rückkehr aller Dinge zur Einheit, das ist Gott.
  14. Drei und sieben sind die beiden größten geistigen Zahlen.
  15. Drei ist die Formel für die geschaffenen Welten. Sie ist das geistige Zeichen der Schöpfung, wie sie das materielle Zeichen der Kreislinie ist. Denn Gott ist in der Tat nur in Kreislinien zu Werke gegangen. Die gerade Linie ist das Attribut des Unendlichen; der Mensch, der das Unendliche ahnt, gibt sie in seinen Werken wieder. – Zwei ist die Zahl der Zeugung, drei ist die Zahl der Existenz, die Zeugung und Erzeugtes umfaßt. Man füge die Zahl vier hinzu, so ergibt es sieben: die Formel des Himmels. Gott steht darüber, er ist die Einheit.

Nachdem ich Lambert noch einmal besucht hatte, verließ ich seine Frau und verfiel in Ideen, die dem täglichen Leben so entgegengesetzt waren, daß ich, trotz meines Versprechens, nicht wieder nach Villenoix zurückkehrte. Der Anblick Louis' hatte einen unbeschreiblich düsteren Einfluß auf mich gehabt. Ich fürchtete mich wieder in diese nervenaufreizende Atmosphäre zu begeben, in der die Ekstase ansteckend war. Jeder hätte wie ich die Lust verspürt, sich in das Unendliche zu stürzen, gleich jenen Soldaten, die sich alle in dem Schilderhaus beim Lager von Boulogne töteten, weil es der erste von ihnen dort getan hatte. Es ist bekannt, daß Napoleon dieses Schilderhaus verbrennen lassen mußte, da in ihm sich Ideen angesammelt hatten, die wie totbringende Miasmen waren. – Vielleicht war es mit Louis' Zimmer wie mit jenem Schilderhaus? Diese beiden Tatsachen waren noch Beweise mehr für sein System von der Übertragung des Willens. Ich empfand eine ganz ungewöhnliche Unruhe, die stärker war, als hätte ich Tee, Kaffee oder Opium genossen, und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl von Schlaf oder Fieber, wie es so oft unsere Köpfe verwirrt.

Diese Gedankenbruchstücke hätte ich vielleicht zu einem ganzen Buch verarbeiten sollen; sie sind nur jenen Geistern verständlich, die daran gewöhnt sind, sich über den Rand des Abgrunds zu beugen, um auf dessen Grund zu schauen. Ich hätte das Leben dieses gewaltigen Gehirns, das gleich einem allzu großen Reich in allen seinen Fugen krachte, schildern sollen, hätte die Visionen dieses Wesens darstellen sollen, das durch allzu große Kraft oder durch allzu große Schwäche unvollkommen war. Aber ich wollte lieber von meinen eigenen Eindrücken Rechenschaft geben als ein mehr oder weniger poetisches Werk schaffen.

Lambert starb im Alter von achtundzwanzig Jahren, am 25. September, in den Armen seiner Freundin. Sie ließ ihn auf einer der Inseln im Park von Villenoix begraben. Auf seinem Grab steht ein einfaches Steinkreuz ohne Namen, ohne Datum. Gleich einer Blume, die am Rande des Abgrunds geboren war, sollte er auch wieder ungekannt dort hinuntergleiten, mit allen ungekannten Farben und Düften. Hat er nicht – gleich vielen unverstandenen Menschen – oft voll Stolz in das Nichts untertauchen wollen, um dort die Geheimnisse seines Lebens zu begraben? Doch hätte Fräulein von Villenoix wohl das Recht gehabt, den Namen Lamberts auf dieses Kreuz zu setzen und den ihren dazu. Denn seit dem Tode ihres Gatten war die neue Vereinigung die Sehnsucht jeder ihrer Stunden. Aber die Eitelkeit des Schmerzes ist einem treuen Herzen fremd. – Villenoix verfällt. Lamberts Gattin wohnt nicht mehr dort, gewiß, um im Geiste besser schauen zu können, wie sie früher dort gelebt hatte. Hat man sie nicht noch kürzlich sagen hören: »Mir gehörte sein Herz, Gott gehört sein Geist.«

 


 


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