Honoré de Balzac
Glanz und Elend der Kurtisanen
Honoré de Balzac

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Was alte Herren sich die Liebe kosten lassen

Seit acht Tagen feilschte Nucingen fast täglich in dem Laden der Rue Neuve Saint-Marc um die Auslieferung derer, die er liebte. Dort thronte Asien bald unter dem Namen Saint-Estève, bald unter dem ihres Geschöpfes, der Frau Nourrisson, unter dem schönsten Putz, der jenen grauenhaften Zustand erreicht hatte, in dem Kleider keine Kleider mehr, aber auch noch keine Lumpen sind. Der Rahmen stand im Einklang mit der Figur, die diese Frau sich zulegte, denn solche Läden sind eine der unheimlichsten Eigentümlichkeiten von Paris. Man sieht dort den Nachlaß, den der Tod mit seiner entfleischten Hand dorthin geworfen hat, und man hört das Röcheln einer Schwindsucht unter dem Schal, wie man die Todesqual des Elends unter einem goldbeflitterten Kleide errät. Dort stehen die furchtbaren Debatten zwischen dem Luxus und dem Hunger auf leichten Spitzen geschrieben. Man sieht die Züge einer Königin unter einem federgeschmückten Turban; die Art, wie er sitzt, erinnert an das fehlende Gesicht und ergänzt es fast. Hier ist das Niedliche scheußlich. Die Geißel Juvenals in den Amtshänden des Taxators streut enthaarte Muffs, verdorbene Pelze bedrängter Dirnen aus. Es ist ein verwesender Hauf Blumen, in dem hier und dort gestern geschnittene Rosen glänzen, die einen Tag getragen wurden, und auf dem stets eine Alte hockt, die leibliche Schwester des Wuchers, die kahle, zahnlose Gelegenheit, bereit, auch den Inhalt zu verkaufen, weil sie so sehr daran gewöhnt ist, die Hülle zu kaufen: das Kleid ohne die Frau oder die Frau ohne das Kleid! Asien schaltete dort wie der Stockmeister im Bagno, wie ein Geier mit gerötetem Schnabel über Leichen, mitten in ihrem Element, furchtbarer noch als diese wilden Greuel, vor denen die Vorübergehenden erbeben, wenn sie zuweilen mit Erstaunen eine ihrer jüngsten, frischesten Erinnerungen in einem schmutzigen Schaufenster erkennen, hinter dem eine echte Saint-Estève Grimassen schneidet.

Von Aufregung zu Aufregung, von zehntausend zu zehntausend Franken war schließlich der Bankier so weit gekommen, daß er Frau von Saint-Estève sechzigtausend Franken bot; sie aber erwiderte mit einer Grimasse des Neins, die einen Makako zur Verzweiflung getrieben hätte. Nachdem er erkannt hatte, wie Esther ihm die Gedanken verwirrte, nachdem er unerwartete Verdienste an der Börse hatte einstreichen können, kam er eines Morgens nach einer aufgeregten Nacht endlich in der Absicht, die hunderttausend Franken, die Asien verlangte, herzugeben, aber er wollte ihr eine Fülle von Auskünften entlocken.

»Du entschließt dich also, dicker Possenreißer?« sagte Asien, indem sie ihm auf die Schulter klopfte.

Die entehrendste Vertraulichkeit ist der erste Zoll, den solche Frauen von wahnsinnigen Leidenschaften oder von dem Elend, das sich ihnen anvertraut, fordern; sie erheben sich nie zur Höhe des Klienten, sie nötigen ihn, sich Seite an Seite neben sie auf den Kothaufen zu setzen. Asien gehorchte ihrem Herrn ausgezeichnet, wie man sieht.

»Ich muß fohl,« sagte Nucingen. »Und du wirst nicht bestohlen,« erwiderte Asien. »Man hat Frauen schon verhältnismäßig teurer verkauft, als du die da bezahlen sollst! De Marsay hat für die verstorbene Coralie sechzigtausend Franken gegeben. Die, die du willst, hat aus erster Hand hunderttausend gekostet; aber für dich, siehst du, alter Wüstling, ist es eine Anstandssache.« »Und wo ist sie?« »Ah! du wirst sie sehen. Ich bin, wie du bist: bar, bar! . . . Ach ja, mein Lieber, ›deine Leidenschaft‹ hat Dummheiten gemacht. Junge Mädchen . . . das ist unvernünftig. Die Prinzessin ist augenblicklich eine Nachtschöne . . .« »Aine Nacht –« »Was! Willst du den Gimpel spielen? . . . Sie hat Louchard auf den Fersen; ich habe ihr selbst fünfzigtausend Franken geliehen . . .« »Finfundßwanßig! Sag?« rief der Bankier. »Bei Gott! Fünfundzwanzig für fünfzig, das versteht sich von selbst,« erwiderte Asien. »Diese Frau, man muß gerecht sein, ist die Ehrlichkeit selbst! Sie hatte nur noch ihren Leib, und sie sagte: ›Liebe kleine Frau Saint-Estève, ich werde verfolgt, nur Sie können mich verpflichten, geben Sie mir zwanzigtausend Franken, ich gebe Ihnen eine Hypothek auf mein Herz . . .‹ Oh, sie hat ein hübsches Herz! Außer mir weiß niemand, wo sie ist. Ein unvorsichtiges Wort würde mich meine zwanzigtausend Franken kosten . . . Früher wohnte sie in der Rue Taitbout. Ehe sie auszog – ihr Mobiliar war gepfändet worden . . . von wegen der Kosten . . . Diese Lumpen von Gerichtsvollziehern! – nun also, nicht dumm, vermietete sie ihre Wohnung auf zwei Monate einer Engländerin, einem prachtvollen Weib, die diesen kleinen . . . den Rubempré, zum Liebhaber hatte; der war so eifersüchtig, daß er sie nur nachts ausfahren ließ. Aber da man das Mobiliar verkaufen will, so hat sich die Engländerin aus dem Staube gemacht, um so mehr, als sie für einen Knirps wie Lucien zu teuer war.« »Sie treiben kute Keschäfte,« sagte Nucingen. »In Naturalien,« sagte Asien. »Ich borge hübschen Frauen; das lohnt sich, denn man diskontiert zwei Werte zugleich.«

Asien amüsierte sich damit, die Rolle dieser Frauen zu ›chargieren‹; sie sind herb, aber schweifwedelnder, sanfter als die Malaiin, und sie rechtfertigen ihr Gewerbe mit Reden voll schöner Motive. Asien posierte als eine Frau, die all ihre Illusionen, fünf Liebhaber und ihre Kinder verloren hat und sich trotz all ihrer Erfahrung von jedermann ›bestehlen‹ läßt. Sie zeigte von Zeit zu Zeit Pfandscheine vor, um zu beweisen, wieviel schlimme Zufälle ihr Gewerbe mit sich brachte. Sie gab sich für bedrängt, für verschuldet aus. Und schließlich war sie so naiv häßlich, daß der Baron zuletzt an die Rolle glaubte, die sie gab.

»Kut, wenn ich herkebe die hünderttausend, wo werd ich se da sehen?« fragte er mit der Geste des Mannes, der zu allen Opfern bereit ist. »Mein dicker Alter, du wirst heute abend mit deinem Wagen, sagen wir, vor das Gymnase kommen, das liegt auf dem Wege,« erwiderte Asien. »Du wirst an der Ecke der Rue Sainte-Barbe halten. Ich werde dort Posten stehen; dann gehen wir zusammen zu meiner schwarzhaarigen Hypothek . . . Oh, sie hat wundervolles Haar, meine Hypothek! Wenn Esther ihren Kamm herauszieht, steht sie da wie unter einem Zelt. Aber wenn du dich auch auf Zahlen verstehst, so machst du mir im übrigen den Eindruck eines Gimpels; ich rate dir, die Kleine gut zu verbergen, denn man steckt sie dir ins Gefängnis, wenn man sie findet, und zwar gründlich, gleich am folgenden Tage . . . und man sucht sie!«

»Gönnte man nicht zurückgaufen die Wechsel?« fragte der unverbesserliche Luchs. »Die hat der Gerichtsvollzieher . . . aber es geht nicht. Die Kleine hat eine Leidenschaft gehabt und ein Depot verzehrt, das man von ihr zurückverlangt. Ah, wahrhaftig, das ist ein Schelm, so ein Herz von zweiundzwanzig Jahren.« »Kut, kut, ich werde das arranschieren,« sagte Nucingen, indem er seinen Schlauen aufsetzte. »Es verschdeht sich, daß ich ihr Könner werde.« »Ah, dickes Vieh, es ist deine Sache, ihr Liebe einzuflößen, und du hast ja die Mittel dazu, dir einen Schein von Liebe zu erkaufen, der wohl die wahre aufwiegt. Ich gebe dir die Prinzessin in die Hand; sie ist gehalten, dir zu folgen, um den Rest kümmere ich mich nicht . . . Aber sie ist an Luxus gewöhnt, an die größte Rücksicht. Ah, mein Kleiner, sie ist eine anständige Frau . . . Hätte ich ihr sonst zwanzigtausend Franken gegeben?« »Kut, es ist apkemacht. Auf heite apend!«

Der Baron begann die Hochzeitstoilette, die er schon einmal gemacht hatte, von neuem; aber diesmal verdoppelte er in der Gewißheit des Erfolgs die Zahl der Pillen. Um neun traf er die furchtbare Frau beim Stelldichein, und er nahm sie in seinen Wagen. »Fo?« fragte der Baron. »Wo?« sagte Asien. »Rue de la Perle, im Marais, eine Gelegenheitsadresse, denn deine Perle liegt im Kot, aber du wirst sie waschen!«

Als sie dort ankamen, sagte die falsche Frau von Saint-Estève mit einem scheußlichen Lächeln zu Nucingen: »Wir werden ein paar Schritte zu Fuß gehen; ich bin nicht so dumm, daß ich die wahre Adresse gegeben hätte.« »Du tenkst an alles,« sagte Nucingen. »Das ist mein Beruf,« erwiderte sie.

Asien führte den Baron in die Rue Barbette, wo er in einem Logierhaus, das ein Tapezierer des Viertels hielt, in den vierten Stock geführt wurde. Als der Millionär Esther in einem kärglich möblierten Zimmer mit einer Stickereiarbeit beschäftigt sah, erblaßte er. Noch nach einer Viertelstunde, während derer Asien scheinbar auf Esther einflüsterte, konnte dieser junge Greis kaum sprechen. »Knädikes Fräulein,« sagte er schließlich zu dem armen Mädchen, »wirden Se haben die Küte, mich als Könner anßunehmen?« »Ich muß wohl,« sagte Esther, aus deren Augen zwei dicke Tränen rannen. »Wainen Se nicht. Ich will Se machen ßur klücklichsten aller Frauen . . . Lassen Se sich nur von mir lieben, Sie ferden sehen.«

»Meine Kleine, der Herr ist vernünftig,« sagte Asien; »er weiß genau, daß er über siebzig Jahre alt ist, und er wird nachsichtig sein. Kurz, mein schöner Engel, er ist ein Vater, den ich dir gesucht habe . . . Müssen ihr das sagen,« flüsterte Asien dem unzufriedenen Bankier ins Ohr. »Man fängt keine Schwalben, indem man mit der Pistole nach ihnen schießt. Kommen Sie mit,« sagte sie, indem sie Nucingen ins Nebenzimmer führte. »Sie kennen ja unsere kleinen Abmachungen, mein Engel?«

Nucingen zog eine Brieftasche aus seinem Rock und zählte die hunderttausend Franken hin, die Carlos, der in einer Kammer versteckt war, mit lebhafter Ungeduld erwartete und die die Köchin ihm brachte.

»Das sind hunderttausend Franken, die unser Mann in Asien anlegt; jetzt soll er uns einiges in Europa anlegen,« sagte Carlos zu seiner Vertrauten, als sie auf dem Treppenabsatz standen. Er verschwand, nachdem er der Malaiin seine Anweisungen gegeben hatte; sie kehrte in das Zimmer zurück, wo Esther heiße Tränen weinte. Das Kind hatte sich wie ein zum Tode verurteilter Verbrecher einen Roman der Hoffnung zurechtgelegt, und jetzt war die verhängnisvolle Stunde gekommen.

»Meine lieben Kinder,« sagte Asien, »wohin wollt ihr gehen? . . . Denn der Baron von Nucingen . . .« Esther sah den berühmten Bankier an und ließ sich eine wundervoll gespielte Geste der Überraschung entschlüpfen. »Ja, main Kind, ich bin der Baron von Nischinguen.« ». . . Der Baron von Nucingen darf und kann nicht in einem solchen Hundestall bleiben. Hören Sie mich an . . . Ihre ehemalige Kammerfrau Eugenie . . .« »Eischenie! Aus der Rie Daidpoud? . . .« rief der Baron. »Nun ja, die gerichtliche Bewahrerin der Möbel,« erwiderte Asien, »die die Wohnung der schönen Engländerin vermietet hat.« »Ach, ich verschdehe!« sagte der Baron. »Die ehemalige Kammerfrau der gnädigen Frau«, fuhr Asien ehrfurchtsvoll fort, indem sie auf Esther deutete, »wird Sie heute abend sehr wohl aufnehmen, und nie wird der Exekutor es sich einfallen lassen, sie in ihrer ehemaligen Wohnung zu suchen, die sie vor drei Monaten verlassen hat . . .« »Auskeßaichnet, auskeßaichnet!« rief der Baron. »Üprikens genne ich die Exegudoren; ich habe maine Worte, damit sie verschwinten.« »Sie werden in Eugenie eine schlaue Füchsin haben,« sagte Asien, »ich selbst habe sie der gnädigen Frau gegeben . . .« »Ich genne sie,« rief der Millionär lachend; »Eischenie hat mich um treißigtausend Franken kebrellt . . .«

Esther machte eine Geste des Grauens, auf die hin ein Mann von Herz ihr sein Vermögen anvertraut hätte. »Oh, durch maine eikene Schuld,« fuhr der Baron fort, »ich lief Ihnen nach . . .« Und er erzählte das Quiproquo, das die Vermietung der Wohnung an eine Engländerin zur Folge gehabt hatte.

»Nun, sehen Sie, gnädige Frau?« sagte Asien; »davon hat Ihnen Eugenie in ihrer Schlauheit nichts gesagt! Aber die gnädige Frau ist sehr an dieses Mädchen gewöhnt,« sagte sie zu dem Baron, »behalten Sie sie trotzdem.«

Dann nahm Asien Nucingen beiseite und sagte zu ihm: »Geben Sie Eugenie fünfhundert Franken im Monat, das ist eln rundes Sümmchen, und Sie werden alles erfahren, was die gnädige Frau tut; geben Sie sie ihr zur Kammerfrau. Eugenie wird um so besser für Sie passen, als sie Sie bereits gerupft hat . . . Nichts fesselt eine Frau mehr an einen Mann, als wenn sie ihn rupft. Aber halten Sie Eugenie am Zügel: sie tut alles für Geld; es ist ein Greuel mit diesem Mädchen! . . .« »Und du? . . .« »Ich,« sagte Asien, »ich halte mich schadlos.«

Nucingen, dieser so abgefeimte Mensch, hatte eine Binde vor den Augen; er ließ mit sich umgehen wie ein Kind. Der Anblick dieser aufrichtigen und anbetungswürdigen Esther, die sich die Augen trocknete und mit dem Anstand einer Jungfrau die Maschen ihrer Stickerei zog, gab dem verliebten Greis die Empfindungen zurück, die er im Wald von Vincennes gehabt hatte: er hätte den Schlüssel zu seiner Kasse hergegeben! Er fühlte sich jung, er hatte das Herz voller Anbetung und wartete nur auf Asiens Aufbruch, um sich dieser Madonna Raffaels zu Füßen werfen zu können. Dieses plötzliche Aufblühen der Kindheit im Herzen eines Luchses und Greises gehört zu den sozialen Erscheinungen, die die Physiologie aufs leichteste erklären kann. Unter dem Gewicht der Geschäfte zusammengepreßt, erstickt von ständigen Berechnungen, von dem fortwährenden Nachdenken über die Jagd nach den Millionen, taucht die Jugend mit ihren wunderbaren Illusionen wieder empor, und sie schwingt sich auf und blüht auf, eine Ursache, ein vergessener Keim, dessen Wirkungen, dessen wunderbare Blüten dem Zufall gehorchen, einer Sonne, die mit spätem Strahl hervorbricht. Der Baron war mit zwölf Jahren Kommis in dem alten Hause Aldrigger in Straßburg gewesen, und also hatte er nie die Welt der Empfindungen kennen gelernt. Als er nun vor seinem Idol stand, summten ihm tausend Phrasen im Gehirn; da er sie aber nicht auf die Lippen brachte, so gehorchte er dem brutalen Verlangen, das im Siebziger noch einmal zum Durchbruch kam.

»Wollen Se gommen in die Rie Daidpoud?« fragte er. »Wohin Sie wollen,« erwiderte Esther, indem sie sich erhob. »Fohin Se sollen!« wiederholte er hingerissen. »Sie sind ain Engel vom Himmel, den ich liebe, als wäre ich ain glainer junger Mensch, obgleich ich kraue Haare habe . . .« »Ach, Sie können ruhig sagen: weiße! Denn sie sind von einem zu schönen Schwarz, um nur erst grau zu sein,« sagte Asien. »Keh wek, schlechtes Weib! Du hantelst mit Menschenfleisch! Du hast dein Keld, pekeifere nur diese Plume der Liebe nicht mehr!« rief der Bankier, indem er sich durch diese wilde Anrede für alle Unverschämtheiten schadlos hielt, die er hatte ertragen müssen. »Alter Schlingel! das sollst du mir bezahlen!« sagte Asien, indem sie dem Bankier mit einer Geste drohte, die der Markthalle würdig gewesen wäre, über die er aber nur die Achseln zuckte. »Zwischen dem Mund des Bechers und dem des Zechers hat eine Natter Platz, und da sollst du mich finden!« sagte sie, erregt über Nucingens Geringschätzung.

Die Millionäre, deren Geld von der Bank von Frankreich bewacht wird, deren Häuser bewacht werden von einer ganzen Brigade von Dienern und deren Person auf der Straße den Panzer eines raschen Wagens mit englischen Pferden um sich hat, fürchten keinerlei Unglück; daher sah denn auch der Baron Asien kühl an, er war ganz der, der ihr eben hunderttausend Franken gegeben hatte. Diese Majestät tat ihre Wirkung. Asien trat den Rückzug an und brummte auf der Treppe; sie führte eine höchst revolutionäre Sprache: sie sprach vom Schafott.

»Was haben Sie ihr denn gesagt? . . .« fragte das stickende Mädchen, »denn sie ist eine gute Frau,« »Sie hat Sie vergauft, sie hat Sie geschdohlen . . .« »Wenn wir im Elend sind,« erwiderte sie mit einer Miene, die einem Diplomaten das Herz gebrochen hätte, »wer hat da Geld und Mitleid für uns? . . .« »Arme Glaine!« sagte Nucingen, »pleiben Se kaine Minute mehr hier!«

Nucingen reichte Esther den Arm, er führte sie, so wie sie war, hinunter und setzte sie mit vielleicht mehr Achtung in seinen Wagen, als er der schönen Herzogin von Maufrigneuse bezeigt hätte. »Sie sollen aine schöne Egibasche haben, die hüpscheste von Baris,« sagte Nucingen während der Fahrt. »Das Raizendste, was der Luxus besitzt, soll Sie umkeben. Keine Gönikin soll raicher sain als Sie. Sie sollen werden keachtet wie aine Praut in Teutschland: ich will, daß Sie frei sind . . . Wainen Se nicht. Hören Se . . . Ich lieb Sie wahrhaftig mit rainer Liebe . . . Jede Ihrer Dränen pricht mir das Herz . . .« »Liebt man eine Frau, die man kauft, wirklich? . . .« fragte das arme Mädchen mit entzückender Stimme. »Schosef ist auch von sainen Priedern vergauft worden, weil er so hibsch war. Das schdeht in der Pibel. Außerdem gauft man im Orient saine rechtmäßiken Frauen.«

Als sie in der Rue Taitbout ankamen, konnte Esther den Schauplatz ihres Glücks nicht ohne schmerzliche Eindrücke wiedersehen. Sie blieb regungslos auf einem Diwan liegen, indem sie ihre Tränen eine nach der andern abwischte, ohne ein Wort von den Torheiten zu hören, die der Bankier radebrechte. Er ließ sich auf die Knie nieder; sie ließ ihn liegen, ohne ihm ein Wort zu sagen; sie entzog ihm ihre Hände nicht, wenn er sie nahm; aber gewissermaßen wußte sie nicht, welchen Geschlechts das Geschöpf war, das ihr die Füße wärmte, denn Nucingen fand sie kalt. Diese Szene brennender Tränen, die dem Baron auf den Kopf gesät wurden, und eisiger Füße, die er wärmte, dauerte von Mitternacht bis zwei Uhr morgens.

»Eischenie,« sagte der Baron endlich, indem er Europa rief, »pringen Se doch die knädige Frau daßu, daß sie ßu Pett keht . . .« »Nein!« rief Esther, indem sie sich wie ein scheuendes Pferd auf ihren Beinen erhob; »hier niemals!«

»Sehen Sie, gnädiger Herr, ich kenne die gnädige Frau, sie ist sanft und gut wie ein Lamm,« sagte Europa zu dem Bankier; »nur darf man sie nicht vor den Kopf stoßen; man muß sie immer von der guten Seite nehmen . . . Sie ist hier so unglücklich gewesen! Sehen Sie her . . . das Mobiliar ist recht abgenutzt! Lassen Sie sie ihrer Neigung folgen. Richten Sie ihr recht artig ein hübsches Hotel ein. Vielleicht wird sie, wenn sie ringsum nur Neues sieht, sich fremd vorkommen, und sie wird Sie vielleicht besser finden, als Sie sind, und dann wird sie von engelhafter Sanftmut sein . . . Oh, die gnädige Frau hat nicht ihresgleichen! Und Sie können sich rühmen, eine ausgezeichnete Erwerbung gemacht zu haben: ein gutes Herz, artige Manieren, einen feinen Spann, eine Haut, eine Frische . . . ah! . . . Und Geist, daß zum Tode Verurteilte lachen müssen! . . . Die gnädige Frau ist der Leidenschaft fähig . . . Und wie sie sich anzuziehen versteht! . . . Ja, wenn es auch teuer ist, so hat der Mann doch etwas für sein Geld. Hier sind all ihre Kleider gepfändet, sie ist also mit ihrer Toilette um drei Monate in Rückstand. Aber die gnädige Frau ist so gut, sehen Sie, daß sogar ich sie liebe, und sie ist meine Herrin! Aber seien Sie gerecht! Eine Frau wie sie und mitten unter gepfändeten Möbeln! Und für wen all das? Für einen Taugenichts, der sie gefoltert hat . . . Die arme kleine Frau! Sie ist nicht mehr sie selber!«

»Esder . . . Esder . . .« sagte der Baron, »kehen Se ßu pett, main Engel. Ach, wenn Sie vor mir Ankst haben, dann plaibe ich auf diesem Ganabee . . .« rief der Baron, den die reinste Liebe entflammte, als er sah, daß Esther immer noch weinte. »Nun gut,« erwiderte Esther, indem sie die Hand des Barons ergriff und sie mit einem Gefühl der Dankbarkeit küßte, die diesem Luchs etwas in die Augen trieb, was einer Träne ähnlich sah, »ich werde Ihnen dafür dankbar sein . . .« Und sie lief in ihr Zimmer, wo sie sich einschloß.

»Da liegt etwas Unerglärliches . . .« sagte Nucingen bei sich selber; seine Pillen regten ihn auf. »Was wird man sagen bei mir?« Er stand auf und sah durch das Fenster: »Main Wagen schdeht immer noch da . . . Es wird pald Tag.« Er ging im Zimmer auf und ab. »Wie wirde Frau von Nischinguen lachen, wenn sie jemals erfiehre, wie ich diese Nacht ßukepracht habe! . . .« Er schmiegte sein Ohr an die Tür des Schlafzimmers, als er sich ein wenig zu albern untergebracht fand. »Esder! . . .« Keine Antwort. »Kott, du Kerechter! Sie waint immer noch! . . .« sagte er, als er zurücktrat, um sich wieder auf das Kanapee zu legen.

Etwa zehn Minuten nach Sonnenaufgang wurde der Baron von Nucingen, der zu einem schlechten, gewaltsamen Schlummer entschlafen war, noch dazu in unbequemer Stellung, mitten in einem jener Träume, wie man sie bei solchen Gelegenheiten hat und deren rasche Verwirrungen zu den unlöslichen Problemen der medizinischen Physiologie gehören, von Europa jäh geweckt.

»Ach, mein Gott, gnädige Frau!« rief sie, »gnädige Frau! Soldaten! . . . Gendarmen! Die Polizei! . . . Man will Sie verhaften! . . .«

In dem Augenblick, als Esther, nur halb in ihren Morgenrock gehüllt, die nackten Füße in Pantoffeln, die Haare in Unordnung, schön genug, um den Erzengel Raphael zur Verdammnis zu führen, ihre Tür auftat und sich zeigte, spie die Salontür eine Flut von Menschenauswurf herein, die zehnpfotig auf die Himmelstochter zustürzte, die wie ein Engel auf einem flämischen Altarbild dastand. Ein einzelner trat vor. Contenson, der scheußliche Contenson legte die Hand auf Esthers feuchte Schulter. »Sie sind Fräulein Esther van . . .?« sagte er.

Europa warf ihn mit einem Backenstreich um so leichter nieder, damit er sich sein Stück Teppich abmaß, als sie ihm zugleich jenen scharfen Hieb in die Beine versetzte, der allen, die die Kunst des Fußboxens ausüben, so bekannt ist. »Zurück!« schrie sie; »meine Herrin rührt man nicht an!«

»Sie hat mir das Bein gebrochen!« rief Contenson, indem er aufsprang; »das soll man mir bezahlen!«

Von der Masse der fünf Büttel, die eben wie Büttel gekleidet waren, die ihre scheußlichen Hüte auf den noch scheußlicheren Köpfen behielten und deren Köpfe wie aus geädertem Mahagoni zu sein schienen, während hier die Augen schielten, dort die Nasen fehlten und alle Münder sich zur Grimasse verzerrten, löste sich Louchard ab, der sauberer gekleidet war als seine Leute, aber gleichfalls den Hut auf dem Kopf behielt; sein Gesicht war zugleich süßlich und zum Lachen verzogen. »Gnädiges Fräulein, ich verhafte Sie,« sagte er zu Esther. »Was Sie angeht, meine Tochter,« sagte er zu Europa, »so würde jede Empörung bestraft werden, und jeder Widerstand ist nutzlos.«

Das Geräusch der Gewehre, deren Kolben auf die Fliesen des Eßzimmers und des Vorzimmers stießen und auf diese Weise meldeten, daß der Exekutor die Polizeiwache hinter sich hatte, bekräftigte diese Rede.

»Und weshalb wollen Sie mich verhaften?« fragte Esther unschuldig »Und unsere kleinen Schulden? . . .« erwiderte Louchard. »Ach, freilich!« rief Esther. »Lassen Sie mir Zeit, mich anzuziehen.« »Zu meinem größten Bedauern, gnädiges Fräulein, muß ich mich überzeugen, daß Sie in Ihrem Zimmer kein Mittel zur Flucht haben,« sagte Louchard.

All das vollzog sich so rasch, daß der Baron noch keine Zeit gehabt hatte, sich ins Mittel zu legen. »Nun, ich hantle jetzt mit Menschenfleisch, Paron von Nischinguen! . . .« rief die furchtbare Asien, indem sie zwischen den Bütteln durch bis zum Diwan schlüpfte und tat, als entdeckte sie dort den Bankier. »Elände Halungin!« rief Nucingen, indem er sich in seiner ganzen Finanzmajestät aufrichtete.

Und er warf sich zwischen Esther und Louchard, der seinen Hut abnahm, als Contenson rief: »Der Herr Baron von Nucingen! . . .«

Auf einen Wink Louchards räumten die Büttel das Zimmer, indem sie ehrfurchtsvoll den Kopf entblößten. Nur Contenson blieb zurück. »Bezahlt der Herr Baron?« fragte der Exekutor, der seinen Hut in der Hand hielt. »Ich peßahle,« erwiderte er; »aber ich muß doch wissen, um was es sich hantelt.« »Um dreihundertundzwölftausend Franken und einige Centimes, die Kosten mitgerechnet; aber die Verhaftung ist nicht einbezogen.« »Dreihünderttausend Franken!« rief der Baron. »Das ist ain teures Erwachen fier ainen, der die Nacht auf ainem Ganabee verpracht hat,« flüsterte er Europa ins Ohr.

»Ist dieser Mensch wirklich der Baron von Nucingen?« fragte Europa Louchard; und sie kommentierte ihren Zweifel durch eine Geste, um die Fräulein Dupont, die letzte Soubrette des Théâtre Français, sie beneidet hätte. »Ja,« sagte Louchard. »Ja,« erwiderte Contenson. »Ich pürge fier sie,« sagte der Baron, den Europas Zweifel in seiner Ehre traf; »lassen Se mich mit ihr schbrechen ain Wort.« Esther und ihr alter Liebhaber traten in das Schlafzimmer, an dessen Schloß Louchard das Ohr zu legen für nötig fand.

»Ich liebe Sie mehr als main Leben, Esder, aber woßu Ihren Kläubikern Keld keben, das unentlich viel pesser in Ihrer Pörse wäre? Kehn Se ins Kefänknis: ich mache mich anhaischig, die hünderttausend Taler fier hünderttausend Franken aufßugaufen; dann haben Se ßweihünderttausend Franken fier sich . . .«

»Dieses System«, rief Louchard ihm zu, »nützt nichts. Der Gläubiger ist nicht in das gnädige Fräulein verliebt! . . . Sie verstehen? Und er will mehr als alles, weil er weiß, daß Sie in sie vernarrt sind.« »Erztummkopf!« rief Nucingen Louchard zu, indem er die Tür öffnete und ihn in das Schlafzimmer einließ, »du waißt nicht, was du sagst! Ich kebe dir fier dich finf Broßent, wenn du erletigst die Sache . . .« »Unmöglich, Herr Baron!« »Wie, Herr Baron, Sie hätten das Herz,« sagte Europa, indem sie eintrat, »meine Herrin ins Gefängnis gehen zu lassen? . . . Aber wollen Sie meinen Lohn, meine Ersparnisse? Nehmen Sie sie, gnädige Frau, ich habe vierzigtausend Franken . . .« »Ach, mein armes Mädchen, ich kenne dich nicht wieder!« rief Esther, indem sie Europa in die Arme schloß. Europa brach in Tränen aus.

»Ich peßahle,« sagte der Baron jämmerlich, indem er ein Heft hervorzog, dem er einen jener kleinen bedruckten, viereckigen Zettel entnahm, wie sie die Bank den Bankiers zur Verfügung stellt und auf denen sie nur in Ziffern und Buchstaben die Summe auszufüllen haben, um auf den Inhaber lautende Anweisungen daraus zu machen.

»Das lohnt nicht der Mühe, Herr Baron,« sagte Louchard, »ich habe Befehl, meine Zahlung nur bar in Gold oder Silber entgegenzunehmen. Weil Sie es sind, will ich mich mit Banknoten begnügen.« »Der Teifel!« rief der Baron auf Deutsch, »ßeigen Se mir doch die Fechsel!« Contenson reichte drei Aktenhefts mit blauem Umschlag hin, die der Baron nahm, indem er Contenson ansah und ihm zuflüsterte: »Du hättest ainen pessern Dag kehapt, wenn du mich kewarnt hättest.« »Ach, wußte ich, daß Sie hier sein würden, Herr Baron?« erwiderte der Spion, ohne sich darum zu kümmern, ob Louchard ihn hörte oder nicht. »Sie haben dabei verloren, daß Sie mir Ihr Vertrauen entzogen. Man rupft Sie,« fügte der tiefe Philosoph hinzu, indem er die Achseln zuckte. »Wreilich,« sagte der Baron bei sich selber. »Ach, maine Glaine,« rief er, als er die Wechsel sah, indem er sich zu Esther wandte, »Sie sind das Obwer aines Erzhalungen, aines Schwindlers!« »Leider, ja!« sagte die arme Esther; »aber er hat mich sehr geliebt! . . .« »Wenn ich hätt kewußt . . . dann hätt ich fier Sie Ainspruch erhoben.« »Sie verlieren den Kopf, Herr Baron,« sagte Louchard, »es ist ein zweiter Indossant vorhanden.« »Ja,« erwiderte er, »es ist ein ßwelter Intossant vorhanten . . .« »Will der Herr Baron ein Wort an seinen Kassier schreiben?« fragte Louchard; »ich werde Contenson zu ihm schicken und meine Leute entlassen. Die Zeit vergeht, und jedermann würde erfahren . . .«

»Keh, Gondanzon!« sagte Nucingen. »Main Gassier wohnt Ecke Rie tes Madhirins und de l'Argate. Hier ist ain Prief, damit er ßu ti Dilet oder ßu den Kellers keht, wenn wir kaine hunderttausend Taler haben; denn unser Keld ist kanz auf der Pank . . . Ssiehen Se sich an, main Engel,« sagte er zu Esther, »denn Sie sind frai. Die alten Frauen«, rief er, indem er Asien ansah, »sind kewährlicher als die jungen . . .«

»Ich gehe, um den Gläubiger zum Lachen zu bringen,« sagte Asien zu ihm, »und er wird mir so viel geben, daß ich mich heute amüsieren kann. Ohne Groll, Herr Baron!« fügte die Saint-Estève hinzu, indem sie eine scheußliche Verbeugung machte . . . Louchard nahm die Papiere wieder aus den Händen des Barons entgegen und blieb mit ihm allein im Salon zurück, wohin eine halbe Stunde darauf mit Contenson auch der Kassier kam. Esther erschien eben in einer entzückenden, wenn auch improvisierten Toilette. Als Louchard die Summen gezählt hatte, wollte der Baron die Papiere nochmals prüfen, aber Esther ergriff sie mit der Geste einer Katze und trug sie in ihren Sekretär.

»Was geben Sie für das Gesindel?« fragte Contenson Nucingen. »Sie haben nicht kenommen viel Rücksicht,« sagte der Baron. »Und mein Bein! . . .« rief Contenson. »Lichart, Sie werden keben hündert Franken an Gondanzon von dem Rest des Tausendfrankenschains . . .«

»Das ist aine ßehr hipsche Frau!« sagte der Kassier zu dem Baron, als sie die Rue Taitbout verließen, »aber sie gömmt den Herrn Paron recht teier.« »Pewahren Se mir Kehaimnis,« sagte der Baron, der auch Contenson und Louchard um Schweigen gebeten hatte.

Louchard ging davon, und ihm folgte Contenson; aber auf dem Boulevard hielt Asien, die auf ihn wartete, den Exekutor zurück. »Der Gerichtsvollzieher und der Gläubiger sitzen da in einem Fiaker, sie haben Durst,« sagte sie, »und da ist was zu verdienen.«

Während Louchard die Scheine hinzählte, konnte Contenson die Kunden prüfen. Er sah Herreras Augen, erkannte die Form der Stirn unter der Perücke, und die Perücke erschien ihm mit Recht verdächtig; er merkte sich die Nummer des Fiakers, obwohl er allem, was vorging, ganz gleichgültig gegenüberzustehen schien; Asien und Europa machten ihm außerordentlich viel zu schaffen. Er sagte sich, daß der Baron das Opfer äußerst geschickter Leute sei, und zwar um so mehr, da Louchard von merkwürdiger Verschwiegenheit gewesen war, als er seine Dienste erbat. Europas Beinhieb hatte Contenson übrigens nicht nur am Schienbein getroffen. ›Das ist ein Hieb, der nach Saint-LazareFrauengefängnis in Paris. schmeckt!‹ hatte er bei sich selbst gesagt, als er wieder aufstand.

Carlos schickte den Gerichtsvollzieher fort, nachdem er ihn freigebig bezahlt hatte, und sagte, während er zahlte, zum Kutscher: »Palais Royal, Freitreppe.«

›Ah, der Schlaukopf!‹ sagte Contenson bei sich, als er die Adresse hörte, ›da gibt es etwas! . . .‹

Carlos kam in solcher Fahrt zum Palais Royal, daß er keine Verfolgung zu fürchten hatte. Übrigens eilte er dort auf seine Art durch die Galerien, nahm auf der Place Château d'Eau einen zweiten Fiaker und rief dem Kutscher zu: »Opernpassage, auf der Seite der Rue Pinon.«

Eine Viertelstunde darauf trat er in die Rue Taitbout ein. Als Esther ihn sah, sagte sie: »Hier sind die gefährlichen Papiere!« Carlos nahm sie, sah sie durch und ging hinaus, um sie am Küchenfeuer zu verbrennen.

»Der Streich ist gespielt!« rief er, indem er die dreihunderttausend Franken zeigte, die er, in ein Bündel gerollt, aus der Tasche seines Überrocks zog. »Das und die hunderttausend Franken, die Asien erwischt hat, damit können wir handeln.« »Mein Gott! Mein Gott!« rief die arme Esther. »Aber, du Dummkopf!« sagte der wilde Rechner, »sei zum Schein Nucingens Geliebte, und du wirst Lucien sehen können; er ist Nucingens Freund; ich verbiete dir nicht, eine Leidenschaft für ihn zu hegen!«

Esther sah eine schwache Helle in ihrem düstern Leben; sie atmete auf.

»Europa, meine Tochter,« sagte Carlos, indem er dieses Geschöpf in einen Winkel des Boudoirs führte, wo niemand ein Wort ihrer Unterhaltung auffangen konnte, »Europa, ich bin mit dir zufrieden.«

Europa hob den Kopf und sah diesen Menschen mit einem Ausdruck an, der ihr welkes Gesicht so sehr verwandelte, daß die Zeugin dieser Szene, nämlich Asien, die an der Tür horchte, sich fragte, ob das Interesse, wodurch Carlos Europa an sich fesselte, das, wodurch sie sich an ihn gekettet fühlte, an Tiefe übertreffen könnte.

»Das ist nicht alles, meine Tochter. Vierhunderttausend Franken sind für mich nichts . . . Paccard wird dir eine Rechnung für Silbergeschirr überreichen, sie beläuft sich auf dreißigtausend Franken, und es sind Anzahlungen darauf geleistet; aber Biddin, unser Goldschmied, hat Kosten gehabt. Unser Mobiliar, das er hat pfänden lassen, wird ohne Zweifel morgen ausgeboten werden. Suche Biddin auf; er wohnt in der Rue de l'Arbre-Sec; er wird dir für zehntausend Franken Pfandscheine geben. Du verstehst: Esther hat sich Silbergeschirr machen lassen, sie hat es nicht bezahlt und hat es versetzt; wir werden sie mit einer kleinen Klage wegen Betrugs bedrohen. Der Goldschmied bekommt also dreißigtausend Franken und zehntausend das Leihamt, damit wir das Silber wiederbekommen. Summa: dreiundvierzigtausend Franken mit den Kosten. Dieses Silbergeschirr ist von schlechter Legierung, der Baron wird es erneuern, wir werden ihm da wieder ein paar Tausendfrankenscheine mausen. Ihr schuldet der Schneiderin für zwei Jahre . . . wieviel?« »Wir schulden ihr vielleicht sechstausend Franken,« erwiderte Europa. »Gut; wenn Frau Auguste bezahlt werden und sich die Kundschaft erhalten will, so wird sie für vier Jahre eine Rechnung über dreißigtausend Franken ausstellen. Der gleiche Handel mit der Modistin. Der Juwelier Samuel Frisch, der Jude in der Rue Sainte-Avoie, wird dir Pfandscheine leihen; wir müssen ihm fünfundzwanzigtausend Franken schulden, und wir werden für sechstausend Franken von unserm Schmuck im Leihhaus haben. Wir werden den Schmuck dem Juwelier zurückgeben, die Hälfte der Steine muß falsch sein; daher wird der Baron sie nicht einmal ansehen. Kurz, du wirst dafür sorgen, daß unser Gegenspieler innerhalb von acht Tagen noch einmal hundertfünfzigtausend Franken ›speit‹.« »Die gnädige Frau wird mir ein wenig helfen müssen,« erwiderte Europa; »sprechen Sie mit ihr; denn sie steht da wie ein Klotz und zwingt mich, mehr Geist zu entfalten, als drei Autoren für ein Stück brauchen.« »Wenn Esther sich auf die Ziererei legen sollte, so wirst du mich benachrichtigen,« sagte Carlos. »Nucingen ist ihr einen Wagen und zwei Pferde schuldig; sie wird alles selbst wählen und kaufen wollen. Ihr werdet den Pferdehändler und Wagenmacher nehmen, bei dem Paccard wohnt. Dort werden wir wundervolle Pferde finden, die natürlich sehr teuer sind; und einen Monat darauf werden sie hinken, so daß wir sie wechseln müssen.« »Sechstausend Franken könnte man ihm mit Hilfe einer Rechnung des Parfumeurs ablocken,« sagte Europa. »Oh!« erwiderte Carlos kopfschüttelnd, »langsam! Von einer Konzession zur andern. Nucingen hat nur erst den Arm in die Maschine gesteckt: wir brauchen den Kopf. Abgesehen von all dem habe ich fünfhunderttausend Franken nötig.« »Die werden Sie bekommen können,« sagte Europa. »Die gnädige Frau müßte sich um die sechshunderttausend von dem dicken Dummkopf erweichen lassen; dann könnte sie vierhunderttausend dafür verlangen, wenn sie ihn herzlich lieben soll.« »Höre mich an, meine Tochter,« sagte Carlos. »An dem Tage, an dem ich die letzten hunderttausend Franken erhebe, fallen für dich zwanzigtausend Franken ab.« »Wozu sollten mir die dienen?« fragte Europa, indem sie wie ein Wesen, dem das Dasein unmöglich scheint, die Arme sinken ließ. »Du kannst nach Valenciennes zurückkehren, ein hübsches Geschäft kaufen und eine anständige Frau werden, wenn du es willst; auch das wäre ein guter Geschmack. Paccard denkt zuweilen daran; er hat nichts auf der Schulter und fast nichts auf dem Gewissen, ihr würdet zueinander passen,« sagte Carlos. »Nach Valenciennes zurückkehren! . . . Können Sie das denken, gnädiger Herr?« rief Europa erschreckt aus.

Europa war als Tochter sehr armer Weber, geboren zu Valenciennes, mit sieben Jahren in eine Spinnerei geschickt worden, und dort hatte die moderne Industrie ihre Körperkräfte mißbraucht, genau wie das Laster sie vor der Zeit verdorben hatte. Mit Zwölf Jahren verführt, mit dreizehn Mutter, so sah sie sich an tief entartete Wesen gefesselt. Aus Anlaß eines Mordes hatte sie als Zeugin vor dem Geschwornengericht erscheinen müssen. Der Schrecken, den die Rechtspflege einflößt, und ein Rest von Ehrlichkeit besiegten die Sechzehnjährige, und der Angeklagte wurde auf Grund ihres Zeugnisses zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Dieser Verbrecher, einer jener Rückfälligen, deren ganze Anlage zu furchtbarer Rache neigt, hatte vor dem versammelten Gerichtshof zu diesem Kind gesagt: ›In zehn Jahren, Prudentia, da komm ich wieder, als wäre es heute, um dich kaltzumachen, und müßt' ich unter die Sense!‹

Der Präsident des Gerichtshofs versuchte zwar, Prudentia Servien zu beruhigen, indem er ihr die Stütze und das Interesse der Justiz versprach; aber das arme Kind wurde von so tiefem Schrecken befallen, daß sie erkrankte und fast ein Jahr lang im Spital blieb. Die Justiz ist ein Vernunftwesen, das dargestellt wird von einer Anzahl von Individuen, die sich fortwährend erneuern und deren gute Absichten und Erinnerungen wie sie selbst außerordentlich wandelbar sind. Polizei und Gerichte können Verbrechen niemals verhindern; sie sind dazu erfunden, sie als vollendete Tatsachen hinzunehmen. In dieser Hinsicht wäre eine Vorbeugungspolizei eine Wohltat für das Land; aber das Wort Polizei schreckt heute den Gesetzgeber, der nicht mehr zwischen den Worten ›regieren‹, ›verwalten‹ und ›Gesetze geben‹ zu unterscheiden weiß. Der Gesetzgeber neigt dazu, alles in den Staat hineinzuziehen, als könnte der handeln. Der Sträfling müßte immerfort an sein Opfer denken und sich rächen, wenn die Justiz weder an ihn noch an sie denken würde. Prudentia, die ihre Gefahr instinktiv, im großen und ganzen, wenn man will, begriff, verließ Valenciennes und kam mit siebzehn Jahren nach Paris, um sich dort zu verbergen. Sie übte dort vier Berufe aus, deren bester der einer Statistin bei einem kleinen Theater war. Paccard begegnete ihr, und sie erzählte ihm ihr Unglück. Paccard, Jakob Collins rechter Arm und Sklave, sprach seinem Herrn von Prudentia; und als der Meister eine Sklavin brauchte, sagte er zu ihr: ›Wenn du mir dienen willst, wie man dem Teufel dienen muß, so werde ich dich von Durut befreien.‹

Durut war der Sträfling, das Damoklesschwert, das über dem Kopf der Prudentia Servien hing. Ohne diese Einzelheiten hätten manche Kritiker wohl Europas Ergebenheit ein wenig phantastisch gefunden. Und niemand hätte den Theatercoup begriffen, den Carlos herbeiführen wollte.

»Ja, meine Tochter, du kannst nach Valenciennes zurückkehren . . . Da, lies!« Und er reichte ihr das Zeitungsblatt vom Tage vorher, indem er ihr mit dem Finger den folgenden Artikel zeigte: »Toulon. Gestern fand die Hinrichtung Johann Franz Duruts . . . Schon am frühen Morgen mußte die Garnison usw.«

Prudentia ließ die Zeitung fallen, ihre Beine gaben unter dem Gewicht ihres Körpers nach; sie fand das Leben wieder, denn wie sie sagte, hatte sie seit Duruts Drohung am Brot keinen Geschmack mehr gefunden.

»Du siehst, ich habe mein Wort gehalten. Ich habe vier Jahre gebraucht, um Duruts Kopf zu Fall zu bringen, indem ich ihn in eine Schlinge lockte . . . Nun also, vollende hier mein Werk, und du sollst in deiner Heimat Inhaberin eines Geschäftchens sein, mit einem Vermögen von zwanzigtausend Franken und als Frau Paccards, dem ich als Pension die Tugend gestatte.«

Europa nahm die Zeitung wieder auf und las mit belebten Augen all die Einzelheiten, wie Zeitungen sie, ohne dessen müde zu werden, seit zwanzig Jahren über die Hinrichtung der Sträflinge bringen: sie las von dem imposanten Schauspiel, dem Geistlichen, der noch stets den Sühnenden bekehrt hat, dem alten Verbrecher, der seine ehemaligen Kollegen ermahnt, von den aufgeprotzten Geschützen und den knienden Verbrechern; und schließlich folgten die banalen Reflexionen, die nichts an der Verwaltung des Bagnos ändern, das von achtzehntausend Verbrechern wimmelt.

»Wir müssen Asien wieder ins Haus bringen,« sagte Carlos. Asien trat vor; sie verstand nichts von der Pantomime Europas. »Um sie hier wieder zur Köchin zu machen, werdet ihr zunächst dem Baron ein Diner servieren, wie er es noch nie gegessen hat,« fuhr er fort; »dann werdet ihr ihm sagen, Asien habe ihr Geld im Spiel verloren und wieder Dienste genommen. Einen Jäger werden wir nicht brauchen: Paccard wird Kutscher; Kutscher verlassen ihren Bock nicht; und da sie dort kaum zugänglich sind, so wird ihn die Spionage dort weniger leicht fassen. Die gnädige Frau wird ihm befehlen, eine gepuderte Perücke und einen dicken, betreßten Filzdreispitz zu tragen; das wird ihn verändern; übrigens werde ich ihm Runzeln malen.«

»Werden wir Diener bei uns haben?« fragte Asien schielend. »Wir werden ehrliche Leute nehmen,« erwiderte Carlos. »Lauter schwache Köpfe,« sagte die Mulattin, »Wenn der Baron ein Hotel mietet, so hat Paccard einen Freund, der zum Pförtner taugt,« fuhr Carlos fort. »Dann brauchen wir nur noch einen Lakaien und ein Küchenmädchen; zwei Fremde werdet ihr wohl überwachen können.«

In dem Augenblick, als Carlos hinausgehen wollte, zeigte Paccard sich. »Bleiben Sie, es sind Leute auf der Straße,« sagte der Jäger.

Dieses so einfache Wort war beängstigend. Carlos stieg in Europas Zimmer hinauf und blieb dort, bis Paccard gekommen war, um ihn mit einem Mietswagen abzuholen, der bis ins Haus hineinfuhr. Carlos zog die Vorhänge herunter und wurde in so schneller Fahrt dahingeführt, daß jede Verfolgung vergeblich sein mußte.

Im Faubourg Saint-Antoine ließ er sich einige Schritte von einer Fiakerhaltestelle entfernt absetzen, ging zu Fuß zu einer Droschke und fuhr zum Quai Malaquais; so entging er den Neugierigen.

»Sieh, Kleiner,« sagte er zu Lucien, indem er ihm vierhundert Tausendfrankenscheine zeigte, »da haben wir, denke ich, eine Anzahlung auf den Landsitz Rubempré. Wir wollen hunderttausend davon aufs Spiel setzen. Man hat eben die Omnibusse lanciert, die Pariser werden sich in diese Neuheit verlieben: in drei Monaten werden wir unsern Einsatz verdreifachen. Ich kenne die Geschichte: man wird prachtvolle Dividenden auf das Kapital zahlen, damit die Aktien in Gang kommen . . . ein wiederaufgewärmter Gedanke Nucingens. Wenn wir den Rubempréschen Landsitz wieder herrichten, werden wir nicht alles sofort bezahlen. Du wirst auf der Stelle Des Lupeaulx aufsuchen und ihn bitten, dich persönlich an einen Anwalt namens Desroches zu empfehlen, einen gerissenen Schlingel, den du in seinem Bureau besuchen wirst; du wirst ihm sagen, er möge nach Rubempré gehen und das Terrain studieren; und du wirst ihm zwanzigtausend Franken Honorar versprechen, wenn er dir dreißigtausend Franken Rente verschaffen kann, indem er rings um die Trümmer des Schlosses für achthunderttausend Franken Land aufkauft.« »Wie du jagst! . . . Und jagst und jagst! . . .« »Ich jage immer. Aber keine Scherze. Du wirst hunderttausend Taler in Schatzanweisungen anlegen, um keine Zinsen zu verlieren; du kannst sie Desroches übergeben, er ist ebenso ehrlich wie verschmitzt . . . Ist das geschehen, so eile nach Angoulême und setze bei deiner Schwester und deinem Schwager durch, daß sie dir zuliebe eine kleine Lüge auf sich nehmen. Deine Verwandten können dir ganz gut sechshunderttausend Franken gegeben haben, um deine Heirat mit Klotilde von Grandlieu zu erleichtern; das ist nicht entehrend.«

»Wir sind gerettet!« rief Lucien geblendet. »Du, ja!« erwiderte Carlos; »aber auch du bist es erst, wenn du mit Klotilde als Frau aus Saint-Thomas d'Aquin kommst . . .« »Was fürchtest du?« fragte Lucien, scheinbar voller Interesse für seinen Ratgeber. »Mir sind Neugierige auf der Spur . . . Ich muß den Eindruck eines wirklichen Priesters machen, und das ist recht langweilig! Der Teufel wird mich nicht mehr schützen, wenn er mich mit einem Brevier unterm Arm sieht.«

In diesem Augenblick erreichte der Baron von Nucingen, der Arm in Arm mit seinem Kassier davonging, das Tor seines Hotels. »Ich firchte,« sagte er, als er nach Hause kam, »ich habe ainen eländen Feldßug kemacht . . . Pah, wir werden das wieder einholen gönnen . . .« »Das Unklück ist, daß der Herr Paron sich ins Kerede kepracht hat,« erwiderte der gute Deutsche, dem nur das Dekorum Sorgen machte. »Ja, maine Keliepte muß in ainer Lage sain, die mainer wirdig ist,« sagte dieser Ludwig XIV. des Bureaus.

Da der Baron überzeugt war, Esther früher oder später zu besitzen, so wurde er wieder der große Finanzier, der er war. Er nahm die Leitung seiner Geschäfte so energisch wieder auf, daß sein Kassier, als er ihn am folgenden Tage um sechs Uhr in seinem Arbeitszimmer vorfand, wie er Werte durchsah, sich die Hände rieb. »Entschieten hat der Herr Paron kestern nacht aine Ersparnis kemacht,« sagte er mit seiner halb schlauen, halb albernen deutschen Art zu lächeln.

Wenn die Leute, die nach Art des Barons von Nucingen reich sind, mehr Gelegenheiten haben als andere, Geld zu verlieren, so haben sie auch mehr Gelegenheiten, welches zu gewinnen, selbst wenn sie sich ihren Torheiten überlassen. Obgleich die Finanzpolitik des berühmten Hauses Nucingen anderswo erklärt ist, so ist es doch wohl nicht unnötig, darauf aufmerksam zu machen, daß sich ein so beträchtliches Vermögen inmitten der geschäftlichen, politischen und industriellen Revolutionen unserer Zeit nicht erwerben, ausbauen, vergrößern und erhalten läßt, ohne daß ungeheure Kapitalsverluste stattfinden oder, wenn man will, ohne daß dem Vermögen der Einzelnen Steuern auferlegt werden. Es werden sehr wenig neue Werte in den Gesamtschatz der Erdkugel eingeführt. Jeder neue wucherische Aufkauf bedeutet eine neue Ungleichheit in der allgemeinen Verteilung. Was der Staat verlangt, gibt er zurück; aber was ein Haus Nucingen nimmt, das behält es. Diese schlaue Finte entgeht den Gesetzen aus demselben Grunde, der aus Friedrich II. einen Jakob Collin, einen Mandrin gemacht hätte, wenn er, statt mit Schlachten auf die Provinzen einzuwirken, im Schmuggel oder in beweglichen Werten gearbeitet hätte. Die europäischen Staaten zu zwingen, daß sie Anleihen zu zwanzig oder zu zehn Prozent aufnehmen, diese zehn oder zwanzig Prozent mit dem Gelde des Publikums zu verdienen, die Industrien im großen zu prellen, indem man sich der Rohstoffe bemächtigt, dem Gründer eines Geschäfts einen Strick hinzureichen, um ihn überm Wasser zu halten, bis man seine scheintote Unternehmung aufgefischt hat, kurz, all diese gewonnenen Schlachten der Taler bilden die hohe Politik des Geldes. Sicherlich kommen sowohl für den Bankier wie für den Eroberer Gefahren vor; aber es gibt so wenig Leute, die imstande sind, solche Kämpfe durchzuführen, daß die Schafe nichts damit zu tun haben. Diese großen Dinge spielen sich zwischen den Hirten ab. Da ferner jene, die von der Börse ausgeschlossen werden, sich des Fehlers schuldig gemacht haben, daß sie zuviel gewinnen wollten, nimmt man im allgemeinen sehr wenig Anteil an dem Unglück, das durch die Berechnungen der Nucingens verursacht wird. Wenn ein Spekulant sich eine Kugel in den Kopf schießt, wenn ein Geldmakler die Flucht ergreift, wenn ein Notar das Vermögen von hundert Familien entführt, was schlimmer ist, als wenn man einen Menschen tötet, wenn ein Bankier liquidiert – all diese Katastrophen, die man in Paris in wenigen Monaten vergißt, werden bald verschlungen von dem fast meergleichen Wogen der großen Stadt. Die ungeheuren Vermögen eines Jakob Coeur, der Medicis, eines Ango von Dieppe, eines Auffredi von La Rochelle, der Fugger, der Tiepolos, der Corners wurden ehedem auf ehrliche Weise erworben vermöge der Privilegien, die der Unwissenheit in betreff der Herkunft aller kostbaren Waren entsprangen. Aber heute ist das geographische Wissen so tief in die Massen gedrungen, die Konkurrenz hat die Verdienste so scharf umgrenzt, daß jedes schnell erworbene Vermögen entweder die Wirkung eines Zufalls oder das Ergebnis eines legalen Diebstahls ist. Verführt durch schmähliche Beispiele, hat sich, vor allem seit den letzten zehn Jahren, auch der niedere Handel der perfiden Begriffe des Großhandels bemächtigt, und zwar durch heimtückische Attentate auf die Rohprodukte. Wo immer die Chemie geübt wird, trinkt man keinen reinen Wein mehr; daher erliegt die Weinindustrie. Man verkauft verfälschtes Salz, um den Fiskus zu hintergehen. Die Gerichte erschrecken vor dieser allgemeinen Unredlichkeit. Jetzt steht der französische Handel vor der ganzen Welt als verdächtig da, und England wird in gleichem Maße demoralisiert. Das Übel beruht bei uns auf dem politischen Gesetz. Die Verfassung hat die Regierung des Geldes proklamiert, der Erfolg wird zum letzten Richter einer atheistischen Zeit. Daher ist auch die Verderbtheit der höheren Sphären, trotz alles blendenden Glanzes und seiner Scheingründe, unendlich viel scheußlicher, als die unvornehme und gewissermaßen persönliche Verderbtheit der unteren Kreise, von der gewisse Einzelheiten sich im vorliegenden Zusammenhange mit solcher immerhin fürchterlichen Komik darbieten. Die Regierung, die vor jedem neuen Gedanken zurückschreckt, hat die Elemente der zeitgenössischen Komik vom Theater verbannt. Die Bourgeoisie, die weniger liberal ist als Ludwig XIV., zittert davor, ihre ›Hochzeit Figaros‹ zu sehen; sie verbietet, den politischen ›Tartuffe‹ zu spielen; und sicherlich würde sie heute ›Turcaret‹ nicht spielen lassen, denn Turcaret selbst ist zum Souverän geworden. Hinfort wird die Komödie erzählt, und das Buch wird zu einer, wenn auch weniger rasch wirkenden, so doch sicherern Waffe der Dichter.

Während jenes Morgens, während des Hin und Her der Audienzen, der erteilten Befehle und der wenige Minuten dauernden Besprechungen, die aus Nucingens Arbeitszimmer eine Art Vorhalle der Finanz machten, meldete ihm einer seiner Wechselmakler, daß ein Mitglied der Gesellschaft, eins der geschicktesten, eins der reichsten, nämlich Jakob Falleix, der Bruder Martin Falleix', der Nachfolger Julius Desmarets, verschwunden war. Jakob Falleix war der offizielle Wechselmakler des Hauses Nucingen. Im Einverständnis mit du Tillet und den Kellers hatte der Baron den Ruin dieses Mannes ebenso kühl heraufbeschworen, als hätte es sich darum gehandelt, zu Ostern ein Lamm zu schlachten.

»Er gonnte sich nicht halten,« sagte der Baron ruhig.

Jakob Falleix hatte dem Börsenwucher ungeheure Dienste geleistet. Während einer Krisis hatte er noch vor ein paar Monaten ›den Platz gerettet‹, indem er ein verwegenes Manöver ausführte. Aber Dankbarkeit von den Lüchsen verlangen, hieße das nicht, im Winter die Wölfe der Ukraine rühren wollen?

»Der arme Mensch!« sagte der Wechselmakler; »er war so wenig auf diese Entwicklung gefaßt, daß er seiner Geliebten in der Rue Saint-Georges noch ein kleines Haus möbliert hatte; er hat hundertfünfzigtausend Franken für Gemälde und Mobiliar ausgegeben. Er liebte Frau du Val-Noble so sehr! . . . Jetzt muß die Frau all das im Stich lassen . . . Alles ist noch unbezahlt.« ›Kut, kut!‹ sagte Nucingen bei sich selber, ›da haben wir aine Kelegenheit, maine Verluste der Nacht wieder ainßupringen.‹ »Er hat nichts peßahlt?« fragte er den Wechselmakler. »Oh,« versetzte der Agent, »welches wäre der ungehobelte Lieferant, der Jakob Falleix keinen Kredit gegeben hätte? Es scheint, das Haus hat einen auserlesenen Keller. Nebenbei, das Haus ist zu verkaufen, er wollte es erstehen. Der Mietsvertrag lautet auf seinen Namen. Was für eine Dummheit! Jetzt wird das Silberzeug, das Mobiliar, die Weine, der Wagen und die Pferde – alles wird zur Masse geschlagen, und was werden die Gläubiger davon haben?« »Gommen Se morgen,« sagte Nucingen, »dann hab ich mir das alles ankesehen, und fenn man nicht Gongurs eröffnet und die Tinge kütlich bailegt, werd ich Ihnen keben den Auftrag, ainen verninftigen Brais fier das Mopiliar zu pieten; den Mietsvertrag werd ich iebernehmen . . .« »Das wird sich sehr gut machen lassen,« sagte der Wechselmakler. »Gehen Sie heute morgen hin. Sie werden einen der Kompagnons bei den Lieferanten finden, die sich gern ein Vorzugsrecht schaffen möchten; aber die Val-Noble hat ihre Rechnungen, die auf den Namen Falleix lauten.«

Der Baron von Nucingen schickte auf der Stelle einen seiner Kommis zu seinem Notar. Jakob Falleix hatte ihm von diesem Hause gesprochen, das höchstens sechzigtausend Franken wert war; und er wollte sofort den Besitz antreten, um wegen der Mieten ein Pfandvorrecht zu haben.

Der Kassier – der ehrliche Mensch – kam, um zu fragen, ob sein Herr bei dem Bankrott etwas verlöre. »Im Kegenteil, main kuter Wolfkang, ich werde wieder einpringen hünderttausend Franken.« »Und wie?« »Ah, ich werde gaufen das glaine Haus, das der arme Teifel Walleix seit ainem Jahr fier saine Keliepte ainrichtete. Ich werde begommen das Kanze, wenn ich den Kläubikern biete finfzigtausend Franken; und Gartod, mein Nodar, begommt mainen Auftrag fier das Haus, denn der Besitzer sitzt in der Glemme . . . Ich hab das kewußt, aber ich hatte mainen Gopf nicht mehr. Pald soll maine köttliche Esder ain glaines Balais pewohnen . . . Walleix hat es mir keßaigt: es ist funderpar, und kanz nah bei . . . Das paßt mir wie ain Hantschuh.«

Der Konkurs Falleix zwang den Baron, an die Börse zu gehen; aber es war ihm unmöglich, die Rue Saint-Lazare zu verlassen, ohne daß er in die Rue Taitbout einbog; er litt schon darunter, daß er ein paar Stunden ohne Esther verbracht hatte; er hätte sie am liebsten an seiner Seite behalten. Der Gewinn, den er aus der Masse seines Wechselmaklers zu erzielen gedachte, machte ihm den Verlust der vierhunderttausend Franken, die bereits ausgegeben waren, äußerst leicht. Er war entzückt, ›sainem Engel‹ den Umzug aus der Rue Taitbout in die Rue Saint-Georges melden zu können; denn dort würde sie in einem ›glainen Balais‹ sein und ihrem Glück würden sich keine Erinnerungen entgegenstellen; so schien ihm denn das Pflaster unter den Füßen sanft, er schritt dahin wie ein junger Mensch, war befangen im Traum eines solchen. An der Ecke der Rue des Trois-Frères sah der Baron mitten in seinem Traum und mitten auf dem Pflaster mit verstörtem Gesicht Europa auf sich zukommen.

»Wohin willst du?« fragte er. »O gnädiger Herr, ich war auf dem Wege zu Ihnen. Sie hatten ganz recht, gestern! Ich sehe jetzt ein, daß die arme gnädige Frau auf ein paar Tage hätte ins Gefängnis gehen sollen. Aber verstehen sich wohl die Frauen auf die Finanzen? . . . Als die Gläubiger der gnädigen Frau erfuhren, daß sie in ihre Wohnung zurückgekehrt ist, sind sie alle wie über eine Beute über sie hergefallen . . . Gestern um sieben Uhr abends, gnädiger Herr, haben sie scheußliche Zettel angeklebt, daß Sonnabend ihr Mobiliar verkauft werden soll . . . Aber das ist noch nichts . . . Die gnädige Frau ist eben nur Herz, und da hat sie seinerzeit diesem Ungeheuer, Sie wissen ja, einen Gefallen tun wollen!« »Welchem Unkeheier?« »Nun, dem, den sie liebte, diesem d'Estourny; oh, er war reizend! nur spielte er.« »Er schbielte mit kestichelten Karten . . .« »Nun, und Sie? . . .« sagte Europa, »was treiben Sie an der Börse? Aber lassen Sie mich erzählen. Um also eines Tages Georg daran zu hindern, daß er sich eine Kugel vor den Kopf schoß, hat sie ihr ganzes Silberzeug und ihren Schmuck ins Leihhaus getragen, und beides war nicht bezahlt. Als nun die Leute erfuhren, daß sie einem Gläubiger etwas gegeben hat, sind sie alle gekommen, um ihr eine Szene zu machen. Man droht ihr mit der Polizei . . . Ihr Engel auf der Anklagebank! . . . Kann einem da nicht die Perücke überm Kopf zu Berge stehen? . . . Sie schwimmt in Tränen, sie spricht davon, sich ins Wasser zu werfen . . . Oh, sie wird es tun!« »Wenn ich mitgomme, dann atiee Pörse!« rief Nucingen; »aber es ist unmöglich, daß ich nicht hinkehe, ich will da etwas fier sie kewinnen . . . Keh und peruhige sie: ich werde ihre Schulden peßahlen, ich werde um vier zu ihr gommen . . . Aber, Eischenie, sag ihr, sie soll mich ain pißchen lieb haben . . .« »Wie, ein bißchen? Aber sehr! . . . Sehen Sie, gnädiger Herr, nur die Großmut kann das Herz der Frauen gewinnen . . . Sicherlich hätten Sie vielleicht hunderttausend Franken gespart, wenn Sie sie hätten ins Gefängnis gehen lassen. Aber ihr Herz hätten Sie nie gewonnen . . . Wie hat sie noch gesagt? ›Eugenie, er hat sich recht groß gezeigt, recht weitherzig . . . Er ist eine schöne Seele!‹« »Das hat se kesagt, Eischenie?« rief der Baron. »Gewiß, gnädiger Herr, zu mir selbst.« »Ta, ta sind ßehn Louis . . .« »Danke! . . . Aber sie weint in ebendiesem Augenblick, sie meint seit gestern, wie die heilige Magdalena einen Monat lang geweint hat . . . Die, die Sie lieben, ist in Verzweiflung, und noch dazu wegen Schulden, die nicht ihre Schulden sind! Oh, die Männer! Die beuteln die Frauen ebensosehr aus, wie die Frauen die Alten ausbeuteln . . . wie?« »So sind sie alle . . . Sich verpürgen! . . . Oh, man verpürgt sich nie! . . . Sie soll nichts mehr unterschraiben. Ich peßahle; aber wenn sie noch aine Unterschrift kibt, dann . . .« »Was würden Sie dann tun?« fragte Europa, indem sie sich aufrichtete. »Kott, du Kerechter! Ich habe kaine Macht ieber sie . . . Ich werde treten an die Schbitze ihrer glainen Keschäfte. Keh, keh und tröste sie, und sag ihr, daß sie in ainem Monat ain glaines Balais pewohnen soll.« »Herr Baron, Sie haben im Herzen einer Frau Geld angelegt, das sich hoch verzinst! Sehen Sie . . . ich finde Sie schon verjüngt, und ich bin nur eine Kammerfrau; aber ich habe das schon oft erlebt . . . es ist das Glück . . . Das Glück wirft so einen gewissen Glanz . . . Wenn Sie ein paar Auslagen haben, so bedauern Sie das nicht . . . Sie werden sehen, wieviel sie einbringen. Ich habe es der gnädigen Frau schon gesagt, sie wäre die Letzte der Letzten, sie wäre ein Mädchen von der Gasse, wenn sie Sie nicht liebte, denn Sie ziehen sie aus einer Hölle . . . Hat sie erst keine Sorgen mehr, so werden Sie sie kennen lernen. Unter uns, Ihnen kann ich es sagen: in der Nacht, als sie so viel weinte . . . was wollen Sie! Man will doch auch die Achtung des Mannes, der einen aushalten soll . . . Sie wagte Ihnen all das nicht zu sagen . . . Sie wollte durchgehen!« »Durchkehn!« rief der Baron, den dieser Gedanke entsetzte. »Aber die Pörse! die Pörse! Keh, keh, ich gomm jetzt nicht . . . Aber ich möchte sie am Fenster sehen . . . Ihr Anplick wird mir Mut keben . . .«

Esther lächelte Herrn von Nucingen zu, als er vor dem Hause vorüberging; und er schritt schwerfällig weiter, indem er sich sagte: ›Sie ist ain Engel!‹

Um dieses unmögliche Ergebnis herbeizuführen, war Europa auf folgendes Mittel verfallen. Gegen zweieinhalb Uhr hatte Esther sich angezogen, als erwartete sie Lucien; sie war entzückend; und als Prudence sie so sah, sagte sie mit einem Blick aufs Fenster: »Da ist der gnädige Herr!« Das arme Mädchen stürzte hin, weil sie Lucien zu erblicken meinte, und sie sah Nucingen. »Oh, wie du mich quälst!« sagte sie. »Es gab nur dieses Mittel, um den Schein zu erwecken, als beachteten Sie einen armen alten Mann, der Ihre Schulden bezahlen wird,« erwiderte Europa; »denn jetzt werden sie alle bezahlt.« »Welche Schulden?« rief dieses Geschöpf, das nur daran dachte, seine Liebe festzuhalten, die ihm furchtbare Hände entrissen. »Die, die Herr Carlos für die gnädige Frau gemacht hat.« »Wie? Wir haben doch schon fast vierhundertfünfzigtausend Franken!« rief Esther. »Sie haben noch für weitere hundertfünfzigtausend Franken Schulden. Aber der Baron hat all das sehr hübsch hingenommen . . . Er will Sie hier wegnehmen und in ein ›glaines Balais‹ bringen . . . Meiner Treu! Unglück haben Sie nicht! An Ihrer Stelle würde ich mir, da Sie diesen Menschen einmal am rechten Ende halten, sobald Sie Carlos befriedigt haben, ein Haus und Renten geben lassen. Die gnädige Frau ist ja die schönste Frau, die ich je gesehen habe, und auch die reizvollste; aber die Häßlichkeit kommt so schnell. Ich bin auch frisch und schön gewesen, und jetzt . . .? Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, fast so alt wie die gnädige Frau, und ich sehe zehn Jahre älter aus . . . Eine Krankheit genügt . . . Aber wenn man ein Haus in Paris besitzt und seine Renten, so fürchtet man nicht mehr, auf der Straße zu enden . . .«

Esther hörte Europa, Eugenie, Prudentia Servien nicht mehr zu. Der Wille eines Menschen, der das Genie der Verderbtheit besaß, hatte also Esther mit der gleichen Kraft in den Kot zurückgeschleudert, mit der er sie daraus hervorgezogen hatte. Wer die Liebe in ihrer Unendlichkeit kennt, weiß, daß man ihre Genüsse nicht erlebt, wenn man nicht auch ihre Tugenden anerkennt. Seit der Szene in ihrer Mansarde der Rue de Langlade hatte Esther ihr altes Leben vollständig vergessen. Sie hatte bisher sehr tugendhaft gelebt, ganz eingeschlossen in ihre Leidenschaft. Daher hatte auch der kluge Verführer das Talent gezeigt, alles so einzufädeln, daß das arme Mädchen, getrieben von ihrer Ergebenheit, nur noch schon vollzogenen Halunkenstreichen oder solchen, die im Begriff standen vollzogen zu werden, ihre Zustimmung zu geben hatte. Diese Feinheit zeigt die Überlegenheit des Verführers und gibt zugleich einen Fingerzeig über das Verfahren, durch das er Lucien unterworfen hatte. Furchtbare Zwangslagen schaffen, die Mine legen, sie mit Pulver füllen und im kritischen Augenblick zum Komplicen sagen: ›Ein Zucken mit dem Kopf, und alles fliegt in die Luft!‹ . . . Früher hatte Esther, vollgesogen von der Moral, die den Kurtisanen eigen ist, all diese Späße so natürlich gefunden, daß sie ihre Rivalinnen nur danach bemaß, wieviel sie einen Menschen auszugeben zwangen. Vernichtete Vermögen sind die Rangstreifen auf dem Ärmel dieser Geschöpfe. Carlos hatte sich nicht getäuscht, wenn er auf die Erinnerungen Esthers zählte. Diese nicht nur von solchen Frauen, sondern auch von Verschwendern tausendmal angewandten Kriegslisten beunruhigten Esthers Geist nicht. Das arme Mädchen fühlte nur seine Erniedrigung. Sie liebte Lucien, sie wurde die offizielle Mätresse des Barons von Nucingen: darin lag für sie alles. Mochte der falsche Spanier das Geld des Kaufschillings nehmen, mochte Lucien den Bau seines Glücks mit den Steinen vom Grabe Esthers errichten, mochte eine einzige Nacht der Lust dem alten Bankier mehr oder minder viele Tausendfrankenscheine kosten, mochte Europa ihm durch mehr oder minder geistreiche Mittel ein paar hunderttausend Franken entlocken – um all das kümmerte sich diese verliebte Dirne nicht. Der Krebs, der ihr am Herzen fraß, bestand hierin: fünf Jahre lang hatte sie in ihren eigenen Augen weiß wie ein Engel dagestanden! Sie liebte, sie war glücklich, sie hatte nicht die geringste Untreue begangen. Diese schöne, reine Liebe sollte beschmutzt werden. Ihr Geist stellte nicht den Gegensatz ihres schönen, unbekannten Lebens und ihres künftigen unsauberen Lebens fest. Es war bei ihr weder Berechnung noch Poesie, sie empfand ein Gefühl von unsäglich drückender Gewalt: sie war weiß und wurde schwarz; sie war rein und wurde unrein; sie war edel und wurde unedel. Sie war aus eigenem Willen hermelinweiß gewesen, und also schien ihr die moralische Besudelung unerträglich. Deshalb war ihr auch, als der Baron ihr mit seiner Liebe drohte, der Gedanke gekommen, sich zum Fenster hinauszuwerfen. Lucien hatte unbedingte Liebe gefunden, solche Liebe, wie die Frauen sie einem Manne nur äußerst selten gewähren. Die Frauen, die sagen, sie liebten mit der höchsten Liebe, und die es zuweilen selber glauben, tanzen und kokettieren mit andern Männern, sie putzen sich für die Gesellschaft und suchen in ihr ihre Ernte begehrlicher Blicke; aber Esther hatte, ohne daß es ein Opfer war, die Wunder echter Liebe vollbracht. Sie hatte Lucien sechs Jahre lang geliebt, wie die Schauspielerinnen und die Kurtisanen lieben, die, hinabgestoßen in den Schlamm und die Unsauberkeit, nach dem Adel und der Hingebung wahrer Liebe dürsten und die dann ausschließlich in ihr leben. (Müßte man nicht ein ganz besonderes Wort für einen Begriff erfinden, dem so außerordentlich selten seine Wirklichkeit entspricht?) Die entschwundenen Nationen, Griechenland, Rom und der Orient, haben die Frau stets eingesperrt; die Frau, die liebt, sollte sich von selbst einsperren. Man kann sich also denken, daß Esther, als sie aus dem eingebildeten Palast kam, in dem sich dieses Fest, diese Dichtung abgespielt hatte, um in das ›glaine Balais‹ eines kalten Greises hinabzusteigen, von einer Art moralischer Krankheit befallen wurde. Von einer eisernen Hand geschoben, war sie schon bis zur halben Höhe des Körpers hineingewatet in die Ehrlosigkeit, ohne auch nur überlegen zu können; aber seit zwei Tagen dachte sie nach, und sie fühlte tödliche Kälte im Herzen. Bei den Worten: ›auf der Straße zu enden‹ stand sie jäh auf und sagte: »Auf der Straße zu enden? . . . Nein, eher will ich in der Seine enden . . .« »In der Seine? . . . Und Herr Lucien? . . .« fragte Europa.

Dieses einzige Wort warf Esther in ihren Sessel zurück, in dem sie sitzen blieb, die Augen auf eine Rosette des Teppichs geheftet. Ihr Kopf glühte, sie war tränenlos. Um vier Uhr fand Nucingen seinen Engel versunken in jene Flut von Reflexionen und Entschließungen, welcher das weibliche Gemüt sich hinzugeben pflegt und aus dem es mit Worten emportaucht, wie sie allen, die nicht mit ihr vertraut sind, unverständlich bleiben müssen.

»Klätten Se die Schdirn, maine Schöne,« sagte der Baron, indem er sich neben sie setzte. »Sie sollen gaine Schulten mehr haben. Ich werde mich verschdändigen mit Eischenie, und in ainem Monat sollen Se verlassen diese Wohnung, um in ain glaines Balais ßu ßiehen . . . Ach, was fier aine raizende Hand! . . . Keben Se her, daß ich se kisse.« Esther ließ ihre Hand nehmen, wie ein Hund die Pfote gibt. »Ah! Sie keben die Hant, aber nicht das Herz . . . und ich liebe das Herz . . .«

Das wurde mit einem solchen Ausdruck von Wahrheit gesagt, daß die arme Esther mit einem Mitleid, das ihn fast wahnsinnig machte, die Augen zu dem Greis erhob. Liebende fühlen sich ebenso wie Märtyrer als Brüder einer und derselben Folter! Nichts in der Welt versteht sich so gut wie zwei gleiche Schmerzen. »Der arme Mensch!« sagte sie, »er liebt.«

Als der Baron diese Worte hörte, deren Sinn er mißverstand, wallte ihm das Blut in den Adern, und er atmete Himmelsluft. In seinem Alter bezahlen Millionäre eine solche Empfindung mit so viel Gold, wie die Frauen ihnen dafür abverlangen.

»Ich lieb Sie ebensosehr, wie ich maine Tochter liebe! . . .« sagte er; »und ich fiehle da,« fuhr er fort, indem er die Hand aufs Herz legte, »daß ich Sie nicht anders als klücklich sehen kann.« »Wenn Sie nur mein Vater sein wollten, so würde ich Sie von Herzen lieben, Sie nie mehr verlassen, und Sie würden erkennen, daß ich keine schlechte Frau und weder feil noch habgierig bin, wie es in diesem Augenblick den Anschein hat . . .« »Sie haben Ihre glainen Tummheiten kemacht,« erwiderte der Baron, »wie alle hipschen Frauen, weiter nix. Reden wir nicht mehr davon. Es ist unser Beruf, fier Sie Keld zu vertienen . . . Seien Sie klücklich: ich will kern fier ain paar Tage Ihr Vater sain, denn ich verschdehe, daß Sie sich an main armes Kerippe kewöhnen müssen.« »Wahr! . . .« rief sie, indem sie aufstand und Nucingen auf die Knie sprang, wobei sie ihm die Hand um den Hals legte und sich an ihm festhielt. »Wahr,« erwiderte er, indem er seinem Gesicht ein Lächeln abzugewinnen suchte.

Sie küßte ihn auf die Stirn, sie glaubte an einen unmöglichen Kompromiß: rein bleiben und Lucien sehen . . . Sie umschmeichelte den Baron so zärtlich, daß die Torpille wieder herausschaute. Sie umgarnte den Greis, der ihr versprach, vierzig Tage lang Vater zu bleiben. Diese vierzig Tage waren nötig, um das Haus in der Rue Saint-Georges zu erwerben und einzurichten.

Doch als er wieder auf der Straße war und nach Hause ging, sagte er bei sich: ›Ich pin ain Kimpel!‹ Und freilich, wenn er in Gegenwart Esthers zum Kind wurde, so schlüpfte er in ihrer Abwesenheit wieder in seine Luchshaut zurück, genau wie der Spieler wieder in Angelika verliebt ist, wenn er keinen Heller mehr hat. ›Aine halbe Million, und noch nicht ainmal ßu wissen, was fier ain Bain sie hat, das ist doch ßu tumm! Aber ßum Klück wird niemand davon erfahren,‹ sagte er zwanzig Tage darauf.

Und er faßte die besten Entschlüsse, mit einer Frau zu brechen, die er so teuer gekauft hatte; aber sowie er wieder vor Esther stand, brauchte er die ganze Zeit, die er ihr zu widmen hatte, dazu, die Brutalität seiner ersten Anrede wieder gutzumachen. »Ich gann nicht«, sagte er am Ende des Monats zu ihr, »der ewige Vater sain!«

Gegen Ende des Dezember 1829, kurz bevor Esther in das kleine Hotel der Rue Saint-Georges einziehen sollte, bat der Baron du Tillet, Florine dorthin zu führen und zu sehen, ob alles mit dem Vermögen Nucingens im Einklang sei und ob die Worte ›ain glaines Balais‹ durch die Künstler, die dieses Bauer des Vogels hatten würdig machen sollen, zur Wirklichkeit geworden wären. Alle Erfindungen, die der Luxus vor der Revolution von 1830 gemacht hatte, erhoben dieses Haus zum Typus des guten Geschmacks. Der Architekt Grindot hatte das Meisterwerk seines Talents als Dekorateur geliefert. Die neu errichtete Marmortreppe, die Stuckarbeiten, die Stoffe, die sparsam angebrachten Vergoldungen, die kleinsten Einzelheiten wie die großen Wirkungen übertrafen alles, was das Jahrhundert Ludwigs XV. in dieser Art in Paris geschaffen hatte.

»Das ist mein Traum: das und die Tugend!« sagte Florine lächelnd. »Und für wen machst du diese Ausgaben?« fragte sie Nucingen. »Ist es eine Jungfrau, die sich hat vom Himmel herabfallen lassen?« »Es ist aine Frau, die wieder hinaufschdaigt,« erwiderte der Baron. »Auch eine Art, dich als Jupiter aufzuspielen,« rief die Schauspielerin. »Und wann wird man sie sehen?« »Oh, an dem Tage, an dem der Einweihungsschmaus gegeben wird,« rief du Tillet. »Eher nicht . . .« sagte der Baron. »Für den Abend wird man sich hübsch bürsten und schnüren und putzen müssen,« erwiderte Florine. »Oh, wieviel Mühe werden die Frauen ihren Schneiderinnen und Friseuren machen! . . . Und wann?« »Ich bin nicht der Herr.« »Das ist mir eine Frau! . . .« rief Florine. »Oh, wie gern ich sie einmal sähe!« »Ich auch,« versetzte der Baron naiv. »Wie! Haus, Frau und Möbel, alles wird neu sein?« »Selbst der Bankier,« sagte du Tillet, »denn mein Freund scheint mir recht jung.« »Er muß ja auch«, sagte Florine, »seine zwanzig Jahre wiederfinden; wenigstens für einen Augenblick.«

In den ersten Tagen des Jahres 1830 sprach in Paris jedermann von Nucingens Leidenschaft und von dem wahnsinnigen Luxus seines Hauses. Der arme Baron, der sich so im Gerede und verhöhnt sah, geriet in eine Wut, die man sich leicht vorstellen kann, und er versteifte sich auf den Willen des Geldmannes, der der rasenden Leidenschaft, die sein Herz erfüllte, die Wage hielt. Er wünschte nach dem Einweihungsschmaus das Gewand des edlen Vaters an den Nagel zu hängen und den Erlös so vieler Opfer einzustreichen. Da die Torpille ihn stets aus dem Felde schlug, entschloß er sich, die Angelegenheit seiner Eheschließung brieflich zu behandeln, um ein schriftliches Versprechen von ihr zu erhalten. Bankiers glauben nur an Wechselbriefe. Der Luchs stand also an einem der ersten Tage dieses Jahres früh auf, schloß sich in seinem Arbeitszimmer ein und begann den folgenden Brief zu verfassen, den er in gutem Französisch schrieb; denn so schlecht seine Aussprache war, so gut war seine Orthographie.

»Teure Esther, Blüte meiner Gedanken und einziges Glück meines Lebens! Als ich Ihnen sagte, daß ich Sie wie meine Tochter liebte, täuschte ich Sie und täuschte mich selber. Ich wollte Ihnen auf diese Weise nur die Heiligkeit meiner Empfindungen ausdrücken, die keiner von denen gleichen, wie die Männer sie sonst gefühlt haben; denn erstens bin ich ein Greis, und zweitens hatte ich noch nie geliebt. Ich liebe Sie so sehr, daß ich Sie nicht weniger lieben würde, wenn Sie mich auch mein Vermögen kosten würden. Seien Sie gerecht! Die meisten Männer hätten nicht wie ich einen Engel in Ihnen gesehen; ich habe nie einen Blick auf Ihre Vergangenheit geworfen. Ich liebe Sie nicht weniger, als ich meine Tochter Augusta liebe, die mein einziges Kind ist, und wie ich meine Frau lieben würde, wenn meine Frau mich hätte lieben können. Wenn das Glück die einzige Rechtfertigung eines verliebten Greises ist, so fragen Sie sich, ob ich nicht eine lächerliche Rolle spiele. Ich habe aus Ihnen den Trost und die Freude meiner alten Tage gemacht. Sie wissen ja, daß Sie bis zu meinem Tode so glücklich sein werden, wie eine Frau es nur sein kann; und Sie wissen auch, daß Sie nach meinem Tode reich genug sein werden, um Ihr Schicksal vielen Frauen beneidenswert erscheinen zu lassen. Von allen Geschäften, die ich mache, seit ich das Glück gehabt habe, mit Ihnen zu sprechen, wird im voraus Ihr Anteil erhoben, und Sie haben Ihr Konto im Hause Nucingen. In einigen Tagen werden Sie in ein Haus einziehen, das früher oder später das Ihre sein wird, wenn es Ihnen gefällt. Lassen Sie sehen: werden Sie dort noch immer Ihren Vater empfangen, wenn Sie mich empfangen, oder werde ich endlich glücklich sein? Vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen so offen schreibe; aber wenn ich in Ihrer Nähe bin, so habe ich keinen Mut mehr, und ich fühle dann nur zu sehr, daß Sie meine Herrin sind. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, ich will Ihnen nur sagen, wie sehr ich leide und wie grausam es in meinem Alter ist, warten zu müssen, während jeder Tag mir Hoffnungen und Genüsse entführt. Das Zartgefühl meines Verhaltens ist übrigens eine Bürgschaft für die Aufrichtigkeit meiner Absichten. Habe ich je wie ein Gläubiger gehandelt? Sie sind wie eine Zitadelle, und ich bin kein junger Mann mehr. Sie antworten auf meine Beschwerden, es handle sich um Ihr Leben, und ich glaube es Ihnen, wenn ich Sie höre; aber hier verfalle ich wieder schwerem Kummer, Zweifeln, die uns beide entehren. Sie sind mir ebenso gut, ebenso rein wie schön erschienen; aber Sie gefallen sich darin, meine Überzeugungen zu vernichten. Urteilen Sie selbst! Sie sagen mir, Sie hätten eine Leidenschaft im Herzen, eine unerbittliche Leidenschaft, und Sie weigern sich, mir den Namen dessen anzuvertrauen, den Sie lieben . . . Ist das natürlich? Sie haben aus einem ziemlich starken Menschen einen Menschen von unerhörter Schwäche gemacht . . . Sehen Sie, wie weit ich gekommen bin! Ich bin nach fünf Monaten gezwungen, Sie zu fragen, welche Zukunft Sie meiner Leidenschaft bestimmen. Und ich muß auch wissen, welche Rolle ich bei der Einweihung Ihres Hauses spielen werde. Geld ist mir nichts, wenn es sich um Sie handelt; ich werde nicht so dumm sein, mir in Ihren Augen aus dem, was ich verachte, ein Verdienst zu machen; aber wenn meine Liebe grenzenlos ist, so ist mein Vermögen beschränkt, und ich lege nur um Ihretwillen Wert darauf. Nun, wenn ich Ihnen alles gäbe, was ich besitze, und dadurch als Armer Ihre Liebe gewinnen könnte, so würde ich lieber arm und von Ihnen geliebt sein, als reich und verschmäht. Sie haben mich so sehr verwandelt, meine teure Esther, daß mich niemand mehr erkennt: ich habe für ein Bild von Joseph Bridau zehntausend Franken bezahlt, weil Sie mir gesagt hatten, daß er ein verkannter Mann von Talent sei. Und allen Armen, denen ich begegne, gebe ich in Ihrem Namen fünf Franken. Nun, und was verlangt der arme Greis, der sich als Ihren Schuldner ansieht, wenn Sie ihm die Ehre erweisen, irgend etwas anzunehmen? . . . Er will nur eine Hoffnung; und was für eine Hoffnung! Großer Gott! Ist es nicht vielmehr die Gewißheit, von Ihnen nie mehr zu erlangen, als was meine Leidenschaft von Ihnen erhalten wird? Aber das Feuer meines Herzens wird Ihrem grausam trügerischen Gewähren entgegenkommen. Sie sehen mich bereit, mich allen Bedingungen zu fügen, die Sie mir für mein Glück, für meine seltenen Genüsse stellen mögen; aber wenigstens sagen Sie mir, daß Sie an dem Tage, an dem Sie von Ihrem Hause Besitz ergreifen werden, das Herz und die Knechtschaft dessen annehmen wollen, der sich für den Rest seiner Tage nennt

Ihren Sklaven        
Friedrich von Nucingen.«

»Ach, er langweilt mich, dieser Millionentopf!« rief Esther aus, die wieder zur Kurtisane geworden war. Und sie nahm Briefpapier und schrieb, sooft das Blatt es zuließ, den berühmten Satz, der zu Scribes Ruhm sprichwörtlich geworden ist: »Nehmen Sie meinen Bären!«Bezieht sich auf ein Vaudeville von Scribe und Saintine, in dem ein Bärenführer mit obigem Satz seinen Bären anpreist.

Eine Viertelstunde darauf schrieb Esther, von Gewissensbissen ergriffen, folgenden Brief:

»Herr Baron!

Schenken Sie dem Brief, den Sie von mir erhalten haben, nicht die geringste Beachtung, ich hatte einen Rückfall in die tolle Art meiner Jugend; verzeihen Sie ihn einem armen Mädchen, das Sklavin sein soll. Ich habe die Niedrigkeit meines Standes nie schärfer empfunden als seit dem Tage, da ich Ihnen überliefert wurde. Sie haben gezahlt, ich schulde mich. Nichts ist heiliger als die Schulden der Unehre. Ich habe nicht das Recht zu ›liquidieren‹, indem ich mich in die Seine werfe. Mit dieser furchtbaren Münze, die nur für die eine Seite gut ist, kann man eine Schuld immer bezahlen. Ich stehe Ihnen also zur Verfügung. Ich will in einer einzigen Nacht alle Summen zahlen, die für diesen verhängnisvollen Augenblick verpfändet sind, und ich bin überzeugt, daß eine Stunde bei mir Millionen wert ist, um so mehr, als es die einzige, die letzte sein soll. Nachher werde ich frei sein; dann kann ich aus dem Leben scheiden. Eine anständige Frau hat die Möglichkeit, sich von einem Fall wieder zu erheben; aber wir, wir fallen zu tief. Deshalb steht mein Entschluß auch so fest, daß ich Sie bitte, diesen Brief aufzuheben als Zeugnis für die Ursache des Todes derer, die sich auf einen Tag nennt

Ihre Dienerin

Esther.«

Als dieser Brief abgegangen war, kam Esther ein Bedauern an. Zehn Minuten später schrieb sie den dritten Brief, der hier folgt.

»Verzeihen Sie, lieber Baron, ich bin es noch einmal. Ich habe mich weder über Sie lustig machen noch Sie verletzen wollen; ich will Sie nur zum Nachdenken über diesen einzigen Gedankengang bringen: wenn wir in den Beziehungen eines Vaters zu seiner Tochter leben, so haben Sie einen schwachen, aber dauerhaften Genuß; wenn Sie die Erfüllung des Vertrags verlangen, so werden Sie mich beweinen. Ich will Sie nicht länger langweilen: der Tag, an dem Sie statt des Glücks den Genuß erwählen, wird für mich ohne ein Morgen sein.

Ihre Tochter

Esther.«

Bei dem ersten Brief geriet der Baron in jenen kalten Grimm, der einen Millionär töten kann; er sah sich im Spiegel und schellte. »Ain Fußpad! . . .« rief er seinem neuen Kammerdiener zu.

Während er das Fußbad nahm, kam der zweite Brief; er las ihn und fiel bewußtlos zu Boden. Man trug den Millionär auf sein Bett. Als der Geldmann wieder zu sich kam, saß Frau von Nucingen am Fuß des Bettes.

»Dies Mädchen hat recht!« sagte sie. »Weshalb wollen Sie die Liebe kaufen? Zeigen Sie mir Ihren Brief.« Der Baron gab die verschiedenen Entwürfe her, die er gemacht hatte. Frau von Nucingen las sie lächelnd. Der dritte Brief kam.

»Das ist ein erstaunliches Mädchen!« rief die Baronin, nachdem sie auch diesen letzten Brief gelesen hatte. »Was tun, knätige Frau?« fragte der Baron. »Warten.« »Warten?« erwiderte er; »die Nadur ist unerpittlich . . .« »Hören Sie, mein Lieber,« sagte die Baronin, »endlich einmal sind Sie gut und vernünftig zu mir; ich werde Ihnen also einen guten Rat geben.« »Sie sind aine kute Frau!« sagte er; »machen Se Schulden, ich peßahle sie . . .« »Was Ihnen beim Empfang der Briefe dieses Mädchens widerfahren ist, rührt eine Frau mehr als verschwendete Millionen und alle Briefe, so schön sie auch sein mögen; versuchen Sie, daß sie es auf Umwegen erfahre, dann werden Sie sie vielleicht besitzen! Und . . . haben Sie keine Angst, sie wird nicht daran sterben,« sagte sie, indem sie ihren Gatten lange forschend ansah.

Frau von Nucingen hatte nicht die geringste Ahnung vom Wesen der Dirne.

›Wieviel Keist die Frau von Nischinguen hat!‹ sagte der Baron bei sich selber, als seine Frau ihn allein gelassen hatte.

Aber je mehr der Baron die Feinheit des Rats, den die Baronin ihm gegeben hatte, bewunderte, um so weniger erriet er, wie er sich seiner bedienen sollte. Er fand sich nicht nur borniert, sondern er sagte es sich auch.

Obgleich die Borniertheit des Geldmannes fast sprichwörtlich geworden ist, ist sie nur relativ. Es geht mit den Fähigkeiten unseres Geistes wie mit den Begabungen unseres Körpers. Der Tänzer trägt seine ganze Kraft in den Füßen, der Schmied die seine in den Armen; der Athlet der Markthalle übt sich darin, Lasten zu tragen, der Sänger bearbeitet seinen Kehlkopf, und der Pianist stählt sein Handgelenk. Ein Bankier gewöhnt sich daran, Geschäfte auszutüfteln und zu studieren, die Interessen in Bewegung zu bringen, wie ein Schwankdichter sich darauf dressiert, Situationen auszutüfteln und Personen in Bewegung zu bringen. Man darf so wenig vom Baron von Nucingen in der Unterhaltung Geist verlangen, wie man die Bilder des Dichters im Begriffsvermögen des Mathematikers suchen darf. Wieviel Dichter trifft man in einer Epoche, die Prosaisten wären oder geistreich im Verkehr des Lebens wie Frau Cornuel? Buffon war schwerfällig, Newton hat nie geliebt, Byron hat kaum jemanden außer sich selbst geliebt, Rousseau war finster und fast wahnsinnig, Lafontaine war zerstreut. Gleichmäßig verteilt, schafft die menschliche Kraft nur Dummköpfe und die Mittelmäßigkeit; ungleich verteilt, erzeugt sie jene Mißverhältnisse, denen man den Namen des Genies gibt und die in der sichtbaren Welt Mißgestaltungen ergeben würden. Das gleiche Gesetz regiert den Körper: vollkommene Schönheit ist fast stets begleitet von Kälte oder Dummheit. Wenn Pascal zugleich ein großer Geometer und ein großer Schriftsteller war, wenn Beaumarchais einen großen Geschäftsmann abgab und Zamet einen gründlichen Hofmann, so bestätigen diese seltenen Ausnahmen das Prinzip der Spezialisierung der Intelligenzen. In der Sphäre der spekulativen Berechnungen entfaltet also der Bankier ebensoviel Geist, Geschicklichkeit, Feinheit und Begabung, wie ein geschickter Diplomat in der der nationalen Interessen. Wenn ein Bankier außerhalb seines Bureaus noch bemerkenswert wäre, so wäre er ein großer Mann. Nucingen multipliziert mit dem Fürsten von Ligne, mit Mazarin oder Diderot, das ist eine fast unmögliche Menschenformel, und doch hat sie sich Perikles, Aristoteles, Voltaire und Napoleon genannt. Der Glanz der Kaiserlichen Sonne darf dem Privatmann nicht unrecht tun; der Kaiser hatte Charme, er war gebildet und geistreich. Herr von Nucingen hatte wie die meisten Bankiers außerhalb seiner Berechnungen keinerlei Erfindungsgabe, und er glaubte nur an sichere Werte. In Dingen der Kunst war er verständig genug, sich mit dem Gold in der Hand an die verschiedenen Sachverständigen zu wenden: er nahm den besten Architekten, den besten Chirurgen, den größten Kenner der Malerei oder der Skulptur und den geschicktesten Anwalt, sobald es sich darum handelte, ein Haus zu bauen, seine Gesundheit zu überwachen oder Raritäten und ein Landgut zu erwerben. Aber da es keine vereidigten Sachverständigen für die Intrigen und keinen Kenner der Liebe gibt, so ist ein Bankier sehr übel beraten, wenn er liebt, und in der Manege der Frau ist er sehr unbeholfen. Nucingen fand also nichts Besseres, als was er bereits getan hatte: er gab irgendeinem männlichen oder weiblichen Frontin Geld, um an seiner Stelle zu handeln oder zu denken. Frau von Saint-Estève allein konnte das Mittel ausbeuten, das die Baronin gefunden hatte. Der Baron bereute bitter, sich mit der verhaßten Kleiderhändlerin überworfen zu haben. Da er aber auf den Magnetismus seiner Kasse und auf die Beruhigungsmittel, die die Unterschrift des Finanzministeriums trugen, vertraute, so schellte er trotzdem seinem Kammerdiener und befahl ihm, sich in der Rue Neuve Saint-Marc nach jener scheußlichen Witwe zu erkundigen und sie um ihren Besuch zu bitten. In Paris finden sich die Gegensätze durch die Leidenschaften. Das Laster lötet dort beständig den Reichen an den Armen, den Großen an den Kleinen. Die Kaiserin fragt Frau Lenormand um Rat. Und der große Herr findet dort von Jahrhundert zu Jahrhundert einen Ramponeau.Berühmter Schankwirt des achtzehnten Jahrhunderts, im Faubourg Montmartre.

Der neue Kammerdiener kam nach zwei Stunden zurück. »Herr Baron,« sagte er, »Frau von Saint-Estève ist ruiniert.« »Ah, um so pesser!« sagte der Baron freudig; »ich habe sie!« »Die gute Frau ist, wie es scheint, ein wenig Spielerin,« fuhr der Kammerdiener fort. »Obendrein steht sie unter der Herrschaft eines kleinen Schauspielers der Theater an der Bannmeile, den sie des Anstandes wegen als ihr Patenkind ausgibt. Es scheint, sie ist eine ausgezeichnete Köchin; sie sucht eine Stellung.« ›Diese verteifelten Subaldernschenies haben ßehn Arten, Keld ßu vertienen, aber ßwölf, um es ausßukeben,‹ sagte der Baron bei sich selber, ohne zu ahnen, daß er sich mit Panurg begegnete.

Er schickte seinen Diener von neuem auf die Suche nach Frau von Saint-Estève, die jedoch erst am folgenden Tage kam. Da Asien ihn ausfragte, so erzählte der neue Kammerdiener diesem weiblichen Spion, welche furchtbare Wirkung die von der Geliebten des Herrn Baron geschriebenen Briefe gehabt hatten.

»Der gnädige Herr muß diese Frau sehr lieben, denn er ist fast gestorben. Ich habe ihm den Rat gegeben, nicht wieder zu ihr zu gehen, da würde er bald sehen, wie man ihm schmeichelte. Eine Frau, die den Herrn Baron, wie man sagt, schon fünfhunderttausend Franken gekostet hat, – nicht zu rechnen, was er für das kleine Hotel der Rue Saint-Georges ausgegeben hat! Aber diese Frau will Geld und nichts als Geld. Als die Frau Baronin den gnädigen Herrn verließ, sagte sie lachend: ›Wenn das so weitergeht, wird mich dieses Mädchen zur Witwe machen.‹« »Teufel!« erwiderte Asien, »töten darf man die Henne mit den goldenen Eiern nicht.« »Der Herr Baron setzt seine Hoffnung nur noch auf Sie,« sagte der Kammerdiener. »Ah, weil ich es verstehe, die Franken in Gang zu bringen! . . .« »Nun, treten Sie ein,« sagte der Kammerdiener, indem er sich vor dieser okkulten Macht beugte.

»Also,« sagte die falsche Saint-Estève, indem sie mit demütiger Miene bei dem Kranken eintrat, »der Baron hat also kleine Widerwärtigkeiten? Was wollen Sie? Jedermann wird in seiner Schwäche getroffen. Auch ich habe Unglück erlebt. In zwei Monaten hat sich das Glücksrad für mich sonderbar gedreht! Da suche ich jetzt eine Stellung . . . Wir sind beide nicht vernünftig gewesen. Wenn der Herr Baron mich als Köchin in Fräulein Esthers Haus aufnehmen wollte, so hätte er in mir die Ergebenste der Ergebenen, und ich könnte ihm recht nützlich sein, indem ich Eugenie und die gnädige Frau überwachte.« »Darum hantelt es sich nicht,« sagte der Baron. »Ich gann nicht so weit gommen, daß ich Herr werde; und man fiehrt mich an der Nase . . .« »Wie einen Kreisel,« unterbrach Asien ihn. »Sie haben die andern genasführt, Papa, jetzt hält Sie die Kleine fest und behandelt Sie schnöde . . . Der Himmel ist gerecht!« »Kerecht?« rief der Baron. »Ich habe dich nicht lassen gommen, um Moral ßu hören . . .« »Bah, mein Sohn, ein wenig Moral schadet nichts. Sie ist das Salz des Lebens für uns, wie es für die Frommen das Laster ist. Lassen Sie sehen: sind Sie großmütig gewesen, haben Sie ihre Schulden bezahlt?« »Ja,« sagte der Baron jämmerlich. »Gut. Sie haben auch ihre Sachen ausgelöst, das ist noch besser: aber geben Sie zu, es ist nicht genug; damit kann sie noch nichts anfangen, und solche Geschöpfe lieben es, zu verschwenden.« »Ich pereite ihr aine Ieberraschung vor, in der Rie Sainte-Schorsche . . . Sie waiß es,« sagte der Baron; »aber ich will kain Kimpel sain.« »Gut, so verlassen Sie sie . . .« »Ich firchte, sie läßt mich kehn!« rief der Baron. »Und wir wollen doch etwas für unser Geld, mein Sohn?« erwiderte Asien. »Hören Sie. Wir haben ja das Publikum um all die Millionen gerupft, mein Kleiner. Man sagt, Sie besäßen fünfundzwanzig davon.«

Der Baron konnte sich nicht enthalten zu lächeln.

»Also, Sie müssen eine davon hergeben . . .« »Ich käbe sie schon her,« erwiderte der Baron, »aber sowie ich sie herkekeben habe, wird man aine ßwaite verlangen.« »Ja, ich verstehe,« sagte Asien, »Sie wollen nicht B sagen, weil Sie fürchten, es könne bis zum Z so weitergehen. Esther ist aber ein anständiges Mädchen.« »Ain sehr anschdändikes Mädchen!« rief der Baron; »sie will sich ja erkeben, aber wie man aine Schuld peßahlt.« »Kurz, sie will nicht Ihre Geliebte werden, sie hat den Widerwillen. Und ich begreife es. Das Kind hat immer ihren Launen gehorcht. Wenn man nur reizende junge Leute gekannt hat, kümmert man sich wenig um einen Greis . . . Schön sind Sie nicht! Sie sind dick wie Ludwig XVIII. und ein wenig Dummkopf, wie alle, die dem Glück schmeicheln, statt sich mit den Frauen abzugeben. Nun, wenn Sie auf sechshunderttausend Franken nicht sehen,« sagte Asien, »so übernehme ich es, sie für Sie ganz zu dem zu machen, was Sie nur wünschen mögen.« »Sechshünderttausend Franken!« rief der Baron mit einem kleinen Ruck nach hinten. »Esder gostet mich schon aine Million!« »Das Glück ist wohl sechshunderttausend Franken wert, mein dicker Wüstling. Sie kennen Männer in unserer Zeit, die sicherlich mehr als eine oder zwei Millionen mit ihren Geliebten aufgegessen haben. Ich kenne sogar Frauen, die das Leben gekostet haben und für die man seinen Kopf in einen Sack gespien hat . . . Sie wissen, der Arzt, der seinen Freund vergiftete? . . . Der wollte reich werden, um das Glück einer Frau zu machen.« »Ja, ich waiß; aber wenn ich auch verliept bin, so bin ich doch kain Tummkopf; hier wenigstens nicht; denn wenn ich sie sehe, so würde ich ihr maine Brieftasche keben.«

»Hören Sie, Herr Baron,« sagte Asien, indem sie eine Semiramispose einnahm, »man hat Sie schon genug ausgespült. So wahr ich mich Saint-Estève nenne, im Geschäft, versteht sich, ich ergreife Ihre Partei.« »Kut! . . . Ich werde dich pelohnen.« »Ich glaube es, – denn ich habe Ihnen gezeigt, daß ich mich zu rächen weiß. Erfahren Sie es übrigens, Papa,« sagte sie, indem sie ihm einen furchtbaren Blick zuwarf, »ich habe ein Mittel, Ihnen Fräulein Esther wegzuschnappen, wie man eine Kerze schneuzt. Und ich kenne meine Frau! Wenn das kleine Weib Ihnen das Glück gewährt hat, so wird sie Ihnen notwendiger sein, als sie es jetzt ist. Sie haben mich gut bezahlt; Sie haben sich das Ohr ziehen lassen, aber schließlich haben Sie geblecht! Ich meinerseits habe meine Verpflichtungen erfüllt, nicht wahr? Gut also, ich will Ihnen einen Handel vorschlagen.« »Lassen Sie sehen.« »Sie geben mich der gnädigen Frau zur Köchin; Sie nehmen mich auf zehn Jahre; ich erhalte tausend Franken Lohn, die letzten fünf Jahre zahlen Sie im voraus . . . Ein Gottespfennig, wie? Bin ich einmal bei der gnädigen Frau, so werde ich sie zu den folgenden Konzessionen zu bringen wissen. Sie lassen ihr zum Beispiel eine entzückende Toilette kommen, von Frau Auguste, die den Geschmack und die Art der gnädigen Frau kennt; und Sie geben Befehl, daß der neue Wagen um vier Uhr vor der Tür steht. Nach der Börse steigen Sie zu ihr hinauf, und Sie machen eine kleine Spazierfahrt im Bois de Boulogne. Nun, auf diese Weise zeigt die Frau, daß sie Ihre Geliebte ist, sie verpflichtet sich vor den Augen und Ohren von ganz Paris . . . Hunderttausend Franken . . . Sie werden mit ihr dinieren – ich verstehe solche Diners zu bereiten; Sie führen sie ins Schauspiel, in die Varietés, nehmen eine Proszeniumsloge, und ganz Paris sagt alsbald: ›Da sitzt dieser alte Halunke Nucingen mit seiner Mätresse . . .‹ Es ist doch schmeichelhaft, einen solchen Glauben zu erwecken? . . . All diese Vorteile – ich bin eine gute Frau – sind in den ersten hunderttausend Franken einbegriffen . . . In acht Tagen werden Sie auf diese Weise einen schönen Weg zurückgelegt haben.« »Ich werde hünderttausend Franken peßahlt haben . . .« »In der zweiten Woche«, fuhr Asien fort, und es sah aus, als hätte sie diesen jämmerlichen Einwurf nicht gehört, »wird die gnädige Frau, durch diese Präliminarien getrieben, sich dazu entschließen, ihre kleine Wohnung zu verlassen und in das Hotel zu ziehen, das Sie ihr bieten. Ihre Esther hat die Welt einmal wiedergesehen, sie hat ihre alten Freunde wiedergefunden, sie wird glänzen wollen, sie wird in ihrem Palast die Honneurs machen! Das ist in Ordnung . . . Wieder hunderttausend Franken . . . Wahrhaftig, Sie sind in ihrem Hause, Esther ist bloßgestellt . . . sie gehört Ihnen. Bleibt eine Kleinigkeit, bei der Sie die Hauptperson spielen, dicker Elefant! – Reißt er die Augen auf! Das Ungeheuer! – Nun, die nehme ich auf mich . . . Vierhunderttausend Franken . . . Ah, die, mein Dickchen, die brauchst du erst am folgenden Tage herzugeben . . . Heißt das nicht Redlichkeit? . . . Ich habe mehr Vertrauen zu dir, als du zu mir. Wenn ich die gnädige Frau dazu bringe, sich als Ihre Geliebte zu zeigen, sich bloßzustellen, alles anzunehmen, was Sie ihr bieten, und vielleicht noch heute, da werden Sie mich wohl auch für fähig halten, daß ich sie so weit bringe, den Übergang über den großen Sankt Bernhard freizugeben. Schwer genug ist es, sehen Sie! . . . Da ist, um Ihre Artillerie durchzubringen, ebensoviel Zugarbeit nötig wie für den Ersten Konsul in den Alpen.« »Und weshalb? . . .« »Sie hat das Herz voll Liebe,« erwiderte Asien. »Sie hält sich für eine Königin von Saba, weil sie sich in den Opfern gebadet hat, die sie ihrem Liebhaber brachte . . . eine Vorstellung, die solche Frauen sich in den Kopf setzen! Ah, mein Kleiner, Sie müssen gerecht sein, schön ist es! Diese Possenspielerin würde vor Kummer sterben, wenn sie Ihnen angehörte, und mich sollte das nicht wundernehmen; aber was mich beruhigt – ich sage Ihnen das, um Ihnen Mut zu machen –, ist, daß sie einen tüchtigen Untergrund von der Dirne her besitzt.« »Du hast«, sagte der Baron, der Asien in tiefem Schweigen und voll Bewunderung zugehört hatte, »das Schenie der Verderbtheit, wie ich das Schenie der Bank pesitze.« »Ist es abgemacht, mein Schäfchen?« fragte Asien. »Sagen wir finfzigtausend Franken schdatt hunderttausend! . . . Und ich will dir keben finfhünderttausend am Dage nach mainem Driumph.« »Gut, ich gehe an die Arbeit,« erwiderte Asien . . . »Ah, Sie können kommen!« fuhr sie ehrfurchtsvoll fort. »Der gnädige Herr wird die gnädige Frau bereits so sanft finden wie einen Katzenrücken und vielleicht sogar geneigt, ihm angenehm zu sein.« »Keh, keh, maine Kute,« sagte der Bankier, indem er sich die Hände rieb. Und nachdem er dieser furchtbaren Mulattin zugenickt hatte, sagte er bei sich selber: ›Wie recht man hat, viel Keld ßu pesitzen.‹ Und er sprang aus dem Bett, ging in seine Bureaus und nahm mit freudigem Herzen die Leitung seiner ungeheuren Geschäfte wieder auf.

Nichts konnte für Esther verhängnisvoller sein als der Entschluß, zu dem Nucingen gekommen war. Die arme Kurtisane verteidigte ihr Leben, indem sie sich gegen die Untreue wehrte. Carlos nannte diese so natürliche Verteidigung Ziererei. Nun machte Asien sich auf – nicht ohne die für einen solchen Fall vorgesehenen Sicherheitsmaßregeln –, um Carlos mitzuteilen, was für eine Unterredung sie mit dem Baron gehabt und wieviel Nutzen sie daraus gezogen hatte. Der Zorn dieses Menschen war so furchtbar wie er selbst; er fuhr auf der Stelle im Wagen mit herabgelassenen Vorhängen zu Esther und ließ den Wagen in den Torweg hineinfahren. Noch fast weiß, als er hinaufstieg, so trat dieser doppelte Fälscher vor das arme Mädchen; sie sah ihn an, sie stand aufrecht da und fiel, als brächen ihr die Beine, in einen Sessel.

»Was haben Sie?« fragte sie, an allen Gliedern zitternd. »Laß uns allein, Europa,« sagte er zu der Kammerfrau. Esther sah dieses Mädchen an, wie ein Kind seine Mutter angesehen hätte, von der ein Mörder es trennen wollte, um es töten zu können.

»Wissen Sie, wohin Sie Lucien schicken werden?« fragte Carlos, als er mit Esther allein war. »Wohin?« fragte sie mit schwacher Stimme, während sie es wagte, ihren Henker anzusehen. »Dahin, woher ich komme, mein Juwel.« Esther sah alles rot, als sie diesen Menschen anblickte. »Auf die Galeeren!« fügte er mit leiser Stimme hinzu. Esther schloß die Augen, ihre Beine streckten sich, ihre Arme fielen herab, sie wurde weiß.

Carlos schellte, Prudentia erschien. »Bring sie wieder zum Bewußtsein,« sagte er kühl, »ich bin noch nicht fertig.« Er ging im Salon auf und ab, während er wartete. Prudentia-Europa sah sich gezwungen, den gnädigen Herrn zu bitten, daß er Esther aufs Bett trüge; er nahm sie mit einer Leichtigkeit auf, die athletische Kraft verriet. Man mußte die schärfsten Mittel holen, die die Arzneikunde besitzt, um Esther der Empfindung für ihre Leiden zurückzugeben. Eine Stunde darauf war das arme Mädchen wieder imstande, diesem leibhaftigen Alp zuzuhören; er saß am Fuß des Bettes, sein starrer Blick blendete wie zwei Strahlen geschmolzenen Bleies.

»Mein kleines Herz,« fuhr er fort, »Lucien steht zwischen einem glänzenden, ehrenvollen, glücklichen, würdigen Leben und dem Loch voll Wasser, Schlamm und Kieseln, in das er sich werfen wollte, als ich ihm begegnete. Das Haus Grandlieu verlangt von dem teuren Kinde einen Landsitz zu einer Million, ehe es ihm den Marquistitel erwirken und ihm die lange Stange namens Klotilde reichen will, mit deren Hilfe er zur Macht emporsteigen wird. Dank uns beiden hat Lucien soeben das mütterliche Schloß erwerben können, das nicht viel gekostet hat: dreißigtausend Franken; aber es ist seinem Anwalt durch glückliche Unterhandlungen gelungen, für eine Million Land daran anzugliedern, worauf wir dreihunderttausend Franken angezahlt haben. Das Schloß, die Kosten, die Provisionen für die, die wir vorgeschoben haben, um den Leuten im Lande dort die Geschichte zu verbergen, haben den Rest verschlungen. Wir haben freilich noch hunderttausend Franken in Aktien, die in ein paar Monaten zwei- bis dreihunderttausend Franken wert sein werden; aber dann bleiben immer noch vierhunderttausend Franken zu bezahlen . . . In drei Tagen kehrt Lucien aus Angoulême zurück; denn dorthin ist er gegangen, weil er nicht in Verdacht kommen darf, sein Vermögen gefunden zu haben, indem er Ihre Matratzen kämmte . . .« »O nein,« sagte sie, indem sie mit wundervoller Bewegung die Augen hob. »Ich frage Sie, ist dies der Augenblick, um den Baron zu erschrecken?« sagte er ruhig. »Und vorgestern haben Sie ihn fast getötet! Er ist wie eine Frau in Ohnmacht gefallen, als er Ihren zweiten Brief las. Sie haben einen famosen Stil, ich mache Ihnen mein Kompliment. Wenn der Baron gestorben wäre, was sollte da aus uns werden? Wenn Lucien Saint-Thomas d'Aquin als Schwiegersohn des Herzogs von Grandlieu verläßt und Sie wollen dann in die Seine . . . nun, mein Liebchen, dann reiche ich Ihnen die Hand, um den Kopfsprung gemeinsam zu machen. Das ist auch eine Art, allem ein Ende zu machen. Aber denken Sie doch ein wenig nach! Wäre es nicht besser, am Leben zu bleiben und sich von Stunde zu Stunde zu sagen: ›Welch glänzendes Los, welche glückliche Familie!‹ Denn er wird Kinder haben . . . Kinder! . . . Haben Sie je an das Vergnügen gedacht, mit den Händen durch das Haar seiner Kinder zu streichen?« Esther schloß die Augen und schauderte leicht. »Nun, wenn man das Gebäude eines solchen Glückes sieht, so sagt man sich: das ist mein Werk!«

Es entstand eine Pause, während derer diese beiden Wesen sich ansahen. »Das habe ich versucht aus einer Verzweiflung zu machen, die sich ins Wasser stürzen wollte,« fuhr Carlos fort. »Bin ich ein Egoist? So liebt man! So gibt man sich nur Königen hin, – aber ich habe Lucien zum König geweiht! Man könnte mich für den Rest meiner Tage an meine alte Kette schmieden, und mir scheint, ich würde ruhig bleiben, wenn ich mir sagte: er tanzt, er ist bei Hofe! Meine Seele und mein Denken würden triumphieren, während mein Madensack den Stockmeistern preisgegeben wäre. Sie sind ein elendes Weibchen, Sie lieben als Weibchen! Aber die Liebe sollte für eine Kurtisane wie für alle entarteten Wesen ein Mittel sein, der Natur, die Sie mit Unfruchtbarkeit schlägt, zum Trotz Mutter zu werden! Wenn man je unter der Haut des Abbés Carlos Herrera den Sträfling wiederfände, der ich früher war, wissen Sie, was ich da tun würde, um Lucien nicht zu kompromittieren?« Esther erwartete die Antwort nicht ohne Angst. »Also,« fuhr er nach einer leichten Pause fort, »ich würde wie die Neger sterben, indem ich meine Zunge hinunterwürgte. Und Sie geben ihnen mit Ihrem Geziere meine Spur an! Was hatte ich von Ihnen verlangt? . . . Daß Sie auf sechs Monate, auf sechs Wochen den Rock der Torpille wieder anziehen, um eine Million zu ergattern . . . Lucien wird Sie nie vergessen! Die Männer vergessen das Wesen nicht, an das sie ein Glück erinnert, dessen man sich jeden Morgen freut, weil man stets als Reicher erwacht. Lucien ist mehr wert als Sie . . . Er hat erst Coralie geliebt; sie stirbt, gut; aber er hatte kein Geld, um sie beerdigen zu lassen; er machte es nicht, wie Sie es eben gemacht haben: er ist, obwohl er ein Dichter war, nicht ohnmächtig geworden; er schrieb sechs lustige Liedchen, und er erhielt dreihundert Franken dafür, mit denen er Coralies Begräbnis bezahlen konnte. Ich besitze die Lieder, ich kenne sie auswendig. Nun, dichten Sie Ihre Lieder: seien Sie lustig, seien Sie toll! Seien Sie unwiderstehlich und . . . unersättlich! Sie haben mich verstanden? Zwingen Sie mich nicht, noch einmal zu reden . . . Küssen Sie Papa. Adieu.«

Als Europa eine halbe Stunde darauf bei ihrer Herrin eintrat, fand sie sie auf den Knien vor einem Kruzifix in der Stellung, die der religiöseste Maler Moses vor dem Busche Horeb gegeben hat, um die tiefe und vollkommene Andacht vor Jehova auszudrücken. Esther hatte ihre letzten Gebete gesprochen und verzichtete auf ihr schönes Leben, auf die Ehre, die sie sich geschaffen hatte, auf ihren Ruhm, auf ihre Tugenden und ihre Liebe. Sie erhob sich.

»O gnädige Frau, so werden Sie nie wieder aussehen!« rief Prudentia Servien, da die wunderbare Schönheit ihrer Herrin sie vor Staunen erstarren ließ. Schnell wandte sie den Spiegel so, daß das arme Mädchen sich sehen konnte. Die Augen hatten gerade noch einen Rest der Seele in sich, die zum Himmel entflog. Der Teint der Jüdin leuchtete. Ihre Wimpern, die feucht waren von Tränen, obwohl das Feuer des Gebets sie getrocknet hatte, glichen dem Laub nach einem Sommerregen; die Sonne der reinen Liebe ließ sie zum letztenmal auffunkeln. Die Lippen bewahrten gleichsam noch einen Ausdruck von den letzten Anrufungen der Engel her, denen sie ohne Zweifel die Palme des Martyriums entliehen hatte, indem sie ihnen ihr fleckenloses Leben anvertraute. Kurz, sie hatte die Majestät, in der Maria Stuart erglänzen mußte, als sie ihrer Krone, der Erde und der Liebe Lebewohl sagte. »Ich wollte, Lucien sähe mich so,« sagte sie, indem sie sich einen erstickten Seufzer entschlüpfen ließ. »Und jetzt«, fuhr sie mit vibrierender Stimme fort, »wollen wir ›schwindeln‹ . . .«

Europa stand, als sie dieses Wort vernahm, ganz blöde da, so wie sie wohl dagestanden hätte, wäre ihr die Lästerung eines Engels ins Ohr geklungen. »Nun, was hast du denn zu starren? Ob ich Gewürznelken im Munde habe oder Zähne? Ich bin jetzt nur noch ein ehrloses und unsauberes Geschöpf, eine Dirne, eine Gaunerin, und ich erwarte Mylord. Laß also ein Bad heizen und bereite mir meine Toilette. Es ist zwölf Uhr, der Baron wird wohl nach der Börse kommen; ich werde ihm schreiben, daß ich ihn erwarte; und ich hoffe, daß Asien ihm ein allerliebstes Diner bereitet; ich will ihn rasend machen, diesen Menschen . . . Vorwärts! Los, los! meine Tochter . . . Wir wollen lachen, das heißt wir wollen ›arbeiten‹.«

Sie setzte sich an ihren Tisch und schrieb den folgenden Brief:

»Mein Freund, wenn die Köchin, die Sie mir geschickt haben, nicht schon in meinen Diensten gestanden hätte, so könnte ich glauben, es wäre Ihre Absicht, mich wissen zu lassen, wie oft Sie vorgestern bei Empfang meiner drei Briefe ohnmächtig geworden sind. – Was wollen Sie? Ich war an jenem Tage sehr nervös, ich ging die Erinnerungen meiner beklagenswerten Existenz noch einmal durch. – Aber ich kenne Asiens Aufrichtigkeit. Ich bereue also nicht mehr, Ihnen einigen Kummer gemacht zu haben, denn es hat mir beweisen müssen, wie teuer ich Ihnen bin. Wir sind einmal so, wir verachteten Geschöpfe; echte Liebe rührt uns mehr, als wenn wir der Anlaß wahnsinniger Ausgaben sind. Ich selbst habe immer gefürchtet, ich wäre nur der Kleiderhaken, an dem Sie Ihre Eitelkeiten aufhingen. Es langweilte mich, Ihnen nichts anderes zu sein. Ja, trotz Ihrer schönen Beteuerungen glaubte ich, Sie hielten mich für eine gekaufte Frau. Nun, jetzt werden Sie in mir also ein braves Mädchen finden, freilich unter der Bedingung, daß Sie mir immer noch ein klein wenig gehorchen. Wenn dieser Brief bei Ihnen die Verordnungen des Arztes ersetzen kann, so werden Sie es mir beweisen, indem Sie mich nach der Börse aufsuchen. Sie werden die unter den Waffen und mit Ihren Gaben geschmückt vorfinden, die sich zeit ihres Lebens Ihre Vergnügungsmaschine nennt,

Ihre Esther.«

An der Börse war der Baron von Nucingen so lustig, so zufrieden, scheinbar so umgänglich, und er erlaubte sich so viele Scherze, daß du Tillet und die Kellers, die anwesend waren, sich nicht enthalten konnten, ihn nach dem Grunde seiner guten Laune zu befragen. »Ich werde keliept . . . Wir werden bald den Einwaihungsschmaus abhalten,« sagte er zu du Tillet. »Wie teuer kommt Sie das?« fragte Franz Keller scharf zurück; »Frau Coleville soll ihn im Jahr fünfundzwanzigtausend Franken gekostet haben.« »Nie hat mich diese Frau, die ain Engel ist, um ßwei Heller kepeten.« »So macht man es nie,« erwiderte du Tillet. »Um niemals etwas erbitten zu brauchen, legen sie sich Tanten oder Mütter zu.«

Siebenmal sagte der Baron auf der Fahrt von der Börse bis zur Rue Taitbout zu seinem Kutscher: »Sie fahren ja nicht, prauchen Se doch die Beitsche! . . .«

Er kletterte behend hinauf und fand seine Geliebte zum erstenmal so schön, wie es jene Mädchen sind, deren einzige Beschäftigung die Sorge für ihre Toilette und ihre Schönheit ist. Sie kam eben aus dem Bad, und die Blume war frisch und duftete, daß sie einem Robert von Arbrissel Begierden hätte einflößen können. Esther war in einer entzückenden Toilette. Eine Jacke aus schwarzem Rips, besetzt mit Posamenten aus rosa Seide, fiel offen über einen Rock aus grauem Satin herab; es war das Kostüm, in dem sie später die schöne Amigo in den ›Puritani‹ spielte. Eine Brustkrause aus englischen Spitzen fiel leicht auf die Schultern herab. Die Ärmel des Kleides waren von Schnüren gehalten, um die Puffen abzuteilen, die die anständigen Frauen seit einiger Zeit an Stelle der zu ungeheuerlich gewordenen Keulenärmel trugen. Esther hatte auf ihrem prachtvollen Haar eine Haube aus Mechelner Spitzen befestigt, die immer fallen zu wollen schien und doch nicht fiel; die ihr den Anschein gab, als sei sie nicht angezogen und schlecht gekämmt, obwohl man genau die weißen Striche ihres kleinen Kopfes zwischen den Furchen des Haares durchschimmern sah.

»Ist es nicht ein Greuel, die gnädige Frau so schön zu sehen hier in einem so verbrauchten Salon?« fragte Europa den Baron, als sie ihm die Tür des Salons aufhielt.

»Kut, gommen Se in die Rie Sainte-Schorsche,« sagte der Baron, indem er stehen blieb, wie ein Hund vor einem Rebhuhn haltmacht. »Das Wedder ist brachtvoll, wir werden in den Champs Elysées schbaßieren fahren, und Frau Saint-Esdèfe wird mit Eischenie Ihre kanße Doilette, Ihre Wäsche und unser Tiner in die Rie Sainte-Schorsche hinieberschaffen.« »Ich werde alles tun, was Sie wollen,« sagte Esther, »wenn Sie mir das Vergnügen machen wollen, meine Köchin ›Asien‹ zu nennen und Eugenie ›Europa‹. So habe ich alle Frauen genannt, die mir gedient haben, von den beiden ersten an, die ich je gehabt habe. Ich liebe die Abwechslung nicht . . .« »Aßien . . . Eiroba . . .« wiederholte der Baron, indem er in ein Gelächter ausbrach. »Wie gomisch Sie sind . . . Sie haben Ainfälle . . . Ich gönnte viele Tiners essen, ehe ich aine Göchin Aßien nennte.« »Es ist unser Beruf, daß wir komisch sind,« sagte Esther. »Sehen Sie, kann denn ein armes Mädchen nicht Asien für sich kochen und sich von Europa kleiden lassen, während Sie doch von der ganzen Welt leben? Das ist ein Mythus! Es gibt Frauen, die die Erde aufessen würden, und ich will nur die Hälfte; nicht?«

›Was fier aine Frau diese Frau von Saint-Esdèfe ist!‹ sagte der Baron bei sich selber, indem er den Wandel in Esthers Wesen bewunderte.

»Europa, ich brauche einen Hut, meine Tochter,« sagte Esther. »Ich muß einen Kapotthut aus schwarzem Satin mit rosa Futter und Spitzengarnitur haben.« »Frau Thomas hat ihn nicht geschickt . . . Auf, Baron, schnell! Tummeln Sie sich! Beginnen Sie Ihren Dienst als Lastträger, das heißt als glücklicher Mensch! Das Glück ist schwer! . . . Sie haben Ihren Wagen, gehen Sie zu Frau Thomas,« sagte Europa zum Baron. »Lassen Sie durch Ihren Bedienten um den Kapotthut der Frau van Bogseck bitten . . . Und vor allem«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »bringen Sie das schönste Bukett mit, das in Paris vorhanden ist. Wir sind im Winter, sehen Sie zu, tropische Blumen zu finden.«

Der Baron ging hinunter und sagte zu seinem Bedienten: »Szu Frau Thomas.«

Der Kutscher fuhr seinen Herrn zu einer berühmten Konditorei. »Es ist aine Motistin, Tummkopf kaine Dortenpäckerin!« sagte der Baron, der zum Palais-Royal eilte, zu Frau Prévot, von der er für zehn Louisdor einen Strauß zusammenstellen ließ, während sein Bedienter zu der berühmten Modistin fuhr.

Der oberflächliche Beobachter fragt sich, wenn er in Paris spazieren geht, welches die Narren sind, die jene fabelhaften Blumen kaufen, wie sie den Laden der berühmten Blumenhändlerin schmücken, oder die Erstlinge Chevets, des Delikatessenhändlers von europäischem Ruf, des einzigen, der mit dem Rocher de Cancale eine wirkliche und wundervolle ›Revue der beiden Welten‹ bietet . . . Jeden Tag erheben sich in Paris hundert und einige Leidenschaften gleich der Nucingens, und sie zeigen sich in Seltenheiten, wie sie Königinnen sich nicht zu schenken wagen, wie man sie aber auf den Knien jenen Mädchen darbringt, die zu glänzen lieben. Ohne einen solchen Hinweis würde eine ehrliche Bürgersfrau nicht begreifen, wie ein Vermögen in den Händen dieser Geschöpfe zerschmelzen kann, deren soziale Obliegenheit im System Fouriers vielleicht darin besteht, daß sie das Unglück des Geizes und der Habgier wieder gutmachen. Solche Verschwendung wirkt ohne Zweifel auf den sozialen Organismus wie der Schnitt einer Lanzette auf einen vollblütigen Körper. In zwei Monaten hatte Nucingen den Kleinhandel mit mehr als zweihunderttausend Franken bewässert.

Als der alte Liebhaber zurückkehrte, brach die Nacht herein, das Bukett war überflüssig. Im Winter legt man die Spazierfahrt auf den Champs Elysées in die Zeit von zwei bis vier Uhr. Immerhin diente der Wagen Esther dazu, sich von der Rue Taitbout in die Rue Saint-Georges zu begeben, wo sie Besitz ergriff von dem ›glainen Balais‹. Nie, das muß man sagen, war Esther der Mittelpunkt eines solchen Kultus und einer solchen Verschwendung gewesen; sie war überrascht; aber sie hütete sich wie all jene königlichen Undankbaren, das geringste Staunen zu verraten. Wenn man in Rom Sankt Peter betritt, so zeigt man, um einen Anhalt über die Größe und Höhe der Königin aller Kathedralen zu geben, den kleinen Finger einer Statue, der ich weiß nicht welche Länge hat und doch als ein kleiner Finger in natürlicher Größe erscheint. Nun hat man gegen alle Schilderungen so viele Einwände erhoben, obwohl sie für die Geschichte unserer Sitten so notwendig sind, daß wir hier den römischen Cicerone nachahmen müssen. Als sie also in den Speisesaal traten, konnte der Baron sich nicht enthalten, Esther den Stoff der Fenstervorhänge in die Hand zu geben; sie hingen in königlicher Fülle da; das Futter war aus weißem Moiré, und der Besatz bestand aus Posamenten, die der Büste einer portugiesischen Prinzessin würdig gewesen wären. Dieser Stoff war eine Seidenarbeit, die in Kanton gekauft war und auf der chinesische Geduld die Vögel Asiens mit einer Vollkommenheit darzustellen gewußt hatte, derengleichen man nur noch auf mittelalterlichen Pergamenten oder im Meßbuch Karls V., dem Stolz der Kaiserlichen Bibliothek in Wien, wiederfindet.

»Er hat ainen Lord, der ihn hat mitkepracht aus Indien, zwaitausend Franken die Elle kekostet . . .« »Sehr hübsch . . . reizend! . . . Welch Vergnügen, hier Champagner zu trinken!« sagte Esther. »Hier wird der Schaum nicht schmutzig auf dem Boden!« »O gnädige Frau,« sagte Europa, »sehen Sie doch den Teppich! . . .« »Da man den Deppich fier den Herzog von Dorlonia, mainen Freind, keßeichnet hatte und er ihn ßu teier findet, so hab ich ihn kenommen fier Sie, denn Sie sind aine Gönigin!« sagte Nucingen.

Durch einen Zufall paßte dieser Teppich, der von einem unserer genialsten Zeichner stammte, zu den Launen der chinesischen Draperie. Die Wände, die Schinner und Leo von Lora gemalt hatten, stellten wollüstige Szenen dar, die hervorgehoben wurden von Ebenholzschnitzereien; diese Schnitzereien waren für schweres Gold von Dusommerard erstanden worden, und einfache Goldstriche zogen sparsam das Licht auf sie. Auf alles übrige kann man jetzt schließen.

»Sie haben gut daran getan, mich herzuführen,« sagte Esther; »ich werde wohl acht Tage nötig haben, um mich an mein Haus zu gewöhnen und nicht wie ein Emporkömmling auszusehen . . .« »Main Haus!« wiederholte der Baron voll Freude; »so nehmen Se an?« »Aber ja, tausendmal ja, dummes Tier,« sagte sie lächelnd. »Tier allain hädde kenügt . . .« »Dumm ist nur Liebkosung,« erwiderte sie, indem sie ihn ansah.

Der arme Luchs ergriff Esthers Hand und legte sie sich aufs Herz: er war Tier genug, um zu empfinden, aber zu dumm, um ein Wort hervorzubringen. »Sehn Se, wie es bocht . . . fier ein zärtliches Förtchen!« sagte er.

Und er führte seine Göttin (Keddin) in das Schlafzimmer. »O gnädige Frau,« sagte Eugenie, »hier kann ich nicht bleiben. Man hat zu große Lust, sich ins Bett zu legen.« »Also,« sagte Esther, »ich will den Zauberer glücklich machen, der solche Wunder vollbringt. Auf, mein dicker Elefant, nach dem Diner gehen wir zusammen ins Schauspiel. Ich habe einen wahren Heißhunger aufs Theater.«

Es war genau fünf Jahre her, seit Esther nicht mehr in ein Theater gegangen war. Ganz Paris ging damals in die Porte Saint-Martin, um dort eins jener Stücke zu sehen, denen die Kunst der Schauspieler den Ausdruck einer furchtbaren Realität verleiht: ›Richard Darlington‹. Wie alle naiven Naturen liebte Esther es ebensosehr, das Beben der Angst zu spüren, wie sich den Tränen der Rührung hinzugeben. »Wir wollen Frédéric Lemaître sehen,« sagte sie, »ich bete diesen Schauspieler an!« »Es ist ein fildes Trama,« sagte Nucingen, der sich im Nu gezwungen sah, sich bloßzustellen.

Der Baron schickte seinen Diener aus, damit er eine der beiden Proszeniumslogen im ersten Rang belege. Wieder eine Pariser Originalität! Wenn der Erfolg, das Geschöpf auf tönernen Füßen, einen Saal füllt, so ist stets zehn Minuten, bevor der Vorhang hochgeht, noch eine Proszeniumsloge zu vergeben; die Direktoren behalten sie für sich, wenn sich keine Leidenschaft wie die Nucingens für sie findet. Diese Loge ist wie das Frühobst Chevets ein Zoll, der auf die Launen des Pariser Olymps erhoben wird.

Es ist nicht nötig, vom Tischgerät zu reden. Nucingen hatte drei Garnituren zusammengebracht: das kleine Service, das mittlere Service und das große Service. Das Nachtisch-Gerät des großen Service war, Teller wie Schüsseln, ganz aus getriebenem, vergoldetem Silber. Damit es nicht aussah, als wollte er den Tisch mit Gold- und Silberwerten zermalmen, hatte er all diesen Garnituren noch eine aus reizend zerbrechlichem Porzellan nach sächsischer Art hinzugefügt; es kostete mehr als ein Silberservice. Was das Gedeck angeht, so wetteiferten sächsisches, englisches, flandrisches und französisches Leinen mit ihren Damastblumen an Vollkommenheit.

Beim Diner war der Baron im Staunen an der Reihe, als er Asiens Küche kostete. »Ich verschdehe,« sagte er, »weshalb Sie sie Aßien nennen: es ist aine aßiatische Güche.« »Ah, ich fange an zu glauben, daß er mich liebt,« sagte Esther zu Europa, »er hat beinahe so etwas wie einen Witz gemacht.« »Es wird mehr davon geben,« bemerkte er.

Das Essen war so gewürzt, daß der Baron sich den Magen verderben mußte; er sollte früh nach Hause gehen. Daher war denn dies auch alles, was er an Genüssen von seinem ersten Zusammensein mit Esther davontrug. Im Theater sah er sich gezwungen, eine unendliche Anzahl von Gläsern voll Zuckerwasser zu trinken und Esther in den Zwischenakten allein zu lassen. Durch ein Zusammentreffen, das zu leicht vorherzusagen war, um es einen Zufall zu nennen, waren an jenem Tage auch Mariette, Tullia und Frau du Val-Noble im Theater. ›Richard Darlington‹ war einer jener wahnsinnigen und übrigens verdienten Erfolge, wie man sie nur in Paris erlebt. Alle Männer kamen, wenn sie dieses Drama sahen, auf den Gedanken, man könnte seine eheliche Frau zum Fenster hinauswerfen, und alle Frauen sahen sich gern ungerechterweise unterdrückt. Die Frauen sagten sich: »Das ist zu stark! Wir werden nur gestoßen . . . aber es geht uns oft so! . . .«

Nun konnte ein Geschöpf von Esthers Schönheit und in Esthers Kleidung nicht ungestraft im Proszenium der Porte Saint-Martin glänzen; und schon im zweiten Akt fand in der Loge der beiden Tänzerinnen eine Art Revolution statt, veranlaßt durch die Feststellung der Identität der schönen Unbekannten mit der Torpille. »Ah! woher kommt die?« fragte Mariette Frau du Val-Noble; »ich glaubte, sie wäre ertrunken . . .« »Ist sie es? Sie scheint mir siebenunddreißigmal jünger und schöner als vor sechs Jahren.« »Sie hat sich vielleicht wie Frau d'Espard und Frau Zayonchek in Eis konserviert,« sagte der Graf von Brambourg, der die drei Frauen ins Schauspiel geführt hatte, und zwar in eine Parterreloge. »Ist das nicht die Ratte, die Sie mir schicken wollten, damit sie meinen Onkel einbalsamierte?« fragte er, indem er sich an Tullia wandte. »Ganz recht,« versetzte die Sängerin. »Du Bruel, gehen Sie doch ins Orchester und sehen Sie zu, ob sie es wirklich ist.« »Hält die die Nase hoch!« rief Frau du Val-Noble mit einer wundervollen Redensart aus dem Wortschatz der Dirnen. »Oh,« rief der Graf von Brambourg, »sie hat das Recht dazu, denn sie ist bei meinem Freund, dem Baron von Nucingen. Ich gehe hin . . .« »Sollte das die angebliche Jungfrau von Orleans sein, die Nucingen erobert hat und mit der man uns seit drei Monaten langweilt? . . .« fragte Mariette.

»Guten Abend, mein lieber Baron,« sagte Philipp Bridau, als er in Nucingens Loge trat. »Sie sind also mit Fräulein Esther vermählt? . . . Gnädiges Fräulein, ich bin ein armer Offizier, den Sie ehedem in Issoudun aus einer Klemme ziehen sollten . . . Philipp Bridau . . .« »Kenn ich nicht,« sagte Esther, indem sie ihr Glas in den Saal richtete. »Das knädige Fräulein«, bemerkte der Baron, »haißt nicht mehr einfach Esder: sie haißt Frau von Chamby; das ist ain glaines Kut, das ich ihr kekauft habe . . .« »Wenn Sie die Dinge auch recht gut machen,« sagte der Graf, »so behaupten die Damen dort doch, Frau von Champy trage die Nase zu hoch . . . Wenn Sie sich meiner nicht entsinnen wollen, so werden Sie vielleicht geruhen, Mariette, Tullia, Frau du Val-Noble wiederzuerkennen,« fügte dieser Emporkömmling hinzu, dem der Herzog von Maufrigneuse die Gunst des Dauphins verschafft hatte.

»Wenn die Damen gut zu mir sind, so bin ich geneigt, mich ihnen sehr angenehm zu zeigen,« erwiderte Frau von Champy trocken. »Gut!« sagte Philipp; »sie sind ausgezeichnet, sie nennen Sie die Jungfrau von Orleans.« »Kut, wenn diese Damen Ihnen Kesellschaft leisten wollen,« sagte Nucingen, »so werde ich Sie allain lassen, denn ich habe ßuviel kekessen. Ihr Wagen wird Sie mit Ihren Leiten abholen . . . Die verdammte Aßien!« »Zum erstenmal wollten Sie mich allein lassen?« fragte Esther. »Hören Sie! Man muß an Bord zu sterben verstehen. Ich brauche meinen Mann beim Ausgang. Wenn ich beleidigt würde, so müßte ich also umsonst schreien?«

Der Egoismus des alten Millionärs mußte vor den Verpflichtungen des Liebhabers weichen. Der Baron litt und blieb. Esther hatte ihre Gründe, wenn sie ›ihren Mann‹ dabehalten wollte. Wenn sie ihre alten Bekanntschaften empfing, konnte man sie in Gesellschaft nicht so ernstlich ausfragen, wie wenn sie allein war. Philipp Bridau beeilte sich, in die Loge der Tänzerinnen zurückzukehren und sie über den Stand der Dinge aufzuklären.

»Ah, sie erbt mein Haus in der Rue Saint-Georges!« sagte Frau du Val-Noble bitter zum Obersten; denn sie war, wie man sich in der Sprache dieser Frauen ausdrückt ›zu Fuß‹. »Wahrscheinlich,« erwiderte er. »Du Tillet hat mir gesagt, er habe dort dreimal soviel ausgegeben wie Ihr armer Falleix.« »Wir wollen sie doch besuchen,« sagte Tullia. »Meiner Treu, nein!« erwiderte Mariette, »sie ist zu hübsch; ich werde sie in ihrem Hause besuchen.« »Ich finde mich hübsch genug, um es zu wagen,« sagte Tullia.

Der verwegene erste Besuch kam also während des Zwischenakts und knüpfte die Bekanntschaft mit Esther wieder an. Esther hielt sich in Allgemeinheiten. »Woher kommst du zurück, mein liebes Kind?« fragte die Tänzerin, die sich vor Neugier nicht mehr halten konnte. »Oh, ich habe fünf Jahre lang mit einem Engländer, der eifersüchtig ist wie ein Tiger, einem Nabob,Im Sinne eines in Indien reich gewordenen Engländers. in einem Schloß in den Alpen gelebt; ich nannte ihn immer ›den Knirps‹, denn er war nicht so groß wie der Schultheiß von Pfirt. Jetzt bin ich wieder an einen Bankier geraten, vom Regen in die Traufe. Und da ich wieder in Paris bin, habe ich solche Lust mich zu amüsieren, daß ich mir einen wahren Karneval leisten will. Ich werde offenes Haus halten. Ach, ich muß mich von fünf Jahren der Einsamkeit erholen, und ich beginne das Verlorene einzubringen. Fünf Jahre bei einem Engländer, das ist zuviel; nach dem Wochenblatt sind sechs Wochen genug.« »Hat der Baron dir diese Spitze geschenkt?« »Nein, das ist ein Rest vom Nabob . . . Habe ich ein Unglück, meine Liebe! Er war gelb wie das Lächeln eines Freundes vor einem Erfolg. Ich glaubte, er würde in zehn Monaten sterben. Bah, er war stark wie ein Berg. Man muß allen mißtrauen, die sich als leberkrank ausgeben . . . Von Leber will ich nichts mehr hören. Dieser Nabob hat mich bestohlen, er starb, ohne ein Testament gemacht zu haben, und die Familie hat mich vor die Tür gesetzt, als hätte ich die Pest. Deshalb habe ich auch dem Dicken da gesagt: Bezahle für zwei! Sie haben ganz recht, mich eine Jungfrau von Orleans zu nennen, ich habe England zugrunde gerichtet, und ich werde vielleicht verbrannt . . .« »Von Liebe?« fragte Tullia. »Und bei lebendigem Leibe!« erwiderte Esther, die dieses Wort träumerisch machte.

Der Baron lachte über all diese stark gesalzenen Albernheiten, aber er verstand sie nicht immer gleich, so daß sein Lachen jenen vergessenen Raketen glich, die nach einem Feuerwerk aufsteigen.

Wir leben alle in irgendeiner Sphäre, und die Bewohner aller Sphären sind mit der gleichen Dosis von Neugier begabt. Am folgenden Tage war das Abenteuer von der Rückkehr Esthers in der Oper Kulissenneuigkeit. Mittags zwischen zwei und vier Uhr hatte das ganze Paris der Champs Elysées die Torpille wiedererkannt, und endlich wußte man, welches der Gegenstand der Leidenschaft des Barons von Nucingen war. »Wissen Sie,« fragte Blondet im Foyer der Oper de Marsay, »daß die Torpille am Morgen nach dem Tage, an dem wir sie hier als die Geliebte des kleinen Rubempré erkannt hatten, verschwunden war?«

In Paris erfährt man wie in der Provinz alles. Die Polizei der Rue de Jérusalem ist nicht so gut organisiert wie die der Gesellschaft, in der jeder den andern belauert, ohne es zu wissen. Daher hatte Carlos auch genau erraten, wie gefährlich Luciens Lage während und nach der Zeit in der Rue Taitbout gewesen war.

Es gibt keine grauenhaftere Situation als die, in der Frau du Val-Noble sich befand, und das Wort ›zu Fuß sein‹ gibt sie wunderbar wieder. Gleichgültigkeit und Verschwendungssucht hindern diese Frauen, an die Zukunft zu denken. In dieser Ausnahmewelt, die viel komischer und geistvoller ist, als man glaubt, denken die Frauen, die nicht jene positive, fast unveränderliche und leicht kenntliche Schönheit besitzen, die Frauen, die man nur aus Laune lieben kann, einzig an ihr Alter und daran, sich ein Vermögen zu erwerben. Je schöner sie sind, um so weniger denken sie voraus. »Du hast also Angst, daß du häßlich wirst, da du dir ein Vermögen hinlegst?« Das ist ein Wort Florines, das sie zu Mariette sagte und das eine der Ursachen dieser Verschwendungssucht verständlich machen kann. Wenn ein Spekulant Selbstmord begeht, wenn ein Verschwender mit seinem Geldsack am Ende ist, dann stürzen solche Frauen mit erschreckender Plötzlichkeit aus schamlosem Wohlstand in tiefes Elend. Sie werfen sich dann der Kleiderhändlerin in die Arme; sie verkaufen wundervolle Juwelen zu Schleuderpreisen, und sie machen Schulden; vor allem, um den Scheinluxus aufrechtzuerhalten, der ihnen erlaubt, wiederzufinden, was sie verloren haben: eine Kasse, aus der sie schöpfen können. Dieses Hinauf und Hinab ihres Lebens erklärt es, daß die Verbindungen, die in Wirklichkeit fast immer eingefädelt werden, wie Asien Nucingen und Esther zusammengehakt hatte – das ist ein Wort aus dem Sprachschatz –, so teuer sind. Daher weiß auch jeder, der sein Paris gut kennt, ganz genau, woran er sich zu halten hat, wenn er auf den Champs Elysées, diesem beweglichen und tobenden Basar, eine Frau im Mietswagen wiedersieht, nachdem er sie ein Jahr, einen Monat zuvor noch in einer Equipage gesehen hat, blendend vor Luxus und im schönsten Aufputz. »Wenn man beim Gefängnis stürzt, so muß man es verstehen, im Bois de Boulogne wieder aufzuspringen,« sagte Florine, als sie mit Blondet über den kleinen Vicomte von Portenduère lachte. Ein paar geschickte Frauen setzen sich diesem Kontrast niemals aus. Sie bleiben in scheußliche Logierhäuser vergraben, wo sie ihre Vergeudung durch Entbehrungen büßen, wie sie die Reisenden ertragen, die in irgendeiner Sahara verirrt sind; aber darum kommt ihnen doch nicht die geringste Anwandlung der Sparsamkeit. Sie wagen sich auf die Maskenbälle, sie unternehmen eine Reise in die Provinz, sie zeigen sich an schönen Tagen gut gekleidet auf den Boulevards. Übrigens finden sie untereinander jene Hilfsbereitschaft, die die geächteten Klassen sich selbst bezeigen. Die Hilfe, die sie leisten soll, kostet eine glückliche Frau so wenig, und sie sagt sich im Innern: ›Sonntag bin ich auch so weit!‹ Der wirksamste Schutz aber ist der der Kleiderhändlerin. Wenn diese Wucherin Gläubigerin geworden ist, so durchstöbert und durchwühlt sie alle Greisenherzen zugunsten ihrer Hypothek in Stiefeln und Hut. Frau du Val-Noble, die außerstande gewesen war, den Zusammenbruch eines der reichsten und geschicktesten Wechselmakler vorauszusehen, wurde also in voller Unordnung überrumpelt. Sie verbrauchte das Geld Falleix' für ihre Launen und verließ sich in nützlichen Dingen und hinsichtlich ihrer Zukunft ganz auf ihn. »Wie sollte man«, sagte sie zu Mariette, »das von einem Menschen erwarten, der ein so guter Junge zu sein schien!« In fast allen Gesellschaftsklassen ist der ›gute Junge‹ ein Mensch, der nicht engherzig ist, der hier und da ein paar Taler leiht, ohne sie zurückzuverlangen, und der sich außerhalb der gemeinen, anerkannten und gangbaren Moral nach den Regeln eines gewissen Zartgefühls richtet. Manche ähnlich wie Nucingen scheinbar tugendhafte und redliche Leute haben ihre Wohltäter zugrunde gerichtet; und manche Leute, die schon vor dem Zuchtpolizeigericht gestanden haben, sind von geschickter Redlichkeit gegenüber der Frau. Die vollkommene Tugend, Molières Traum, Alkest, ist äußerst selten; man trifft sie jedoch überall, selbst in Paris. Der ›gute Junge‹ ist das Produkt einer gewissen Anmut des Charakters, die nichts beweist. Ein Mann ist ebenso wie eine Katze schmeichlerisch, genau so wie ein Pantoffel dazu geschaffen ist, auf den Fuß zu passen. Nach dem Sinn, den das Wort ›guter Junge‹ bei ausgehaltenen Frauen hat, mußte Falleix seine Geliebte also vor seinem Fallissement warnen und ihr genug geben, damit sie leben konnte. D'Estourny, der galante Gauner, war ein guter Junge: er betrog beim Spiel, aber für seine Geliebte hatte er dreißigtausend Franken beiseitegebracht. Deshalb antworteten bei den Karnevalsoupers die Frauen seinen Anklägern: ›Das ist gleich! . . . Sie mögen noch so viel reden, Georg war ein guter Junge, er hatte gute Manieren und verdiente ein besseres Los!‹ Die Dirnen machen sich über die Gesetze lustig, sie beten ein gewisses Feingefühl an; sie verstehen, sich wie Esther für ein geheimes Schönheitsideal, das ihre Religion ist, zu verkaufen. Nachdem Frau du Val-Noble mit Mühe ein paar Juwelen aus dem Schiffbruch gerettet hatte, warf die furchtbare Last dieser Anklage sie zu Boden: ›Sie hat Falleix ruiniert!‹ Sie war fast dreißig Jahre alt, und obwohl sie in der vollen Entwicklung ihrer Schönheit stand, konnte sie nichtsdestoweniger um so eher als eine alte Frau gelten, als jede Frau in solchen Krisen alle ihre Rivalinnen gegen sich hat. Mariette, Florine und Tullia luden zwar ihre Freundin zum Diner ein und unterstützten sie wohl etwas; aber da sie die Ziffer ihrer Schulden nicht kannten, so wagten sie die Tiefe dieses Abgrunds auch nicht zu ergründen. Ein Zwischenraum von sechs Jahren legte im Fluten des Pariser Meeres einen zu weiten Abstand zwischen die Torpille und Frau du Val-Noble, als daß die ›Frau zu Fuß‹ sich hätte an die Frau im Wagen wenden können; aber die Val-Noble kannte Esther als zu großmütig, als daß sie nicht bisweilen hätte bedenken sollen, daß sie sie, nach ihrem eigenen Ausdruck, beerbt hatte, und daß sie nicht in einer Begegnung mit ihr zusammengetroffen wäre, die zufällig erscheinen konnte, obwohl sie herbeigeführt war. Um diesen Zufall nicht zu versäumen, ging Frau du Val-Noble, als anständige Frau gekleidet, täglich auf den Champs Elysées spaziere; am Arm hatte sie Theodor Gaillard, der sie schließlich auch heiratete und der sich in dieser Notlage sehr gut gegen seine einstige Geliebte benahm: er gab ihr Logen und ließ sie zu allen ›Partien‹ einladen. Sie schmeichelte sich mit dem Gedanken, Esther würde bei schönem Wetter einmal spazieren gehen und so würden sie sich plötzlich gegenüberstehen. Esther hatte Paccard zum Kutscher, denn ihr Haus wurde nach den Befehlen Herreras von Asien, Europa und Paccard in fünf Tagen so eingerichtet, daß dies Hotel der Rue Saint-Georges zu einer uneinnehmbaren Festung wurde. Auf der andern Seite wählte auch Peyrade, den sein tiefer Haß und sein Verlangen nach Rache trieben, vor allem aber der Wunsch, seine teure Lydia zu versorgen, die Champs Elysées zum Ziel seiner Spaziergänge, sowie Contenson ihm gesagt hatte, daß Herrn von Nucingens Geliebte sich dort sehen ließe. Peyrade verkleidete sich so vollkommen als Engländer, und er sprach im Französischen so vortrefflich mit jenen Zischlauten, die die Engländer in diese Sprache einführen; er sprach ferner ein so reines Englisch und kannte die Verhältnisse dieses Landes, in das ihn die Pariser Polizei 1779 und 1786 dreimal geschickt hatte, so genau, daß er seine Rolle als Engländer bei den Gesandten und in London aufrechterhalten konnte, ohne einen Argwohn zu erwecken. Peyrade, der viel von Musson, dem berühmten Mystifikator, hatte, verstand sich mit so viel Kunst zu verkleiden, daß Contenson ihn eines Tages nicht erkannte. In Begleitung Contensons, der als Mulatte verkleidet war, prüfte Peyrade Esther und ihre Leute mit jenem Auge, das unaufmerksam scheint, aber alles sieht. Er befand sich also an dem Tage, an dem Esther Frau du Val-Noble begegnete, ganz natürlicherweise in der Seitenallee, in der die Besitzer der Wagen spazieren gehen, wenn es trocken und schön ist. Peyrade, dem in Livree sein Mulatte folgte, schritt ohne Affektation und als ein echter Nabob, der nur an sich selber denkt, auf der Spur der beiden Frauen dahin, so daß er ein paar Worte ihrer Unterhaltung im Fluge auffangen mußte.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte Esther zu Frau du Val-Noble, »suchen Sie mich auf. Nucingen ist es sich selber schuldig, daß er die Geliebte seines Wechselmaklers nicht ohne einen Heller sitzen läßt . . .« »Um so mehr, als man sagt, daß er ihn ruiniert habe,« fügte Theodor Gaillard hinzu, »und wir ganz gut Geld vom ihm erpressen könnten.« »Er speist morgen bei mir, komm, meine Gute,« sagte Esther. Dann flüsterte sie ihr ins Ohr: »Ich mache mit ihm, was ich will; er hat noch nicht so viel . . .« Sie legte einen ihrer behandschuhten Nägel unter den hübschesten ihrer Zähne, jene bekannte Geste, die auf energische Weise etwa sagen will: ›Nicht das geringste!‹ »Du hast ihn in der Gewalt . . .« »Meine Liebe, bisher hat er nur erst meine Schulden bezahlt . . .« »Ist das ein Knicker!« rief Susanne du Val-Noble. »Oh,« erwiderte Esther, »ich hatte genug, um selbst einen Finanzminister abzuschrecken. Jetzt will ich vor dem ersten Mitternachtsschlag dreißigtausend Franken Rente. Oh, er ist reizend, ich kann mich nicht beklagen . . . Er läßt sich nicht lumpen. In acht Tagen haben wir den Einweihungsschmaus; du sollst dabei sein . . . Morgens muß er mir den Vertrag über das Haus der Rue Saint-Georges überreichen. Man kann anständigerweise ein solches Haus nicht bewohnen, ohne dreißigtausend Franken Rente für sich zu haben, damit man im Falle eines Unglücks darüber verfügen kann. Das Elend habe ich kennen gelernt, ich will nichts mehr davon wissen. Es gibt gewisse Bekanntschaften, von denen man auf der Stelle genug hat.« »Früher sagtest du: ›Das Glück bin ich!‹ Wie du dich verändert hast!« rief Susanne. »Das macht die Schweizer Luft, dort wird man sparsam . . . Sieh, da geh hin, meine Liebe! Nimm dir einen Schweizer, du schaffst dir vielleicht einen Ehemann! Denn sie wissen noch nicht, was für Frauen wir sind . . . Auf alle Fälle liebst du, wenn du zurückkommst, die Renten in Staatsschuldscheinen, und das ist eine ehrliche und zarte Liebe! . . . Adieu.«

Esther stieg wieder in ihren schönen Wagen, den die prachtvollsten Apfelschimmel zogen, die in Paris zu finden waren.

»Die Frau, die in den Wagen steigt,« sagte Peyrade auf englisch zu Contenson, »ist hübsch; aber die andere, die dort spazieren geht, gefällt mir noch besser; du wirst ihr folgen und in Erfahrung bringen, wer sie ist.« »Dieser Engländer hat eben auf englisch folgendes gesagt,« sagte Theodor Gaillard, und er wiederholte Frau du Val-Noble Peyrades Rede.

Ehe Peyrade sich Englisch zu sprechen getraute, hatte er in dieser Sprache ein Wort hingeworfen, das Theodor Galliard eine Bewegung seiner Gesichtszüge entlockte, wodurch er sich davon überzeugte, daß der Journalist Englisch verstand. Frau du Val-Noble ging alsbald sehr langsam nach Hause, indem sie zur Seite sah, ob der Mulatte ihr auch folgte; sie wohnte in einem anständigen Logierhaus der Rue Louis-le-Grand. Dieses Logierhaus gehörte einer Frau Gérard, der Frau du Val-Noble in den Tagen ihres Glanzes gefällig gewesen war und die ihrer Dankbarkeit Ausdruck gab, indem sie ihr eine annehmbare Unterkunft bot. Diese Person, eine ehrenwerte und sogar fromme Bürgersfrau voller Tugenden, nahm die Kurtisane wie ein Wesen höherer Ordnung auf; sie sah sie immer noch inmitten ihres Luxus und hielt sie für eine Königin im Unglück. Sie vertraute ihr ihre Töchter an, und – das ist natürlicher, als man denkt – die Kurtisane war ebenso vorsichtig, wenn sie sie ins Schauspiel führte, wie es eine Mutter gewesen wäre; die beiden Fräulein Gérard liebten sie. Die tüchtige und würdige Wirtin glich jenen wundervollen Priestern, die in diesen vom Gesetz verstoßenen Frauen ein Geschöpf sehen, das man retten und lieben muß. Frau du Val-Noble achtete diese Anständigkeit, oft beneidete sie sie, wenn sie abends plauderte und ihr Unglück beklagte. »Sie sind noch schön, Sie können ein gutes Ende erleben,« sagte Frau Gérard. Frau du Val-Noble war übrigens nur verhältnismäßig gefallen. Die so verschwenderische und elegante Toilette dieser Frau war noch gut versehen, genug, um ihr gelegentlich zu erlauben – wie zum Beispiel am Tage des ›Richard Darlington‹ in der Porte Saint-Martin –, daß sie in ihrem ganzen Glanze erschien. Frau Gérard bezahlte noch bereitwillig genug die Wagen, die, die ›Frau zu Fuß‹ nötig hatte, wenn sie in der Stadt dinierte oder sich ins Theater begab oder aus ihm nach Hause kam.

»Also, meine liebe Frau Gérard,« sagte sie zu dieser anständigen Familienmutter, »mein Schicksal will sich wenden, glaube ich . . .« »Nun, um so besser; aber seien Sie verständig, denken Sie an die Zukunft . . . Machen Sie keine Schulden mehr. Es wird mir so schwer, all die fortzuschicken, die Sie suchen! . . .« »Oh, kümmern Sie sich nicht um diese Hunde, die ungeheure Summen an mir verdient haben. Hier, da sind zwei Billette zum Théâtre des Variétés für Ihre Töchter, eine gute Loge im zweiten Rang. Wenn heute abend jemand nach mir fragen sollte und ich bin noch nicht wieder zu Hause, so lassen Sie ihn trotzdem hinaufsteigen. Adele, meine ehemalige Zofe, wird da sein; ich werde sie Ihnen schicken.«

Frau du Val-Noble, die weder Tante noch Mutter hatte, sah sich gezwungen, ihre Zuflucht zu ihrer Kammerfrau, die gleichfalls »zu Fuß« war, zu nehmen, damit sie bei dem Unbekannten, dessen Eroberung ihr erlauben sollte, sich wieder zu ihrem Rang zu erheben, die Rolle einer Saint-Estève spielte. Sie ging mit Theodor Gaillard zum Diner, denn der hatte gerade für diesen Tag eine »Partie«, das heißt, er war von Nathan, der eine verlorene Wette bezahlte, zum Diner eingeladen worden: es war eine jener Orgien, von denen man bei der Einladung sagt: Es werden Frauen da sein.

Peyrade hatte sich nicht ohne zwingende Gründe entschlossen, sich persönlich auf das Feld dieser Intrige zu begeben. Seine Neugier war übrigens, ebenso wie die Corentins, so lebhaft geweckt, daß er sich auch ohne Gründe gern in dieses Drama eingemischt hätte. In diesem Augenblick war die Politik Karls X. zur letzten Phase ihrer Entwicklung gelangt. Der König hatte das Steuer der Geschäfte selbstgewählten Ministern anvertraut und bereitete die Eroberung Algeriens vor, um den dadurch erworbenen Ruhm als Paß für das zu benutzen, was man einen Staatsstreich genannt hat. Im Innern konspirierte niemand mehr; Karl X. glaubte keinen Gegner mehr zu haben. Wie auf dem Meere gibt es auch in der Politik eine trügerische Windstille. Corentin war also einer absoluten Beschäftigungslosigkeit verfallen. In einer solchen Lage schießt der echte Jäger, um seine Hand in Übung zu erhalten, statt der Krametsvögel Amseln. Domitian tötete Fliegen, wenn er keine Christen hatte. Als Zeuge der Verhaftung Esthers hatte Contenson mit dem ausgezeichneten Sinn des Spions diesen Vorgang sehr richtig beurteilt. Wie man gesehen hat, hatte der Schelm sich nicht die Mühe gemacht, dem Baron von Nucingen seine Meinung zu verschleiern. »Zu wessen Nutzen brandschatzt man die Leidenschaft des Bankiers?« das war die erste Frage, die die beiden Freunde sich stellten. Als Contenson in Asien eine Mitspielerin im Stück erkannt hatte, hoffte er durch sie bis zum Verfasser durchzudringen; aber sie schlüpfte ihm eine Zeitlang durch die Finger, indem sie sich wie ein Aal im Pariser Schlamm verbarg; und als er sie in Esthers Köchin wiederfand, schien ihm die Mitarbeit dieser Mulattin unerklärlich. Zum erstenmal stießen also die beiden Künstler der Spionage auf einen unentzifferbaren Text, wenn sie auch eine dunkle Geschichte argwöhnten. Nach drei einander folgenden und verwegenen Stürmen auf das Haus der Rue Taitbout fand Contenson noch immer das hartnäckigste Schweigen. Solange Esther dort wohnte, schien der Portier von tiefer Angst beherrscht zu sein. Vielleicht hatte Asien der ganzen Familie im Fall der Indiskretion vergiftete Fleischklößchen versprochen. Am Tage, nach dem Esther ihre Wohnung verlassen hatte, fand Contenson diesen Pförtner ein wenig zugänglicher; er bedauerte den Auszug dieser kleinen Dame, die ihn, wie er sagte, mit den Resten ihrer Tafel ernährte. Contenson, der sich als Handelsagent verkleidet hatte, feilschte um die Wohnung, und er hörte die Beschwerden des Portiers an, indem er sich über ihn lustig machte und alles, was er sagte, durch ein ›Ist es möglich?‹ in Zweifel zog. »Ja, gnädiger Herr, diese kleine Dame wohnte fünf Jahre hier, ohne je auszugehen, denn ihr Liebhaber war eifersüchtig, obwohl sie sich niemals etwas zuschulden kommen ließ, und er wandte die größte Vorsicht an, wenn er kam und eintrat oder ging. Übrigens war es ein sehr schöner junger Mann.« Lucien befand sich gerade zu Marsac bei seiner Schwester, Frau Séchard; aber sowie er zurückgekehrt war, schickte Contenson den Portier auf den Quai Malaquais, um Herrn von Rubempré zu fragen, ob er bereit sei, die Möbel der von Frau Esther van Bogseck verlassenen Wohnung zu verkaufen. Der Portier erkannte in Lucien den geheimnisvollen Liebhaber der jungen Witwe, und mehr wollte Contenson nicht wissen. Man kann sich vorstellen, von welchem tiefen, wenn auch verhaltenen Staunen Lucien und Carlos erfaßt waren; es schien, als hielten sie den Portier für verrückt; sie suchten ihn davon zu überzeugen.

In vierundzwanzig Stunden hatte Carlos eine Gegenpolizei organisiert, die Contenson bei seiner Spionage auf frischer Tat ertappte. Contenson hatte schon zweimal, als Austräger der Markthalle verkleidet, Vorräte ins Haus gebracht, die Asien morgens gekauft hatte; und zweimal war er auf diese Weise in das Haus der Rue Saint-Georges eingedrungen. Auch Corentin regte sich; aber die Realität der Persönlichkeit Carlos Herreras gebot ihm halt, denn er erfuhr auf der Stelle, daß dieser Abbé, der geheime Gesandte Ferdinands VII., gegen Ende des Jahres 1823 nach Paris gekommen war. Nichtsdestoweniger mußte Corentin untersuchen, welche Gründe diesen Spanier dazu trieben, Lucien von Rubempré zu begönnern. Corentin hatte bald erkannt, daß Lucien Esther fünf Jahre lang zur Geliebten gehabt hatte; also hatte die Unterschiebung der Engländerin im Interesse des Dandy stattgefunden. Nun hatte Lucien keinerlei Subsistenzmittel, man verweigerte ihm Fräulein von Grandlieu als Frau, und er hatte soeben den Landsitz der Rubemprés für eine Million erstanden. Corentin brachte geschickt den Generalpolizeidirektor ins Spiel, dem der Polizeipräfekt mitteilte, daß die Leute, die sich in dieser Sache über Peyrade beklagt hatten, keine geringeren gewesen seien als der Graf von Sérizy und Lucien von Rubempré.

»Wir haben sie!« hatten Peyrade und Corentin ausgerufen. Der Plan der beiden Freunde war im Nu entworfen. »Dieses Mädchen hat Beziehungen gehabt, sie hat Freundinnen. Es ist unmöglich, daß nicht unter diesen Freundinnen eine im Unglück ist; einer von uns muß die Rolle eines reichen Ausländers spielen, der sie unterhält; wir werden sie zusammenbringen. Sie sind einander für das Tricktrack der Liebhaber stets vonnöten, und dann stehen wir im Herzen der Festung.«

Es war ganz natürlich, daß Peyrade daran dachte, die Rolle des Engländers zu übernehmen. Das Leben der Ausschweifung, das er führen mußte, bis das Komplott, dem er zum Opfer gefallen war, entdeckt wurde, lächelte ihm, während Corentin sich wenig daraus machte, denn seine Arbeiten hatten ihn gealtert, und er war kränklich. Als Mulatte entging Contenson Herreras Gegenpolizei auf der Stelle. Drei Tage vor der Begegnung Peyrades mit Frau du Val-Noble auf den Champs Elysées war der letzte der Agenten der Herren von Sartine und Lenoir mit einem vollständig ordnungsmäßigen Paß versehen, in der Rue de la Paix im Hotel Mirabeau abgestiegen; er kam über Le Havre aus den Kolonien, und zwar in einer so kotbespritzten Kalesche, als käme sie wirklich aus Le Havre, obwohl sie nur den Weg von Saint-Denis nach Paris gemacht hatte.

Carlos Herrera seinerseits ließ auf der spanischen Gesandtschaft seinen Paß visieren und rüstete auf dem Quai Malaquais alles für eine Reise nach Madrid. Der Grund war dieser. In wenigen Tagen sollte Esther Besitzerin des kleinen Hotels in der Rue Saint-Georges sein; sie sollte auch Staatspapiere über dreißigtausend Franken Rente erhalten; Europa und Asien waren listig genug, um sie zu veranlassen, daß sie sie verkaufte und Lucien heimlich den Erlös übergab. Lucien, den die Freigebigkeit seiner Schwester angeblich reich gemacht hatte, sollte auf diese Weise den Rest des Preises der Ländereien von Rubempré erhalten. Niemand konnte daran etwas auszusetzen finden. Nur Esther konnte indiskret sein; aber sie wäre eher gestorben, als daß sie sich hätte eine Bewegung der Wimpern entschlüpfen lassen. Klotilde hatte eben ein rosa Tuch um ihren Schwanenhals gelegt, und also war im Hotel Grandlieu das Spiel gewonnen. Die Aktien der Omnibusse gaben bereits drei Kapitalien statt eines. Wenn Carlos auf ein paar Tage verschwand, so leitete er jeden Argwohn irre. Menschliche Voraussicht hatte alles vorausgesehen, ein Fehler war nicht möglich. Der falsche Spanier sollte am Tage, nach dem Peyrade auf den Champs Elysées Frau du Val-Noble getroffen hatte, aufbrechen. In ebendieser Nacht aber kam gegen zwei Uhr morgens im Fiaker Asien auf den Quai Malaquais, und sie fand den Heizer dieser ganzen Maschinerie in seinem Zimmer rauchend vor; er ging gerade den Abriß des Ganzen durch, den wir mit wenigen Worten wiedergegeben haben, wie etwa ein Autor eine Seite seines Buches durchfeilt, um Fehler zu finden, die er verbessern könnte. Ein solcher Mensch wollte nicht zweimal eine Vergeßlichkeit begehen, wie er sie in betreff des Portiers der Rue Taitbout begangen hatte.

»Paccard«, sagte Asien ihrem Herrn ins Ohr, »hat gestern um zweieinhalb Uhr auf den Champs Elysées Contenson erkannt; er war als Mulatte verkleidet und diente einem Engländer als Diener, der seit drei Tagen auf den Champs Elysées spazieren geht, um Esther zu beobachten. Paccard hat den Hundsfott an den Augen erkannt, genau wie ich, als er Austräger der Markthalle war. Paccard hat die Kleine so nach Hause gefahren, daß er unsern Schlingel nicht aus den Augen verlor. Er wohnt im Hotel Mirabeau; aber er hat mit dem Engländer solche Zeichen der Verständigung ausgetauscht, behauptet Paccard, daß der Engländer unmöglich ein Engländer sein kann.«

»Uns sitzt eine Bremse auf dem Rücken,« sagte Carlos. »Ich reise erst übermorgen. Dieser Contenson ist sicher der, der uns den Portier der Rue Taitbout hierher nachgeschickt hat; wir müssen in Erfahrung bringen, ob der falsche Engländer unser Feind ist.«

Mittags bediente der Mulatte des Herrn Samuel Johnson voll Ernst seinen Herrn, der aus Berechnung stets zu gut frühstückte. Peyrade wollte als ein Engländer von der Gattung der Trinker gelten; er ging stets nur angetrunken aus. Er trug Gamaschen aus schwarzem Tuch, die ihm bis zu den Knien hinaufreichten und die ausgestopft waren, um seine Beine dicker erscheinen zu lassen; seine Hose war mit ungeheuer dickem Barchent gefüttert; er trug eine Weste, die bis unter das Kinn zugeknöpft war; seine blaue Krawatte umgab seinen Hals bis zu den Wangen hinauf; eine kurze rote Perücke verbarg seine halbe Stirn, er hatte sich um ungefähr drei Zoll erhöht, und also hätte ihn der älteste Stammgast des Café David nicht erkennen können. Nach seinem vierschrötigen schwarzen Rock, der weit und sauber war wie der eines Engländers, mußten die Vorübergehenden ihn für einen englischen Millionär halten. Contenson hatte die kühle Unverschämtheit eines Kammerdieners an den Tag gelegt, der das Vertrauen eines Nabobs besitzt; er war stumm, verschlagen, geringschätzig, wenig mitteilsam und erlaubte sich ausländische Gesten und wilde Rufe. Peyrade trank gerade seine zweite Flasche aus, als ein Kellner des Hotels ohne Umstände einen Mann ins Zimmer führte, in dem sowohl Peyrade wie Contenson einen Gendarmen in Zivil erkannten.

»Herr Peyrade,« sagte der Gendarm, indem er sich an den Nabob wandte und ihm ins Ohr flüsterte, »ich habe Befehl, Sie auf die Präfektur zu führen.« Peyrade stand auf, ohne die geringste Bemerkung zu machen, und suchte seinen Hut. »Sie werden vor der Tür einen Fiaker finden,« sagte der Gendarm auf der Treppe zu ihm. »Der Präfekt wollte Sie verhaften lassen, aber er hat sich damit begnügt, Ihnen den Polizeibeamten zu schicken, den Sie im Wagen finden werden, um Erklärungen über Ihr Verhalten entgegenzunehmen.«

»Muß ich bei Ihnen bleiben?« fragte der Gendarm den Polizeibeamten, als Peyrade in den Wagen gestiegen war. »Nein,« erwiderte der Polizeibeamte. »Sagen Sie dem Kutscher leise, er möge auf die Präfektur fahren.«

Peyrade und Carlos saßen in demselben Wagen beisammen. Carlos hielt einen Dolch bereit. Den Fiaker führte ein Kutscher, auf den man sich verlassen konnte und der Carlos hätte aussteigen lassen, ohne es zu bemerken oder sich darüber zu wundern, wenn er, an einer Haltestelle angelangt, eine Leiche in seinem Wagen gefunden hätte. Wegen eines Spions erregt man niemals Aufsehen. Die Justiz läßt solche Morde fast immer straflos, so schwer ist es, in diesen Dingen klarzusehen. Peyrade warf seinen Spionsblick auf den Beamten, den der Polizeipräfekt ihm schickte; Carlos zeigte ihm befriedigende Züge: einen enthaarten, hinten von Falten gefurchten Schädel, gepuderte Haare, und dann auf zarten, rotumränderten Augen, die Pflege verlangten, eine sehr leichte, sehr bureaukratische Brille mit doppelten grünen Gläsern. Diese Augen zeigten Spuren unreiner Krankheiten. Ein Perkalhemd mit starrem, gefälteltem Jabot, eine Weste aus abgenutztem schwarzen Satin, die Hose eines Mannes der Justiz, Strümpfe aus schwarzer Florettseide, Schuhe, die mit Bändern zugeknotet waren, einen langen schwarzen Rock, Handschuhe zu zwei Franken – sie waren schwarz und seit zehn Tagen getragen –, und eine goldene Uhrkette. Es war weder mehr noch minder als der Subalternbeamte, den man einen Polizeioffizier nennt.

»Mein lieber Herr Peyrade, ich bedaure, daß ein Mann wie Sie Gegenstand einer Überwachung ist und daß Sie es sich angelegen sein lassen, sie zu rechtfertigen. Ihre Verkleidung ist nicht nach dem Geschmack des Herrn Präfekten. Wenn Sie unserer Wachsamkeit so zu entgehen meinen, so sind Sie im Irrtum. Sie sind ohne Zweifel von Beaumont-sur-Oise aus England gekommen?« »Von Beaumont-sur-Oise? . . .« erwiderte Peyrade. »Oder von Saint-Denis?« fuhr der falsche Beamte fort.

Peyrade wurde verwirrt. Diese neue Frage verlangte eine Antwort. Jede Antwort aber war gefährlich. Eine Bestätigung wurde zum Hohn; ein Leugnen vernichtete Peyrade, wenn der andere die Wahrheit kannte. ›Er ist schlau,‹ dachte er. Er versuchte, den Polizeibeamten lächelnd anzusehen, und gab ihm sein Lächeln statt aller Antwort. Das Lächeln wurde ohne Einspruch hingenommen.

»Zu welchem Zweck haben Sie sich verkleidet, haben Sie im Hotel Mirabeau Wohnung genommen und Contenson zum Mulatten gemacht?« fragte der Beamte. »Der Herr Präfekt wird mit mir machen, was er will; aber ich schulde nur meinen Vorgesetzten Rechenschaft über meine Handlungen,« sagte Peyrade voll Würde. »Wenn Sie mir zu verstehen geben wollen, daß Sie auf Rechnung der politischen Polizei des Königreichs handeln,« sagte der falsche Beamte trocken, »so wechseln wir die Richtung und fahren in die Rue de Grenelle statt in die Rue de Jérusalem. Ich habe die bestimmtesten Befehle über Sie. Aber nehmen Sie sich in acht! Man will Ihnen nicht so gar übel, und Sie könnten sich in einem Augenblick Ihr Spiel verderben. Ich persönlich habe gar nichts gegen Sie . . . Aber vorwärts! . . . Sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Die Wahrheit ist die,« sagte Peyrade, indem er einen feinen Blick auf die roten Augen seines Zerberus warf. Das Gesicht des angeblichen Beamten blieb stumm und regungslos; er tat, was seines Amtes war, jede Wahrheit schien ihm gleichgültig zu sein, er machte den Eindruck, als beschuldigte er den Präfekten einer Laune. Präfekten haben manchmal Grillen. »Ich habe mich wie ein Wahnsinniger in eine Frau verliebt, in die Geliebte jenes Wechselmaklers, der zu seinem Vergnügen und zum Mißvergnügen seiner Gläubiger auf Reisen gegangen ist, jenes Falleix.« »In Frau du Val-Noble,« sagte der Beamte. »Ja,« erwiderte Peyrade. »Um sie einen Monat lang aushalten zu können, was mich kaum mehr als tausend Taler kosten wird, habe ich mich als Nabob verkleidet und Contenson zum Bedienten genommen. Das ist so wahr, daß Sie mich im Fiaker lassen können; ich werde Sie erwarten, auf die Ehre eines ehemaligen Generalpolizeikommissars; steigen Sie ins Hotel hinauf und fragen Sie Contenson. Contenson wird Ihnen nicht nur bestätigen, was ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen, sondern Sie werden auch die Kammerfrau der Frau du Val-Noble sehen, die uns heute die Einwilligung in meine Vorschläge oder die Bedingungen ihrer Herrin bringen soll. Ein alter Affe kennt sich aus in Grimassen: ich habe tausend Franken im Monat und einen Wagen geboten, das macht fünfzehnhundert Franken; fünfhundert Franken für Geschenke und ebensoviel für Gesellschaften, Diners und Theater; Sie sehen, ich irre mich nicht um einen Centime, wenn ich sage: tausend Taler. Ein Mann in meinem Alter kann wohl tausend Taler an seine letzte Laune wenden.«

»Ah, Papa Peyrade, Sie lieben die Frauen immer noch genug, um . . . Aber Sie foppen mich; ich bin sechzig Jahre alt, und ich kann sie sehr gut entbehren . . . Wenn freilich die Dinge liegen, wie Sie sagen, so verstehe ich, daß Sie sich in einen Ausländer verwandeln mußten, um sich diese Laune zu erlauben.« »Sie begreifen, daß Peyrade oder der Vater Canquoelle aus der Rue des Moineaux . . .« »Gewiß; weder der eine noch der andere hätte Frau du Val-Noble gepaßt,« unterbrach Carlos ihn, entzückt, die Adresse des Vaters Canquoelle erfahren zu haben. »Vor der Revolution hatte ich einmal eine Frau zur Geliebten, die der Vollstrecker der Urteile, den man damals den Henker nannte, ausgehalten hatte. Eines Tages sticht sie sich im Theater mit einer Nadel, und wie man das damals so sagte, ruft sie: ›Ach, Henker!‹ ›Ist das eine Reminiszenz?‹ fragte ihr Nachbar sie . . . Nun, mein lieber Peyrade, sie hat den Mann wegen dieses Witzes verlassen. Ich begreife, daß Sie sich nicht einem ähnlichen Schimpf aussetzen wollen . . . Frau du Val-Noble ist eine Frau für anständige Leute, ich habe sie eines Tages in der Oper gesehen und recht schön gefunden . . . Lassen Sie den Kutscher umkehren nach der Rue de la Paix, mein lieber Peyrade, ich werde mit Ihnen hinaufgehen und mir die Sache selbst ansehen. Ein mündlicher Bericht wird dem Herrn Präfekten ohne Zweifel genügen.«

Carlos zog aus seiner Seitentasche eine Tabatiere aus schwarzer Pappe, die innen mit vergoldetem Silber belegt war, und bot Peyrade mit wundervoll gutmütiger Geste Tabak an. Peyrade sagte bei sich selber: ›Und das sind ihre Agenten! Mein Gott, wenn Herr Lenoir oder Herr von Sartine in die Welt zurückkehrten, was würden die sagen!‹

»Es ist das ohne Zweifel ein Teil der Wahrheit, aber es ist nicht alles, mein lieber Freund,« sagte der falsche Polizeibeamte, indem er seine Prise durch die Nase aufsog. »Sie haben sich in die Herzensangelegenheiten des Barons von Nucingen eingemischt, und Sie wollen ihn ohne Zweifel in irgendeine Laufschlinge verwickeln; mit der Pistole haben Sie ihn gefehlt, jetzt wollen Sie mit grobem Geschütz nach ihm zielen. Frau du Val-Noble ist eine Freundin der Frau von Champy . . .« ›Ah, zum Teufel, spießen wir uns nicht auf!‹ sagte Peyrade bei sich selber. ›Er ist stärker, als ich glaubte. Er führt mich an der Nase herum: er spricht davon, mich loszulassen, und er bringt mich immer noch zum Schwätzen.‹ »Nun?« sagte Carlos mit der Miene amtlicher Autorität. »Freilich habe ich das Unrecht begangen, für Herrn von Nucingen eine Frau zu suchen, in die er verliebt war, als hätte er den Kopf verloren. Das ist die Ursache, weshalb ich in Ungnade gefallen bin; denn es scheint, ich habe, ohne es zu wissen, an sehr ernste Interessen gerührt.« Der Subalternbeamte blieb ungerührt. »Aber nach zweiundfünfzigjährigem Dienst kenne ich die Polizei genau genug,« fuhr Peyrade fort, »um mich seit dem Verweis, den der Herr Präfekt mir erteilt hat – und er hatte sicherlich recht –, still zu verhalten . . .« »Sie würden also auf Ihre Laune verzichten, wenn der Herr Präfekt Sie darum bäte? Das wäre, denke ich, der beste Beweis der Aufrichtigkeit dessen, was Sie mir sagen, den Sie geben könnten.« »Wie der jagt! Wie der jagt!« sagte Peyrade bei sich selber. ›Ah, potztausend, die heutigen Agenten sind denen des Herrn Lenoir gewachsen!‹ »Darauf verzichten?« erwiderte Peyrade laut. »Ich werde die Befehle des Herrn Präfekten erwarten . . . Aber wenn Sie mit hinaufkommen wollen, hier sind wir beim Hotel.« »Woher nehmen Sie denn das Geld?« fragte Carlos mit scharfsinniger Miene unvermittelt. »Ich habe einen Freund . . .« sagte Peyrade. »Das sagen Sie nur einem Untersuchungsrichter,« erwiderte Carlos. – Diese verwegene Szene war bei Carlos das Ergebnis einer jener Berechnungen, deren Einfachheit nur dem Kopf eines Menschen seines Schlages entspringen konnte. Er hatte Lucien morgens früh zu der Gräfin von Sérizy geschickt. Lucien bat den Privatsekretär des Grafen, zum Präfekten zu gehen und im Namen des Grafen um Auskunft über den Agenten zu bitten, den der Baron von Nucingen benutzt hatte. Der Sekretär war mit einer Notiz über Peyrade zurückgekehrt, die er nach dem Bericht in den Akten abgeschrieben hatte:

»In der Polizei seit 1778; zwei Jahre vorher aus Avignon nach Paris gekommen.

Ohne Vermögen und ohne Moral; Mitwisser von Staatsgeheimnissen. Wohnhaft Rue des Moineaux, unter dem Namen Canquoelle, dem Namen des kleinen Gutes, auf dem seine Familie lebt, im Departement Vaucluse; die Familie übrigens ehrenwert.

Wurde kürzlich gesucht von einem seiner Großneffen namens Theodosius de la Peyrade. (Siehe Bericht eines Agenten, Nr. 37 der Akten.)«

»Das muß der Engländer sein, dem Contenson als Mulatte dient,« hatte Carlos ausgerufen, als Lucien ihm die Auskünfte brachte, die, abgesehen von jener Notiz, mündlich erteilt worden waren.

In drei Stunden hatte dieser Mensch, der die Regsamkeit eines kommandierenden Generals entfaltete, durch Paccard einen unschuldigen Komplicen gefunden, der die Rolle eines Gendarmen in Zivil zu spielen vermochte; und er selbst hatte sich als Polizeibeamter verkleidet. Dreimal hatte er im Wagen einen Anlauf gemacht, Peyrade zu töten; aber er hatte es sich untersagt, je selbst einen Mord zu begehen, und er nahm sich vor, Peyrade gelegentlich zu beseitigen, indem er ihn ein paar entlassenen Sträflingen als Millionär empfahl.

Peyrade und sein Führer hörten die Stimme Contensons, der mit der Jungfer der Frau du Val-Noble sprach. Peyrade gab Carlos einen Wink, im ersten Zimmer zu bleiben; es war, als wollte er ihm damit sagen: ›Sie sollen selbst urteilen, ob ich aufrichtig bin.‹

»Die gnädige Frau ist mit allem einverstanden,« sagte Adele. »Die gnädige Frau ist augenblicklich bei einer ihrer Freundinnen, bei Frau von Champy, die noch auf ein Jahr eine vollständig möblierte Wohnung in der Rue Taitbout besitzt und sie ihr ohne Zweifel geben wird. Die gnädige Frau wird Herrn Johnson dort besser empfangen können, denn die Möbel sind noch sehr hübsch, und der Herr wird sie der gnädigen Frau kaufen können, wenn er sich mit Frau von Champy verständigt.« »Gut, mein Kind. Wenn man das nicht Rupfen nennt, so nennt man es doch Federziehen,« sagte der Mulatte zu der verblüfften Zofe; »aber wir werden teilen . . .« »Ei, das ist mir ein Farbiger!« rief Fräulein Adele. »Wenn Ihr Nabob ein Nabob ist, so kann er der gnädigen Frau doch wohl Möbel schenken. Der Mietvertrag läuft im April 1830 ab; Ihr Nabob kann ihn erneuern, wenn er sich dort wohlfühlt.« »Ich sährr ßufrrieden!« erwiderte Peyrade, indem er eintrat und die Zofe auf die Schulter klopfte.

Und er gab Carlos einen Wink der Verständigung, den jener durch eine zustimmende Geste beantwortete, da er recht wohl begriff, daß der Nabob in seiner Rolle bleiben mußte. Aber die Szene verwandelte sich plötzlich durch das Auftreten einer Persönlichkeit, über die weder Carlos noch der Polizeipräfekt etwas vermochten. Plötzlich trat Corentin ein. Er hatte die Tür offen gefunden und wollte im Vorbeigehen sehen, wie sein alter Peyrade seine Nabobsrolle spielte. »Der Präfekt langweilt mich immer noch!« sagte Peyrade Corentin ins Ohr, »er hat mich als Nabob gefunden.« »Wir werden den Präfekten zu Fall bringen,« gab Corentin seinem Freunde flüsternd zurück.

Und nachdem er kühl gegrüßt hatte, begann er den Beamten heimtückisch zu beobachten.

»Bleiben Sie hier, bis ich wiederkomme; ich gehe auf die Präfektur,« sagte Carlos. »Wenn Sie mich nicht mehr sehen, so bedeutet das, daß Sie sich Ihre Laune weiterhin erlauben können.«

Nachdem er Peyrade diese Worte ins Ohr geflüstert hatte, um seiner Rolle in den Augen der Jungfer nicht zu schaden, ging Carlos davon, da ihm wenig daran gelegen war, unter dem Blick des neu Hinzugekommenen zu bleiben; denn er erkannte in ihm eine jener blonden, blauäugigen Naturen, die in ihrer Kaltblütigkeit furchtbar sind.

»Das ist der Beamte, den mir der Präfekt geschickt hat,« sagte Peyrade zu Corentin. »Das?« erwiderte Corentin. »Du hast dich hineinlegen lassen. Dieser Mensch hat drei Spiele Karten in den Schuhen, das sieht man an der Haltung des Fußes unterm Leder; und übrigens braucht ein Polizeibeamter sich nicht zu verkleiden!«

Corentin sprang eiligst die Treppe hinunter, um seinen Verdacht aufzuklären; Carlos stieg eben in den Wagen. »He, Herr Abbé? . . .« rief Corentin. Carlos wandte den Kopf, sah Corentin und stieg ein. Aber Corentin hatte noch Zeit, ihm durch den Wagenschlag nachzurufen: »Das wollte ich nur wissen . . . Quai Malaquais!« rief Corentin dem Kutscher zu, indem er in seinen Ton und seinen Blick einen Höllenhohn hineinlegte.

›Also,‹ sagte Jakob Collin bei sich selber, ›ich bin gar, sie haben mich; jetzt müssen wir sie durch Geschwindigkeit überflügeln und vor allem erfahren, was sie von uns wollen.‹

Corentin hatte den Abbé Carlos Herrera fünf- oder sechsmal gesehen, und der Blick dieses Menschen war nicht zu vergessen. Corentin hatte zuerst die breiten Schultern erkannt, dann die Geschwülste des Gesichts und den Betrug der drei Zoll, um die er sich durch eine Einlage in den Schuhen vergrößert hatte.

»Ah, mein Alter, man hat dich zum besten gehabt!« sagte Corentin, als er sah, daß nur noch Peyrade und Contenson im Schlafzimmer waren. »Wer?« rief Peyrade, dessen Stimme ein metallisches Schwirren annahm; »ich verwende meine letzten Tage dazu, ihn auf einen Rost zu bringen und darauf herumzudrehen.« »Es war der Abbé Carlos Herrera, wahrscheinlich der Corentin Spaniens. Alles wird klar. Der Spanier ist ein ausgefeimter Wüstling, der diesem jungen Manne zu Vermögen verhelfen wollte, indem er mit dem Bett eines hübschen Mädchens Geld münzte . . . Du mußt selber wissen, ob du mit einem Diplomaten Lanzen brechen willst, der mir verteufelt gerieben scheint.« »Oh!« rief Contenson, »der hat am Tage der Verhaftung Esthers die dreihunderttausend Franken in Empfang genommen; er saß im Fiaker! Ich entsinne mich dieser Augen, dieser Stirn, dieser Pockennarben.« »Ah, was für eine Mitgift hätte meine arme Lydia bekommen!« rief Peyrade. »Du kannst Nabob bleiben,« sagte Corentin. »Um ein Auge auf Esther zu haben, muß man sie mit der Val-Noble zusammenbringen; Esther war die Geliebte Lucien von Rubemprés.« »Nucingen haben sie schon mehr als fünfhunderttausend Franken ›geklemmt‹!« sagte Contenson. »Sie brauchen noch einmal soviel,« erwiderte Corentin, »die Ländereien von Rubempré kosten eine Million. Papa,« sagte er, indem er Peyrade auf die Schulter klopfte, »du kannst für Lydias Heirat mehr als hunderttausend Franken haben.« »Sag das nicht, Corentin. Wenn dein Plan fehlschlüge, ich weiß nicht, wozu ich da imstande wäre . . .« »Du wirst sie vielleicht schon übermorgen haben! Der Abbé, mein Lieber, ist schlau; wir müssen ihm die Klaue küssen, er ist ein Oberteufel; aber ich habe ihn, er ist ein Mann von Geist, er wird kapitulieren. Gib acht, daß du dumm bist wie ein Nabob, und fürchte nichts mehr.«

Den Abend dieses Tages, an dem sich die wirklichen Gegner auf ebenem Boden gegenüber gestanden hatten, sollte Lucien im Hotel Grandlieu verbringen. Es war zahlreiche Gesellschaft dort. Angesichts ihres ganzen Salons hielt die Herzogin Lucien eine Weile im Gespräch fest; sie war reizend gegen ihn.

»Sie haben eine kleine Reise gemacht?« fragte sie. »Ja, Frau Herzogin. Meine Schwester hat in dem Wunsch, meine Heirat zu erleichtern, große Opfer gebracht, und ich habe Rubempré zurückkaufen, es wieder zusammenbringen können. Freilich habe ich in meinem Pariser Anwalt einen gewandten Menschen gefunden; er hat mich vor den Überforderungen bewahrt, die die Inhaber der Ländereien gestellt hätten, wenn ihnen der Name des Käufers bekannt geworden wäre.« »Ist ein Schloß vorhanden?« fragte Klotilde mit zu deutlichem Lächeln. »Es ist etwas vorhanden, was wie ein Schloß aussieht; aber das klügste wird sein, es nur als Material zu benutzen, um ein modernes Haus zu bauen.«

Klotildes Augen warfen unter ihrem zufriedenen Lächeln hervor Flammen des Glückes. »Sie werden heute abend einen Robber mit meinem Vater spielen,« sagte sie ganz leise zu ihm. »In vierzehn Tagen, hoffe ich, werden Sie zum Diner geladen werden.«

»Nun, lieber Herr,« sagte der Herzog von Grandlieu, »Sie haben, wie man sagt, Rubempré gekauft? Ich mache Ihnen mein Kompliment. Das ist die rechte Antwort für alle, die Sie als verschuldet ausgaben. Wir, wir können es uns so gut wie Frankreich oder England leisten, eine öffentliche Schuld zu haben; aber sehen Sie, Leute ohne Vermögen, Handeltreibende können sich solche Dinge nicht erlauben.« »O, Herr Herzog, ich bin noch fünfhunderttausend Franken für meinen Besitz schuldig.« »Nun, Sie müssen ein Mädchen heiraten, das Ihnen die einbringt; aber Sie werden wohl für sich in unserm Viertel, wo man den Mädchen wenig Mitgift gibt, schwerlich eine Partie mit solchem Vermögen finden.« »Aber sie haben an ihrem Namen genug,« erwiderte Lucien. »Wir sind nur drei zum Whist: Maufrigneuse, d'Espard und ich, wollen Sie der vierte sein?« fragte der Herzog Lucien, indem er ihm den Spieltisch zeigte.

Klotilde trat herzu, um ihrem Vater beim Spiel zuzusehen. »Sie wünscht, daß ich das für mich nehme,« sagte der Herzog, indem er seiner Tochter die Hände streichelte und Lucien, der ernst blieb, von der Seite ansah.

Lucien, Herrn d'Espards Partner, verlor zwanzig Louisdor. »Meine liebe Mutter,« sagte Klotilde zur Herzogin, »er hat Geist genug bewiesen, zu verlieren.«

Nachdem Lucien noch einige Liebesworte mit Fräulein von Grandlieu gewechselt hatte, ging er gegen elf Uhr nach Hause; und als er sich ins Bett legte, dachte er an den vollständigen Triumph, den er in einem Monat erringen mußte; denn er zweifelte nicht mehr daran, daß man ihn als Klotildes Zukünftigen anerkennen und daß er vor den Fasten des Jahres 1830 verheiratet sein würde.

Als Lucien am folgenden Morgen nach dem Frühstück in Gesellschaft des sehr besorgt gewordenen Carlos Herrera einige Zigaretten rauchte, meldete man ihnen Herrn von Saint-Estève – was für ein Witz! – der den Abbé Carlos Herrera oder Herrn Lucien von Rubempré zu sprechen wünschte.

»Hat man unten gesagt, ich sei verreist?« rief der Abbé. »Ja, gnädiger Herr,« erwiderte der Groom. »Nun, empfange diesen Menschen,« sagte er zu Lucien; »aber sprich kein kompromittierendes Wort, laß dir keine erstaunte Geste entschlüpfen; es ist der Feind.« »Du wirst mich hören,« sagte Lucien.

Carlos verbarg sich in einem anstoßenden Zimmer, und durch die Türspalte sah er Corentin eintreten, den er nur an der Stimme erkannte, in solchem Grade besaß dieser unbekannte große Mann die Gabe der Verwandlung. In diesem Augenblick glich Corentin einem alten Abteilungschef im Finanzministerium.

»Ich habe nicht die Ehre, Ihnen bekannt zu sein,« sagte Corentin, »aber . . .« »Entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie unterbreche,« sagte Lucien, »aber . . .« »Aber es handelt sich um Ihre Heirat mit Fräulein Klotilde von Grandlieu, die nicht zustande kommen wird,« sagte Corentin jetzt lebhaft.

Lucien setzte sich und erwiderte nichts.

»Sie sind in der Hand eines Menschen, der die Macht, den Willen und die Gelegenheit hat, dem Herzog von Grandlieu zu beweisen, daß die Ländereien von Rubempré mit dem Gelde bezahlt werden, das Ihnen ein Dummkopf für Ihre Geliebte Fräulein Esther bezahlt hat.« sagte Corentin. Und er fuhr fort: »Man wird leicht die Protokolle der Urteile finden, kraft deren Fräulein Esther verfolgt wurde, und man hat Mittel, um d'Estourny zum Reden zu bringen. Die äußerst geschickten Manöver, die man gegen den Baron von Nucingen angewandt hat, werden ans Licht gezogen werden . . . In diesem Augenblick läßt sich noch alles regeln. Geben Sie die Summe von hunderttausend Franken her, und Sie haben Frieden . . . Mich geht das Ganze nichts an; ich bin nur der Beauftragte derer, die sich zu dieser Erpressung hergeben, weiter nichts.«

Corentin hätte eine Stunde weiterreden können; Lucien rauchte mit vollkommen gleichgültiger Miene seine Zigarette. »Herr,« erwiderte er, »ich will nicht wissen, wer Sie sind; denn Leute, die derartige Aufträge übernehmen, haben überhaupt keinen Namen, wenigstens nicht für mich. Ich habe Sie ruhig ausreden lassen: ich bin zu Hause. Sie scheinen mir nicht jeden Verstandes bar; hören Sie genau zu, in welchem Dilemma ich mich befinde.«

Es entstand eine Pause, während derer Lucien den Katzenaugen, die Corentin auf ihn heftete, mit einem eiskalten Blick begegnete.

»Entweder stützen Sie sich auf völlig falsche Tatsachen, die ich in keiner Weise zu beachten brauche,« fuhr Lucien fort; »oder Sie haben recht, und dann lasse ich Ihnen, wenn ich die hunderttausend Franken hergebe, die Möglichkeit offen, mir genau so oft hunderttausend Franken abzufordern, wie Ihr Auftraggeber einen Saint-Estéve findet, den er mir schicken kann . . . Um aber Ihrer ehrenwerten Unterhandlung mit einem Schlag ein Ende zu machen, so erfahren Sie, daß ich, Lucien von Rubempré, niemanden fürchte. Ich habe mit den Machenschaften, von denen Sie reden, nicht das geringste zu tun. Wenn das Haus Grandlieu Schwierigkeiten macht, so gibt es andere sehr adlige junge Mädchen, die man heiraten kann; schließlich ist es mir auch nicht zuwider, Junggeselle zu bleiben, zumal wenn ich, wie Sie glauben, mit solchem Nutzen Menschenhandel treibe.« »Wenn der Herr Abbé Carlos Herrera . . .« »Herr,« sagte Lucien, indem er Corentin unterbrach, »der Abbé Carlos Herrera ist augenblicklich auf dem Wege nach Spanien. Er hat nichts mit meiner Heirat zu tun, und meine Interessen gehen ihn nichts an. Dieser Staatsmann ist freilich so freundlich gewesen, mir seit langem mit seinem Rate zur Seite zu stehen, aber er hat Seiner Majestät dem König von Spanien Rechenschaft abzulegen; wenn Sie mit ihm zu plaudern haben, so rate ich Ihnen, sich nach Madrid auf den Weg zu machen.« »Herr,« sagte Corentin scharf, »Sie werden nie der Gatte des Fräuleins Klotilde von Grandlieu werden.« »Um so schlimmer für sie,« erwiderte Lucien, indem er Corentin ungeduldig zur Tür drängte. »Haben Sie das wohl überlegt?« fragte Corentin kühl. »Herr, ich erkenne Ihnen weder das Recht zu, sich in meine Angelegenheiten einzumischen, noch mir eine Zigarette zu verderben,« sagte Lucien, indem er seine erloschene Zigarette wegwarf. »Adieu,« sagte Corentin, »wir werden uns nicht wiedersehen . . . Aber es wird in Ihrem Leben sicherlich ein Augenblick kommen, in dem Sie die Hälfte Ihres Vermögens dafür geben würden, wenn Ihnen jetzt der Gedanke gekommen wäre, mich noch auf der Treppe zurückzurufen.«

Als Antwort auf diese Drohung machte Carlos die Geste des Kopfabschneidens. »Jetzt an die Arbeit!« rief er, indem er Lucien ansah, der nach dieser furchtbaren Unterredung totenbleich geworden war.

Wenn es unter der ziemlich eingeschränkten Anzahl von Lesern, die sich mit der moralischen und philosophischen Seite eines Buches befassen, auch nur einen einzigen gäbe, der imstande wäre, an die Befriedigung des Barons von Nucingen zu glauben, so würde dieser eine beweisen, wie schwer es ist, das Herz einer Dirne irgendwelchen physiologischen Grundsätzen zu unterwerfen. Esther hatte beschlossen, den armen Millionär teuer bezahlen zu lassen, was dieser Millionär den ›Dag saines Driumphes‹ nannte. Daher war denn auch das ›glaine Balais‹ in den ersten Februartagen des Jahres 1830 immer noch nicht eingeweiht. »Aber«, sagte Esther vertraulich zu ihren Freundinnen, die es dem Baron wiederholten, »im Karneval eröffne ich mein Lokal, und ich will meinen Mann glücklich machen wie einen Hahn aus Gips.« Dieses Wort wurde in der Gesellschaft der Dirnen sprichwörtlich.

Der Baron erging sich also in vielen Klagen. Er machte sich lächerlich wie ein Ehemann; er begann vor seinen Freunden zu jammern, und seine Unzufriedenheit wurde stadtkundig. Esther spielte derweilen ihre Rolle einer Pompadour des Fürsten der Spekulation gewissenhaft weiter. Sie hatte schon zwei oder drei kleine Abendgesellschaften gegeben, und zwar einzig, um Lucien bei sich zu sehen, Lousteau, Rastignac, du Tillet, Bixiou, Nathan, der Graf von Brambourg, die Blüte der Lebewelt, wurden zu Stammgästen des Hauses. Zu Schauspielerinnen in dem Stück, das sie spielte, nahm Esther Tullia, Florentine, Fanny Beaupré Florine, zwei Schauspielerinnen und zwei Tänzerinnen und schließlich Frau du Val-Noble an. Nichts ist trauriger als das Haus einer Kurtisane, wenn es das Salz der Rivalität, das Spiel der Toiletten und den Wechsel der Gesichter entbehren muß. In sechs Wochen wurde Esther zur geistreichsten, amüsantesten, schönsten und elegantesten Frau unter den weiblichen Parias, die die Klasse der ausgehaltenen Frauen bilden. Auf ihrem eigentlichen Piedestal kostete sie alle Genüsse der Eitelkeit aus, wie sie gewöhnliche Frauen verführen, aber als ein Wesen, das ein heimlicher Gedanke über seine Kaste erhob. In ihrem Herzen bewahrte sie ein Bild von sich selber, das sie zugleich erröten ließ und dessen sie sich rühmte; stets blieb sie sich der Stunde ihres Entsagens bewußt; und so führte sie ein Doppelleben, damit sie sich selbst bemitleiden konnte. Ihre Sarkasmen schmeckten nach der innern Stimmung, welche die tiefe Verachtung festhielt, die der in der Kurtisane verborgene Engel der Liebe jener gemeinen und verhaßten Rolle entgegenbrachte, die der Körper vor den Augen der Seele spielte. Sie war zugleich Zuschauer und Schauspieler, Richter und Angeklagter, und so machte sie die wundervolle Dichtung arabischer Märchen zur Wahrheit, die fast immer ein erhabenes Wesen in einer entarteten Hülle zeigen und deren Typus sich unter dem Namen Nebukadnezar im Buch der Bücher, in der Bibel, findet. Nachdem sie sich bis zum Tage nach der Untreue das Leben zugesprochen hatte, konnte sie sich als Opfer wohl ein wenig über den Henker lustig machen. Übrigens nahm die Aufklärung über die geheimen, schmählichen Mittel, denen der Baron sein ungeheures Vermögen verdankte, Esther jedes Bedenken; sie gefiel sich darin, die Rolle der Göttin Ate, der Rache, zu spielen, wie Carlos sagte. Daher war sie abwechselnd reizend und abscheulich gegen den Millionär, der nur noch für sie lebte. Wenn das Leiden des Barons dabei einen Grad erreichte, der ihm den Wunsch eingab, Esther zu verlassen, so führte sie ihn durch eine zärtliche Szene zu sich zurück.

Herrera, der seine Abreise nach Spanien zu einer sehr auffälligen gemacht hatte, ging nur bis Tours. Er hatte seinen Wagen bis Bordeaux weitergeschickt, indem er einen Diener darin ließ, der die Rolle des Herrn zu spielen und ihn in Bordeaux in einem Hotel zu erwarten hatte. Dann war er im Kostüm eines Handlungsreisenden umgekehrt, hatte sich heimlich bei Esther einlogiert und leitete von dort durch Asien, durch Europa und Paccard sorgfältig all seine Machenschaften, indem er alles, besonders aber Peyrade überwachte.

Etwa zwei Wochen vor dem für ihr Fest gewählten Tage – es sollte am Abend nach dem ersten Opernball stattfinden – saß die Kurtisane, die ihre Scherze furchtbar zu machen begannen, bei den Italienern tief in ihrer Parterreloge, die der Baron, als er sich gezwungen sah, ihr eine Loge zu mieten, gewählt hatte, um seine Geliebte dort zu verstecken und sich nicht, nur wenige Schritte von Frau von Nucingen entfernt, öffentlich mit ihr zu zeigen. Esther hatte sich ihre Loge so ausgesucht, daß sie die der Frau von Sérizy beobachten konnte; denn Lucien begleitete die Gräfin fast immer. Die arme Kurtisane fand ihr Glück darin, Lucien Dienstags, Donnerstags und Sonnabends an Frau von Sérizys Seite sehen zu können. An diesem Tage nun sah Esther Lucien gegen halb zehn Uhr mit sorgenvoller Stirne, blassem und fast fassungslosem Gesicht in die Loge der Gräfin eintreten. Diese Zeichen innerer Verzweiflung waren nur Esther sichtbar. Eine Frau, die einen Mann liebt, kennt sein Gesicht, wie ein Seemann das offene Meer kennt.

»Mein Gott, was kann er nur haben? . . . Was ist geschehen? Sollte er jenen Höllenengel sprechen müssen, der für ihn ein Schutzengel ist und der in einer Mansarde zwischen der Europas und der Asiens verborgen lebt?«

Mit so grausamen Gedanken beschäftigt, vernahm Esther kaum noch etwas von der Musik. Man kann sich also leicht denken, daß sie dem Baron überhaupt nicht lauschte. Er hielt eine Hand seines Engels zwischen seinen beiden und sprach in seinem polnischen Judenjargon auf sie ein, dessen merkwürdige Silben dem, der sie liest, nicht weniger unangenehm sein werden, als sie dem waren, der sie anhörte.

»Esder,« sagte er, indem er ihre Hand losließ und mit leicht ungehaltener Bewegung zurückstieß, »Sie hören mir nicht ßu!« »Baron, sehen Sie, Sie radebrechen in der Liebe wie in Ihrer Sprache.« »Der Teifel!« »Ich sitze hier nicht in meinem Boudoir, ich sitze in der Italienischen Oper. Wenn Sie nicht eine jener von Huret oder Fichet hergestellten Kassen wären, die durch ein Zauberkunststück der Natur in einen Menschen verwandelt worden ist, würden Sie in der Loge einer Frau, die die Musik liebt, nicht solchen Lärm machen. Ich glaube wohl, daß ich Ihnen nicht zuhöre! Sie rascheln da in meinem Kleid wie ein Maikäfer in einer Tüte, und ich muß vor Mitleid lachen. Sie sagen mir: ›Sie sind hibsch, Sie sind ßum Anpeißen.‹ Alter Geck! Wenn ich nun antwortete: ›Sie mißfallen mir heute weniger als gestern, lassen Sie uns nach Hause gehen?‹ Nun, an der Art, wie Sie mich anseufzen – denn ich höre Ihnen nicht zu, aber ich fühle Sie –, erkenne ich, daß Sie ungeheuer viel gegessen haben; Ihre Verdauung beginnt. Lernen Sie von mir – ich komme Sie ja teuer genug zu stehen, damit ich Ihnen für Ihr Geld von Zeit zu Zeit einen guten Rat geben kann! –, lernen Sie dies, mein Lieber: wenn man wie Sie eine schwierige Verdauung hat, darf man nicht so teilnahmlos und zu ungebührlichen Stunden zu seiner Geliebten sagen: Sie sind hibsch! ›Ein alter Soldat‹, sagt Blondet, ›ist an dieser Geckerei in den Armen der Religion gestorben.‹ Es ist zehn Uhr; um neun haben Sie mit Ihrer Taube, dem Grafen von Brambourg, bei du Tillet gespeist: Sie haben Millionen und Trüffeln zu verdauen; kommen Sie morgen um zehn Uhr wieder vor.«

»Wie krausam Sie sind!« rief der Baron, obwohl er die Richtigkeit dieses medizinischen Einwandes erkannte. »Grausam? . . .« sagte Esther, ohne den Blick von Lucien abzuwenden. »Haben Sie nicht Bianchon, Desplein und den alten Haudry konsultiert? . . . Seit Sie die Morgenröte Ihres Glücks erspähen, wirken Sie auf mich, wissen Sie, wie?« »Wie?« »Wie ein dicker Biedermann, der in Flanell gewickelt ist und jede Stunde von seinem Sessel zum Fenster geht, um nachzusehen, ob das Thermometer auch auf Seidenwurmhitze steht, denn diese Temperatur hat der Arzt ihm verordnet.« »Sie sind aine Undankbare!« rief der Baron voll Verzweiflung, weil er eine Musik hörte, wie verliebte Greise sie in der Italienischen Oper oft genug zu hören bekommen.

»Eine Undankbare!« sagte Esther. »Und was haben Sie mir bis jetzt gegeben? . . . Sehr viel Mißvergnügen. Lassen Sie sehen, Papa, kann ich auf Sie stolz sein? Sie! Sie sind stolz auf mich; ich trage Ihre Tressen und Ihre Livree recht hübsch. Sie haben meine Schulden bezahlt . . . gewiß. Aber Sie haben genug Millionen gemaust – aha! ziehen Sie keinen Mund, Sie haben es mir selber zugegeben –, um es nicht so genau zu nehmen. Das ist Ihr schönster Ruhmestitel . . . Dirne und Dieb, nichts versteht sich besser zusammen. Sie haben einen prachtvollen Käfig gebaut, und zwar für einen Papageien, der Ihnen gefällt . . . Fragen Sie doch einen brasilianischen Ara, ob er dem, der ihn in einen goldenen Käfig gesteckt hat, Dank schuldig ist . . . Sehen Sie mich nicht so an, dann sehen Sie aus wie ein Bonze . . . Sie zeigen Ihren rot und weißen Ara ganz Paris. Sie sagen: ›Gibt es in Paris einen zweiten, der einen solchen Papagei besitzt? Und wie er plappert! Wie gut er seine Worte anbringt! Du Tillet kommt, und er sagt: Guten Tag, kleiner Halunke . . .‹ Aber Sie sind glücklich wie ein Holländer, der eine einzigartige Tulpe besitzt, wie ein ehemaliger Nabob, der von England in Asien pensioniert wurde und dem ein Handlungsreisender die erste Schnupftabaksdose verkauft hat, die drei Ouvertüren spielt. Sie wollen mein Herz? Nun, hören Sie, ich will Ihnen sagen, wie Sie es sich gewinnen können.« »Saken Sie, saken Sie! Ich will alles fier Sie tun . . . Ich lasse mich kern von Ihnen beschwindeln!« »Seien Sie jung, seien Sie schön, seien Sie wie Lucien von Rubempré, der da bei Ihrer Frau sitzt; dann erhalten Sie umsonst, was Sie mit all Ihren Millionen niemals erkaufen können! . . .« »Ich verlasse Sie, denn Sie sind heute apend wirklich abscheilich! . . .« sagte der Luchs, dessen Gesicht sich in die Länge zog.

»Schön; guten Abend,« erwiderte Esther. »Empfehlen Sie Schorsch, das Kopfkissen Ihres Bettes recht hoch zu legen und die Beine ganz niedrig, Sie sehen heute abend sehr nach einem Schlaganfall aus . . . Lieber, Sie können nicht sagen, daß ich mich nicht für Ihre Gesundheit interessiere.«

Der Baron stand da und hielt den Knopf der Tür in der Hand. »Hierher, Nucingen!« sagte Esther, indem sie ihn mit einer hochmütigen Geste zurückrief. Er neigte sich in hündischem Gehorsam zu ihr nieder. »Wollen Sie, daß ich nett zu Ihnen bin und Ihnen heute abend bei mir Zuckerwasser gebe, indem ich Sie hätschle, dickes Ungeheuer? . . .« »Sie prechen mir das Herz . . .« »Ich preche Ihnen das Herz,« erwiderte sie, indem sie sich über die Aussprache des Barons lustig machte. »Lassen Sie sehen, holen Sie mir Lucien, damit ich ihn zu unserm Schmaus einladen kann und sicher bin, daß er nicht wegbleibt. Wenn Ihnen diese kleine Unterhandlung gelingt, so will ich dir so lange sagen, daß ich dich liebe, mein dicker Friedrich, bis du es glaubst . . .« »Sie sind aine Zauperin,« sagte der Baron, indem er Esthers Handschuh küßte. »Ich wäre pereit, aine Schdunde lang Belaidikungen anßuhören, wenn immer ßum Schluß aine Liepgosung gäme . . .« »Vorwärts! Wenn man mir nicht gehorcht, so . . .« sagte sie, indem sie dem Baron mit dem Finger drohte, wie einem Kinde. Der Baron ruckte mit dem Kopf wie ein Vogel, der in einer Falle gefangen ist und den Jäger anfleht.

›Mein Gott! Was hat Lucien nur?‹ fragte sie sich, als sie allein war und ihren Tränen freien Lauf ließ. ›So traurig ist er noch nie gewesen!‹

Lucien war an ebendiesem Abend folgendes begegnet. Um neun Uhr war er wie jeden Abend in seinem Coupé ausgefahren, um sich ins Hotel Grandlieu zu begeben. Da er sein Sattelpferd und das Pferd für sein Kabriolett für den Morgen behielt, so hatte er sich für seine Winterabende ein Coupé genommen, und zwar hatte er sich bei dem ersten Wagenvermieter eins der prachtvollsten mit prachtvollen Pferden ausgesucht, Alles lächelte ihm seit einem Monat: er hatte dreimal im Hotel Grandlieu gespeist; der Herzog war reizend gegen ihn; seine Aktien an dem Omnibusunternehmen, die er zu dreihunderttausend Franken verkauft hatte, erlaubten ihm, wieder ein Drittel des Preises seiner Ländereien zu bezahlen. Klotilde von Grandlieu, die entzückend Toilette machte, hatte zehn Schminktöpfe auf dem Gesicht, wenn er in den Salon trat, und sie gab ihre Leidenschaft für ihn laut zu. Ein paar recht hochgestellte Leute sprachen von der Heirat Luciens und des Fräuleins von Grandlieu wie von etwas Wahrscheinlichem. Der Herzog von Chaulieu, der ehemalige Gesandte in Spanien und der augenblickliche Minister der auswärtigen Angelegenheiten, hatte der Herzogin von Grandlieu versprochen, den König für Lucien um den Marquistitel zu bitten. Lucien war also, nachdem er bei Frau von Sérizy gespeist hatte, auch an diesem Abend in den Faubourg Saint-Germain gefahren, um in der Rue de la Chaussée-d'Antin seinen täglichen Besuch zu machen. Als er ankam, klopfte sein Kutscher am Tor; es tat sich auf, und er fuhr an der Freitreppe vor. Als Lucien aus dem Wagen stieg, sah er drei Equipagen im Hof. Einer der Lakaien, der die Tür des Säulenganges öffnete und schloß, trat, als er Herrn von Rubempré sah, auf die Freitreppe hinaus und stellte sich wie ein Soldat, der seinen Posten wieder einnimmt, vor die Tür.

»Seine Herrlichkeit ist nicht zu Hause!« sagte er. »Die Frau Herzogin empfängt,« bemerkte Lucien. »Die Frau Herzogin ist ausgegangen,« erwiderte der Lakai ernst. »Fräulein Klotilde . . .« »Ich glaube nicht, daß Fräulein Klotilde den Herrn in Abwesenheit der Frau Herzogin empfängt . . .« »Aber es ist Besuch da,« erwiderte Lucien, wie vom Blitz getroffen. »Ich weiß nicht,« gab der Lakai zurück, indem er versuchte, sich zugleich dumm und ehrfurchtsvoll zu stellen.

Für alle, die die Etikette als das furchtbarste Gesetz der Gesellschaft anerkennen, gibt es nichts Schrecklicheres als sie. Lucien erriet den Sinn dieser für ihn vernichtenden Szene gar leicht: der Herzog und die Herzogin wollten ihn nicht empfangen; er fühlte, wie sein Rückenmark in den Ringen seiner Wirbelsäule gefror, und in Perlen trat ihm der kalte Schweiß auf die Stirn. Dieses Gespräch fand in Gegenwart seines eigenen Kammerdieners statt, der den Griff des Wagenschlags in der Hand hielt und ihn zu schließen zögerte. Lucien gab ihm einen Wink, daß er aufbrechen wollte; aber als er wieder einstieg, hörte er das Geräusch, das entsteht, wenn Leute eine Treppe herunterkommen, und der Lakai trat vor, um nacheinander aufzurufen: »Die Leute des Herrn Herzogs von Chaulieu! . . . Die Leute der Frau Vicomtesse von Grandlieu!« Lucien sagte zu seinem Bedienten nur ein einziges Wort: »Schnell zu den Italienern! . . .« Doch trotz seiner Geschwindigkeit konnte der unglückliche Dandy dem Herzog von Chaulieu und seinem Sohn, dem Herzog von Rhétoré, nicht mehr ausweichen; er war gezwungen, einen Gruß mit ihnen zu wechseln, denn sie sprachen kein Wort zu ihm. Bei Hofe vollzieht sich oft eine große Katastrophe, der Sturz eines gefürchteten Günstlings, auf der Schwelle eines Zimmers durch ein Wort des Pförtners mit dem Gipsgesicht.

›Wie soll ich meinen Ratgeber auf der Stelle von diesem Zusammenbruch benachrichtigen?‹ hatte Lucien sich gefragt, als er in die Oper der Italiener fuhr. ›Was geht vor?‹ Er verlor sich in Mutmaßungen.

Vorgegangen war dies. Vormittags um elf Uhr hatte der Herzog von Grandlieu, als er in den kleinen Salon trat, wo man frühstückte, wenn man unter sich war, zu Klotilde gesagt, nachdem er sie geküßt hatte: »Mein Kind, bis auf weiteres denke nicht mehr an den Herrn von Rubempré.« Dann hatte er die Herzogin an der Hand genommen und in eine Fensternische geführt, um ihr mit leiser Stimme ein paar Worte zu sagen, die der armen Klotilde die Farbe benahmen. Fräulein von Grandlieu beobachtete ihre Mutter, als sie dem Herzog zuhörte, und sie erkannte auf ihrem Gesicht lebhafte Überraschung. »Johann,« hatte der Herzog zu einem seiner Diener gesagt, »bringen Sie diesen Brief zum Herrn Herzog von Chaulieu; bitten Sie ihn, Ihnen durch ein Ja oder Nein zu antworten. – Ich lade ihn ein, heute bei uns zu speisen,« sagte er zu seiner Frau.

Das Frühstück war sehr traurig gewesen. Die Herzogin schien nachdenklich, der Herzog schien ärgerlich gegen sich selbst, und Klotilde hatte große Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

»Mein Kind, dein Vater hat recht, sei gehorsam,« hatte die Mutter mit gerührter Stimme zu ihrer Tochter gesagt. »Ich kann dir nicht wie er sagen: Denke nicht mehr an Lucien! Nein, ich verstehe deinen Schmerz.« Klotilde küßte ihrer Mutter die Hand. »Aber ich sage dir dies, mein Engel: Warte, ohne einen einzigen Schritt zu unternehmen, leide schweigend, da du ihn liebst, und vertraue der Fürsorge deiner Eltern! Große Damen, mein Kind, sind groß, weil sie bei allen Gelegenheiten voll Adel ihre Pflicht zu tun verstehen.« »Um was handelt es sich? . . .« hatte Klotilde, bleich wie eine Lilie, gefragt. »Um zu ernste Dinge, als daß wir dir von ihnen sprechen könnten, mein Herz,« hatte die Herzogin erwidert; »denn wenn es nicht wahr wäre, so wären deine Gedanken besudelt, und wenn es wahr ist, darfst du nichts davon erfahren.«

Um sechs Uhr hatte der Herzog von Chaulieu den Herzog von Grandlieu, der ihn erwartete, in seinem Arbeitszimmer aufgesucht.

»Sag, Heinrich . . .« Die beiden Herzöge duzten sich und nannten sich bei ihren Vornamen. Es ist das eine der Nuancen, die man erfunden hat, um die Grade der Vertraulichkeiten abzustufen, um den Ansturm der französischen Familiarität zurückzuschlagen und die Eigenliebe zu demütigen. »Sag, Heinrich, ich bin in so großer Verlegenheit, daß ich nur einen alten Freund um Rat fragen kann, der sich in der Welt auskennt, und du kennst dich aus. Meine Tochter Klotilde liebt, wie du weißt, diesen kleinen Rubempré, den ihr zum Gatten zu versprechen man mich fast gezwungen hat. Ich bin immer gegen diese Heirat gewesen; aber schließlich hat Frau von Grandlieu sich gegen Klotildes Liebe nicht zu wehren verstanden. Als dieser Bursche seinen Besitz zurückgekauft und ihn zu drei Vierteln bezahlt hatte, war meinerseits nichts mehr einzuwenden. Da habe ich nun gestern einen anonymen Brief erhalten – du weißt, wie wenig Wert man auf dergleichen legen kann –, in dem man behauptet, das Vermögen dieses Burschen entstamme einer unsaubern Quelle, und er lüge, wenn er uns sage, seine Schwester gebe ihm die für seine Erwerbung nötigen Summen. Man fordert mich im Namen des Glücks meiner Tochter und des Ansehens unserer Familie auf, Auskünfte einzuziehen, und man gibt mir die Mittel an die Hand, wie ich mir Aufklärung verschaffen könne. Aber lies zunächst einmal.« »Ich teile deine Ansicht über die anonymen Briefe, mein lieber Ferdinand,« hatte der Herzog von Chaulieu erwidert, nachdem er den Brief gelesen hatte; »aber wenn man sie auch verachtet, so muß man sie doch benutzen. Es ist mit diesen Briefen genau wie mit den Spionen. Schließe dem Burschen deine Tür, und wir wollen Auskünfte einholen . . . Schön, ich habe die Sache. Du hast Derville zum Anwalt, einen Mann, zu dem wir volles Vertrauen haben können; er ist im Besitz der Geheimnisse vieler Familien und kann auch dieses noch tragen. Er ist ein redlicher Mann, ein Mann von Bedeutung, ein Mann von Ehre; er ist listig und verschlagen, aber er hat nur die Schlauheit des Geschäftsmannes, und du darfst ihn nur dazu benutzen, ein Zeugnis zu erhalten, auf das du Rücksicht nehmen kannst. Wir haben im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten einen Mann von der politischen Polizei, der in der Kunst, Staatsgeheimnisse zu entdecken, einzig ist. Wir schicken ihn oft in allerlei Missionen aus. Benachrichtige Derville, daß er in dieser Sache eine Hilfskraft haben wird. Unser Spion ist ein ›Herr‹, der sich mit dem Kreuz der Ehrenlegion einstellen wird; er wird den Eindruck eines Diplomaten machen. Dieser Schlingel wird den Jäger spielen, und Derville wird der Jagd ganz einfach beiwohnen. Dein Anwalt wird dir sagen, ob der Berg eine Maus gebiert, oder ob du mit diesem kleinen Rubempré brechen mußt. In acht Tagen weißt du, woran du dich zu halten hast.«

»Der junge Mann ist noch nicht Marquis genug, um Anstoß daran zu nehmen, wenn er mich acht Tage lang nicht zu Hause findet,« sagte der Herzog von Grandlieu. »Vor allem dann nicht, wenn du ihm deine Tochter gibst,« erwiderte der ehemalige Gesandte. »Wenn der anonyme Brief recht hat, was macht dir das aus? Du schickst Klotilde mit meiner Schwiegertochter Magdalene auf Reisen, sie möchte nach Italien . . .« »Du hilfst mir aus der Not, und ich weiß noch nicht, ob ich dir danken soll . . .« »Warten wir den Ausgang ab.« »Ah!« rief der Herzog von Grandlieu, »wie heißt dieser Herr? Ich muß ihn Derville melden . . . Schicke ihn mir morgen gegen vier Uhr her, Derville wird da sein, ich mache die beiden bekannt.« »Der wahre Name«, sagte der ehemalige Gesandte, »ist, glaube ich, Corentin . . . ein Name, den du noch nicht gehört haben wirst, aber wenn der Mensch zu dir kommt, behängt er sich mit seinem Amtsnamen. Er läßt sich Herr von Saint-Soundso nennen . . . Saint-Yves, Sainte-Valère, eins oder das andere. Du kannst dich auf ihn verlassen, Ludwig XVIII. verließ sich völlig auf ihn.«

Nach dieser Unterredung erhielt der Haushofmeister Befehl, Herrn von Rupembré die Tür zu schließen, wie es geschehen war.

Lucien ging im Foyer der Italienischen Oper wie ein Trunkener auf und ab. Er sah sich im Munde von ganz Paris. Er hatte im Herzog von Rhétoré einen jener unerbittlichen Feinde, denen man zulächeln muß, ohne sich an ihnen rächen zu können, denn ihre Ausfälle wahren die Grenzen des Anstandes. Der Herzog von Rhétoré kannte die Szene, die sich soeben auf der Freitreppe des Hotels Grandlieu abgespielt hatte. Lucien, der die Notwendigkeit fühlte, seinen geheimen Ratgeber auf der Stelle von diesem plötzlichen Unheil zu benachrichtigen, fürchtete sich zu kompromittieren, wenn er sich zu Esther begab, bei der er vielleicht Gesellschaft antreffen würde. Er vergaß, daß Esther da war, so verwirrten sich seine Gedanken; und mitten in dieser ganzen Ratlosigkeit mußte er auch noch mit Rastignac plaudern, der von der Neuigkeit noch nichts wußte und ihn zu seiner bevorstehenden Hochzeit beglückwünschte. In diesem Augenblick zeigte Nucingen sich lächelnd und sagte zu Lucien: »Follen Sie mir das Verknüken machen, ßu Frau von Chamby ßu gommen; sie will Sie selbst einladen ßu dem Einwaihungsschmaus . . .« »Gern, Baron,« erwiderte Lucien, dem der Finanzmann wie ein Rettungsengel erschien.

»Lassen Sie uns allein,« sagte Esther zu Herrn von Nucingen, als sie ihn mit Lucien eintreten sah; »suchen Sie Frau du Val-Noble auf, die ich mit ihrem Nabob in einer Loge im dritten Rang sehe . . . Es wachsen viele Nabobs in Indien,« fügte sie hinzu, indem sie Lucien mit einem Blick der Verständigung ansah. »Und der da«, sagte Lucien lächelnd, »sieht dem Ihren furchtbar ähnlich.« »Und«, sagte Esther, indem sie Lucien durch ein neues Zeichen der Verständigung antwortete, während sie zu dem Baron sprach, »führen Sie sie mir mit ihrem Nabob her, er hat große Lust, Ihre Bekanntschaft zu machen; man sagt, er sei ungeheuer reich. Die arme Frau hat mir schon ich weiß nicht wieviel Elegien gesungen, sie beklagt sich, daß der Nabob nicht in Gang kommt; und wenn Sie ihn seines Ballastes beraubten, würde er vielleicht behender werden.« »So halten Sie uns fier Diebe?« sagte der Baron, indem er hinausging.

»Was hast du, mein Lucien? . . .« flüsterte Esther ihrem Freund ins Ohr, indem sie es mit den Lippen berührte, sowie die Tür der Loge sich geschlossen hatte. »Ich bin verloren! Man hat mir eben die Tür des Hotels Grandlieu verboten, und zwar unter dem Vorwand, es sei niemand zu Hause. Der Herzog und die Herzogin waren beide da, und im Hof stampften fünf Equipagen.« »Wie, die Heirat zerschlüge sich?« sagte Esther mit bewegter Stimme, denn sie sah das Paradies. »Ich weiß noch nicht, was sich wider mich anspinnt . . .« »Mein Lucien,« erwiderte sie mit wundervoll schmeichelnder Stimme, »weshalb dich bekümmern? Du wirst später eine noch bessere Ehe schließen . . . Ich werde dir zwei Landsitze verdienen . . .« »Gib heute abend ein Souper, damit ich Carlos heimlich sprechen kann; vor allem aber lade den falschen Engländer und die Val-Noble ein. Dieser Nabob hat mein Unglück verschuldet. Er ist unser Feind, wir haben ihn, und wir . . .« Aber Lucien unterbrach sich mit einer Geste der Verzweiflung. »Nun, was gibt es?« fragte das arme Mädchen, die das Gefühl hatte, als stäke sie in einem Kohlenbecken. »Oh, Frau von Sérizy sieht mich!« rief Lucien aus; »und um das Unglück voll zu machen, ist auch der Herzog von Rhétoré noch bei ihr, einer der Zeugen meines Mißgeschicks.«

Wirklich spielte in diesem Augenblick der Herzog von Rhétoré mit dem Schmerz der Gräfin von Sérizy.

»Sie erlauben, daß Lucien sich in der Loge des Fräuleins Esther zeigt?« sagte der junge Herzog, indem er sowohl auf die Loge wie Lucien zeigte. »Da Sie sich für ihn interessieren, sollten Sie ihm sagen, daß man das nicht tut. Man kann bei ihr soupieren, man kann sogar . . . Aber ich wundere mich wirklich nicht mehr darüber, daß die Grandlieus diesem Burschen gegenüber sich abkühlen: ich habe eben gesehen, wie er an der Tür, auf der Freitreppe, abgewiesen wurde . . .« »Diese Mädchen sind sehr gefährlich!« sagte Frau von Sérizy, indem sie ihr Glas auf Esthers Loge richtete. »Ja,« sagte der Herzog, »ebensosehr durch das, was sie können, wie durch das, was sie wollen . . .« »Sie werden ihn ruinieren!« sagte Frau von Sérizy; »denn sie sind, wie man mir gesagt hat, ebenso kostspielig, wenn man sie bezahlt, wie wenn man sie nicht bezahlt.« »Nicht für ihn! . . .« erwiderte der junge Herzog, indem er den Erstaunten spielte. »Statt ihm Geld zu kosten, würden sie ihm im Notfall welches geben; sie laufen ihm alle nach.« Die Gräfin zeigte um den Mund herum ein kleines nervöses Zucken, das man nicht unter die Kategorie ihres Lächelns rechnen konnte.

»Gut,« sagte Esther, »komm um Mitternacht zum Souper. Bringe Blondet und Rastignac mit. Wir müssen doch mindestens zwei amüsante Leute haben, und mehr als neun wollen wir nicht sein.« »Wir müßten ein Mittel finden, Europa durch den Baron holen zu lassen; unter dem Vorwand vielleicht, daß du Asien benachrichtigen mußt; dann kannst du ihr sagen, was mir widerfahren ist, damit Carlos Bescheid weiß, ehe er den Nabob in den Händen hat.« »Das soll geschehen,« sagte Esther.

So sollte Peyrade sich wahrscheinlich, ohne es zu wissen, mit seinem Gegner unter einem Dach zusammenfinden. Der Tiger kam in die Höhle des Löwen, und zwar eines Löwen, der von seinen Wachen begleitet war.

Als Lucien wieder in die Loge der Frau von Sérizy trat, tat sie, statt ihm den Kopf zuzuwenden, statt ihm zuzulächeln und ihr Kleid zu raffen, damit er neben ihr Platz fände, als achtete sie nicht im geringsten auf den, der da eintrat, und fuhr fort, in den Saal hinabzusehen; aber Lucien merkte am Zittern des Glases, daß die Gräfin von einer jener furchtbaren Aufregungen befallen war, durch die unerlaubtes Glück gesühnt wird. Er trat trotzdem vorn in die Loge hinab an ihre Seite und setzte sich in die andere Ecke, indem er zwischen sich und der Gräfin einen schmalen Raum leer ließ; er lehnte sich auf den Logenrand, stützte den rechten Ellbogen auf und legte das Kinn in die behandschuhte Hand; dann wandte er sich ihr in Dreiviertelswendung zu und erwartete ein Wort. Als der Akt halb zu Ende war, hatte die Gräfin noch nichts gesagt und ihn noch nicht einmal angesehen. »Ich weiß nicht,« sagte sie endlich, »weshalb Sie hier sind; Ihr Platz ist in der Loge des Fräuleins Esther . . .« »Ich gehe dorthin,« sagte Lucien und ging hinaus, ohne die Gräfin anzusehen.

»Ah, meine Liebe,« sagte Frau du Val-Noble, als sie mit Peyrade, den der Baron von Nucingen nicht erkannte, in Esthers Loge eintrat, »ich bin entzückt, dir Herrn Samuel Johnson vorstellen zu können; er ist ein großer Bewunderer der Talente des Herrn von Nucingen.« »Wirklich?« fragte Esther, indem sie Peyrade zulächelte. »O yes, sährr,« sagte Peyrade. »Nun, Baron, da haben wir ein Französisch, das dem Ihren etwa so gleicht, wie das der unteren Bretagne dem Burgunds gleicht. Es wird recht amüsant sein, Sie über Geldgeschäfte reden zu hören . . . Wissen Sie, was ich von Ihnen verlange, Herr Nabob, damit Sie mit meinem Baron Bekanntschaft schließen können?« sagte sie lächelnd. »Oh, ich danke ßu Ihnen, Sie werrden mich stellen vor Sir Baronet.« »Ja,« erwiderte sie; »Sie müssen mir das Vergnügen machen, bei mir zu soupieren . . . Es gibt kein stärkeres Bindemittel der Männer als das Wachs der Champagnerflaschen; es besiegelt alle Geschäfte, besonders die, bei denen man hineingelegt wird. Kommen Sie heute abend, Sie werden gute Burschen treffen! – Und was dich angeht, mein kleiner Friedrich,« sagte sie dem Baron ins Ohr, »so nehmen Sie Ihren Wagen, fahren Sie in die Rue Saint-Georges und holen Sie mir Europa; ich muß ihr wegen des Soupers einige Worte sagen . . . Ich habe Lucien eingeladen, er wird zwei Leute von Geist mitbringen. – Wir werden den Engländer zum besten haben,« flüsterte sie Frau du Val-Noble ins Ohr. Peyrade und der Baron ließen die beiden Frauen allein.

»Ah, meine Liebe, wenn du diesen dicken Schlingel je zum besten haben kannst, so hast du Geist,« sagte die Val-Noble. »Wenn es unmöglich wäre, müßtest du ihn mir auf acht Tage borgen,« erwiderte Esther lachend. »Nein, du würdest ihn keinen halben Tag lang behalten,« sagte Frau du Val-Noble; »ich esse ein zu hartes Brot, meine Zähne zerbrechen daran. Ich übernehme es zeit meines Lebens nicht wieder, einen Engländer glücklich zu machen . . . Es sind lauter kalte Egoisten, Schweine im Anzug . . .« »Wie, keine Aufmerksamkeiten?« fragte Esther lächelnd. »Im Gegenteil, meine Liebe, dieses Ungeheuer hat mich noch nicht einmal geduzt.« »In keiner Lage?« fragte Esther. »Der Elende nennt mich immer ›gnädige Frau‹, und er bewahrt selbst in dem Augenblick, in dem alle Männer mehr oder minder nett sind, die größte Kaltblütigkeit. Die Liebe, meiner Treu, das ist für ihn dasselbe, wie wenn er sich rasiert. Er wischt sein Rasiermesser ab, steckt es ins Etui, besieht sich im Spiegel und scheint sich zu sagen: Ich habe mich nicht geschnitten. Dann behandelt er mich mit einer Achtung, die jede Frau wahnsinnig machen könnte. Dieser elende Lord Suppentopf amüsiert sich damit, den armen Theodor halbe Tage lang versteckt in meiner Toilette stehen zu lassen! Kurz, er legt es darauf an, mich in allem zu ärgern. Und geizig . . . Wie Gobseck und Gigonnet zusammengenommen. Er führt mich zu einem Diner und bezahlt nicht einmal den Wagen, der mich nach Hause bringt, wenn ich mir den meinen nicht gerade bestellt habe.« »Und«, fragte Esther, »was gibt er dir für diesen Dienst?« »O, meine Liebe, nichts. Fünfhundert Franken im Monat, und er bezahlt mir den Wagen. Aber was für einen! Einen Wagen, wie man ihn Krämern vermietet, wenn sie an ihrem Hochzeitstag zur Bürgermeisterei, in die Kirche und in die ›Blaue Uhr‹ fahren . . . Er verfolgt mich wie eine Bremse mit seiner Achtung. Wenn ich versuche, einen Nervenanfall zu bekommen oder schlecht gelaunt zu sein, so ärgert er sich nicht einmal und sagt: ›Ich wollen, daß Mylady haben Ihrren kleinen Willen. Nichß ist abscheulicherr – no Gentlemen –, als wenn man ssagt ßu einerr schönen Frrau: Sie sind ein Baumwollballen, eine Warre! Sie haben es ßu tun mit eine Mitglied von Temperence Society und Antislavery . . .‹ Und der Schlingel bleibt blaß, trocken und kühl, indem er mir so zu verstehen gibt, daß er für mich genau so viel Achtung hegt, wie er für einen Neger hegen würde, und daß ihm das nicht aus dem Herzen kommt, sondern seinen Ansichten als Abolitionist entspringt.« »Gemeiner kann man unmöglich sein,« sagte Esther; »aber ich würde ihn ruinieren, diesen Chinesen!« »Ihn ruinieren?« wandte Frau du Val-Noble ein, »da müßte er mich lieben! . . . Aber du selbst würdest keine zwei Heller von ihm verlangen wollen. Er würde dich ernst anhören und dir mit seiner britannischen Förmlichkeit, im Vergleich zu der man Ohrfeigen liebenswürdig finden kann, erwidern: er bezahle dich schon teuer genug, da die Liebe in sseinem arrmen Dasein eine sso gerringe Rrolle spiele!« »Wenn man bedenkt, daß man in unserm Stand solchen Männern begegnen kann! . . .« rief Esther aus. »Ah, meine Liebe, du hast Glück gehabt! . . . Pflege deinen Nucingen gut.« »Aber dein Nabob hat sicher irgendeine Absicht!« »Das hat mir Adele schon gesagt,« erwiderte Frau du Val-Noble. »Dieser Mensch, meine Liebe, wird es sich in den Kopf gesetzt haben, sich den Haß einer Frau zuzuziehen, damit sie ihn in der und der Zeit verabschiedet,« sagte Esther. »Oder er will mit Nucingen Geschäfte machen, und er hat mich genommen, weil er wußte, daß wir befreundet sind; das glaubt Adele,« fuhr Frau du Val-Noble fort. »Deshalb stelle ich ihn dir heute abend vor. Ah, wenn ich Gewisses über seine Pläne wüßte, da würde ich mich hübsch mit dir und Nucingen verständigen.« »Läßt du dich nie hinreißen?« fragte Esther, »sagst du ihm nicht von Zeit zu Zeit die Wahrheit?« »Versuch es nur, dann bist du schlau. Ei, trotz deines Witzes würde er dich mit seinem eisigen Lächeln umbringen. Er würde dir antworten: Ich bin Antislavery, und Sie ssind frrei . . . Du könntest ihm die komischsten Dinge sagen, er würde dich ansehen und erwidern: Very good! Dann würdest du merken, daß du in seinen Augen nicht mehr bist als ein Hanswurst.« »Und Zorn?« »Dasselbe! Es wäre für ihn nur ein Schauspiel. Man könnte ihn links unter der Brust operieren, man würde ihm nicht das geringste zuleide tun; seine Eingeweide müssen aus Weißblech sein. Das habe ich ihm schon gesagt. Er gab mir ganz einfach zur Antwort: Ich bin sehrr ßufrrieden mit dieserr Verranllagung . . . Und immer höflich. Meine Liebe, er trägt Handschuhe auf der Seele . . . Ich will dieses Martyrium noch ein paar Tage ertragen, um meine Neugier zu befriedigen. Sonst hätte ich Mylord schon von Philipp ohrfeigen lassen; er hat im Säbel nicht seinesgleichen. Es bleibt nur das . . .« »Ich wollte es dir gerade sagen!« rief Esther; »aber du solltest dich vorher vergewissern, ob er boxen kann, denn solche alten Engländer, meine Liebe, haben einen Vorrat von Bosheit im Leibe! . . .« »Der da hat keinen Doppelgänger! . . . Nein, wenn du sähest, wie er mich um meine Befehle bittet und fragt, um welche Stunde er sich einstellen darf, um mich zu überraschen – wohl verstanden! –, wobei er seine angeblichen Gentlemansmanieren entfaltet, so würdest du sagen: Die Frau wird angebetet; und keine Frau würde das nicht sagen . . .« »Und man beneidet uns, meine Liebe!« sagte Esther. »Ach ja . . .« rief Frau du Val-Noble aus. »Sieh, wir haben alle in unserm Leben mehr oder minder erfahren, wie wenig man sich aus uns macht; aber, meine Liebe, nie bin ich so grausam, so tief, so völlig von der Brutalität verachtet worden, wie ich von der Achtung dieses dicken Schlauchs voll Portwein verachtet werde. Wenn er betrunken ist, geht er davon, ›um nicht unangenehm ßu werrden‹, sagt er zu Adele, und um nicht zugleich zwei Mächten zu gehorchen: der Frau und dem Wein. Er mißbraucht meinen Fiaker; er fährt öfter darin als ich . . . Oh, wenn wir ihn heute abend unter den Tisch bringen könnten! Aber er trinkt zehn Flaschen und ist erst angeheitert; er hat ein trübes Auge und sieht doch klar.« »Das ist wie bei den Leuten, deren Fenster von außen schmutzig sind,« sagte Esther, »aber von drinnen sehen sie, was draußen vorgeht . . . Ich kenne diese Eigentümlichkeit des Mannes: du Tillet besitzt sie im höchsten Grade.« »Sieh zu, daß du Tillet kommt, und wenn Nucingen und er ihn in einen ihrer Anschläge verwickeln könnten, so wäre ich wenigstens gerächt! . . . Sie müßten ihn an den Bettelstab bringen! Ach, meine Liebe, daß ich einem Heuchler von Protestanten in die Hände fallen mußte! Und das nach diesem armen Falleix, der so komisch war, ein so guter Junge und ein solcher Spötter! . . . Was haben wir gelacht! . . . Man behauptet, die Wechselmakler seien alle dumm . . . Nun, der hat nur einmal keinen Geist gezeigt . . .« »Als er dich ohne einen Heller zurückließ? Da hast du die Unannehmlichkeiten des Vergnügens kennen lernen können.«

Europa steckte, von Herrn von Nucingen geholt, ihren Schlangenkopf durch die Tür, und nachdem sie ein paar Sätze angehört hatte, die ihre Herrin ihr ins Ohr flüsterte, verschwand sie wieder.

Um halb zwölf abends hielten fünf Equipagen vor der Tür der berühmten Kurtisane in der Rue Saint-Georges; es waren die Luciens, der mit Rastignac, Blondet und Bixiou kam, die du Tillets, die des Barons von Nucingen, die des Nabobs und die Florines, die du Tillet geholt hatte. Der dreifache Verschluß der Fenster wurde von den Falten der prachtvollen chinesischen Vorhänge verkleidet. Das Souper sollte um ein Uhr serviert werden, die Kerzen brannten, der kleine Salon und der Speisesaal entfalteten ihren Luxus. Man machte sich auf eine jener Nächte der Ausschweifung gefaßt, denen einzig diese drei Frauen und diese Männer gewachsen waren. Man spielte zunächst, denn man hatte zwei Stunden zu warten.

»Spielen Sie, Mylord?« fragte du Tillet Peyrade. »Ich haben gespielt mit O'Connell, Pitt, Fox, Canning, Lord Brougham, Lord . . .« »Sagen Sie ganz einfach, mit unendlich vielen Lords,« sagte Bixiou. »Lord Fitz-William, Lord Ellenborough, Lord Hertford, Lord . . .« Bixiou sah Peyrade auf die Schuhe und bückte sich. »Was suchst du?« fragte Blondet. »Bei Gott, die Feder, auf die man drücken muß, um die Maschine zum Stillstand zu bringen,« sagte Florine. »Spielen Sie um zwanzig Franken den Point?« fragte Lucien. »Ich spielen um genau ssoviel, wie Sie wwollen verlierren . . .« »Der versteht es,« sagte Esther zu Lucien. »Sie halten ihn alle für einen Engländer!«

Du Tillet, Nucingen, Peyrade und Rastignac setzten sich um einen Whisttisch. Florine, Frau du Val-Noble, Esther, Blondet und Bixiou blieben beim Kamin, um zu plaudern. Lucien vertrieb sich die Zeit, indem er ein Prachtwerk mit Stichen durchblätterte.

»Gnädige Frau, es ist aufgetragen,« sagte Paccard in großartiger Livree.

Peyrade erhielt den Platz links von Florine und rechts von Bixiou, dem Esther empfohlen hatte, den Nabob durch Herausforderungen zu maßlosem Trinken zu reizen. Bixiou besaß die Fähigkeit, unbegrenzt weitertrinken zu können. In seinem ganzen Leben hatte Peyrade solchen Glanz noch nicht gesehen, solche Küche noch nicht gekostet und so hübsche Frauen noch nicht erblickt.

›Heute abend machen sich die tausend Taler bezahlt, die die Val-Noble mich schon gekostet hat‹, dachte er; ›übrigens habe ich ihnen eben tausend Franken abgewonnen.‹ »Das ist ein Beispiel, dem man folgen muß,« rief Frau du Val-Noble ihm zu; sie saß neben Lucien und zeigte ihm mit einer Handbewegung den Prunk des Saales. Esther hatte Lucien neben sich gesetzt, und unter dem Tisch hielt er ihren Fuß zwischen den seinen. »Hören Sie?« sagte die Val-Noble, indem sie Peyrade, der den Blinden spielte, ansah, »so müßten Sie mir ein Haus einrichten! Wenn man mit Millionen aus Indien kommt und mit einem Nucingen Geschäfte machen will, stellt man sich mit ihm auf gleichen Fuß.« »Ich bin of Temperence Society . . .«

»Dann werden Sie hübsch trinken!« sagte Bixiou, »denn Indien ist heiß, lieber Onkel!« Bixiou spielte während des Soupers den Scherz, daß er Peyrade wie einen seiner Onkel behandelte, der aus Indien zurückgekommen wäre.

»Frau ti Fal-Nople hat mir kesagt, Sie hätten Apsichten? . . .« fragte Nucingen, indem er Peyrade prüfend ansah.

»Das wollte ich hören,« sagte du Tillet zu Rastignac, »jetzt radebrechen die beiden zusammen.« »Sie werden sehen, schließlich verständigen sie sich,« sagte Bixiou, der erriet, was du Tillet zu Rastignac gesagt hatte.

»Sir Baronet, ich haben mirr ausgedacht eine kleine Spekuleschun, oh, sährr beqwem . . . sährr, sährr eintrräglich und Nutzen brringend . . .« »Sie sollen sehen,« sagte Blondet zu du Tillet, »er wird nicht eine Minute reden, so taucht auch schon das Parlament und die englische Regierung auf.« »Es ssein in Tscheina . . . mit Opium . . .« »Ja, ich waiß,« sagte Nucingen alsbald wie der Mann, der seinen Handelsglobus kennt; »aber die englische Rekierung hat kemacht aine Aktion, um sich China ßu öffnen fier Obium, und wirde uns nicht erlaupen . . .« »Mit der Regierung ist Nucingen ihm zuvorgekommen,« sagte du Tillet zu Blondet.

»Ah, Sie haben mit Opium gehandelt?« rief Frau du Val-Noble; »jetzt verstehe ich, weshalb Sie so einschläfernd wirken; es ist Ihnen etwas davon im Herzen geblieben . . .« »Sehen Sie!« rief der Baron dem angeblichen Opiumhändler zu, indem er auf Frau du Val-Noble zeigte, »es keht Ihnen wie mir: Millionären kelingt es nie, sich die Liebe der Frauen ßu erferben.« »Ich sein geworrden geliebt sährr und oft, Mylady,« sagte Peyrade. »Immer wegen der Mäßigkeit,« sagte Bixiou, der Peyrade eben seine dritte Flasche Bordeauxwein eingetrichtert hatte und gerade eine Flasche Portwein anbrach. »Oh!« rief Peyrade, »es ist Portuwein aus Ingländ.«

Blondet, du Tillet und Bixiou tauschten ein Lächeln aus. Peyrade hatte die Gabe, alles zu travestieren, selbst den Geist. Es gibt wenig Engländer, die nicht behaupten, Gold und Silber seien in England besser als irgendwo sonst. Die jungen Hähne und die Eier, die aus der Normandie auf den Londoner Markt kommen, ermächtigen die Engländer zu der Versicherung, daß die Londoner Hähnchen und Eier den Parisern, die aus demselben Lande stammen, überlegen sind (very fine!). Esther und Lucien standen sprachlos vor dieser Vollkommenheit des Kostüms, der Sprache und der Verwegenheit. Man trank und aß, während man plauderte und lachte, so viel und so gut, das es vier Uhr morgens wurde. Bixiou glaubte einen jener Siege davongetragen zuhaben, wie Brillat-Savarin sie so lustig schildert. Aber als er seinem Onkel zu trinken einschenkte und vor sich hin sagte: ›Ich habe England besiegt!‹ erwiderte Peyrade dem wilden Spötter mit einem ›Immer zu, mein Bürschchen!‹ das nur Bixiou hörte.

»He, ihr andern! Der ist so wenig Engländer wie ich! . . . Mein Onkel ist Gaskone! . . . Einen andern konnte ich auch nicht haben!« Bixiou war mit Peyrade allein, so daß niemand diese Offenbarung hörte. Peyrade fiel von seinem Stuhl zu Boden. Sofort packte Paccard ihn und trug ihn in eine Mansarde hinauf, wo er in tiefen Schlaf versank.

Um sechs Uhr abends fühlte der Nabob, wie er erwachte, weil man ihm mit einem nassen Tuch das Gesicht abwusch; er lag auf einem schlechten Gurtbett und sah sich von Angesicht zu Angesicht Asien gegenüber; sie war maskiert und trug einen schwarzen Domino.

»Aha, Papa Peyrade, wir wollen abrechnen!« sagte sie. »Wo bin ich? . . .« fragte er, indem er sich umsah. »Hören Sie mich an, das wird Sie ernüchtern,« erwiderte Asien. »Wenn Sie Frau du Val-Noble nicht lieben, so lieben Sie Ihre Tochter, nicht wahr?« »Meine Tochter?« brüllte Peyrade auf. »Ja, Fraulein Lydia . . .« »Und . . .?« »Nun, die ist nicht mehr in der Rue des Moineaux, sie ist entführt.«

Peyrade entschlüpfte ein Seufzer, wie ihn die Soldaten ausstoßen, wenn sie auf dem Schlachtfeld durch eine Verwundung fallen. »Während Sie den Engländer spielten, haben wir Peyrade gespielt. Ihre kleine Lydia glaubte ihrem Vater zu folgen, sie ist in Nummer Sicher . . . Oh, Sie werden sie niemals finden! Wenn Sie nicht wieder gutmachen, was Sie angerichtet haben . . .« »Was? . . .« »Man hat gestern Herrn Lucien von Rubempré an der Tür des Herzogs von Grandlieu abgewiesen. Dieses Ergebnis verdanken wir deinen Intrigen und dem Mann, den du auf uns gehetzt hast. Kein Wort. Höre zu!« sagte Asien, als sie sah, daß Peyrade den Mund auftat. »Deine Tochter«, fuhr sie fort, indem sie durch den Ton, den sie auf jedes Wort legte, den Gedanken Nachdruck gab, »wirst du rein und fleckenlos erst an dem Tage wiedersehen, nachdem Herr Lucien von Rubempré Saint-Thomas d'Aquin als Gatte von Fräulein Klotilde verlassen hat. Wenn Lucien von Rubempré nicht innerhalb von zehn Tagen wieder empfangen wird, wirst zunächst du eines gewaltsamen Todes sterben, ohne daß dich irgend etwas vor dem Schlag bewahren kann, der dir droht . . . Aber wenn du fühlst, daß du geliefert bist, wird man dir, ehe du stirbst, noch Zeit lassen, diesen Gedanken zu denken: ›Meine Tochter ist für den Rest ihrer Tage Prostituierte!‹ Obgleich du dumm genug gewesen bist, diese Beute in unsern Klauen zu lassen, hast du doch noch Geist genug, um über diese Mitteilung unserer Regierung nachzudenken. Belle nicht, sprich kein Wort, wechsle bei Contenson deine Kleidung und geh nach Hause, so wird Katt dir sagen, daß deine kleine Lydia auf deinen Ruf hinuntergegangen ist und nicht mehr gesehen wurde. Wenn du dich beklagst, wenn du einen einzigen Schritt unternimmst, so wird man mit dem beginnen, womit man schließen soll, wie ich dir sagte; deine Tochter ist de Marsay versprochen. Beim Vater Canquoelle darf man keine Redensarten machen oder Handschuhe anziehen, nicht wahr? . . . Geh hinunter und hüte dich, noch einmal in unsere Angelegenheiten einzugreifen.«

Asien ließ Peyrade in einem erbarmungswürdigen Zustand zurück; jedes Wort war ein Keulenschlag gewesen. Der Spion hatte zwei Tränen in den Augen, und zwei weitere Tränen unten an seinen Backen hingen mit ihnen durch feuchte Spuren zusammen. »Man erwartet Herrn Johnson zum Diner,« sagte Europa, indem sie einen Augenblick darauf ihren Kopf zeigte.

Peyrade gab keine Antwort; er ging hinunter, eilte durch die Straßen bis zu einer Droschkenhaltestelle und fuhr zu Contenson, um seine Verkleidung abzulegen; er sagte seinem Helfer kein Wort, verwandelte sich wieder in den Vater Canquoelle und kam um acht Uhr vor seinem Hause an. Mit pochendem Herzen stieg er die Treppen hinauf. Als die Flamländerin ihren Herrn hörte, fragte sie ihn in so naivem Ton: »Nun, wo ist das gnädige Fräulein,« daß der alte Spion sich anlehnen mußte. Der Schlag ging über seine Kräfte. Er trat in die Wohnung seiner Tochter und wurde dort vollends ohnmächtig, als er die Zimmer leer fand und Katts Bericht anhörte; sie erzählte ihm alle Einzelheiten einer Entführung, die ebenso geschickt angelegt war, wie wenn er sie selbst erfunden hätte.

›Vorwärts‹ sagte er bei sich selber, ›ich muß mich beugen, ich werde mich später rächen. Jetzt zu Corentin . . . Das ist das erstemal, daß wir Gegner finden. Corentin wird diesem hübschen Burschen seine Freiheit lassen, und wenn er sich mit Kaiserinnen verheiratete, wenn er will! . . . Ah, ich verstehe, daß meine Tochter ihn auf den ersten Blick liebte . . . Oh, der spanische Priester kennt sich aus! . . . Mut, Papa Peyrade, laß deine Beute aus den Fängen!‹

Der arme Vater war nicht auf den grauenhaften Hieb gefaßt, der seiner wartete. Als er zu Corentin kam, sagte Bruno, der Vertrauensdiener, der Peyrade kannte: »Der Herr ist verreist.« »Auf lange?« »Auf zehn Tage.« »Wohin?« »Das weiß ich nicht.«

›O mein Gott, ich werde stumpfsinnig! Ich frage, wohin . . . Als ob wir es ihnen sagten!‹ dachte er.

Ein paar Stunden vor dem Augenblick, in dem Peyrade in der Mansarde der Rue Saint-Georges geweckt wurde, stellte Corentin, der von seinem Landhaus in Passy gekommen war, sich bei dem Herzog von Grandlieu ein, und zwar im Kostüm eines Kammerdieners in gutem Hause. In einem Knopfloch seines schwarzen Rockes sah man das Band der Ehrenlegion. Er hatte sich das runzlige, bleifarbene Gesicht eines Greises mit gepudertem Haar zurechtgemacht. Seine Augen waren hinter einer Schildpattbrille verborgen. Kurz, er sah aus wie ein alter Bureauchef. Als er seinen Namen – Herr von Saint-Denis – genannt hatte, wurde er in das Arbeitszimmer des Herzogs von Grandlieu geführt, wo er Derville vorfand. Der Anwalt las den Brief, den Corentin selbst einem seiner Agenten, der mit den Schreibarbeiten beauftragten Nummer, diktiert hatte. Der Herzog nahm Corentin beiseite, um ihm auseinanderzusetzen, was Corentin bereits wußte. Herr von Saint-Denis hörte kühl und ehrfurchtsvoll zu, während er sich damit amüsierte, diesen großen Herrn zu studieren und ihn bis ins Tiefste zu durchdringen, dieses ganze Leben ans Licht zu ziehen, das damals und immer vom Whist und den Gedanken an die Größe des Hauses Grandlieu ausgefüllt wurde. Große Herren sind so naiv gegen Niedrigerstehende, daß Corentin in aller Demut nicht sehr viele Fragen zu stellen brauchte, um Unverschämtheiten aus Herrn von Grandlieu hervorsprudeln zu lassen.

»Wenn Sie meinem Rat Gehör schenken wollen,« sagte Corentin zu Derville, nachdem er dem Anwalt förmlich vorgestellt worden war, »so sollten wir noch heute abend nach Angoulême aufbrechen; die Post nach Bordeaux fährt ebenso schnell, wie die Briefpost reitet; der Aufenthalt braucht nicht länger als sechs Stunden zu dauern, um die Auskünfte zu erhalten, die der Herr Herzog wünscht. Genügt es nicht, wenn ich Euer Herrlichkeit recht verstanden habe, daß wir in Erfahrung bringen, ob die Schwester und der Schwager des Herrn von Rubempré ihm zwölfhunderttausend Franken haben geben können? . . .« fragte er, indem er den Herzog ansah. »Vollkommen! So ist es!« erwiderte der Pair von Frankreich. »Wir können in vier Tagen zurück sein,« fuhr Corentin fort, indem er Derville ansah; »so brauchen wir weder der eine noch der andere unsere Geschäfte so lange im Stich zu lassen, daß sie darunter leiden könnten.« »Das war der einzige Einwand, den ich Seiner Herrlichkeit zu machen hatte,« sagte Derville. »Es ist vier Uhr, ich eile nach Hause, um meinem ersten Schreiber ein Wort zu sagen und meinen Reisekoffer zu packen, – und nach dem Essen werde ich um acht . . . Aber werden wir Plätze finden?« fragte er Herrn von Saint-Denis, indem er sich selbst unterbrach. »Ich bürge dafür,« sagte Corentin; »seien Sie um acht Uhr im Hof der Messageries des Hauptbureaus. Wenn es keine Plätze mehr gibt, so werde ich welche frei machen lassen; denn nur so darf man Seine Erlaucht den Herzog von Grandlieu bedienen . . .« »Meine Herren,« sagte der Herzog mit unendlicher Huld, »ich danke Ihnen noch nicht . . .«

Corentin und der Anwalt hielten dieses Wort für eine Verabschiedung, grüßten und gingen. In dem Augenblick, als Peyrade Corentins Diener ausfragte, beobachteten sich Herr von Saint-Denis und Derville gegenseitig, während das Coupé der Post nach Bordeaux, in dem sie Platz gefunden hatten, aus Paris hinausrollte. Am folgenden Morgen wurde Derville, der sich langweilte, zwischen Orleans und Tours gesprächig, und Corentin ließ sich herbei, ihn zu amüsieren, obwohl er seinen Abstand wahrte; er ließ ihn in dem Glauben, daß er der Diplomatie angehörte und durch die Empfehlung des Herzogs von Grandlieu Generalkonsul zu werden hoffte. Zwei Tage nach ihrem Aufbruch machten Corentin und Derville in Mansle halt, und zwar zum großen Staunen des Anwalts, der glaubte, sie führen nach Angoulême.

»Wir werden«, sagte Corentin zu Derville, »in dieser kleinen Stadt sichere Auskünfte über Frau Séchard erhalten.« »So kennen Sie sie?« fragte Derville, der sich wunderte, Corentin so unterrichtet zu finden. »Ich habe den Schaffner zum Schwätzen gebracht, da ich merkte, daß er aus Angoulême ist. Er sagte mir, Frau Séchard wohne in Marsac, und Marsac liegt nur eine Stunde von Mansle entfernt. Ich dachte mir, wir würden hier eher in der Lage sein, die Wahrheit herauszufinden, als in Angoulême.«

›Obendrein‹, dachte Derville, ›bin ich, wie der Herr Herzog mir sagte, nur der Zeuge der Erkundigungen, die dieser Vertrauensmann einholen soll.‹

Die Herberge in Mansle, die sich ›Herberge zum freien Himmel‹ nannte, hatte zum Wirt einen jener fetten, dicken Menschen, die man immer bei der Rückkehr nicht mehr vorzufinden fürchtet und die noch nach zehn Jahren auf der Schwelle ihrer Türe stehen, und zwar mit derselben Fleischmasse, derselben baumwollenen Mütze, derselben Schürze, demselben Messer, denselben fettigen Haaren und demselben dreifachen Kinn; bei allen Romandichtern, angefangen vom unsterblichen Cervantes bis herab zum unsterblichen Walter Scott, bleiben sie sich stereotyp gleich. Bilden sie sich nicht alle was auf ihre Küche ein, haben sie nicht alle alles zum Auftragen bereit, bis sie einem schließlich ein hektisches Hühnchen und mit ranziger Butter bereitetes Gemüse vorsetzen? Alle rühmen einem ihre feinen Weine und zwingen einen, den Landwein des Ortes zu trinken. Aber Corentin hatte seit frühester Jugend gelernt, einem Gastwirt wesentlichere Dinge zu entlocken, als es zweifelhafte Speisen und unechte Weine sind. Daher spielte er denn auch den leicht zu befriedigenden Menschen, der sich ganz auf den geschicktesten Koch von Mansle verließ, wie er sich dem Dicken gegenüber ausdrückte.

»Es wird mir nicht schwer, der beste zu sein: ich bin der einzige,« erwiderte der Wirt. »Servieren Sie uns im Seitenzimmer,« sagte Corentin, indem er Derville mit den Augen einen Wink gab; »und vor allem scheuen Sie sich nicht, Feuer in den Kamin zu tun: es handelt sich darum, uns die Fingerspitzen aufzutauen.« »Warm ist es nicht im Coupé,« sagte Derville.

»Ist es weit von hier nach Marsac?« fragte Corentin die Frau des Wirts, die aus den obern Regionen herabkam, als sie hörte, daß die Post bei ihnen Gäste für die Nacht abgesetzt hatte. »Der Herr geht nach Marsac?« fragte die Wirtin. »Ich weiß nicht,« erwiderte er trocken und obenhin . . . »Ist die Entfernung von hier bis Marsac beträchtlich?« fragte er nochmals, als er der Wirtin Zeit gelassen hatte, sein rotes Band zu erkennen. »Im Wagen ist es eine kleine halbe Stunde,« sagte die Herbergsmutter. »Glauben Sie, daß Herr und Frau Séchard dort auch im Winter anwesend sind?« »Ohne Zweifel; sie leben das ganze Jahr dort . . .« »Es ist fünf Uhr, wir werden sie wohl um neun noch wach finden.« »Oh, bis zehn Uhr ist jeden Abend Gesellschaft da: der Pfarrer, Herr Marron, der Arzt . . .« »Es sind wackere Leute?« fragte Derville. »Oh, die Creme!« erwiderte die Frau des Gastwirts, »rechtschaffene, redliche Leute . . . und nicht ehrgeizig, nein; Herr Séchard ist ja wohlhabend, aber er hätte Millionen haben können nach dem, was man sagt, wenn er sich nicht hätte eine Erfindung wegnehmen lassen, die er gemacht hat, in der Papierfabrikation; jetzt haben die Gebrüder Cointet den Nutzen . . .« »Ach ja, die Gebrüder Cointet!« sagte Corentin.

»Schweig doch!« sagte der Herbergsvater. »Was geht es die Herren an, ob Herr Séchard auf ein Patent für die Papierfabrikation Anspruch hat oder nicht. Die Herren sind keine Papierhändler. – Wenn Sie die Nacht bei mir zu verbringen gedenken – unterm ›freien Himmel‹,« sagte der Herbergsvater, indem er sich an die beiden Reisenden wandte, »so möchte ich bitten, sich einzutragen; hier ist das Buch. Wir haben einen Brigadier, der nichts zu tun hat und seine Zeit damit hinbringt, uns zu belästigen . . .«

»Teufel! Teufel! Ich hielt die Séchards für sehr reich,« sagte Corentin, während Derville seinen Namen und seinen Stand als Anwalt beim erstinstanzlichen Gericht der Seine einschrieb. »Manche«, erwiderte der Wirt, »geben sie für Millionäre aus; aber wer die Zungen am Schwätzen hindern wollte, könnte auch den Fluß am Fließen hindern. Der Vater Séchard hat für zweihunderttausend Franken liegende Güter hinterlassen, wie man so sagt, und das ist schon recht hübsch für einen Mann, der als Arbeiter angefangen hat. Nun, und er hatte vielleicht noch einmal soviel Ersparnisse . . . denn er hat schließlich zehn- bis zwölftausend Franken aus seinem Besitz gezogen. Nun scheint mir, er ist dumm genug gewesen, sein Geld zehn Jahre lang nicht anzulegen, und da stimmts! Aber rechnen Sie dreihunderttausend Franken, wenn er Wucher getrieben hat, wie man argwöhnt, das ist die ganze Geschichte. Fünfhunderttausend ist von einer Million recht weit entfernt. Ich wünsche mir nur den Unterschied zum Vermögen, da wäre ich nicht mehr unter ›freiem Himmel‹.« »Wie?« sagte Corentin, »Herr David Séchard und seine Frau haben nicht zwei oder drei Millionen Vermögen? . . .« »Aber«, rief die Frau des Wirts, »so viel sollen die Herren Cointet besitzen, die ihm seine Erfindung weggenommen haben; er hat von ihnen nicht mehr als zwanzigtausend Franken bekommen . . . Woher sollen denn die ehrlichen Leute Millionen genommen haben? Sie waren recht in Not, solange ihr Vater noch lebte. Wären nicht Kolb, ihr Verwalter, und Frau Kolb gewesen, die ihnen ebenso ergeben ist wie ihr Mann, so wäre es ihnen schwer geworden, auszukommen. Was hatten sie denn von der Verberie? . . . Tausend Taler Rente! . . .«

Corentin nahm Derville beiseite und sagte zu ihm: »In vino veritas! Die Wahrheit findet man in der Kneipe. Ich meinesteils sehe eine Herberge als das eigentliche Zivilstandsregister einer Gegend an; der Notar weiß nicht besser über alles Bescheid, was in einer kleinen Stadt vorgeht, als der Wirt . . . Sehen Sie! Man hält uns für Bekanntschaften der Cointet, Kolb und so weiter. Ein Herbergswirt ist das lebendige Repertoire aller Abenteuer, er leistet, ohne es zu wissen, Polizeidienste. Eine Regierung braucht höchstens zweihundert Spione zu unterhalten, denn in einem Lande wie Frankreich gibt es zehn Millionen ehrlicher Spitzel. Aber wir sind nicht verpflichtet, uns auf diesen Bericht zu verlassen, obwohl man in dieser kleinen Stadt schon etwas von den zwölfhunderttausend Franken wissen müßte, wenn sie verschwunden wären, um die Ländereien von Rubempré zu bezahlen . . . Wir werden nicht lange zu bleiben brauchen . . .« »Ich hoffe es,« sagte Derville. »Der Grund ist dieser,« fuhr Corentin fort. »Ich habe das natürlichste Mittel gefunden, um die Wahrheit aus dem Munde der Gatten Séchard zu hören. Ich rechne damit, daß Sie die kleine List, deren ich mich bedienen werde, um Ihnen einen klaren und zuverlässigen Bericht über ihr Vermögen zu verschaffen, mit Ihrem Ansehen als Anwalt unterstützen werden. – Nach dem Essen werden wir aufbrechen und zu Herrn Séchard fahren,« sagte Corentin zu der Frau des Wirts; »Sie werden dafür sorgen, daß wir Betten bekommen, wir wollen jeder ein eigenes Zimmer. Unterm ›freien Himmel‹ muß doch Platz vorhanden sein.« »Oh,« sagte die Frau, »das Schild haben wir uns erdacht.« »Oh, den Kalauer gibt es in allen Provinzen,« sagte Corentin, »Sie haben da kein Monopol.« »Es ist aufgetragen, meine Herren,« sagte der Wirt.

»Und woher, zum Teufel, soll dieser junge Mann sein Geld genommen haben? . . . Hätte der Anonymus recht, und wäre es das Geld einer schönen Dirne?« fragte Derville Corentin, als sie sich zu Tische setzten. »Ah, das wäre der Gegenstand einer weiteren Untersuchung,« sagte Corentin. »Lucien von Rubempré lebt, wie mir der Herr Herzog von Chaulieu sagte, mit einer getauften Jüdin, die sich als eine Holländerin ausgibt und Esther van Bogseck heißt.« »Welch merkwürdiges Zusammentreffen!« sagte der Anwalt, »ich suche die Erbin eines Holländers namens Gobseck; es ist derselbe Name, nur mit vertauschten Konsonanten . . .« »Nun,« sagte Corentin, »ich werde Ihnen nach meiner Rückkehr Auskünfte über die Abstammung verschaffen.«

Eine Stunde darauf waren die beiden Beauftragten des Hauses Grandlieu nach der Verberie, dem Hause des Herrn und der Frau Séchard, unterwegs. Nie hatte Lucien so tiefe Erregungen erlebt, wie sie ihn ergriffen, als er in der Verberie sein Schicksal mit dem seines Schwagers verglich. Die beiden Pariser sollten jetzt dasselbe Schauspiel vorfinden, das vor wenigen Tagen Lucien getroffen hatte. Dort atmete alles Ruhe und Wohlstand. Zu der Stunde, um die die beiden Fremden eintreffen mußten, saß im Salon der Verberie eine Gesellschaft von vier Personen: der Pfarrer von Marsac, eln junger Priester von fünfundzwanzig Jahren, der auf Frau Séchards Bitte der Lehrer ihres Sohnes Lucien geworden war; der Arzt des Ortes, ein Herr Marron; der Bürgermeister der Gemeinde und ein alter pensionierter Oberst, der auf einem kleinen Besitz der Verberie gegenüber, auf der andern Seite der Straße, Rosen baute. An jedem Winterabend kamen diese Leute, um eln unschuldiges Boston zu einem Centime den Point zu spielen, um die Zeltungen abzuholen oder die, die sie gelesen hatten, zurückzugeben. Als Herr und Frau Séchard die Verberie, ein schönes Kalktuffhaus mit Schieferdach, erstanden, bestand das ganze zugehörige Gelände aus einem Garten von zwei Morgen. Mit der Zeit hatte die schöne Frau Séchard ihren Garten, indem sie ihre Ersparnisse darauf verwandte, bis zu einem kleinen Wasserlauf ausgedehnt; sie hatte die Weinberge, die sie kaufte, geopfert und in Rasen und Büsche verwandelt. In diesem Augenblick galt die Verberie, die von einem ummauerten Park von ungefähr zwanzig Morgen umgeben war, als der bedeutendste Besitz der Gegend. Das Haus des verstorbenen Séchard diente mit seinen Ökonomiegebäuden nur noch für die Ausbeutung von etwa zwanzig Morgen Weinland, die er außer fünf Meiereien mit einem Ertrage von etwa sechstausend Franken und zehn Morgen Weideland auf der andern Seite des Wasserlaufs, dem Park der Verberie gegenüber, hinterlassen hatte; Frau Séchard zählte darauf, dieses Weideland im nächsten Jahr in den Garten mit einzubeziehen. Schon gab man im Orte der Verberie den Namen eines Schlosses, und Eva Séchard nannte man Frau von Marsac. Lucien hatte, als er seine Eitelkeit befriedigen wollte, nur die Land- und Weinbauern nachgeahmt. Courtois, der Besitzer einer Mühle, die einige Büchsenschüsse weit von den Wiesen der Verberie malerisch gelegen war, stand, wie man sagte, mit Frau Séchard wegen dieser Mühle in Unterhandlungen. Diese wahrscheinliche Erwerbung mußte der Verberie vollends das Äußere eines erstklassigen Landguts im Bezirk geben. Frau Séchard, die viel Gutes tat, und zwar mit ebensoviel Unterscheidungsgabe wie Größe, wurde ebensosehr geachtet wie geliebt. Ihre Schönheit, die sich prachtvoll entwickelt hatte, erreichte eben damals ihren Höhepunkt. Obgleich sie schon sechsundzwanzig Jahre alt war, hatte sie die Frische ihrer Jugend bewahrt, da sie die Ruhe und den Überfluß genoß, wie das Landleben sie bietet. In ihren Gatten war sie immer noch verliebt, und sie achtete in ihm den Mann von Talent, der bescheiden genug war, um auf den Lärm des Ruhms zu verzichten; um sie zu schildern, genügt es vielleicht, wenn wir sagen, daß zeit ihres Lebens ihr Herz keinen Schlag getan hatte, der nicht ihren Kindern oder ihrem Gatten gegolten hätte. Der Zoll, den diese Familie dem Unglück zahlte, man errät es schon, bestand in dem tiefen Kummer über Luciens Leben, in dem Eva Séchard Geheimnisse ahnte, die sie um so mehr fürchtete, als Lucien während seines letzten Besuches jede Frage seiner Schwester kurz abgeschnitten hatte, indem er ihr sagte, die Ehrgeizigen seien über ihre Mittel und Wege nur sich selber Rechenschaft schuldig. In sechs Jahren hatte Lucien seine Schwester dreimal gesehen, und er hatte ihr nicht mehr als sechs Briefe geschrieben. Seinen ersten Besuch in der Verberie hatte er gelegentlich des Todes seiner Mutter gemacht; der letzte hatte die Bitte um den Dienst jener für seine Politik so notwendigen Lüge zum Zweck gehabt. Diese Bitte wurde unter Herrn und Frau Séchard und Lucien zum Gegenstand einer ziemlich ernsten Szene, die im Herzen dieses ruhigen und edlen Daseins grausame Zweifel zurückließ.

Das Innere des Hauses, das ebensosehr verwandelt war wie das Äußere, machte, ohne Luxus zu zeigen, einen behaglichen Eindruck. Man wird es nach einem flüchtigen Blick auf den Salon, wo sich in diesem Augenblick die Gesellschaft befand, beurteilen können. Ein hübscher Teppich aus Aubusson, Vorhänge aus grauem Baumwollköper, besetzt mit grünseidenen Borten, Malereien mit Motiven aus den Wäldern von Spaa, eine Möbelgarnitur aus geschnitztem Mahagoni, bezogen mit grauem Kaschmir, auf dem grüne Posamenten saßen, und Blumentische, die trotz der Jahreszeit voller Blumen standen, ergaben einen dem Auge wohltuenden Gesamteindruck. Die grünseidenen Fenstergardinen, die Kaminverzierung und die Spiegelrahmen waren frei von jenem falschen Geschmack, der in der Provinz alles verdirbt; und schließlich gaben die geringsten Einzelheiten in ihrer Eleganz und Sauberkeit der Seele und dem Blick Ruhe, und zwar durch jene Poesie, die eine liebende und geistvolle Frau in ihren Haushalt einführen kann und soll.

Frau Séchard, die noch ihres Vaters wegen Trauerkleidung trug, war am Kamin mit einer Stickereiarbeit beschäftigt, wobei Frau Kolb, die Haushälterin, auf die sie sich in allen Einzelheiten der Verwaltung des Hauses verließ, ihr half. In dem Augenblick, in dem der Wagen die ersten Häuser von Marsac erreichte, gesellte sich zu dem gewohnten Kreis der Verberie noch Courtois, der Müller, der seine Frau verloren hatte und sich vom Geschäft zurückziehen wollte; er hoffte, seinen Besitz, auf den Eva Wert zu legen schien – und Courtois wußte warum –, gut zu verkaufen.

»Da hält ein Wagen!« sagte Courtois, als er an der Tür das Geräusch von Rädern hörte; »und nach dem Eisen kann man annehmen, daß er aus der Gegend ist . . .« »Es wird ohne Zweifel Postel mit seiner Frau sein, die uns aufsuchen;« sagte der Arzt. »Nein,« sagte Courtois, »der Wagen kommt von Mansle her.« »Gnädige Frau,« sagte Kolb, der große und dicke Elsässer, den wir kennen (siehe ›Verlorene Illusionen‹), »hier ist ain Anwalt aus Baris, der den Herrn ßu sprechen winscht.«

»Ein Anwalt? . . .« rief Séchard. »Das Wort verursacht mir Bauchweh.« »Danke,« sagte der Bürgermeister von Marsac, der Cachan hieß und zwanzig Jahre lang in Angoulême Anwalt gewesen war; er hatte ehedem den Auftrag gehabt, Séchard zu verfolgen. »Mein armer David wird sich nicht ändern, er wird immer zerstreut sein!« sagte Eva lächelnd. »Ein Pariser Anwalt?« sagte Courtois. »So haben Sie in Paris Geschäfte?« »Nein,« sagte Eva. »Sie haben einen Bruder dort,« bemerkte Courtois. »Wenn es sich nur nicht um den Nachlaß des Vaters Séchard handelt,« sagte Cachan. »Der gute Mann hat verdächtige Geschichten gemacht! . . .«

Als Corentin und Derville eintraten, baten sie, nachdem sie die Gesellschaft begrüßt und ihre Namen genannt hatten, Frau Séchard und ihren Gatten unter vier Augen sprechen zu dürfen. »Gern,« sagte Séchard; »aber handelt es sich um Geschäfte?« »Einzig um den Nachlaß Ihres Herrn Vaters,« erwiderte Corentin. »So erlauben Sie, daß der Herr Bürgermeister, ein ehemaliger Anwalt von Angoulême, der Unterredung beiwohnt,« »Sie sind Herr Derville? . . .« sagte Cachan, indem er Corentin ansah. »Nein, das ist der Herr hier,« erwiderte Corentin, indem er auf den Anwalt zeigte, der grüßte.

»Aber,« sagte Séchard, »wir sind in der Familie, wir haben vor unsern Nachbarn kein Geheimnis, wir brauchen nicht erst in mein Arbeitszimmer zu gehen, dort ist nicht geheizt . . . Unser Leben liegt vor aller Augen . . .« »Das Ihres Herrn Vaters«, sagte Corentin, »barg einige Geheimnisse, die bekanntzumachen Ihnen vielleicht nicht angenehm wäre.« »Ist es denn etwas, wovor wir erröten müßten? . . .« fragte Eva beängstigt. »O nein, es ist eine Jugendsünde,« sagte Corentin, indem er mit größter Kaltblütigkeit eine seiner tausend Mausefallen aufstellte. »Ihr Herr Vater hat Ihnen einen älteren Bruder gegeben . . .« »O, der alte Drucker!« rief Courtois. »Er liebte Sie nicht gerade, Herr Séchard, und das hat er Ihnen aufgespart, der Duckmäuser! . . . Ah, ich verstehe jetzt, was er meinte, als er zu mir sagte: ›Sie werden schöne Geschichten erleben, wenn ich begraben bin!‹« »Oh, beruhigen Sie sich,« sagte Corentin zu Séchard, indem er Eva mit einem Seitenblick studierte. »Einen Bruder!« rief der Arzt; »aber da wird ja der Nachlaß geteilt!«

Derville tat, als besähe er sich die schönen Stiche, die auf den Wandfüllungen des Salons hingen.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau,« wiederholte Corentin, als er die Überraschung wahrnahm, die Frau Séchards schönes Gesicht zum Ausdruck brachte, »es handelt sich nur um ein natürliches Kind. Die Rechte eines natürlichen Kindes sind nicht die eines ehelichen. Dieses Kind ist im tiefsten Elend; es hat Anspruch auf eine Summe, die sich nach der Höhe der Erbschaft richtet. Die Millionen, die Ihr Herr Vater hinterlassen hat . . .«

Bei diesem Wort ›Millionen‹ erhob sich im Salon ein einmütiger Schrei. Jetzt prüfte Derville nicht mehr die Stiche.

»Der Vater Séchard Millionen? . . .« sagte der dicke Courtois. »Wer hat Ihnen das gesagt? Irgendein Bauer . . .« »Herr,« sagte Cachan, »Sie gehören nicht zum Fiskus, und also kann man Ihnen sagen, wie es steht . . .« »Seien Sie ganz ruhig,« erwiderte Corentin, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich kein Fiskalbeamter bin.« Cachan, der allen einen Wink gegeben hatte, daß man schweigen sollte, hatte unwillkürlich eine zufriedene Geste gemacht. »Und wäre es auch nur eine Million,« fuhr Corentin fort, »so wäre der Anteil des natürlichen Sohnes noch eine schöne Summe. Wir kommen nicht, um einen Prozeß zu beginnen, wir kommen vielmehr, um Ihnen vorzuschlagen, daß Sie uns hunderttausend Franken geben, und dann fahren wir nach Hause . . .« »Hunderttausend Franken!« rief Cachan, indem er Corentin unterbrach; »aber der Vater Séchard hat zwanzig Morgen Weinland, fünf kleine Meierhöfe, zehn Morgen Wiesen und im übrigen keinen Heller hinterlassen!«

»Um nichts in der Welt«, rief David Séchard, indem er dazwischen trat, »möchte ich eine Lüge sagen, Herr Cachan, und noch weniger in Gelddingen als in andern . . .« Er wandte sich zu Derville und Corentin: »Mein Vater hat uns außer den liegenden Gütern . . .« Courtois und Cachan mochten Séchard noch so sehr winken, er fuhr fort: ». . . dreihunderttausend Franken hinterlassen, so daß die Hinterlassenschaft sich auf etwa fünfmalhunderttausend Franken beläuft.« »Herr Cachan,« sagte Eva Séchard, »welchen Anteil gibt das Gesetz dem natürlichen Sohn?« »Gnädige Frau,« sagte Corentin, »wir sind keine Türken, wir bitten Sie nur, uns vor diesen Herren zu beschwören, daß Sie aus der Erbschaft Ihres Schwiegervaters nicht mehr als hunderttausend Taler in bar erhalten haben, und wir werden uns verständigen.«

»Geben Sie zunächst Ihr Ehrenwort,« sagte der ehemalige Anwalt aus Angoulême zu Derville, »daß Sie Anwalt sind.« »Hier ist mein Paß,« erwiderte Derville, indem er Cachan ein viermal gefaltetes Papier hinreichte; »und der Herr hier ist nicht, wie Sie glauben könnten, ein Generalinspektor des Fiskus; beruhigen Sie sich. Wir hatten nur ein schwerwiegendes Interesse daran, die Wahrheit über den Nachlaß Séchards zu erfahren, und wir wissen sie nun . . .«

Derville nahm Frau Eva bei der Hand und führte sie sehr höflich in den Hintergrund des Salons. »Gnädige Frau,« sagte er mit leiser Stimme, »wenn nicht die Ehre und die Zukunft des Hauses Grandlieu an dieser Frage interessiert wären, hätte ich mich nicht zu dieser Kriegslist hergegeben, die dieser dekorierte Herr erfunden hat; aber Sie werden ihn entschuldigen, es handelt sich darum, die Lüge aufzudecken, mit deren Hilfe Ihr Herr Bruder diese hohe Familie hintergangen hat. Hüten Sie sich jetzt, etwa den Glauben zu erwecken, als hätten Sie Ihrem Herrn Bruder zwölfhunderttausend Franken gegeben, um die Ländereien von Rubempré zu kaufen . . .« »Zwölfmalhunderttausend Franken!« rief Frau Séchard erbleichend. »Und woher hat er sie genommen, der Unglückliche?« »Ach« sagte Derville, »ich fürchte, die Quelle dieses Vermögens wird recht unsauber sein.«

Eva hatte Tränen in den Augen, die ihre Nachbarn bemerkten. »Wir haben Ihnen vielleicht einen großen Dienst geleistet,« sagte Derville zu ihr, »indem wir Sie hinderten, sich an einer Lüge zu beteiligen, deren Folgen sehr gefährlich sein könnten.«

Derville verließ Frau Séchard, die bleich und mit Tränen auf den Wangen dasaß, und grüßte die Gesellschaft. »Nach Mansle!« sagte Corentin zu dem Burschen, der den Wagen fuhr.

Die Post von Bordeaux nach Paris, die nachts durchkam, hatte einen freien Platz: Derville bat Corentin, ihm zu erlauben, daß er ihn benutzte, indem er seine Geschäfte vorwandte; aber im Grunde mißtraute er seinem Reisegefährten, dessen diplomatische Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit ihm gewohnheitsmäßig zu sein schienen. Corentin mußte drei Tage in Mansle bleiben, da er keine Gelegenheit zur Reise fand; er mußte erst nach Bordeaux schreiben, um einen Platz zu belegen, und erst neun Tage nach seinem Aufbruch konnte er nach Paris zurückkehren.

Während dieser Zeit ging Peyrade jeden Tag, sei es in Passy, sei es in Paris, in Corentins Haus, um nachzusehen, ob er zurückgekehrt wäre. Am achten Tage ließ er in beiden Wohnungen einen Brief zurück, der in Chiffern geschrieben war; er setzte seinem Freund auseinander, welche Todesart ihm drohte, wie Lydia entführt worden war, und welches grauenhafte Schicksal seine Feinde ihm zugedachten. Peyrade, der hier angegriffen wurde, wie bisher nur er angegriffen hatte, blieb, von Corentin im Stich gelassen, aber von Contenson unterstützt, darum nicht minder in seinem Nabobskostüm. Hatten seine unsichtbaren Feinde ihn auch entdeckt, so dachte er doch verständigerweise einige Aufklärungen erlangen zu können, wenn er auf dem Schlachtfeld blieb. Contenson hatte all seine Bekanntschaften auf Lydias Spur geschickt, er hoffte das Haus zu entdecken, in dem sie verborgen war; aber von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde steigerte die Unmöglichkeit, irgend etwas zu erfahren, die immer deutlicher ersichtlich wurde, Peyrades Verzweiflung. Der alte Spion ließ sich von einer Garde umgeben, die aus den zwölf oder fünfzehn geschicktesten Agenten bestand. Man überwachte die Umgebung der Rue des Moineaux und der Rue Taitbout, wo er als Nabob bei Frau du Val-Noble lebte. Während der drei letzten Tage der verhängnisvollen Frist, die Asien ihm gewährt hatte, um Lucien auf dem alten Fuß im Hotel Grandlieu wieder Eingang zu verschaffen, verließ Contenson den Veteranen des alten Generalpolizeiamtes nicht. So tauchte die Angst, welche die Listen feindlicher Stämme im Herzen der amerikanischen Wälder verbreiten und aus denen Cooper so viel Vorteil gezogen hat, die kleinsten Einzelheiten des Pariser Lebens in ihre Poesie. Die Vorübergehenden, die Läden, die Wagen, irgendeine Person, die an einem Fenster stand, all das bot den menschlichen Nummern, denen die Verteidigung des alten Peyrade, für den es sich um sein Leben handelte, anvertraut war, das ungeheure Interesse, das in Coopers Romanen ein Baumstamm, ein Biberbau, ein Fels, die Haut eines Bisons, ein regungsloses Boot und eine Laubkrone über dem Wasser bieten.

»Wenn der Spanier fort ist, haben Sie nichts zu fürchten,« sagte Contenson zu Peyrade, indem er ihn auf die tiefe Ruhe aufmerksam machte, deren sie genossen. »Und wenn er nicht fort ist?« erwiderte Peyrade. »Er hat einen meiner Leute hinter seiner Kalesche mitgenommen, aber der Mann war in Blois gezwungen, abzusteigen, und konnte dann den Wagen nicht wieder einholen.«

Fünf Tage nach Dervilles Rückkehr empfing Lucien eines Morgens Rastignacs Besuch. »Mein Lieber,« sagte der zu ihm, »ich bin in Verzweiflung, weil man mir wegen unserer intimen Bekanntschaft eine Verhandlung anvertraut hat. Deine Heirat ist dir abgeschnitten, ohne daß du hoffen kannst, sie je wieder anzuknüpfen. Setze keinen Fuß mehr ins Hotel Grandlieu. Um Klotilde zu heiraten, mußt du den Tod ihres Vaters abwarten, und er ist zu sehr Egoist geworden, um bald zu sterben. Die alten Whistspieler sitzen lange an ihrem Tisch. Klotilde wird mit Magdalene von Lenoncourt nach Italien reisen. Das arme Mädchen liebt dich so sehr, mein Lieber, daß man sie hat überwachen müssen; sie wollte dich besuchen, sie hatte ihren kleinen Fluchtplan fertig . . . Das ist ein Trost in deinem Unglück.«

Lucien erwiderte nichts; er sah Rastignac an. »Ist es schließlich ein Unglück? . . .« fuhr sein Landsmann fort; »du wirst leicht ein anderes, ebenso vornehmes Mädchen finden, das schöner ist als Klotilde! . . . Frau von Sérizy wird dich aus Rache verheiraten; sie hat die Grandlieus nie leiden können, denn sie haben sie nie empfangen wollen; sie hat eine Nichte, die kleine Clementia du Rouvre . . .« »Mein Lieber,« erwiderte Lucien endlich, »seit unserem letzten Souper stehe ich mich nicht gut mit Frau von Sérizy; sie hat mich in Esthers Loge gesehen, sie hat mir eine Szene gemacht, und ich habe mich nicht dagegen gewehrt.« »Eine Frau von mehr als vierzig Jahren überwirft sich nicht auf lange mit einem so schönen jungen Menschen, wie du es bist,« entgegnete Rastignac. »Ich kenne diese Sonnenuntergänge ein wenig! . . . Am Horizont dauert das zehn Minuten, im Herzen einer Frau zehn Jahre.« »Ich erwarte jetzt seit acht Tagen einen Brief von ihr.« »Geh hin.« »Nun wird es wohl nötig sein.« »Kommst du wenigstens zur Val-Noble? Ihr Nabob erwidert Nucingens Souper.« »Ich bin eingeladen und werde kommen,« sagte Lucien mit ernster Stimme.

Am Tage nach der Bestätigung seines Unglücks, über das Asien Carlos sofort berichtete, begab sich Lucien mit Rastignac und Nucingen zu dem falschen Nabob.

Um Mitternacht vereinigte Esthers ehemaliger Speisesaal fast alle Persönlichkeiten dieses Dramas, dessen unter dem Bett dieser gießbachähnlichen Existenzen verstecktes Interesse nur Esther, Lucien, Peyrade, dem Mulatten Contenson und Paccard bekannt war, welch letzterer kam, um seine Herrin zu bedienen. Asien war, ohne daß Peyrade und Contenson etwas davon wußten, von Frau du Val-Noble gebeten worden, ihrer Köchin zu Hilfe zu kommen. Als man sich zu Tische setzte, fand Peyrade, der Frau du Val-Noble fünfhundert Franken gegeben hatte, damit sie ihre Sache gut machen konnte, in seiner Serviette einen kleinen Zettel, auf dem er diese mit Bleistift geschriebenen Worte las: ›Die zehn Tage laufen in dem Augenblick ab, in dem Sie sich zu Tische setzen.‹ Peyrade reichte Contenson, der hinter ihm stand, das Papier und sagte auf englisch: »Hast du da meinen Namen hineingesteckt?«

Contenson las dieses Menetekel beim Kerzenlicht und steckte das Papier in die Tasche; aber er wußte wohl, wie schwer es ist, eine Bleistiftschrift zu identifizieren, zumal wenn der ganze Satz in Majuskeln geschrieben ist, das heißt mit sozusagen mathematischen Linien, denn die großen Buchstaben bestehen einzig aus Kurven und Geraden, in denen man die Gewohnheiten der Hand unmöglich erkennen kann, wie in der sogenannten Kursivschrift.

Es war ein Souper ohne Heiterkeit, Peyrade war sichtlich geistesabwesend. Von den jungen Lebemännern, die ein Souper zu erheitern verstanden, waren nur Lucien und Rastignac da. Lucien war traurig und nachdenklich. Rastignac hatte vor dem Souper zweitausend Franken verloren und aß und trank mit dem Gedanken, sie nach dem Souper wieder einzubringen. Die drei Frauen, denen diese Kühle auffiel, sahen sich an. Die Langweile beraubte die Speisen ihres Wohlgeschmacks. Es geht mit den Soupers wie mit den Theaterstücken und Büchern, sie haben ihre Schicksale.

Am Schluß des Soupers trug man Eis mit Früchten auf. Jedermann weiß, daß da auf dem Eis kleine, sehr feine eingemachte Früchte liegen; das Ganze wird in Gläsern serviert, ohne nach pyramidalem Aufbau zu streben. Dieses Eis hatte Frau du Val-Noble bei Tortoni bestellt, dessen berühmter Laden an der Ecke der Rue Taitbout und des Boulevards liegt. Die Köchin ließ den Mulatten rufen, um die Rechnung des Eishändlers zu bezahlen, Contenson, dem die Forderung des Burschen ungewöhnlich vorkam, eilte hinunter und fuhr ihn mit diesen Worten an: »Sind Sie denn nicht von Tortoni? . . .« Und er sprang auf der Stelle wieder hinauf.

Aber Paccard hatte diese Abwesenheit bereits benutzt, um das Eis unter die Gäste zu verteilen. Kaum erreichte der Mulatte die Tür der Wohnung, so rief einer der Agenten, die die Rue des Moineaux überwachten, die Treppe hinauf: »Nummer siebenundzwanzig.« »Was gibt es?« erwiderte Contenson, indem er mit großer Geschwindigkeit von neuem hinabeilte. »Sagen Sie dem Papa, daß seine Tochter nach Hause gekommen ist; aber in welchem Zustand, großer Gott! Er soll kommen, sie stirbt!«

In dem Augenblick, als Contenson in den Speisesaal trat, schluckte der alte Peyrade, der übrigens viel getrunken hatte, die kleine Kirsche hinunter, die oben auf seinem Eis gelegen hatte. Man brachte Frau du Val-Nobles Gesundheit aus; der Nabob füllte sein Glas mit sogenanntem Kapwein und leerte es. So sehr Contenson auch die Nachricht, die er Peyrade geben sollte, verwirrte, so fiel ihm doch, als er eintrat, auf, mit welcher Spannung Paccard den Nabob ansah. Die beiden Augen des Dieners der Frau von Champy glichen zwei starren Flammen. Diese Beobachtung durfte jedoch trotz ihrer Wichtigkeit den Mulatten nicht aufhalten, und er neigte sich zu seinem Herrn hinab, als Peyrade gerade sein leeres Glas wieder auf den Tisch stellte.

»Lydia ist zu Hause,« sagte Contenson, »und zwar in recht traurigem Zustande.« Peyrade stieß den französischsten aller französischen Flüche aus, und noch dazu in so ausgesprochen südländischem Ton, daß auf den Gesichtern der Gäste das tiefste Erstaunen erschien. Als er seinen Fehler bemerkte, gestand Peyrade seine Verkleidung ein, indem er Contenson in gutem Französisch zurief: »Schnell einen Wagen! . . . Ich räume das Feld.«

Jedermann stand vom Tische auf. »Wer sind Sie denn?« rief Lucien. »Cha!« sagte der Baron. »Bixiou hatte behauptet, Sie spielten den Engländer besser als er, und ich wollte es nicht glauben,« sagte Rastignac. »Das ist irgendein entdeckter Bankrotteur,« sagte du Tillet mit lauter Stimme; »ich hatte es doch geahnt! . . .«

»Was für eine merkwürdige Stadt Paris ist! . . .« sagte Frau du Val-Noble. »Ein Kaufmann, der in seinem Quartier Bankrott gemacht hat, taucht im selben Quartier ungestraft als Nabob und auf den Champs Elysées als Dandy auf! . . . Oh, ich habe Unglück, das Fallissement ist mein Ungeziefer!« »Man sagt, alle Blumen hätten ihr Ungeziefer,« sagte Escher ruhig; »meins gleicht dem der Kleopatra, der Natter.«

»Was ich bin? . . .« sagte Peyrade an der Tür. »Ah, das sollen Sie erfahren! Denn wenn ich sterbe, so werde ich aus meinem Grabe kommen und Sie jede Nacht an den Beinen ziehen!« Bei diesen letzten Worten sah er Esther und Lucien an, dann benutzte er das allgemeine Staunen, um mit äußerster Behendigkeit zu verschwinden, da er nach Hause laufen wollte, ohne auf den Fiaker zu warten.

Auf der Straße hielt Asien, die in einen Umhang gehüllt war, wie ihn damals die Frauen trugen, wenn sie vom Ball kamen, den Spion auf der Schwelle der Einfahrt am Arm zurück.

»Schicke nach den Sakramenten, Papa Peyrade,« sagte sie mit jener Stimme, die ihm das Unglück schon prophezeit hatte. Ein Wagen stand bereit, Asien sprang hinein und verschwand, als hätte der Wind sie entführt. Es waren fünf Wagen vorhanden; Peyrades Leute konnten nichts erfahren –

Als Corentin in sein Landhaus kam – es lag an einer der verstecktesten und lachendsten Stellen der kleinen Stadt Passy, in der Rue des Vignes, wo man ihn für einen Kaufmann hielt, den die Leidenschaft der Gärtnerei verzehrte –, fand er die Chiffern seines Freundes Peyrade. Statt sich auszuruhen, stieg er sofort wieder in den Wagen, der ihn hinausgefahren hatte, und ließ sich in die Rue des Moineaux bringen, wo er nur Katt vorfand. Er erfuhr von der Flamländerin, wie Lydia verschwunden war, und er erstaunte darüber, daß er und Peyrade einen solchen Mangel an Voraussicht gezeigt hatten. ›Sie kennen mich noch nicht,‹ sagte er bei sich selber. ›Diese Leute sind zu allem fähig; ich muß erfahre, ob sie Peyrade umbringen; denn dann werde ich mich nicht mehr zeigen . . .‹

Je ehrloser das Leben eines Menschen ist, um so mehr hängt er daran; es ist dann gleichsam ein Protest, eine Rache, die unablässig wirkt. Corentin eilte hinunter und nach Hause, um sich in einen kleinen leidenden Greis mit grünlichem Rock und Queckenperücke zu verkleiden. Dann kehrte er, getrieben von seiner Freundschaft für Peyrade, zu Fuß zurück. Er wollte seinen ergebensten und gewandtesten Nummern Befehle erteilen. Als er die Rue Saint-Honoré entlang ging, um von der Place Vendôme aus in die Rue Saint-Roche einbiegen zu können, kam er hinter ein Mädchen in Pantoffeln, das gekleidet war, wie eine Frau sich für die Nacht anzieht. Das Mädchen, das eine weiße Nachtjacke und auf dem Kopf eine Nachthaube trug, stieß von Zeit zu Zeit ein Schluchzen aus, das von unwillkürlichen Klagen unterbrochen wurde; Corentin ging einige Schritte an ihr vorbei und erkannte Lydia.

»Ich bin der Freund Ihres Vaters, des Herrn Canquoelle,« sagte er mit seiner natürlichen Stimme. »Ah, einer, dem ich vertrauen kann! . . .« sagte sie. »Lassen Sie sich nicht merken, daß Sie mich kennen,« fuhr Corentin fort, »denn wir werden von grausamen Feinden verfolgt und sind gezwungen, uns zu verkleiden. Aber erzählen Sie mir, was Ihnen geschehen ist . . .« »Oh,« sagte das arme Mädchen, »das sagt man und erzählt es nicht . . . Ich bin entehrt und verloren, ohne daß ich mir erklären kann, wie . . .« »Woher kommen Sie?« »Ich weiß es nicht. Ich bin in solcher Hast entsprungen; ich bin durch so viel Straßen und Umwege gelaufen, weil ich glaubte, ich würde verfolgt . . . Und wenn ich einem anständigen Menschen begegnete, fragte ich ihn nach dem Weg zu den Boulevards, um in die Rue de la Paix zu kommen. Und als ich schließlich . . . Wie spät ist es?« »Halb zwölf!« sagte Corentin. »Ich bin mit Einbruch der Nacht fortgelaufen, ich bin also fünf Stunden unterwegs! . . .« rief Lydia.

»Kommen Sie, Sie sollen sich ausruhen, Sie werden Ihre gute Katt finden . . .« »Oh, für mich gibt es keine Ruhe mehr! Ich will keine andere Ruhe mehr als die des Grabes! Und ich will sie in einem Kloster erwarten, wenn man mich der Aufnahme für würdig hält . . .« »Arme Kleine! Sie haben lange Widerstand geleistet?« »Ja. Wenn Sie wüßten, unter was für verworfene Geschöpfe man mich gebracht hat . . .« »Man hat Sie ohne Zweifel eingeschläfert?« »Ach, das ist es!« sagte die arme Lydia. »Noch ein wenig Kraft, und ich erreiche das Haus. Ich fühle, daß ich schwach werde, und meine Gedanken sind nicht sehr klar . . . Eben glaubte ich, ich wäre in einem Garten . . .«

Corentin nahm Lydia auf die Arme, in denen sie ohnmächtig wurde, und trug sie die Treppe hinauf. »Katt!« rief er. Katt erschien und stieß einen Freudenruf aus. »Freuen Sie sich nicht übereilt!« sagte Corentin sentenziös; »das junge Mädchen ist sehr krank.«

Als Lydia auf ihr Bett gelegt worden war, als sie beim Licht zweier Kerzen, die Katt entzündet hatte, ihr Zimmer erkannte, befiel sie das Delirium. Sie sang zu anmutigen Melodien Ritornelle und wiederholte dann gewisse scheußliche Worte, die sie gehört hatte. Ihr schönes Gesicht war mit violetten Tönen marmoriert. Sie mischte die Erinnerungen ihres so reinen Lebens unter die dieser zehn Tage der Gemeinheit. Katt weinte. Corentin ging im Zimmer auf und ab, indem er von Zeit zu Zeit stehen blieb, um Lydia anzusehen.

»Sie zahlt für ihren Vater!« sagte er. »Sollte es eine Vorsehung geben? Oh, wie recht hatte ich, als ich keine Familie haben wollte . . . Ein Kind, auf Ehre, das ist, ich weiß nicht welcher Philosoph es sagt, ein Unterpfand, das man dem Unglück gibt! . . .«

»Oh,« sagte das arme Kind, indem es sich aufsetzte und seine schönen Haare herabrollen ließ, »statt hier zu liegen, Katt, sollte ich auf dem Boden der Seine im Sande liegen . . .« »Katt, statt zu weinen und Ihr Kind anzustarren, denn davon wird sie nicht gesund, sollten Sie einen Arzt holen, den vom Stadthaus zunächst, und dann die Herren Desplein und Bianchon . . . Wir müssen dieses unschuldige Geschöpf retten . . .« Und Corentin schrieb die Adressen der beiden berühmten Doktoren auf.

In diesem Augenblick stieg ein Mensch die Treppe hinauf, dem alle Stufen vertraut waren; die Tür tat sich auf, und in Schweiß, mit violettem Gesicht, mit fast blutigen Augen, keuchend wie ein Delphin, sprang Peyrade in Lydias Zimmer und schrie: »Wo ist meine Tochter?«

Er sah eine traurige Geste Corentins; Peyrades Blick folgte der Geste. Man kann Lydias Zustand nur mit dem einer Blume vergleichen, die ein Liebhaber liebevoll gepflegt hat, die von ihrem Stengel gefallen ist und die der eisenbeschlagene Schuh eines Bauern zertrat. Man übertrage dieses Bild in das Herz eines Vaters, und man wird begreifen, welchen Schlag Peyrade erhielt; dicke Tränen traten ihm in die Augen.

»Es weint jemand: das ist mein Vater,« sagte das Kind. Lydia konnte ihren Vater noch erkennen; sie hob sich auf und warf sich dem Greis vor die Füße, als er eben in einen Sessel sank. »Vergib, Vater! . . .« sagte sie mit einer Stimme, die Peyrade in ebendem Augenblick ins Herz drang, als er etwas wie einen Keulenschlag auf dem Schädel fühlte. »Ich sterbe . . . Ach! die Schufte! . . .« Das war sein letztes Wort.

Corentin wollte seinen Freund stützen; er hörte nur seinen letzten Seufzer. ›Tod durch Gift! . . .‹ sagte Corentin bei sich selber. »Ah, da kommt der Arzt,« rief er, als er das Geräusch eines Wagens hörte.

Contenson, der, nachdem er sich seiner Mulattenfarbe entledigt hatte, eintrat, blieb wie in Bronze verwandelt stehen, als er Lydia sagen hörte: »Du vergibst mir nicht, Vater? . . . Es ist nicht meine Schuld!«

Sie merkte nicht, daß ihr Vater tot war. »Oh, was für Augen er mir macht!« sagte die arme Irre.

»Wir müssen sie ihm zudrücken,« sagte Contenson, indem er Peyrade aufs Bett trug. »Wir machen eine Dummheit,« sagte Corentin, »wir müssen ihn in seine Wohnung hinübertragen, seine Tochter ist halb wahnsinnig; sie würde es ganz werden, wenn sie seinen Tod bemerkte, sie würde glauben, sie hätte ihn getötet.« Als Lydia ihren Vater forttragen sah, blieb sie stumpfsinnig stehen.

»Da liegt mein einziger Freund! . . .« sagte Corentin; er schien bewegt, als Peyrade in seinem Zimmer auf dem Bett ausgestreckt lag. »Er hatte in seinem ganzen Leben nur einen habsüchtigen Gedanken, und der galt seiner Tochter! . . . Laß dir das als Beispiel dienen, Contenson. Jeder Stand hat seine Ehre. Peyrade hat unrecht daran getan, sich in Privatdinge einzumischen; wir durften uns nur mit öffentlichen Angelegenheiten befassen. Aber was auch geschehen mag, ich schwöre,« sagte er mit einem Ton, einem Blick und einer Geste, die Contenson mit Entsetzen erfüllten, »meinen armen Peyrade zu rächen! Ich werde die Urheber seines Todes und der Schande seiner Tochter entdecken! . . . Und bei meinem eigenen Egoismus, bei den wenigen Tagen, die mir noch bleiben und die ich für diese Rache aufs Spiel setze, all diese Leute da sollen ihr Leben um vier Uhr morgens, in voller Gesundheit, um ihren Kopf verkürzt, auf dem Richtplatz beschließen!« »Und ich werde Ihnen dabei helfen!« sagte Contenson bewegt.

Nichts ist an erregender Wirkung mit dem Schauspiel der Leidenschaft bei einem kühlen, beherrschten, methodischen Menschen zu vergleichen, an dem seit zwanzig Jahren niemand die geringste Gefühlsregung wahrgenommen hatte. Es ist die Eisenstange, die schmilzt und alles, was ihr in den Weg kommt, zum Schmelzen bringt. Contenson fühlte einen Aufruhr in seinem Innersten. »Der arme Vater Canquoelle!« sagte er mit einem Blick auf Corentin; »er hat mich oft bewirtet . . . Und sehen Sie – so etwas versteht nur ein lasterhafter Mensch –, er hat mir oft zehn Franken gegeben, damit ich zum Spiel gehen konnte . . .«

Nach dieser Leichenrede begaben sich die beiden Rächer Peyrades zu Lydia hinüber, da sie Katt und den Arzt der Bürgermeisterei auf der Treppe hörten.

»Geh zum Polizeikommissar,« sagte Corentin, »der Staatsanwalt würde hier nicht die Grundlage zu einer Verfolgung finden; aber wir werden einen Bericht bei der Präfektur einreichen, das kann vielleicht zu etwas dienen. – Herr Doktor,« sagte er zu dem Arzt des Bürgermeisteramtes, »Sie werden in diesem Zimmer einen Toten finden. Ich halte seinen Tod nicht für einen natürlichen; Sie werden die Obduktion in Gegenwart des Herrn Polizeikommissars vornehmen, der auf meine Bitte gleich kommen wird. Versuchen Sie, die Spuren des Giftes zu finden; übrigens werden Ihnen in wenigen Augenblicken die Herren Desplein und Bianchon zu Hilfe kommen, die ich berufen habe, um die Tochter meines besten Freundes zu untersuchen; sie ist in schlimmerem Zustand als ihr Vater, obgleich er tot ist . . .«

»Ich brauche diese Herren nicht,« sagte der Amtsarzt, »um zu tun, was meines Amtes ist . . .« ›Ah, gut!‹ dachte Corentin. »Lassen Sie uns daran keinen Anstoß nehmen, Herr Doktor,« fuhr er laut fort. »Dies ist in Kürze meine Meinung: die, die den Vater getötet haben, haben auch die Tochter entehrt.«

Als es Tag geworden, war Lydia schließlich ihrer Ermattung erlegen; sie schlief, als der berühmte Chirurg mit dem jungen Arzt eintraf. Der Totenarzt hatte inzwischen Peyrades Leib geöffnet und suchte nach der Todesursache.

»Würden Sie,« sagte Corentin zu den beiden berühmten Ärzten, »bis man die Kranke geweckt hat, einem Ihrer Kollegen bei einer Feststellung helfen, die sicherlich Interesse für Sie hat? Und Ihre Ansicht wird im Protokoll gleichfalls nicht überflüssig sein.«

»Ihr Verwandter ist am Schlag gestorben,« sagte der Arzt, »es sind Beweise eines furchtbaren Blutandranges zum Gehirn vorhanden . . .« »Prüfen Sie, meine Herren,« sagte Corentin, »und sehen Sie zu, ob es nicht in der Toxikologie Gifte gibt, die dieselbe Wirkung haben.« »Der Magen«, sagte der Arzt, »war absolut voll von Speisen; aber wenn man die Spuren nicht auf chemischem Wege findet, sehe ich keinerlei Anzeichen von Gift.« »Wenn die Symptome des Blutandrangs zum Gehirn richtig festgestellt sind, so haben wir hier in Anbetracht des Alters der Person eine ausreichende Todesursache,« sagte Desplein, indem er auf die ungeheure Menge von Speisen zeigte.

»Hat er das hier gegessen?« fragte Bianchon. »Nein,« sagte Corentin, »er ist vom Boulevard rasch hierher geeilt und hat seine Tochter vergewaltigt vorgefunden . . .« »Das ist das wahre Gift, wenn er seine Tochter liebte,« sagte Bianchon.

»Welches wäre das Gift, das diese Wirkung haben würde?« fragte Corentin, ohne seinen Gedanken aufzugeben. »Es gibt nur eins,« sagte Desplein, nachdem er alles sorgfältig untersucht hatte; »es ist ein Gift vom Sunda-Archipel; es wird noch wenig bekannten Kräutern entnommen, die zur Gattung der Strychnos gehören und dazu dienen, jene gefährlichen Waffen, die malaiischen Kris, zu vergiften . . . Wenigstens sagt man es . . .«

Der Polizeikommissar kam; Corentin teilte ihm seinen Verdacht mit und bat ihn, einen Bericht abzufassen, indem er ihm sagte, in welchem Hause und mit welchen Leuten er gespeist hatte; dann weihte er ihn in das Komplott gegen Peyrades Leben und in die Ursachen des Zustandes ein, in dem Lydia sich befand. Corentin ging in die Zimmer des armen Mädchens hinüber, wo Desplein und Bianchon die Kranke untersuchten; er traf sie jedoch schon auf der Schwelle der Tür.

»Nun, meine Herren?« fragte Corentin. »Bringen Sie das Mädchen in ein Spital. Wenn sie ihre Vernunft nicht bei der Niederkunft zurückerlangt, falls sie überhaupt schwanger wird, so wird sie ihr Leben als Geistesschwache beschließen. Für die Heilung gibt es kein anderes Mittel als das Muttergefühl wenn es erwacht . . .«

Corentin gab jedem der beiden Ärzte zwanzig Franken in Gold und wandte sich dann zu dem Polizeikommissar, der ihn am Ärmel zog.

»Der Arzt behauptet, es sei ein natürlicher Tod,« sagte der Beamte, »und ich kann um so weniger einen Bericht einreichen, als es sich um den Vater Canquoelle handelt; er mischte sich in viele Angelegenheiten, und wir würden niemals wissen, an wen wir geraten . . . Solche Leute sterben oft auf Befehl . . .« »Ich heiße Corentin,« sagte Corentin dem Polizeikommissar ins Ohr. Dem Kommissar entschlüpfte eine Bewegung der Überraschung. »Setzen Sie also eine Notiz auf; sie wird später sehr nützlich sein,« fuhr Corentin fort, »und schicken Sie sie nur als vertrauliche Auskunft ein. Das Verbrechen ist nicht zu erweisen, und ich weiß, daß eine Untersuchung beim ersten Schritt niedergeschlagen würde . . . Aber ich werde die Schuldigen eines Tages einliefern; ich werde sie überwachen und auf frischer Tat ertappen.« Der Polizeikommissar grüßte Corentin und ging.

»Gnädiger Herr,« sagte Katt, »das Fräulein singt und tanzt nur noch; was soll ich beginnen? . . .« »Ist denn noch etwas hinzugetreten?« »Sie hat gemerkt, daß ihr Vater gestorben war . . .« »Setzen Sie sie in einen Wagen und bringen Sie sie ganz einfach nach Charenton. Ich werde dem Generalpolizeidirektor des Königreichs einige Worte schreiben, damit sie gut untergebracht wird. Die Tochter in Charenton, der Vater im Massengrab!« sagte Corentin. »Contenson, bestelle den Armenwagen . . . Jetzt wir beide, Carlos Herrera! . . .« »Carlos?« sagte Contenson, »der ist in Spanien.« »Er ist in Paris,« sagte Corentin bestimmt. »Da haben wir das spanische Genie aus der Zeit Philipps II., aber ich habe Fallen für jedermann, selbst für Könige.«

Fünf Tage nach dem Verschwinden des Nabobs saß Frau du Val-Noble um neun Uhr morgens am Kopfende von Esthers Bett und weinte, denn sie fühlte, daß sie sich auf der schiefen Ebene des Elends befand. »Wenn ich wenigstens hundert Louisdor Rente hätte! Damit, meine Liebe, zieht man sich in irgendeine kleine Stadt zurück und findet einen, der einen heiratet . . .« »Ich kann sie dir verschaffen,« sagte Esther. »Und wie?« rief Frau du Val-Noble. »Oh, auf ganz natürliche Weise. Nehmen wir an, du wolltest dich vergiften, spiele diese Komödie gut: du läßt Asien kommen und versprichst ihr zehntausend Franken für zwei schwarze Perlen aus sehr dünnem Glas, in denen sich ein Gift befindet, das in einer Sekunde tötet; du bringst sie mir, ich gebe dir fünfzigtausend Franken dafür . . .« »Weshalb verlangst du sie nicht selbst?« fragte Frau du Val-Noble. »Asien würde sie mir nicht verkaufen.« »Es ist nicht für dich? . . .« fragte Frau du Val-Noble. »Vielleicht.« »Du, die du inmitten der Freude, des Luxus und in einem eigenen Hause lebst! Kurz vor einem Fest, von dem man noch zehn Jahre reden wird und das Nucingen zwanzigtausend Franken kostet! Man soll, sagt man, im Februar Erdbeeren, Spargel, Trauben und Melonen essen . . . Es sollen für tausend Taler Blumen in den Zimmern sein!« »Was sagst du? Für tausend Taler Rosen sind allein auf der Treppe!« »Man sagt, deine Toilette koste zehntausend Franken?« »Ja, mein Kleid ist aus Brüsseler Spitzen, und Delphine, seine Frau, ist wütend. Aber ich wollte die Kleidung einer Braut haben.« »Wo sind die zehntausend Franken?« fragte Frau du Val-Noble. »Es ist mein ganzes Kleingeld,« sagte Esther lächelnd. »Öffne meinen Putztisch, sie liegen in meinem Wickelpapier . . .« »Wenn man vom Sterben spricht, begeht man kaum Selbstmord,« sagte Frau du Val-Noble; »wenn es wäre, um . . .« »Ein Verbrechen zu begehen? Geh!« sagte Esther, indem sie den Gedanken ihrer Freundin, die zögerte, aussprach. »Du kannst ruhig sein,« fuhr sie fort, »ich will niemanden töten. Ich hatte eine Freundin, eine sehr glückliche Frau, sie ist gestorben, ich werde ihr folgen . . . Das ist alles.« »Bist du dumm! . . .« »Was willst du? Wir hatten es uns versprochen.« »Den Wechsel laß dir protestieren,« sagte die Freundin lächelnd. »Tu, was ich dir sage, und geh. Ich höre einen Wagen kommen; es ist Nucingen, ein Mensch, der vor Glück wahnsinnig werden wird! Er liebt mich . . . Weshalb lieben wir nicht die, die uns lieben, denn schließlich tun sie alles, um uns zu gefallen.« »Ah,« sagte Frau du Val-Noble, »das ist die Geschichte des Herings, der der intrigenreichste aller Fische ist.« »Weshalb?« »Nun, man hat es nie in Erfahrung bringen können.« »Aber geh doch, mein Liebchen, ich muß um deine fünfzigtausend Franken bitten.« »Also, adieu.«

Seit drei Tagen hatte Esthers Wesen gegenüber dem Baron eine vollständige Wandlung erfahren. Der Affe war zur Katze geworden und die Katze zur Frau. Esther goß Schätze der Herzlichkeit über diesen Greis aus, sie zeigte sich reizend. Ihre Reden, die jeder Bosheit und jeder Bitterkeit bar waren und von zärtlichen Schmeicheleien überströmten, hatten den schwerfälligen Bankier mit der Überzeugung erfüllt, er sei geliebt, denn sie nannte ihn sogar Fritz.

»Mein armer Fritz,« sagte sie, »ich habe dich schwer geprüft, ich habe dich recht gefoltert; du bist wundervoll gewesen in deiner Geduld, du liebst mich, ich sehe es, und ich will dich belohnen. Du gefällst mir jetzt; ich weiß nicht, wie es gekommen ist, aber ich würde dich jetzt einem jungen Manne vorziehen. Vielleicht ist es die Wirkung der Erfahrung. Auf die Dauer merkt man schließlich, daß das Vergnügen das Vermögen der Seele ist, und es ist nicht schmeichelhafter, um des Vergnügens willen geliebt zu werden, als um seines Geldes willen . . . Und dann sind die jungen Leute zu egoistisch, sie denken mehr an sich als an uns, während du, du nur an mich denkst. Ich bin dein ganzes Leben. Deshalb will ich auch nichts mehr von dir; ich will dir beweisen, wie uneigennützig ich bin.« »Ich hab Ihnen noch nix kekeben,« erwiderte der entzückte Baron; »ich kedenke Ihnen morgen traißigtausend Franken Rende ßu bringen . . . Das ist main Hochßaitskeschenk.« Esther küßte Nucingen so reizend, daß er auch ohne Pillen erblaßte. »Oh,« sagte sie, »glauben Sie nicht, ich wäre der dreißigtausend Franken Rente wegen so; nur weil ich dich jetzt . . . liebe, mein dicker Friedrich! . . .« »O, main Kott, weshalb haben Sie mich keprieft . . . ich wäre kewesen so klücklich seit drai Monaden . . .« »Sind sie zu drei oder fünf Prozent, mein Liebling?« fragte Esther, indem sie Nucingen mit der Hand in die Haare fuhr und sie nach ihrer Laune ordnete. »Szu drai . . . Ich hadde Mengen davon.«

Der Baron brachte also an diesem Morgen die Staatsschuldscheine; er kam, um mit seinem lieben kleinen Mädchen zu frühstücken und ihre Befehle für den folgenden Tag, den berühmten Sonnabend, den großen Tag, entgegenzunehmen. »Ta, maine glaine Frau, maine ainßige Frau,« sagte der Bankier, dessen Gesicht von Glück strahlte, freudig, »da haben Sie kenug, um fier den Rest Ihrer Dage die Güchenrechnung ßu peßahlen . . .«

Esther nahm die Papiere ohne die geringste Erregung, faltete sie zusammen und legte sie in ihren Putztisch. »Nun sind Sie froh, Sie ungerechtes Ungeheuer,« sagte sie, indem sie Nucingen einen leichten Schlag auf die Wange versetzte, »daß ich endlich etwas von Ihnen annehme. Ich kann Ihnen nicht mehr die Wahrheit sagen, denn ich teile die Frucht dessen, was Sie Ihre Arbeit nennen . . . Das ist kein Geschenk, mein armer Bursche, es ist eine Rückzahlung . . . Kommen Sie, setzen Sie nicht Ihre Börsenmiene auf. Du weißt doch, daß ich dich liebe.« »Maine schöne Esder, main Liebesengel,« sagte der Bankier, »schbrechen Sie nicht mehr so mit mir . . . Sehen Sie . . . es wäre mir ekal, wenn mich auch die ganße Felt fier ainen Dieb hielte, wenn ich nur in Ihren Auken ain ehrlicher Mann bin . . . Ich liebe Sie immer mehr.«

»Das ist mein Plan,« sagte Esther. »Deshalb werde ich dir auch nie wieder etwas sagen, was dir Kummer macht, mein Elefantenliebchen, denn du bist naiv geworden wie ein Kind . . . Bei Gott, alter Verbrecher, du hast niemals Unschuld gekannt; die, die du mitbekommen hast, als du zur Welt kamst, mußte doch irgendwann einmal wieder an die Oberfläche steigen; aber sie war so tief versunken, daß sie erst nach siebzig Jahren wieder hoch gekommen ist . . . herausbefördert vom Angelhaken der Liebe . . . Diese Erscheinung kommt vor bei Greisen . . . Und deshalb mußte ich dich schließlich lieben, du bist jung, sehr jung . . . Nur ich bins, die wird sagen können, daß ich diesen Friedrich gekannt habe . . . nur ich! . . . Denn du warst schon mit fünfzehn Jahren Bankier . . . Auf der Schule, da mußt du deinen Kameraden eine Spielkugel geborgt haben unter der Bedingung, daß sie dir zwei dafür wiedergäben . . .« Sie sprang ihm auf die Knie, als sie ihn lachen sah. »Also mach, was du willst! Mein Gott! plündere die Menschen . . . Komm, ich will dir helfen. Die Menschen lohnen die Mühe nicht, daß man sie liebt. Napoleon tötete sie wie die Fliegen. Ob nun die Franzosen dir oder dem Fiskus Steuern zahlen, was macht ihnen das aus? . . . Den Fiskus liebt man nicht, und meiner Treu . . . sieh, ich habe es mir genau überlegt, du hast recht . . . schere die Schafe, das steht nach Béranger im Evangelium . . . Umarme deine ›Esder‹ . . . Ah, sag doch, du wirst dieser armen Val-Noble die Möbel der Wohnung in der Rue Taitbout schenken! Und dann wirst du ihr morgen fünfzigtausend Franken überreichen . . . Das wird Eindruck machen, siehst du, mein Liebchen. Du hast Falleix getötet, man beginnt, hinter dir her zu schreien . . . Solche Großmut wird ganz babylonisch aussehen . . . alle Frauen werden von dir reden. Oh! groß und edel bist in Paris nur du, und die Welt ist einmal so geschaffen, daß man Falleix vergessen wird. So ist das Geld schließlich in Achtung angelegt! . . .«

»Du hast recht, main Engel, du gennst die Felt,« erwiderte er, »du sollst main Ratkeber sein.« »Nun,« fuhr Esther fort, »du siehst, wie ich an die Angelegenheiten meines Mannes, an sein Ansehen, seine Ehre denke . . . Lauf, hole mir die fünfzigtausend Franken . . .« Sie wollte Herrn von Nucingen loswerden, um einen Wechselagenten kommen zu lassen und die Staatsschuldscheine noch abends an der Börse zu verkaufen. »Und weshalb kleich?« fragte er. »Wahrhaftig, mein Liebster, du mußt sie in einem kleinen Satinkasten überreichen und einen Fächer darein einwickeln. Dann sagst du zu ihr: ›Hier, gnädige Frau, ist ein Fächer, der Ihnen, so hoffe ich, Vergnügen machen wird . . .‹ Man hält dich nur für einen Turcaret, du wirst Beaujon in den Schatten stellen!« »Raizend! raizend!« rief der Baron; »ich soll also kaistraich werden! Ja, ich wiederhole Ihre Worte . . .«

In dem Augenblick, als die arme Esther sich, ermüdet von der Anstrengung, die es sie kostete, ihre Rolle zu spielen, setzte, trat Europa ein. »Gnädige Frau,« sagte sie, »hier ist ein Kommissionär, den Celestin, Herrn Luciens Kammerdiener, vom Quai Malaquais schickt . . .« »Laß ihn eintreten! . . . Aber nein, ich gehe ins Vorzimmer.« »Er hat einen Brief von Celestin an die gnädige Frau.«

Esther stürzte in das Vorzimmer, sah den Kommissionär an und erkannte in ihm den Kommissionär vom reinsten Wasser. »Sag ihm, er möge herunterkommen,« sagte Esther mit schwacher Stimme, als sie den Brief gelesen hatte und in einen Sessel sank. »Lucien will Selbstmord begehen . . .«, fügte sie hinzu, indem sie Europa ins Ohr flüsterte. »Zeig ihm übrigens den Brief.«

Carlos Herrera, der noch immer sein Kostüm als Handlungsreisender trug, kam sofort herab, und auf der Stelle fiel sein Blick auf den Kommissionär, als er im Vorzimmer einen Fremden fand. »Du hattest mir doch gesagt, es sei niemand da,« flüsterte er Europa ins Ohr. Und aus übertriebener Vorsicht ging er sofort in den Salon hinüber, nachdem er den Kommissionär prüfend angesehen hatte. Betrüg-den-Tod wußte nicht, daß seit einiger Zelt der berüchtigte Chef des Sicherheitsdienstes, der ihn im Hause Vauquer verhaftet hatte, einen Rivalen besaß, den man als seinen Nachfolger bezeichnete. Dieser Rivale war der Kommissionär.

»Sie haben recht,« sagte der falsche Kommissionär zu Contenson, der ihn auf der Straße erwartete. »Der, den Sie mir geschildert haben, ist im Hause; aber er ist kein Spanier, und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, daß unter dieser Soutane ein Wild für uns steckt.« »Er ist so wenig Priester, wie er Spanier ist,« sagte Contenson. »Davon bin ich überzeugt,« sagte der Agent der Pariser Nachtbrigade. »Oh, wenn wir recht hätten . . .« rief Contenson.

Lucien war in der Tat zwei Tage weggeblieben, und man hatte diese Abwesenheit benutzt, um die Falle zu legen; aber noch am Abend kam er, und Esthers Unruhe legte sich.

Am folgenden Tage kam um die Stunde, um die die Kurtisane aus dem Bade stieg und sich noch einmal ins Bett legte, ihre Freundin. »Ich habe die beiden Perlen!« sagte die Val-Noble. »Laß sehen!« sagte Esther, indem sie sich erhob und ihren hübschen Ellbogen in ein spitzenbesetztes Kopfkissen stützte. Frau du Val-Noble reichte ihrer Freundin zwei Kügelchen, die aussahen wie zwei schwarze Johannisbeeren. Der Baron hatte Esther zwei jener Windhunde einer berühmten Rasse geschenkt, die schließlich den Namen des großen zeitgenössischen Dichters erhielt, der ihre Mode aufgebracht hat. Die Kurtisane war sehr stolz auf diesen Besitz und hatte ihnen die Namen ihrer Vorfahren, Romeo und Julia, belassen. Es ist nicht nötig, von der Zierlichkeit, der Weiße und Anmut dieser Tiere zu reden, die für das Zimmer wie geschaffen sind und deren Wesen etwas von der englischen Zurückhaltung besitzt. Esther rief Romeo; Romeo kam auf seinen Pfoten, die so biegsam und so dünn, so fest und so nervig waren, daß man sie für Stahlfedern hätte halten können, herbeigelaufen und sah seine Herrin an. Esther machte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, eine Bewegung, als wollte sie ihm eine der beiden Perlen zuwerfen. »Sein Name bestimmt ihn einem solchen Tode!« sagte Esther, indem sie die Perle warf; Romeo zerbrach sie zwischen seinen Zähnen. Der Hund stieß keinen Schrei aus; er drehte sich um sich selbst und fiel starr zu Boden. Esther hatte kaum den Satz der Leichenrede beendet.

»Ach, mein Gott!« rief Frau du Val-Noble. »Du hast einen Wagen, nimm Romeo mit,« sagte Esther, »sein Tod würde hier einen ärgerlichen Auftritt zur Folge haben. Ich habe ihn dir geschenkt, du hast ihn verloren, erlaß eine Anzeige. Eile dich, heute abend bekommst du deine fünfzigtausend Franken.«

Das wurde so ruhig, mit so vollkommener Kurtisanenunempfindlichkeit gesagt, daß Frau du Val-Noble ausrief: »Du bist doch unsere Königin!« »Komm früh und sei schön . . .«

Um fünf Uhr abends machte Esther Brauttoilette. Sie zog ihr Spitzenkleid über einen Rock aus weißem Satin, sie legte einen weißen Gürtel und Schuhe aus weißem Satin an und schlang sich um die schönen Schultern einen Schal aus englischen Spitzen. Auf dem Kopf trug sie frische weiße Kamelien, die den Kranz einer jungen Braut nachahmten; auf der Brust ein Perlenkollier, das Nucingen ihr für dreißigtausend Franken gekauft hatte. Obgleich ihre Toilette um sechs Uhr beendet war, schloß sie doch ihre Tür vor jedermann, selbst vor Nucingen. Europa wußte, daß Lucien ins Schlafzimmer geführt werden sollte. Lucien kam gegen sieben; Europa fand Mittel und Wege, ihn zur gnädigen Frau zu führen, ohne daß jemand seine Ankunft bemerkte.

Lucien sagte bei sich, als er Esther erblickte: »Weshalb nicht mit ihr auf Rubempré leben, fern von der Welt, ohne je nach Paris zurückzukehren? . . . Ich habe fünf Jahre Handgeld auf ein solches Leben, und das liebe Geschöpf würde sich niemals Lügen strafen! . . . Wo finde ich ein zweites solches Meisterwerk?

»Mein Freund, du, aus dem ich meinen Gott gemacht habe,« sagte Esther, indem sie vor Lucien auf einem Kissen niederkniete, »segne mich!« Lucien wollte Esther aufheben, um sie zu küssen und ihr zu sagen: ›Was soll dieser Scherz, meine Liebe?‹ Und er versuchte, Esther um die Hüften zu fassen; sie aber machte sich in einer Bewegung frei, die ebensoviel Ehrfurcht wie Abscheu verriet. »Ich bin deiner nicht mehr würdig, Lucien,« sagte sie, während ihr Tränen aus den Augen rollten. »Ich flehe dich an, segne mich und schwöre mir, daß du im Spital eine Stiftung von zwei Betten errichten willst . . . Denn was die Gebete in der Kirche angeht, so wird Gott nur mir selbst vergeben . . . Ich habe dich zu sehr geliebt, mein Freund. Sag mir nur, daß ich dich glücklich gemacht habe und daß du bisweilen an mich denken willst . . . sag es!«

Lucien bemerkte bei Esther so viel feierliche Aufrichtigkeit, daß er nachdenklich wurde. »Du willst dich töten!« sagte er endlich mit einem Ton in der Stimme, der auf tiefes Sinnen deutete. »Nein, mein Freund; aber heute, siehst du, stirbt die reine, keusche, liebende Frau, die du gehabt hast . . . und ich fürchte, der Kummer könnte mich töten.« »Armes Kind, warte!« sagte Lucien; »ich habe seit zwei Tagen viele Anstrengungen gemacht, ich habe bis zu Klotilde durchdringen können . . .« »Immer Klotilde! . . .« rief Esther im Ton verbissener Wut. »Ja,« fuhr er fort, »wir haben uns geschrieben . . . Dienstag morgen reist sie ab, aber ich werde in Fontainebleau, auf ihrem Wege nach Italien, eine Unterredung mit ihr haben.« »Ah! was wollt ihr denn für Frauen, ihr . . .? – Schindelbretter! . . .« rief die arme Esther. »Sag doch, wenn ich sieben oder acht Millionen hätte, würdest du mich da nicht heiraten?« »Kind! ich wollte dir sagen, daß ich, wenn für mich alles zu Ende ist, keine andere Frau möchte als dich . . .«

Esther senkte den Kopf, um ihre plötzliche Blässe und die Tränen, die sie sich abwischte, nicht zu zeigen. »Du liebst mich? . . .« sagte sie, indem sie Lucien mit tiefem Schmerz ansah. »Nun, das ist mein Segen. Stelle dich nicht bloß, geh durch die Geheimtür und tu, als kämst du aus dem Vorzimmer in den Salon. Küsse mich auf die Stirn,« sagte sie. Sie nahm Lucien, drückte ihn rasend an die Brust und sagte noch einmal: »Geh! . . . Geh! . . . Oder ich bleibe am Leben!«

Als die Todgeweihte im Salon erschien, erhob sich ein Ruf der Bewunderung. In ihren ganz in die Unendlichkeit getauchten Augen verlor sich die Seele, wenn man sie ansah. Das bläuliche Schwarz ihres feinen Haares brachte die Kamelien zur Geltung. Kurz, alle Wirkungen, die dieses wundervolle Mädchen gesucht hatte, wurden erreicht. Sie hatte keine Rivalinnen. Sie erschien als der höchste Ausdruck des zügellosen Luxus, dessen Schöpfungen sie umgaben. Übrigens sprühte sie von Geist. Sie befehligte die Orgie mit der kühlen und ruhigen Kraft, die Habeneck im Konservatorium bei den Konzerten entfaltet, in denen die ersten Musiker Europas eine wahre Erhabenheit des Spiels erreichen, wenn sie Mozart oder Beethoven interpretieren. Aber mit Schrecken bemerkte sie, daß Nucingen wenig aß und nichts trank, während er den Herrn des Hauses spielte. Um Mitternacht war niemand mehr bei Vernunft. Man zerbrach die Gläser, damit sie niemals wieder gebraucht würden. Zwei bemalte chinesische Vorhänge waren zerrissen. Bixiou betrank sich zum zweitenmal in seinem Leben. Da niemand mehr stehen konnte und die Frauen auf den Diwans schliefen, konnten die Gäste den zuvor zwischen ihnen verabredeten Scherz nicht ausführen; sie hatten, in zwei Reihen geordnet, Leuchter in der Hand und das Buona Sera aus dem ›Barbier von Sevilla‹ singend, Esther und Nucingen ins Schlafzimmer führen wollen. Nucingen gab Esther allein die Hand. Bixiou bemerkte sie, obwohl er berauscht war; und er hatte noch die Kraft, wie Rivarol aus Anlaß der letzten Heirat des Herzogs von Richelieu, zu sagen: »Man sollte den Polizeipräfekten benachrichtigen . . . hier geschieht ein schlimmer Streich . . .« Der Spötter glaubte zu spotten: er war ein Prophet.

Herr von Nucingen zeigte sich erst Montag mittag wieder zu Hause. Um ein Uhr kam sein Wechselmakler und sagte ihm, daß Fräulein Esther van Bogseck die Staatsschuldscheine über dreißigtausend Franken Rente schon am Freitag wieder verkauft und den Erlös erhoben hatte. »Aber, Herr Baron,« sagte er, »der erste Schreiber des Anwalts Derville kam in dem Augenblick zu mir, als ich von dieser Schiebung sprach; und als er die wirklichen Namen des Fräuleins Esther gesehen hatte, sagte er mir, sie erbe ein Vermögen von sieben Millionen.« »Pah!« »Ja, sie soll die einzige Erbin des alten Diskontwucherers Gobseck sein . . . Derville will die Sachlage untersuchen. Wenn die Mutter Ihrer Geliebten die schöne Holländerin ist, so erbt sie . . .« »Das waiß ich,« sagte der Bankier, »sie hat mir ihr Leben erßählt . . . Ich werde Terfille ain Wort schreiben . . .«

Der Baron setzte sich an seinen Schreibtisch, schrieb Derville einen Brief und schickte ihn durch einen seiner Bedienten zu ihm. Dann ging er gegen drei Uhr, nach der Börse, zu Esther.

»Die gnädige Frau hat verboten, sie zu wecken, unter welchem Vorwand es auch sei; sie ist zu Bett gegangen und schläft . . .« »Ah, Teifel!« rief der Baron von Nucingen. »Eiroba, sie wirde nicht ärkerlich sein, wenn sie erfährt, daß sie sehr raich wird. Sie erpt sieben Millionen. Der alte Kobseck ist tot und hinterläßt sieben Millionen, und daine Herrin ist ainßige Erbin, denn ihre Mudder war die Nichte Kobsecks, der ibrikens ain Testament kemacht hat. Ich gonnte nicht wissen, daß ain Millionär wie er Esder im Eländ ließ . . .« »Ah, schön, dann ist deine Regierung zu Ende, alter Gaukler!« sagte Europa, indem sie den Baron mit einer Frechheit ansah, die einer Molièreschen Zofe würdig gewesen wäre. »Hei, du alter elsässischer Rabe! . . . Sie liebt dich ungefähr, wie man die Pest liebt! . . . Heiliger Gott! Millionen! . . . Aber da kann sie ihren Geliebten heiraten! Oh, wird sie sich freuen!«

Und Prudentia Servien ließ den Baron wie vom Blitz getroffen stehen, um ihrer Herrin diese Wende des Schicksals als erste zu melden. Der Greis, der trunken war von übermenschlicher Wollust und der an das Glück glaubte, hatte in seiner Liebe eine Dusche kalten Wassers erhalten, als sie gerade den höchsten Grad der Glut erreichte. »Sie hat mich ketaischt! . . .« rief er mit Tränen in den Augen. »Sie hat mich ketaischt! . . . O Esder! . . . O main Leben! . . . Ich Tummgopf! Fachsen chemals solche Plumen fier Kreise? . . . Alles gann ich gaufen, nur die Jukend nicht! . . . Kott, du Kerechter! Was soll ich tun? Was soll aus mir ferden? Sie hat recht, die krausame Eiroba! Esder ist fier mich ferloren, wenn sie raich ist . . . Soll ich mich aufhänken? Was ist das Leben ohne die köttliche Wlamme der Lust, die ich kekostet habe! . . . Kott, du Kerechter! . . .« Und der Luchs riß sich die falschen Haare aus, die er seit drei Monaten unter sein Grau gemischt hatte.

Ein gellender Schrei, den Europa ausstieß, jagte Nucingen ein Zittern bis in die Eingeweide. Der arme Bankier stand auf und schritt vorwärts auf Beinen, die trunken waren von dem Becher der Enttäuschung, den er geleert hatte, denn nichts berauscht so sehr wie der Wein des Unglücks. An der Tür des Schlafzimmers sah er, daß Esther starr auf dem Bett lag; sie war blau vom Gift und tot! Er trat bis ans Bett und fiel in die Knie. »Du hast recht, sie hadde es kesagt! . . . Sie ist an mir kestorben . . .«

Paccard, Asien, das ganze Haus lief herbei. Es war ein Schauspiel, eine Überraschung, keine Verzweiflung. Der Baron wurde wieder zum Bankier, ihm kam ein Argwohn, und er beging die Unvorsichtigkeit, zu fragen, wo die siebenhundertfünfzigtausend Franken der Rente wären. Paccard, Asien und Europa sahen sich auf eine so merkwürdige Art und Weise an, daß Herr von Nucingen sofort hinausging, denn er glaubte an einen Diebstahl und einen Mord. Europa, die unterm Kopfkissen ihrer Herrin ein verschnürtes Paket erblickte, dessen Weichheit die Banknoten verriet, begann die Tote ›aufzubahren‹, wie sie sagte.

»Lauf und sag dem gnädigen Herrn Bescheid, Asien! . . . Sterben zu müssen, ehe sie erfuhr, daß sie sieben Millionen besaß! Und Gobseck der Onkel der verstorbenen gnädigen Frau! . . .« rief sie. Europas Manöver fand Verständnis bei Paccard. Sowie Asien den Rücken gewendet hatte, entsiegelte Europa das Paket, auf das die arme Kurtisane diese Worte geschrieben hatte: ›Herrn Lucien von Rubempré zuzustellen!‹ Siebenhundertfünfzig Tausendfrankenscheine glänzten vor den Augen Prudentia Serviens, und sie rief: »Könnte man nicht für den Rest seiner Tage glücklich und ehrlich sein! . . .« Paccard erhob keinen Einwand, seine Diebsnatur war stärker als seine Anhänglichkeit an Betrüg-den-Tod. »Durut ist tot,« erwiderte er, indem er die Scheine nahm; »noch ist es Zeit, laß uns zusammen fliehen, wir teilen die Summe, um nicht alle Eier in einen Korb zu legen, und wir heiraten.« »Aber wo sollen wir uns verstecken?« fragte Prudentia. »In Paris,« erwiderte Paccard. Prudentia und Paccard flogen mit der Geschwindigkeit ehrlicher Leute, die sich in Diebe verwandelt hatten, die Treppe hinunter.

»Liebes Kind,« sagte Betrüg-den-Tod zu der Mulattin, sowie sie ihm die ersten Worte gesagt hatte, »suche einen Brief von Esther, während ich in aller Form ein Testament aufsetze; du wirst Testament und Brief zu Girard bringen; aber er soll sich beeilen, wir müssen das Testament unter Esthers Kopfkissen schieben, ehe man hier die Siegel anlegt.« Und er entwarf das folgende Testament:

»Da ich in meinem Leben niemals einen andern Menschen geliebt habe als Herrn Lucien Chardon von Rubempré und da ich entschlossen bin, lieber meinem Leben ein Ende zu machen, als ins Laster und in die Gemeinheit zurückzusinken, aus der seine Barmherzigkeit mich hervorgezogen hat, so schenke und vermache ich besagtem Lucien Chardon von Rubempré alles, was ich am Tage meines Todes besitze, unter der Bedingung, daß er in der Pfarrei Saint-Roche eine ewige Messe stifte für die Ruhe derer, die ihm alles gab, selbst ihren letzten Gedanken.

Esther Gobseck.«

›Das ist ganz ihr Stil,‹ sagte Betrüg-den-Tod bei sich selber.

Um sieben Uhr abends schob Asien das abgeschriebene und versiegelte Testament unter Esthers Kopfkissen. »Jakob,« sagte sie, indem sie eilends wieder hinaufsprang, »in dem Augenblick, als ich das Zimmer verließ, kam die Polizei . . .« »Du meinst, der Friedensrichter?« »Nein, Junge; der Friedensrichter auch, aber er hat Gendarmen bei sich. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sind auch dabei; die Türen werden bewacht.« »Dieser Tod hat schnell Aufsehen erregt!« sagte Collin. »Halt! Europa und Paccard sind nicht wieder zum Vorschein gekommen; ich fürchte, sie werden die siebenhundertfünfzigtausend Franken gestohlen haben,« sagte Asien. »Ach, die Hunde! . . .« sagte Betrüg-den-Tod. »Mit ihrem Mausen richten sie uns zugrunde! . . .«

Die menschliche Justiz, die Pariser Justiz, das heißt die mißtrauischste, gewandteste, unterrichtetste Justiz der Welt – sie ist sogar zu geistreich, denn sie deutelt jeden Augenblick am Gesetz – legte endlich die Hand auf die Führer dieser grauenhaften Intrige. Der Baron von Nucingen glaubte, als er die Wirkungen des Giftes bemerkte und seine siebenhundertfünfzigtausend Franken nicht sah, daß eine jener verhaßten Persönlichkeiten, die ihm sehr mißfielen, Europa oder Paccard, des Verbrechens schuldig wäre. Im ersten Augenblick seiner Wut lief er auf die Polizeipräfektur. Es war ein Glockenschlag, der Corentins sämtliche Nummern zusammenrief. Die Präfektur, die Staatsanwaltschaft, der Polizeikommissar, der Friedensrichter, der Untersuchungsrichter – alles war auf den Beinen. Um neun Uhr abends wohnten drei Ärzte einer Obduktion der armen Esther bei, und die Nachforschungen begannen.

Betrüg-den-Tod, den Asien warnte, rief: »Man weiß nicht, daß ich hier bin; ich kann die Luft genießen!« Er schwang sich durch das Fledermausfenster seiner Mansarde und erhob sich mit einer Behendigkeit ohnegleichen auf dem Dach, wo er die Umgebung mit der Kaltblütigkeit eines Dachdeckers zu prüfen begann. »Gut!« sagte er, als er fünf Häuser weiter, in der Rue de Provence, einen Garten bemerkte.

»Du bist geliefert, Betrüg-den-Tod!« rief plötzlich Contenson, indem er hinter einem Schornstein hervortrat. »Du wirst Herrn Camusot erklären müssen, was für eine Messe du auf den Dächern lesen wolltest, Herr Abbé; vor allem aber, weshalb du dich in Sicherheit brachtest . . .« »Ich habe Feinde in Spanien,« sagte Carlos Herrera. »Wir wollen hin nach Spanien, aber durch deine Mansarde,« erwiderte Contenson.

Der falsche Spanier tat, als gäbe er nach; aber nachdem er sich auf den Fensterrahmen gestützt hatte, packte er Contenson und schleuderte ihn mit solcher Gewalt vorwärts, daß der Spion mitten in die Gosse der Rue Saint-Georges stürzte. Contenson starb auf dem Felde der Ehre. Jakob Collin kehrte ruhig in seine Mansarde zurück und legte sich ins Bett.

»Gib mir etwas, was mich schwerkrank macht, ohne mich zu töten,« sagte er zu Asien, »denn ich muß in Agonie liegen, um den ›Neugierigen‹ nicht antworten zu müssen. Fürchte nichts; ich bin Priester und werde Priester bleiben. Ich habe mich eben des einen von denen, die mich entlarven konnten, auf die natürlichste Weise entledigt.«

Am Tage zuvor war Lucien um sieben Uhr abends in seinem Postwagen aufgebrochen, versehen mit einem Paß, den er sich morgens besorgt hatte; er blieb die Nacht in der letzten Herberge auf der Seite von Nemours. Am folgenden Morgen ging er gegen sechs Uhr allein davon, und zwar in den Wald, in dem er bis Bouron marschierte. ›Da ist es,‹ sagte er bei sich selber, indem er sich auf einen der Felsen setzte, von denen aus man die schöne Landschaft von Bouron erblickt, dem verhängnisvollen Ort, wo Napoleon am zweiten Tage vor seiner Abdankung eine Riesenanstrengung unternahm.

Mit Tagesanbruch hörte er das Geräusch eines Postwagens und sah eine Britschka vorüberfahren, in der sich die Leute der jungen Herzogin von Lenoncourt-Chaulieu und die Zofe Klotildes von Grandlieu befanden.

›Da sind sie,‹ sagte Lucien vor sich hin; ›also diese Komödie gut gespielt, und ich werde dem Herzog zum Trotz sein Schwiegersohn.‹

Eine Stunde darauf ließ sich die Berline, in der die beiden Frauen saßen, mit ihrem leicht kenntlichen Rollen eines eleganten Reisewagens vernehmen. Die beiden Damen hatten befohlen, daß man beim Abstieg nach Bouron haltmachte, und der Kammerdiener, der hinten saß, brachte den Wagen zum Stehen. In diesem Augenblick trat Lucien vor. »Klotilde!« rief er, indem er ans Fenster klopfte.

»Nein,« sagte die junge Herzogin zu ihrer Freundin, »er wird nicht in den Wagen steigen, und wir werden nicht mit ihm allein bleiben, meine Liebe. Ich willige in eine letzte Unterredung; aber sie wird auf der Straße stattfinden, und wir werden zu Fuß gehen, während Baptist uns folgt . . . Es ist ein schöner Tag, wir sind warm angezogen und brauchen die Kälte nicht zu fürchten; der Wagen wird hinter uns herfahren . . .« Und die beiden Frauen stiegen aus. »Baptist,« sagte die junge Herzogin, »der Postillion wird langsam fahren; wir wollen ein wenig zu Fuß gehen, und Sie werden uns begleiten.«

Magdalene von Mortsauf nahm Klotilde am Arm und ließ Lucien mit ihr reden. So gingen sie zusammen bis zu dem kleinen Dorf Grez. Es war acht Uhr, und dort verabschiedete sich Klotilde von Lucien.

»Also, mein Freund,« sagte sie, indem sie die lange Unterredung mit Adel schloß, »ich werde mich nie verheiraten, es sei denn mit Ihnen. Ich will lieber an Sie glauben, als an die Menschen, an meinen Vater und meine Mutter . . . Ein stärkeres Zeichen der Anhänglichkeit ist niemals gegeben worden, nicht wahr? . . . Jetzt versuchen Sie, die falschen Anklagen, die auf Ihnen lasten, zu zerstreuen . . .«

In diesem Augenblick hörte man den Galopp mehrerer Pferde, und zum großen Erstaunen der Damen umringte die Gendamerie die kleine Gruppe.

»Was wollen Sie?« fragte Lucien mit der Anmaßung des Dandys. »Sie sind Herr von Rubempré?« fragte der Staatsanwalt von Fontainebleau. »Ja.« »Sie werden heute im Gefängnis übernachten,« fuhr er fort; »ich habe einen Verhaftsbefehl gegen Sie.« »Wer sind diese Damen?« fragte der Brigadier. »Ach ja . . . Verzeihung, meine Damen, Ihre Pässe? Denn Herr Lucien hat nach meinen Instruktionen Verkehr mit Frauen, die für ihn imstande wären . . .« »Sie halten die Herzogin von Lenoncourt-Chaulteu für eine Dirne!« sagte Magdalene, indem sie dem Staatsanwalt einen Blick zuwarf. »Schön genug sind Sie dafür . . .« erwiderte der Beamte listig, »Baptist, zeigen Sie unsere Pässe,« erwiderte die junge Herzogin lächelnd.

»Und welchen Verbrechens klagt man den Herrn an?« fragte Klotilde, als die Herzogin sie drängte, wieder in den Wagen zu steigen. »Der Mitschuld bei einem Diebstahl und einem Mord,« erwiderte der Gendameriebrigadier.

Baptist trug Fraulein von Grandlieu, die in eine tiefe Ohnmacht gefallen war, in den Wagen.

Um Mitternacht kam Lucien in der ›Force‹ an, dem Gefängnis in der Rue Payenne und der Rue des Ballets, wo man ihn in strengen Einzelgewahrsam brachte. Der Abbé Carlos Herrera befand sich bereits seit seiner Verhaftung dort.

 

*

 


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