Honoré de Balzac
Die alte Jungfer
Honoré de Balzac

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Gewiß sind viele Leute in bestimmten Provinzen Frankreichs einigen Chevaliers de Valois begegnet, denn es gab einen in der Normandie, ein anderer lebte in Bourges, ein dritter erfreute sich ums Jahr 1816 in der Stadt Alençon bester Gesundheit, und im Süden des Landes ließe sich vielleicht auch noch einer finden. Aber die Aufzählung dieses Stammes der Valois ist hier ohne Bedeutung. Alle diese Chevaliers, unter denen es sicher welche gab, die so Valois waren, wie Ludwig XIV. Bourbone war, kannten sich so wenig, daß es überflüssig gewesen wäre, ihnen voneinander zu erzählen. Im übrigen ließen sie alle Bourbonen vollkommen unbehelligt auf dem Throne Frankreichs, denn es ist nur allzusehr erwiesen, daß Heinrich IV. König wurde, weil es in der älteren, Valois genannten Linie der Orléans keinen männlichen Erben gab. Wenn es Abkömmlinge der Valois gibt, so stammen sie alle von Charles de Valois, Duc d'Angoulême, Sohn Karls IX. und der Marie Touchet, dessen männliche Nachkommenschaft, bis zum gegenteiligen Beweis, in der Person des Abbé de Rothelin erloschen ist; die Valois-Saint-Remy, die von Heinrich II. abstammen, haben gleichfalls bei der berüchtigten Lamothe-Valois, die in die Halsbandaffäre verwickelt war, aufgehört zu bestehen.

Jeder dieser Chevaliers war, wenn die Berichte zutreffend sind, wie der von Alençon, ein alter, langer, dürrer Edelmann ohne Vermögen. Der von Bourges hatte in der Emigration gelebt, der aus der Touraine hatte sich versteckt, der von Alençon hatte in der Vendée Krieg geführt und sich ein bißchen als Chouan aufgespielt. Der überwiegende Teil der Jugend dieses letzteren hatte sich in Paris abgespielt, wo ihn die Revolution inmitten seiner Eroberungen im Alter von dreißig Jahren überrascht hatte. Da der Chevalier de Valois aus Alençon bei der hohen Aristokratie der Provinz als echter Valois galt, so tat er sich, gleich seinen Namensvettern, durch ausgezeichnete Manieren hervor und trat als Mann der oberen Gesellschaft auf. Er dinierte alle Tage auswärts und spielte alle Abende Karten. Dank einem seiner Fehler, welcher darin bestand, eine Menge Anekdoten über die Regierung Ludwigs XV. und die Anfänge der Revolution zu erzählen, hielt man ihn für einen sehr geistreichen Menschen. Wenn man diese Histörchen zum erstenmal hörte, fand man, daß sie sehr gut vorgetragen waren. Der Chevalier de Valois hatte überdies die Tugend, niemals seine eigenen Bonmots zu wiederholen und niemals von seinen Liebesangelegenheiten zu reden; doch sein Schöntun und Lächeln begingen hierbei entzückende Indiskretionen. Dieser biedere Herr machte sich das Vorrecht der alten Voltairianer zunutze, niemals in die Messe zu gehen, welche Irreligiosität man ihm wegen seiner großen Hingebung an die Partei des Königs nachsah. Eine der auffälligsten seiner anmutigen Gesten war die, wahrscheinlich bei Mole abgeschaute Art, aus einer alten goldenen Tabaksdose zu schnupfen, die mit dem Porträt der Fürstin Goritza geschmückt war, einer reizenden Ungarin, die zu Ende der Regierung Ludwigs XV. wegen ihrer Schönheit berühmt gewesen war. Er war in seiner Jugend mit dieser berühmten Ausländerin sehr verbunden gewesen und sprach stets mit Rührung von ihr; auch hatte er sich um ihretwillen mit Monsieur de Lauzun geschlagen.

Um jene Zeit zählte er etwa achtundfünfzig Jahre, doch gab er nur fünfzig an, und er konnte sich diese harmlose Unterschlagung erlauben, denn von den Vorzügen, die mageren blonden Menschen häufig zufallen, erfreute er sich einer noch jugendlichen Gestalt, die sowohl Männern wie Frauen das Aussehen des Alters erspart. Ja, wisset, das ganze Leben oder vielmehr die ganze geschmeidige Haltung, die der Ausdruck des Lebens ist, hat ihren Sitz in der Gestalt. Zu den Eigentümlichkeiten des Chevaliers muß man die gewaltige Nase rechnen, mit der ihn die Natur ausgestattet hatte. Diese Nase teilte sein blasses Gesicht nachdrücklich in zwei Partien, die einander nicht zu kennen schienen und von denen sich die eine während der Verdauung stark rötete. Dieser Umstand ist erwähnenswert in einer Zeit, in der sich die Physiologie so sehr mit dem menschlichen Herzen beschäftigt. Dieses Erglühen ging auf der linken Seite vor sich. Obwohl die langen und dünnen Beine, der schmächtige Körper und der fahle Teint des Monsieur de Valois keine robuste Gesundheit verrieten, so aß er nichtsdestoweniger wie ein Menschenfresser und behauptete, wahrscheinlich um seinen ungeheuren Appetit zu entschuldigen, an einer Krankheit zu leiden, die man in der Provinz mit dem Namen »hitzige Leber« bezeichnet. Die flammende Röte bestätigte solche Behauptungen; allein, wo die Mahlzeiten aus dreißig oder vierzig Gerichten bestehen und vier Stunden dauern, muß man den Magen des Chevaliers als eine Wohltat betrachten, mit der die Vorsehung diese gute Stadt begnadet hatte. Nach der Meinung einiger Ärzte deutete die linksseitige Röte auf ein zu weites Herz.

Das galante Leben des Chevaliers machte diese wissenschaftlichen Feststellungen, für die sich der Historiker zum Glück nicht sonderlich verantwortlich fühlt, sehr wahrscheinlich. Trotz dieser Symptome war Monsieur de Valois von nerviger, infolgedessen äußerst lebhafter Natur. Wenn seine Leber hitzig war, so brannte sein Herz nicht weniger stark, um eine alte Redewendung zu gebrauchen. Wenn sein Gesicht einige Runzeln aufwies und seine Haare mit Silberfäden durchzogen waren, so erkannte ein kundiger Beobachter darin die Merkmale der Leidenschaft und die Spuren des Vergnügens. In der Tat waren die Krähenfüße und Stirnrunzeln von der eleganten Art, die am Hofe der Cythera so geschätzt wird. Alles ließ bei dem koketten Chevalier auf den Frauenhelden, den »ladies man«, wie die Engländer sagen, schließen: er wusch sich so sorgfältig, daß es ein Vergnügen war, seine Wangen anzuschauen; sie schienen mit einem wunderkräftigen Wasser abgerieben zu sein. Der Teil des Kopfes, den die Haare nicht mehr bedecken wollten, glänzte wie Elfenbein. Seine Brauen wie seine Haare täuschten durch die Regelmäßigkeit, die ihnen der Kamm verliehen hatte, die Jugend vor. Seine Haut, die schon von Natur so weiß war, schien durch irgendein Geheimmittel noch, weißer geworden zu sein. Ohne daß der Chevalier von Parfüm Gebrauch gemacht hätte, strömte er einen erfrischenden Duft von Jugendlichkeit aus. Seine Hände waren gepflegt wie die einer Modepuppe und zogen den Blick durch die Form ihrer rosigen Nägel auf sich. Kurz, ohne seine überragende, an Größe unvergleichliche Nase, hätte man ihn zierlich nennen können.

Doch kann man nicht umhin, dieses Porträt durch das Eingeständnis einer Schwäche zu beeinträchtigen: der Chevalier stopfte Watte in seine Ohren und trug überdies zwei kleine, sehr kunstvoll gearbeitete Ohrringe, die in Diamant gefaßte Negerköpfe darstellten; doch legte er so großen Wert darauf, daß er dieses eigentümliche Anhängsel mit der Behauptung rechtfertigte, seitdem seine Ohrläppchen durchstochen seien, habe er keine Migräne mehr; er hatte also an Migräne gelitten. Wir geben den Chevalier also keineswegs für das Idealbild eines Mannes aus; im übrigen, muß man nicht den alten Junggesellen, denen soviel Blut vom Herzen ins Gesicht schießt, ein paar solche entzückend lächerliche Absonderlichkeiten, die vielleicht auf zarten Geheimnissen beruhen, nach sehen?

Der Chevalier de Valois machte übrigens diese Negerköpfe durch so viele andere Vorzüge wieder wett, daß die Gesellschaft sich dafür genügend entschädigt finden sollte. Er gab sich wirklich große Mühe, seine Jahre zu verbergen und seinen Bekannten zu gefallen. Da war in erster Linie die außerordentliche Sorgfalt, die er auf seine Wäsche verwandte, dieses einzige Mittel, mit dem sich heutzutage Leute von guter Lebensart in ihrer Kleidung auszeichnen können! Die des Chevaliers war stets von aristokratischer Feinheit und Weiße. Was seinen Rock anging, so war er zwar immer abgetragen, aber von bemerkenswerter Sauberkeit, ohne Flecken und Falten, Die Konservierung seiner Kleidungsstücke grenzte sogar ans Wunderbare für diejenigen, die die saloppe Gleichgültigkeit des Chevaliers für diese Seite der Mode bemerkten; er ging zwar nicht so weit, sie mit einem Stück Glas abzuschaben, ein Verfahren, das vom Prinzen von Wales erfunden worden ist; immerhin setzte Monsieur de Valois seine ihm eigene Geckenhaftigkeit darein, die Grundelemente hoher englischer Eleganz nachzuahmen, was von den Leuten von Alençon wohl kaum gebührend gewürdigt werden konnte. Ist die Welt nicht denen Achtung schuldig, die sich ihretwegen so sehr in Unkosten stürzen? Handeln solche Leute nicht nach jener schwierigsten Vorschrift des Evangeliums, die befiehlt, Böses mit Gutem zu vergelten? Dieses frische, gepflegte Äußere paßte gut zu den blauen Augen, den blendend weißen Zähnen, der blonden Erscheinung des Chevaliers. Nur hatte dieser Adonis im Ruhestand nichts Männliches in seinem Auftreten, und die Künste der Toilette mußten ihm dazu dienen, die im Kriegsdienst der Galanterie erworbenen Schäden zu verdecken. Um nichts ungesagt zu lassen: die Stimme stand im Widerspruch zu der blonden Zartheit des Chevaliers. Ohne der Meinung einiger Kenner des menschlichen Herzens beizupflichten, welche sagten, die Stimme des Chevaliers entspräche seiner Nase, mußte man sich doch über den Umfang und die Tragkraft seines Organs wundern. Die Stimme besaß zwar nicht das Volumen eines mächtigen Basses, gefiel aber durch eine hübsche Mittellage, war ausdauernd und zart, durchdringend und doch samtweich wie der Klang des Englischhorns. Der Chevalier hatte die lächerliche Tracht, die einige monarchisch gesinnte Männer beibehalten hatten, abgelegt und sich offen der herrschenden Mode angeschlossen; er trug stets einen kastanienbraunen, mit goldenen Knöpfen besetzten Rock, leicht anliegende Kniehosen aus einem festen, seidenartigen Stoff mit goldenen Schnallen, eine weiße Weste ohne Stickerei und als letztes Überbleibsel der vormaligen französischen Mode eine geknotete Krawatte ohne Hemdkragen, auf die er um so weniger hatte verzichten können, als sie ihm gestattete, den Hals eines weltlichen Abbé zu zeigen. Seinen Schuhen gereichten viereckige, bei der gegenwärtigen Generation in Vergessenheit geratene goldene Schnallen zur Zierde, die sich vom lackierten schwarzen Leder abhoben. Gleichfalls eine Reminiszenz an die Mode des achtzehnten Jahrhunderts, das die »Incroyables« unter dem Direktorium nicht mißachteten, war die Gepflogenheit des Chevaliers, zwei Uhrketten zu tragen, die zu beiden Seiten aus seinen Westentäschchen heraushingen. Dieses Übergangskostüm, das zwei Jahrhunderte miteinander verband, trug der Chevalier mit jener Grazie eines echten Marquis, deren Geheimnis an dem Tage verlorenging, als Fleury, der letzte Schüler Molés, von der französischen Bühne abtrat. Das Privatleben dieses alten Junggesellen lag dem Anschein nach vor aller Augen offen da, war aber in Wirklichkeit sehr geheimnisvoll. Er bewohnte ein bescheidenes Logis – taktvoll ausgedrückt –, das in der Rue du Cours im zweiten Stock eines Hauses gelegen war, das Madame Lardot, der meistbeschäftigten Feinwäscherin der Stadt, gehörte. Das erklärte die auserlesene Feinheit seiner Wäsche. Das Unglück wollte, daß Alençon eines Tages Grund hatte anzunehmen, der Chevalier habe sich nicht immer so aufgeführt, wie es sich für einen Edelmann ziemt, und habe in seinen alten Tagen eine gewisse Césarine, die Mutter eines Kindes, das die Frechheit gehabt hatte, ungerufen zur Welt zu kommen, geheiratet.

»Er hatte«, sagte ein gewisser Monsieur du Bousquier, »derjenigen seine Hand gereicht, die so lange das Eisen für ihn heiß gemacht hat.«

Diese abscheuliche Verleumdung trübte die alten Tage des zarten Edelmannes um so mehr, als ihm dadurch, wie diese Geschichte zeigen wird, eine lang gehegte Hoffnung, der er manches Opfer gebracht hatte, vereitelt wurde. Madame Lardot vermietete an den Chevalier de Valois zwei Zimmer im zweiten Stock ihres Hauses für den mäßigen Preis von hundert Francs im Jahr. Der würdige Edelmann, der alle Tage auswärts speiste, kam nur zum Schlafengehen nach Hause. Seine einzige Ausgabe war daher sein Frühstück, das unabänderlich aus einer Tasse Schokolade bestand, der Butter und Obst, je nach der Jahreszeit, beigegeben waren. Er ließ nur im strengsten Winter heizen und dann auch nur zum Aufstehen. Zwischen elf und vier Uhr ging er spazieren, las die Zeitungen und machte Besuche. Gleich bei seiner Niederlassung in Alençon hatte er seine Armut hochherzig eingestanden und gesagt, daß ihm als einziger Überrest seines ehemaligen Reichtums eine Leibrente von sechshundert Livres geblieben sei, die ihm sein früherer Geschäftsführer, bei dem die Papiere lagen, in vierteljährlichen Raten übermitteln ließ. In der Tat händigte ihm ein Bankier der Stadt alle drei Monate hundertfünfzig Livres aus, die von einem gewissen Bordin in Paris, dem letzten Prokurator des Châtelet, abgeschickt waren. Jeder wußte diese Einzelheiten, dank der tiefen Verschwiegenheit, um die der Chevalier die erste Person, die sein Vertrauen empfing, gebeten hatte. Monsieur de Valois erntete die Früchte seines Mißgeschicks: man deckte ihm den Tisch in den ersten Häusern Alençons und lud ihn zu allen Abendgesellschaften ein. Seine Talente als Spieler, Erzähler, liebenswürdiger und guter Gesellschafter waren so geschätzt, daß alles verfehlt schien, wenn er nicht zugegen war. Die Hausherren und die Damen konnten seine gutheißende Kennermiene nicht missen. Wenn der alte Chevalier zu einer jungen Frau auf einem Balle sagte: »Sie sind zum Entzücken gekleidet!«, so beglückte dieses Lob sie mehr als der Neid ihrer Rivalin. Monsieur de Valois war der einzige, der gewisse Wendungen der alten Zeit in der richtigen Weise aussprechen konnte. Die Worte ›mein Herz, mein Juwel, mein liebes Kind, meine Königin‹, alle die verliebten Kosenamen der Jahre um 1770, gewannen in seinem Munde einen unwiderstehlichen Reiz; kurz, er hatte das Vorrecht der Superlative. Seine Komplimente, mit denen er übrigens geizte, verschafften ihm die Gunst der alten Damen; sie schmeichelten aller Welt, selbst den Herren der Verwaltung, die er nicht brauchte. Sein Betragen beim Spiel war von einer Vornehmheit, die man überall anerkannt hatte. Er beklagte sich nie, er lobte seine Gegner, wenn sie verloren; er unternahm niemals, seine Partner zu erziehen, indem er ihnen zeigte, wie sie ihre Trümpfe hätten ausspielen sollen. Wenn sich beim Kartenmischen langatmige, abstoßende Auseinandersetzungen entspannen, zog der Chevalier mit einer Gebärde, die Molés würdig gewesen wäre, seine Tabaksdose hervor, betrachtete die Fürstin Goritza, öffnete würdevoll den Deckel, nahm seine Prise zwischen die Finger, hob sie in die Höhe, rieb sie, formte sie zu Klümpchen; wenn dann die Karten ausgegeben waren, hatte er die Höhlen seiner Nase vollgestopft und die Fürstin, immer zur Linken, in seine Westentasche gesteckt. Nur ein Edelmann des ›guten‹ Zeitalters – im Gegensatz zum ›großen‹ Zeitalter – konnte dieses Mittelding zwischen einem geringschätzigen Stillschweigen und einer boshaften Bemerkung, die nicht verstanden worden wäre, zuwege bringen. Er nahm mit den Stümpern fürlieb und wußte seinen Vorteil aus ihnen zu ziehen. Sein entzückender Gleichmut entlockte vielen die Äußerung: »Ich bewundere den Chevalier de Valois!« Seine Unterhaltung, seine Manieren, alles an ihm schien, wie seine Person, blond zu sein. Er bemühte sich, weder bei Herren noch Damen Anstoß zu erregen. Gleicherweise nachsichtig gegen organische Fehler wie geistige Defekte, hörte er mit Hilfe der Fürstin Goritza geduldig die Leute an, die ihm ihre kleinen Leiden des Provinzlebens vortrugen: das schlecht gekochte Frühstücksei, die sauer gewordene Salme im Kaffee, possierliche Einzelheiten, die die Gesundheit betrafen, das plötzliche Auffahren aus dem Schlaf, die Träume, die Besuche. Der Chevalier verfügte über einen schmachtenden Blick, ein klassisches Mienenspiel, um Mitleid zu fingieren, so daß er ein köstlicher Zuhörer war. Er konnte ein ›Ach!‹, ein ›Was!‹, ein ›Wie ging das zu?‹ im richtigen Moment verblüffend vorbringen. Er starb, ohne daß jemand auf den Verdacht gekommen wäre, daß er, während er diese albernen Ergüsse über sich ergehen ließ, sich die glühendsten Kapitel seines Romans mit der Fürstin Goritza ins Gedächtnis zurückrief. Hat man jemals bedacht, welche Dienste ein erloschenes Gefühl der Gesellschaft leisten kann, in welchem Maße die Liebe der Gesellschaft zugute kommt und ihr nützlich ist? Dies kann zur Erklärung dienen, warum der Chevalier, trotz seiner beständigen Gewinne, der Liebling der Stadt blieb, denn er verließ niemals einen Salon, ohne ungefähr sechs Livres gewonnen zu haben. Daß er verlor, kam sehr selten vor, und dann machte er immer viel Aufhebens davon. Alle, die ihn gekannt haben, gestehen ein, daß sie nirgends, selbst nicht im Ägyptischen Museum in Turin, eine so nette Mumie gesehen hätten. In keinem Lande der Welt nimmt das Schmarotzertum so angenehme Formen an. Nie hat sich der konzentrierteste Egoismus dienstfertiger, weniger verletzend gezeigt als bei diesem Edelmann; er war so viel wert wie eine aufopfernde Freundschaft. Wenn jemand Monsieur de Valois um eine kleine Gefälligkeit bat, die diesen Mühe gekostet hätte, so verließ dieser Jemand den guten Chevalier niemals, ohne von ihm entzückt zu sein, in keinem Fall aber ohne die Überzeugung, daß er in der Sache nichts tun könne oder sie durch seine Einmischung verdorben hätte.

Um die problematische Existenz des Chevaliers zu erklären, muß der Chronist, dem die Wahrheit, diese grausame Geliebte, das Messer an die Kehle setzt, bekennen, daß Alençon unlängst nach den ruhmreich traurigen Julitagen erfahren mußte, daß die Summe, die Monsieur de Valois beim Spiel zu gewinnen pflegte, sich vierteljährlich auf ungefähr einhundertfünfzig Taler belief und daß der geistreiche Chevalier den Mut gehabt hatte, sich selbst seine Leibrente zuzuschicken, um in einem Lande, wo man das Habet liebt, nicht ohne Hilfsquellen zu erscheinen. Viele seiner Freunde – man beachte, daß er schon tot war – bestritten diese Behauptung steif und fest, hielten sie für eine Fabel und blieben dabei, daß der Chevalier ein achtbarer, würdiger Edelmann gewesen sei, den die Liberalen verleumdeten. Zum Glück für diese durchtriebenen Spieler gibt es in der Galerie immer Leute, die ihnen Beistand leisten. Sie leugnen hartnäckig ein Unrecht, weil sie sich schämen, ihm Vorschub geleistet zu haben; man betrachte dies nicht als Eigensinn, die Leute wissen, was sie ihrer Würde schuldig sind. Die Regierungen gehen ihnen mit gutem Beispiel in dieser Tugend voran, welche darin besteht, ihre Toten bei Nacht und Nebel zu begraben, ohne das ›Tedeum‹ ihrer Niederlagen zu singen. Wenn sich der Chevalier also wirklich diesen gerissenen Streich erlaubt haben sollte, der ihm übrigens sicherlich die Achtung des Chevaliers de Grammont, ein Lächeln des Barons de Faeneste, einen Händedruck des Marquis de Monçada eingetragen hätte, war er darum weniger der liebenswürdige Gast, der geistreiche Mann, der unverwüstliche Spieler, der reizende Erzähler, der das Entzücken von Alençon ausmachte? Inwiefern ist überhaupt diese Handlungsweise, die unter dem Gesetz des freien Willens steht, mit den eleganten Sitten eines Edelmanns unvereinbar? Wenn soundso viele Leute genötigt sind, andern Renten auszuzahlen, was ist natürlicher, als daß man seinem besten Freunde freiwillig eine zukommen läßt? Aber Laios ist tot... Nach etwa fünfzehn Jahren einer solchen Lebensweise hatte der Chevalier zehntausend und einige hundert Francs zusammengebracht. Bei der Wiederkehr der Bourbonen hatte ihm ein alter Freund, der Marquis de Pombreton, ehemaliger Leutnant bei den schwarzen Musketieren, wie man sagt, zwölfhundert Pistolen, die der Chevalier ihm geborgt hatte, damit er emigrieren könne, zurückgegeben. Dieses Ereignis erregte Aufsehen; es wurde späterhin den vom ›Constitutionel‹ erfundenen Spöttereien über die Art, wie manche Emigranten ihre Schulden bezahlten, entgegengehalten. Wenn jemand diesen edlen Zug des Marquis de Pombreton gegen den Chevalier erwähnte, errötete dieser bis zu seiner rechten Seite. Jedermann freute sich damals für Monsieur de Valois, welcher zu den Geldleuten ging und sich mit ihnen darüber beriet, wie er diesen Rest seines Vermögens verwenden solle. Er setzte seine Hoffnung auf die Restauration und legte das Geld in Staatspapieren an zu einer Zeit, da die Renten sechsundfünfzig Francs fünfundzwanzig Centimes betragen. Die Messieurs de Lenoncourt, de Navarreins, de Verneuil, de Fontaine und de La Billardière, mit denen er, wie er sagte, bekannt war, verschafften ihm eine Pension von hundert Talern aus der Schatulle des Königs und schickten ihm das Kreuz des heiligen Ludwig. Niemals erfuhr man, auf welche Weise der alte Chevalier zu dieser Auszeichnung gekommen war; aber es steht fest, daß das Patent des Kreuzes des heiligen Ludwig ihn befugte, sich auf Grund seiner in den katholischen Armeen des Westens geleisteten Dienste den Titel eines Oberst a.D. beizulegen. Außer seiner fingierten Leibrente, um die sich niemand mehr kümmerte, hatte der Chevalier also verbürgtermaßen tausend Francs Einkünfte. Trotz dieser Verbesserung seiner Lage änderte er in nichts seine Lebensweise oder seine Manieren; nur daß das rote Band sich prachtvoll auf seinem kastanienbraunen Rock ausnahm und sozusagen die Physiognomie des Edelmanns vervollständigte. Vom Jahre 1802 an verschloß der Chevalier seine Briefe mit einem sehr alten goldenen Siegel, das schlecht graviert war, aber auf dem die Castéran, die d'Esgrignon, die Troisville sehen konnten, daß sein Wappen in zwei Hälften geteilt war und auf der einen den Balkenstreifen in rotem Felde, auf der andern fünf goldene durchbrochene Rauten, die zu einem Kreuz zusammengefügt waren, führte; das Wappenbild hatte ein schwarzes Haupt mit silbernem Kreuz und war bekrönt mit dem Ritterhelm. Die Devise war: Valeo. Mit diesem edlen Wappen durfte und konnte der Bastard der Valois alle königlichen Karossen der Welt besteigen. Viele Leute haben die behagliche Existenz dieses alten Junggesellen, die an gutgespielten Boston-, Tricktrack-, Reversi-, Whist- und Pikettpartien, an gut verdauten Diners, anmutig geschnupften Tabakprisen und angenehmen Spaziergängen reich war, beneidet. Fast ganz Alençon glaubte, daß dieses Leben frei von Ehrgeiz und ernsteren Interessen gewesen sei; aber kein Mensch hat ein so ruhiges Leben, wie es die Neider hinstellen. Man wird in den weltvergessensten Winkeln menschliche Mollusken, anscheinend tote Rädertierchen finden, die eine Leidenschaft für Schmetterlinge oder Muscheltiere haben und sich unendlichen Leiden aussetzen, um irgendeinen Falter oder die Concha veneris zu erlangen. Der Chevalier führte nicht nur sein zurückgezogenes Muscheldasein, sondern er nährte auch einen ehrgeizigen Wunsch, den er mit einer Beharrlichkeit verfolgte, die des Papstes Sixtus V. würdig gewesen wäre: et wollte sich mit einer reichen alten Jungfer verheiraten, ohne Zweifel in der Absicht, sich auf diese Weise Zutritt zu den höheren Sphären des Hofes zu verschaffen. Dies war das Geheimnis seiner königlichen Haltung und seines Aufenthaltes in Alençon.

An einem Mittwoch zu sehr früher Stunde, gegen Mitte des Frühlings anno 16 – dies war seine Art zu reden –, hörte der Chevalier im Augenblick, als er seinen Schlafrock aus grüngeblümtem alten Damast anzog, trotz der Watte in seinen Ohren, den leichten Schritt eines jungen Mädchens, das die Treppe heraufkam. Drei sanfte Schläge ertönten an seiner Tür; dann glitt eine junge Schöne, ohne eine Antwort abzuwarten, wie ein Aal in das Zimmer des alten Junggesellen.

»Ach, du bist es, Suzanne!« sagte der Chevalier de Valois, ohne sich in seinem Geschäft, das darin bestand, daß er die Klinge seines Rasiermessers an einem Riemen abzog, zu unterbrechen. »Was willst du hier, kleiner süßer Schelm?«

»Ich komme, um Ihnen etwas zu sagen, was Ihnen vielleicht ebensoviel Vergnügen als Kummer machen wird.«

»Handelt es sich um Cesarine?«

»Ich kümmere mich viel um Ihre Cesarine!« versetzte sie mit einer Miene, die schmollend, ernst und sorglos zugleich war.

Diese reizende Suzanne, deren komisches Abenteuer einen so großen Einfluß auf das Schicksal der Hauptpersonen dieser Geschichte üben sollte, war eine Arbeiterin von Madame Lardot.

Ein Wort zuvor über die Topographie des Hauses. Die Arbeitsräume nahmen das ganze Erdgeschoß ein. Der kleine Hof diente dazu, daß dort auf Leinen die gestickten Taschentücher, die Kragen, Spenzer, Manschetten, die Hemden mit gefältelten Krausen, die Krawatten, die Spitzen, die gestickten Kleider, all die feine Wäsche der besten Häuser der Stadt zum Trocknen aufgehängt wurden. Der Chevalier behauptete, an der Zahl der Untertaillen der Frau des Obersteuereinnehmers ihre Liebesränke verfolgen zu können, denn bestimmte Hemden mit Krausen und Krawatten standen in Wechselbeziehung zu den Untertaillen und Spitzenkragen. Obwohl also der Chevalier an dieser wechselseitigen Übereinstimmung alle Rendezvous der Stadt erraten konnte, so beging er doch niemals eine Indiskretion; er bildete niemals ein verfängliches Epigramm, was ihm die Tür eines Hauses verschlossen hätte (und er hatte Witz!). Man muß Monsieur de Valois durchaus für einen Mann von überlegener Lebensart halten, dessen Talente sich nur leider, wie die vieler anderer, in der Enge der Lebensumstände verloren haben. Nur erlaubte sich der Chevalier – schließlich war er doch ein Mann – manchmal gewisse bedeutsame Blicke, die die Frauen erzittern machten; doch liebten sie ihn um so mehr, nachdem sie erkannt hatten, wie tief seine Verschwiegenheit und wie groß seine Vorliebe für die reizenden Schwächen war. Die Erste Arbeiterin, das Faktotum der Madame Lardot, ein altes Mädchen von fünfundvierzig Jahren, die zum Erschrecken häßlich war, wohnte Tür an Tür mit dem Chevalier. Über ihnen waren nur noch Dachstuben, wo die Wäsche im Winter trocknete. Jede Wohnung bestand, wie die des Chevaliers, aus zwei hellen Zimmern, von denen das eine auf den Hof, das andere auf die Straße ging. Unter dem Chevalier wohnte ein alter Paralytiker, der Großvater Madame Lardots, namens Grévin, ein ehemaliger Seeräuber, der unter dem Admiral Simeuse in Indien gedient hatte; er war taub. Was Madame Lardot anging, die die andere Wohnung im ersten Stockwerk bewohnte, so hatte sie eine so große Schwäche für Leute von Stand, daß sie in bezug auf den Chevalier für blind gelten konnte. Für sie war Monsieur de Valois ein absoluter Monarch, und alles, was er tat, war wohlgetan. Hätte eine ihrer Arbeiterinnen sich etwas mit dem Chevalier zuschulden kommen lassen, so hätte sie gesagt: »Er ist so liebenswürdig!« Obwohl also dieses Haus, wie übrigens alle Häuser der Provinz, gleichsam aus Glas war, so war es doch, bezüglich Monsieur de Valois', verschwiegen wie eine Diebeshöhle. Der Chevalier, der der geborene Vertraute der kleinen Intrigen der Plättstube war, ging nie an deren Tür vorbei, die größtenteils offenblieb, ohne seinen kleinen Kätzchen etwas zu schenken: Schokolade, Bonbons, Bänder, Spitzen, ein goldenes Kreuz, allerlei Tand, wonach diese kleinen Mädchen närrisch sind. Der Chevalier wurde darum auch von ihnen angebetet. Die Frauen haben einen Instinkt für jene Männer, die sie allein deswegen, weil sie einen Rock tragen, vergöttern, die glücklich in ihrer Nähe sind und nicht daran denken, töricht Vorteil aus ihrer Galanterie ziehen zu wollen. Sie haben in diesem Punkt den Spürsinn des Hundes, der in einer Gesellschaft geradeswegs auf den Mann zugeht, dem die Tiere heilig sind. Der arme Chevalier hatte sich aus seinem früheren Leben das Bedürfnis bewahrt, das den Grandseigneur verriet, die Frauen unter seinen galanten Schutz zu nehmen. Stets dem System des ›petite-maison‹ treu, liebte er es, die Frauen, die einzigen Wesen, die zu empfangen verstehen, weil sie immer vergüten können, zu bereichern. Ist es nicht seltsam, daß in einer Zeit, wo die Schüler, wenn sie die Schule hinter sich haben, sich daranmachen, Mythen und Symbole aufzustöbern und auszulesen, noch keiner daran gedacht hat, die Liebesspiele des achtzehnten Jahrhunderts zu erklären? Waren sie nicht das Turnier des fünfzehnten Jahrhunderts? Um 1550 schlugen sich die Ritter für die Damen; 1750 führten sie ihre Mätressen nach Longchamp; heute lassen sie ihre Pferde rennen; zu allen Zeiten ist der Edelmann bemüht gewesen, sich eine Lebensweise zu schaffen, die ihm allein zu eigen war. Die Schnabelschuhe des vierzehnten Jahrhunderts waren die roten Absätze des achtzehnten, und der Luxus der Mätressen von 1750 war eine ähnliche Zurschaustellung wie die Gefühle der fahrenden Ritter. Aber der Chevalier konnte sich nicht mehr für eine Geliebte ruinieren. Anstatt der in Banknoten eingewickelten Bonbons bot er galant eine Tüte mit frischen Pfeffernüssen. Zur Ehre Alençons sei es gesagt, daß dieses Gebäck mit größerer Freude entgegengenommen wurde, als die Duthé ihrerzeit vom Comte d'Artois eine Toilettengarnitur aus vergoldetem Silber oder eine Equipage empfing. All diese Grisetten hatten die gefallene Majestät des Chevaliers de Valois begriffen und wahrten die tiefste Verschwiegenheit über ihre gemeinsamen Heimlichkeiten. Wenn man sie in einigen Häusern der Stadt über den Chevalier de Valois befragte, so machten sie ihn alt und sprachen ehrbar von ›Monsieur‹, er wurde dann ein ehrwürdiger Edelmann, der ein geradezu heiliges Leben führte; aber zu Hause hätten sie sich auf seine Schulter gesetzt, wie Papageien. Er liebte es, die Geheimnisse zu erfahren, welche die kleinen Wäscherinnen in den Haushalten entdeckten; sie kamen daher des Morgens, ihm den Klatsch von Alençon zu hinterbringen. Er nannte sie seine Zeitungen im Unterrock, seine lebenden Feuilletons. Niemals hatte Monsieur de Sartine solche geschickten und so billige Spione, die gleichviel Spitzbüberei entfalteten und doch soviel Ehre bewahrten. Während seines Frühstücks amüsierte sich der Chevalier also auf eine unvergleichbare Weise.

Suzanne, einer seiner Lieblinge, klug, ehrgeizig, hatte das Zeug zu einer Sophie Arnould in sich und war überdies schön wie die schönste Kurtisane, die Tizian jemals auf schwarzen Samt zu betten gewünscht hätte, damit sie seinem Pinsel helfe, eine Venus zu schaffen; doch sündigte ihr Gesicht, das in der Bildung der Stirn und der Augen Feinheit hatte, durch die gewöhnlichen Umrisse seiner untern Partie. Es war die normannische Schönheit, frisch, blendend, strotzend, das Fleisch von Rubens, das mit den Muskeln des Herkules Farnese vermählt werden mußte, und nicht die Venus von Medici, diese anmutsvolle Frau Apollos.

»Nun, meine Kleine, erzähle mir dein großes oder kleines Abenteuer!« sagte der Chevalier.

Was den Chevalier von Paris bis Peking ausgezeichnet hätte, war die väterliche Art seines Umgangs mit diesen Grisetten. Sie erinnerten ihn an die Dämchen von ehemals, jene berühmten Königinnen der Oper, die während eines guten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts in ganz Europa berühmt waren. Es ist nicht zu leugnen, daß der Edelmann, der vormals mit dieser weiblichen Nation gelebt hatte, die, wie alle großen Dinge – die Jesuiten und die Freibeuter, die Abbés und die Steuerpächter – nunmehr in Vergessenheit geraten ist, eine unwiderstehliche Gutmütigkeit, eine graziöse Leichtigkeit, eine Ungeniertheit ohne allen Egoismus erlangt hatte. Es war das Inkognito Jupiters bei Alkmene, des Königs, den man foppen darf, der die Göttlichkeit seiner Blitze zu allen Teufeln fahren läßt und seinen Olymp mit Torheiten, kleinen Soupers, besonders aber, fern von Juno, mit allerhand Weiblichkeiten verjubeln will. Trotz seines alten Schlafrocks aus grünem Damast, trotz der Kahlheit des Zimmers, in dem er empfing, wo anstatt eines Teppichs eine schlechte Decke auf dem Boden lag, wo fettige alte Sessel standen, die Wände mit einer Herbergstapete beklebt waren, auf der hier die Profile Ludwigs XVI. und seiner Familie in einer Trauerweide eingezeichnet waren, dort die Heilige Schrift in Form einer Urne aufgedruckt war, kurz, alle Sentimentalitäten, die der Royalismus unter der Schreckenszeit erfunden hatte; trotz seiner Altersspuren atmete der Chevalier, der sich vor einem mit schlechten Spitzen gezierten alten Toilettentisch rasierte, achtzehntes Jahrhundert. Die ganze leichtfertige Anmut seiner Jugend tauchte wieder auf, er schien dreihunderttausend Livres Schulden reich zu sein und sein Vis-à-vis vor der Tür stehen zu haben. Er war so groß wie Berthier, der bei der Niederlage von Moskau seine Befehle den Bataillonen einer Armee erteilte, die nicht mehr existierte.

»Monsieur le Chevalier«, sagte Suzanne drollig, »mir scheint, ich habe Ihnen gar nichts zu erzählen, Sie brauchen nur zu sehen.«

Und Suzanne stellte sich so, daß ihre Seitenansicht: zu sehen war, um ihren Worten überzeugenden Kommentar beizugeben. Der Chevalier, der, man mag es glauben, ein geriebener Geselle war, senkte, während er das Rasiermesser schräg an seinen Hals hielt, sein rechtes Auge auf das Mädchen und tat so, als ob er sie verstünde.

»Nun, nun, mein kleines Herz, wir reden gleich darüber. Aber mir scheint, du führst etwas im Schilde!«

»Aber Monsieur le Chevalier, soll ich denn warten, bis meine Mutter mich schlägt und Madame Lardot mich wegjagt? Wenn ich nicht sofort nach Paris gehe, kann ich mich niemals hier verheiraten, wo die Männer so lächerlich sind.«

»Mein Kind, was willst du! Die Gesellschaft ändert sich; die Frauen sind nicht weniger als der Adel die Opfer der schrecklichen Unordnung, die sich verbreitet. Nach dem politischen Umsturz kommt der Umsturz in den Sitten. Ach, die echte Frau wird bald nicht mehr existieren (er nahm die Watte heraus, um seine Ohren sauberzumachen); sie wird viel dabei verlieren, daß sie sich in die Empfindsamkeit stürzt; sie wird ihre Nerven peinigen und nichts mehr von dem hübschen kleinen Vergnügen unserer Zeit wissen, das ohne Scham ersehnt, ohne Umstände hingenommen wurde, und wo die Grillen nur ein Weg waren, um ein gewisses Ziel zu erreichen (er putzte seine kleinen Negerköpfe); sie werden eine Krankheit daraus machen, die nur mit einem Aufguß aus Orangenblüten kuriert werden kann. (Er lachte.) Kurzum, die Ehe wird (er nahm die Pinzette, um ein paar störende Haare zu entfernen) etwas sehr Langweiliges werden, und sie war doch so lustig zu meiner Zeit! Die Regierung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV., merke dir das, mein Kind, bedeuteten den Abschied der herrlichsten Sitten der Welt.«

»Aber Monsieur le Chevalier«, wandte das Mädchen ein, »es handelt sich um die Sitten und die Ehre Ihrer kleinen Suzanne, und ich hoffe, Sie werden sie nicht sitzenlassen.«

»Wie denn«, rief der Chevalier, der im Begriff war, seine Frisur zu beenden, »eher will ich doch gleich Jean heißen!«

»Ah!« atmete Suzanne auf.

»Höre mich an, kleine Heuchlerin!« sagte der Chevalier und streckte sich auf einer breiten Bergère aus, die einstmals ›Duchesse‹ genannt wurde und die Madame Lardot für ihn ausfindig gemacht hatte.

Er zog die prächtige Suzanne zu sich heran und nahm ihre Beine zwischen seine Knie. Das schöne Mädchen, das auf der Straße so hochmütig war, das zwanzigmal das Vermögen, das ihr mehrere Männer von Alençon angeboten, aus Stolz wie aus Geringschätzung gegen ihre Tölpelhaftigkeit ausgeschlagen hatte, ließ es geschehen, Suzanne bot dem Chevalier den Anblick ihres vorgeblichen Fehltritts so herausfordernd, daß dieser alte Sünder, der noch ganz andere Geheimnisse in weit arglistigeren Existenzen; ergründet hatte, die Sache mit einem einzigen Blick durchschaute. Er wußte sehr gut, daß kein Mädchen mit einer wirklichen Schande sein Spiel treibt; doch verschmähte er, das Gebäude dieser hübschen Lüge umzustoßen, indem er es berührte.

»Wir verleumden uns«, sagte der Chevalier und lächelte mit unnachahmlicher Feinheit, »wir sind brav wie das schöne Mädchen, dessen Namen wir tragen, wir können uns ohne Furcht verheiraten; aber wir wollen nicht hier vegetieren, wir dürsten danach, nach Paris zu kommen, wo die schönen Geschöpfe reich werden, wenn sie Verstand haben, und wir sind nicht dumm. Wir wollen uns also davon überzeugen, ob die Hauptstadt der Vergnügungen uns jungen Chevaliers de Valois, uns einen Wagen, Diamanten, eine Loge in der Oper vorbehalten hat. Die Russen, die Engländer, die Österreicher haben Millionen ins Land gebracht, auf die uns Mama eine Anweisung ausgestellt hat, indem sie uns schön machte. Kurzum, wir besitzen Patriotismus, wir wollen Frankreich dazu verhelfen, sein Geld aus den Taschen dieser Herren wiederzugewinnen. He, he, liebes kleines Teufelsschläfchen, all das ist nicht schlimm! Die Welt, in der du lebst, wird zwar ein kleines Geschrei erheben, aber der Erfolg wird alles rechtfertigen. Was aber sehr schlimm ist, mein Kind, das ist, kein Geld zu haben, und das ist unser beider Krankheit. Da wir ausnehmend klug sind, haben wir geglaubt, aus unserer allerliebsten Ehre einen Vorteil ziehen zu können, indem wir einen alten Knaben hereinlegen; aber dieser alte Knabe, mein Herz, kennt das A und O der weiblichen Listen, was heißen will, daß du eher einem Spatzen Salz auf den Schwanz streuen kannst, als mich glauben machen, ich sei im geringsten an deiner Sache beteiligt. Geh nach Paris, meine Kleine, geh hin auf Kosten der Eitelkeit eines alten Junggesellen, ich werde dich nicht daran hindern, ich werde dir sogar dazu verhelfen, denn der alte Junggeselle, Suzanne, ist der natürliche Geldschrank eines jungen Mädchens. Aber ziehe mich nicht da hinein! Höre, meine Schöne, die du das Leben so gut kennst, du würdest mir großes Unrecht und großen Kummer antun! Unrecht? Du könntest in einem Lande, wo man auf die Sitten hält, meine Verheiratung verhindern. Kummer? Wahrhaftig, selbst wenn du in Verlegenheit wärst, was ich leugne, Spitzbübin! Du weißt, mein Schatz, daß ich nichts mehr habe, daß ich arm bin wie eine Kirchenmaus. Ja, wenn ich Mademoiselle Cormon heiratete, wenn ich wieder reich würde, würde ich dich sicher Cesarine vorziehen. Du bist mir immer über die Maßen klug und gewitzt vorgekommen, du bist für die Liebe eines großen Herrn wie geschaffen. Ich halte dich für einen so pfiffigen Kopf, daß mich der Streich, den du mir da spielst, gar nicht überrascht, ich habe ihn erwartet. Für ein Mädchen heißt das, alles auf eine Karte setzen. Um so zu handeln, mein Engel, bedarf es geistiger Überlegenheit. Du besitzest also meine ganze Achtung.« Und er gab ihr nach Art der Bischöfe die Bestätigung auf die Wange.

»Aber. Monsieur le Chevalier, ich versichere Sie, daß Sie sich irren und daß ...«

Sie errötete und wagte nicht fortzufahren; der Chevalier hatte mit einem Blick ihren ganzen Plan erraten und durchschaut.

»Ja, ich höre dich, du willst, daß ich dir glaube! Nun gut, ich glaube dir. Aber folge meinem Rat, geh zu Monsieur du Bousquier! Bringst du nicht seit fünf oder sechs Monaten Monsieur du Bousquier die Wäsche? Also ich frage dich nicht, was zwischen euch vorgeht; aber ich kenne ihn, er besitzt Eigenliebe, er ist ein alter Hagestolz, er ist sehr reich, er hat zweitausendfünfhundert Livres Rente und gibt keine achthundert aus. Wenn du so klug bist, wie ich annehme, wirst du auf seine Kosten Paris zu sehen bekommen. Geh, mein Hühnchen, umgarne ihn, sei fein wie Seide, und bei jedem Wort mach eine doppelte Schlinge und einen Knoten! Er ist ein Mensch, der den Skandal fürchtet, und wenn er dir Veranlassung gegeben hat, ihn aufs Sünderstühlchen zu bringen ... nun, du verstehst, drohe ihm, daß du dich an die Damen des Wohltätigkeitsvereins wenden wirst! Überdies ist er ehrgeizig. Nun, ein Mann muß durch seine Frau alles erreichen können. Bist du nicht schön, nicht klug genug, um das Glück deines Mannes zu machen? Zum Teufel, du könntest einer Frau von Hof die Stirn bieten!«

Suzanne, der die letzten Worte des Chevaliers eine Erleuchtung gebracht hatten, brannte vor Begierde, zu Monsieur du Bousquier zu laufen. Um ihre Eile nicht gar so auffällig zu machen, befragte sie den Chevalier über Paris und half ihm beim Ankleiden. Der Chevalier sah die Wirkung seiner Fingerzeige und wollte Suzanne das Fortkommen erleichtern, indem er sie bat, Cesarine mit der Schokolade heraufzuschicken, die ihm Madame Lardot jeden Morgen bereitete. Suzanne entschlüpfte rasch, um sich zu ihrem Opfer zu begeben, dessen Biographie hier folgt.

Als Sprößling einer alten Familie Alençons hielt Monsieur du Bousquier die Mitte zwischen dem Bourgeois und dem kleinen Adligen. Sein Vater hatte das Amt eines Kriminalleutnants bekleidet. Als sich Monsieur du Bousquier nach dem Tode seines Vaters ohne Hilfsquellen sah, war er, wie alle verarmten Provinzler, nach Paris gegangen, um dort sein Glück zu machen. Zu Beginn der Revolution hatte er angefangen, Geschäfte zu machen. Sosehr sich auch die Republikaner alle mit ihrer revolutionären Ehrlichkeit aufs hohe Roß setzten, die Geschäfte jener Zeit waren undurchsichtig. Ein politischer Spion, ein Börsenspekulant, ein Proviantmeister, einer, der im Einverständnis mit dem Syndikus der Kommune Güter der Emigrierten einziehen ließ, um sie zu kaufen und wieder loszuschlagen, ein Minister und ein General, sie machten alle auf gleiche Weise Geschäfte. Von 1793 bis 1799 lieferte Monsieur du Bousquier den Proviant für die französischen Armeen. Er besaß zu jener Zeit ein prächtiges Haus, war einer der Matadore der Finanz, machte Halbpartgeschäfte mit Ouvrard, hielt offene Tafel und führte das skandalöse Leben der Zeit, eine Cincinnatus-Existenz mit Säcken voll Getreide, das ohne Mühe geerntet war, mit gestohlenen Rationen, mit Lustschlößchen voll leichter Mädchen, wo für die Direktoren der Republik große Feste veranstaltet wurden. Der Bürger Bousquier war einer der vertrauten Freunde von Barras, stand auf bestem Fuße mit Fouché, sehr gut mit Bernadotte und dachte Minister zu werden, indem er sich Hals über Kopf in die Partei stürzte, die bis Marengo gegen Bonaparte heimliches Spiel trieb. Wäre nicht der Sturmangriff Kellermanns und der Tod Desaix' dazwischengekommen, so wäre Monsieur du Bousquier ein großer Politiker geworden. Er war einer der hohen Beamten der niemals zur Macht gelangten Regierung, die das Glück Napoleons hinter die Kulissen von 1793 zurücktreten ließ. Der hartnäckig und überraschend errungene Sieg bei Marengo veranlaßte die Niederlage dieser Partei, die fertiggedruckte Proklamationen in Bereitschaft hielt, um, falls der Erste Konsul unterlegen wäre, zum System der Bergpartei zurückzukehren. Vollständig von der Unmöglichkeit eines Sieges überzeugt, spekulierte Monsieur du Bousquier mit dem größten Teil seines Vermögens auf das Fallen der Wertpapiere und hielt zwei Kuriere auf dem Schlachtfeld in Bereitschaft: der erste ritt in dem Augenblick ab, da Melas siegreich war; aber in der Nacht kam der zweite vier Stunden später, um die Niederlage der Österreicher zu verkünden. Du Bousquier fluchte Kellermann und Desaix; dem Ersten Konsul wagte er nicht zu fluchen, denn der war ihm Millionen schuldig. Diese Alternative zwischen einem Gewinn von Millionen und dem völligen Ruin raubte dem Lieferanten seine sämtlichen Fähigkeiten, er war ein paar Tage wie blödsinnig. Er hatte mit dem Leben durch so schwere Exzesse Mißbrauch getrieben, daß er diesen Schlag kraftlos auf sich herabfallen ließ. Er hoffte zwar noch auf die Begleichung seiner Schuldforderungen an den Staat; aber trotz seiner Bestechungsversuche traf ihn der Haß Napoleons gegen die Heereslieferanten, die auf seine Niederlage spekuliert hatten. Monsieur de Fermon, der so scherzhaft ›Fermons la caisse‹ (Schließen wir die Kasse!) genannt wurde, gab Monsieur du Bousquier keinen Sou. Die Unsittlichkeit seines Privatlebens, die Verbindungen dieses Lieferanten mit Barras und Bernadotte mißfielen dem Konsul noch mehr als sein Spiel an der Börse; er strich ihn aus der Liste der Obersteuereinnehmer, in die er vermöge des letzten Restes seines Ansehens als Kandidat für Alençon hineingekommen war. Von seinem Reichtum behielt Du Bousquier zwölfhundert Francs Leibrente in Staatspapieren, eine zufällige Anlage, die ihn vor dem Elend bewahrte. Da seine Gläubiger nicht wußten, welches Resultat die Liquidation haben würde, ließen sie ihm nur tausend Francs konsolidierte Renten; aber sie wurden alle durch die Eintreibung der Rückstände und den Verkauf des Hotel de Beauséant, das Monsieur du Bousquier besaß, bezahlt. So blieb dem Spekulanten, nachdem er knapp am Bankrott vorbeigekommen war, sein Name unversehrt. Ein Mann, der vom Ersten Konsul ruiniert worden und dem der kolossale Ruf, den ihm seine Verbindungen mit den Spitzen der ehemaligen Regierung, seine Lebensweise und seine kurze Macht eingetragen hatten, vorangegangen war, interessierte die Stadt Alençon, wo heimlich der Royalismus herrschte. Der gegen Napoleon aufgebrachte Du Bousquier, der die Nöte des Ersten Konsuls, die Ausschweifungen Josephines und die geheimen Anekdoten aus zehn Jahren Revolution zum besten gab, wurde sehr gut aufgenommen. Zu dieser Zeit trat Du Bousquier, obwohl er gut und gern vierzig Jahre alt war, als ein Mann vor sechsunddreißig Jahren auf, der von mittlerem Wuchs, fett wie ein Heereslieferant war und mit seinen Waden, die eines zotigen Staatsanwalts würdig waren, paradierte; er hatte stark ausgeprägte Gesichtszüge, eine plattgedrückte Nase mit behaarten Nasenlöchern, schwarze Augen mit dichten Brauen, aus denen ein listiger Blick, wie bei Talleyrand, hervordrang, der aber etwas Erloschenes hatte; er behielt den republikanischen Backenbart bei und trug seine braunen Haare sehr lang. Seine Hände, die auf jedem Fingerglied mit einem kleinen Büschel Haare bewachsen waren, zeugten durch dicke blaue, vorspringende Adern von starker Muskelkraft. Er hatte einen Brustkasten wie der Herkules Farnese und Schultern, die die Staatsschuld hätten tragen können. Man sieht solche Schultern heutzutage nur noch bei Tortoni. Diese übermäßig ausgeprägte Männlichkeit fand sich ganz vortrefflich gekennzeichnet durch einen Ausdruck, der im vergangenen Jahrhundert gebräuchlich war, während man ihn heute kaum noch versteht: im galanten Stil der vorigen Epoche hätte Du Bousquier als ein wahrer ›rückständiger Zahler‹ gegolten. Aber so wie bei dem Chevalier de Valois fanden sich auch bei Du Bousquier Anzeichen, die zu dem Gesamteindruck der Person in Widerspruch standen. So hatte der ehemalige Lieferant nicht die Stimme seiner Muskeln. Nicht etwa, daß seine Stimme dünn und kreischend gewesen wäre, so wie sie manchmal aus dem Munde dieser zweibeinigen Robben herauskommt. Sie war im Gegenteil stark, jedoch dumpf; man wird am besten einen Begriff von ihr bekommen, wenn man sie mit dem Geräusch vergleicht, das eine Säge macht, die durch weiches, nasses Holz geht; kurz, es war die Stimme eines gehetzten Spekulanten.

Du Bousquier behielt noch lange das Kostüm bei, das zur Zeit seines Ruhmes Mode gewesen war: die Stulpenstiefel, die weißseidenen Strümpfe, die kurze Hose aus geripptem, zimtbraunem Tuch, die Weste à la Robespierre und den blauen Rock. Obwohl ihm der Haß des Ersten Konsuls ein Anrecht auf die Gunst der royalistischen Spitzen der Gesellschaft gegeben hätte, wurde Du Bousquier in sieben oder acht Familien, die den Faubourg Saint-Germain von Alençon bildeten und bei denen der Chevalier de Valois Zutritt hatte, nicht empfangen. Zuerst hatte er alles versucht, um Mademoiselle Armande, die Schwester eines der angesehensten Adligen der Stadt, zu heiraten, da er aus dieser Verbindung große Vorteile für seine anderweitigen Pläne, die in einer glänzenden Revanche gipfelten, zu ziehen hoffte. Er holte sich einen Korb. Er tröstete sich mit der Entschädigung, die ihm ein Dutzend anderer reicher Familien bot, die ehemals Alençonspitzen fabriziert hatten, jetzt Weiden und Rinder besaßen und einen Leinenhandel en gros betrieben, und er hoffte da gelegentlich zu einer guten Partie zu kommen. Der alte Junggeselle hatte in der Tat all seine Hoffnungen auf eine günstige Heirat gesetzt, und seine verschiedenen Fähigkeiten schienen ihm eine solche zu verbürgen. Er entbehrte in finanziellen Dingen nicht einer gewissen Geschicklichkeit, die sich viele Leute zunutze machten. Wie der ruinierte Spieler die Neulinge anleitet, wies er auf Spekulationen hin, empfahl die Wege, die Aussichten und die Durchführung. Er galt für einen guten Verwalter: es war oft die Rede davon, ihn zum Bürgermeister von Alençon zu ernennen. Aber die Erinnerung an seine Machenschaften zur Zeit der republikanischen Regierung schadete ihm; er wurde auf der Präfektur niemals empfangen. Alle Regierungen, die aufeinander folgten, selbst die der Hundert Tage, weigerten sich, ihn zum Bürgermeister von Alençon zu machen, und sein ganzer Ehrgeiz ging auf diese Stellung aus, da sie ihm zur Heirat mit einer alten Jungfer, auf die er schließlich sein Augenmerk gerichtet hatte, verhelfen hätte. Sein Haß gegen die kaiserliche Regierung hatte ihn zunächst der royalistischen Partei zugeführt, und er blieb darin, trotz der Beleidigungen, die er einstecken mußte. Aber als er bei der ersten Wiederkehr der Bourbonen weiterhin von der Präfektur ausgeschlossen blieb, faßte er einen tiefen, wenn auch heimlichen Haß gegen die Bourbonen, denn er war seinen Anschauungen offenbar treu geblieben. Er wurde das Oberhaupt der liberalen Partei Alençons, der unsichtbare Leiter der Wahlen und fügte der Restauration durch die Geschicklichkeit seiner heimlichen Manöver und die Verschlagenheit seiner Umtriebe beträchtlichen Schaden zu. Du Bousquiers Haß war, wie es bei Personen zu sein pflegt, bei denen der Verstand vorherrschend ist, anscheinend ruhig. Er glich einem Bach, der zwar nicht mächtig, aber unversiegbar ist; er war wie der des Negers, so friedlich, so geduldig, daß er den Feind irreführte. Seine Rache, die er fünfzehn Jahre lang ausbrütete, wurde durch keinen Sieg, nicht einmal durch den Triumph der Julitage von 1830, gesättigt.

Nicht ohne Absicht hatte der Chevalier de Valois Suzanne zu Du Bousquier geschickt Der Liberale und der Royalist hatten sich gegenseitig durchschaut, trotz der klugen Verstellung, mit der sie ihre gemeinsame Hoffnung vor der ganzen Stadt verbargen. Diese beiden alten Junggesellen waren Rivalen. Jeder von ihnen hatte die Absicht, Mademoiselle Cormon zu heiraten, von der Monsieur de Valois soeben mit Suzanne gesprochen hatte. Beide erwarteten, in ihre Idee verbissen und nach außen mit Gleichgültigkeit gewappnet, den Augenblick, wo ihnen ein Zufall diese alte Jungfer ausliefern würde. Wenn also auch nicht die Systeme, deren lebendiger Ausdruck die beiden Hagestolze waren, eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen gebildet hätten, so hätte sie ihre Nebenbuhlerschaft zu Feinden gemacht. Die Zeitläufte färben auf die Menschen, die sie durchleben, ab. Diese beiden Personen taten die Richtigkeit dieser Regel durch den Gegensatz der historischen Färbung dar, der in ihren Physiognomien, ihren Gesprächen, ihren Ideen und ihrer Kleidung ausgeprägt war. Der eine, kurz angebunden, energisch, mit breiten und plötzlichen Bewegungen, barsch und knapp in den Worten, dunkel in Teint, Haar und Blick, dem Anschein nach schrecklich, in Wirklichkeit ohnmächtig wie ein niedergeschlagener Aufstand, verkörperte treffend die Republik.

Der andere, glatt und höflich, elegant, geschmackvoll, gepflegt, verfolgte sein Ziel mit den langsamen, aber unfehlbaren Mitteln der Diplomatie, blieb dem guten Geschmack treu und war ein Bild des ehemaligen Höflings. Diese beiden Gegner trafen sich fast alle Abende auf dem nämlichen Terrain. Der Krieg war höflich und leutselig von seiten des Chevaliers; Du Bousquier befleißigte sich nicht so sehr der Form, obwohl er die von der Gesellschaft gebotenen Konventionen beachtete, denn er wollte sich nicht vom Schauplatz verjagen lassen. Gegenseitig verstanden sich die beiden sehr wohl. Trotz des Scharfsinns, den die Provinzler für die kleinen Angelegenheiten, die sich in ihrem Kreise abspielen, entfalten, ahnte niemand die Rivalität der beiden Männer, Der Chevalier de Valois hatte einen weitaus günstigeren Stand, er hatte niemals um die Hand von Mademoiselle Cormon angehalten; Du Bousquier hingegen, der, nachdem er in dem angesehensten Hause des Landes eine Schlappe erlitten hatte, in die Reihe der Bewerber getreten war, war abgewiesen worden. Doch mußte der Chevalier seinem Rivalen noch bedeutende Erfolgsmöglichkeiten zutrauen, um ihm einen so wohlüberlegten tiefsitzenden Stich mit einer so geschärften Klinge, wie es Suzanne war, zu versetzen. Der Chevalier hatte die Sonde in das Gewässer Du Bousquiers gesenkt, und wie man sehen wird, hatte er sich in keiner seiner Vermutungen getäuscht.

Suzanne ging mit leichtem Schritt von der Rue du Cours durch die Rue de la Porte de Séez und die Rue du Bercail bis zu der Rue du Cygne, wo Du Bousquier seit fünf Jahren ein kleines Provinzhaus besaß, das aus grauem Kalkstein, ähnlich dem Bruchstein des normannischen Granits oder dem bretonischen Schiefer, gebaut war. Der ehemalige Lieferant hatte sich komfortabler als jeder andere in der Stadt eingerichtet, denn er besaß noch einige Möbel aus der Zeit seiner Herrlichkeit; doch die Sitten der Provinz hatten allmählich den Glanz des gefallenen Sardanapal verdunkelt. Die Spuren seines früheren Luxus wirkten in dem Hause wie ein Kronleuchter in einer Scheune. Die Harmonie, das bindende Element jedes menschlichen und göttlichen Werkes, fehlte in den großen wie in den kleinen Dingen. Auf einer schönen Kommode stand ein Wassertopf mit Deckel, wie man ihn nur in der Bretagne sieht. Ein hübscher Teppich bedeckte den Fußboden, doch an den Fenstern waren Vorhänge aus gewöhnlichem Kattun mit aufgedruckten Rosenbuketts. Auf dem häßlich bemalten steinernen Kamin stand eine prächtige Uhr, zu der wiederum zwei elende Leuchter schlecht paßten. Die Treppe, die jeder hinaufstieg, ohne sich die Füße abzutreten, war nicht gestrichen. Die Türen, die von einem einheimischen Maler aufgefrischt worden waren, stießen den Blick durch schreiende Farben ab. Wie die Zeit, die Du Bousquier repräsentierte, enthielt dieses Haus einen zusammengewürfelten Haufen von schmutzigen und herrlichen Dingen. Du Bousquier galt für einen Mann von gutem Auskommen und führte das gleiche Schmarotzerdasein wie der Chevalier; wer sein Einkommen nicht ausgibt, wird immer reich sein. Als einzigen dienstbaren Geist hatte er einen tölpelhaften Jungen vom Lande, eine Art Jocrisse, den Du Bousquier allmählich wie einen Orang-Utan abgerichtet hatte, den Fußboden zu scheuern, die Möbel abzuwischen, die Stiefel zu wichsen, die Kleidung zu bürsten und ihn abends bei trübem Wetter mit der Laterne oder, wenn es regnete, mit Holzschuhen abzuholen. Wie gewisse Geschöpfe neigte der Junge nur zu einem einzigen Laster: er war gefräßig. Manchmal, wenn Du Bousquier ein Festmahl gab, ließ er ihn seinen blaukarierten baumwollenen Kittel, aus dem immer die Taschen, mit Taschentuch, Messer, einem Stück Kuchen oder einem Apfel vollgestopft, heraus standen, ausziehen, eine Livree anlegen und nahm ihn zum Servieren mit. René stopfte sich dann samt den andern Dienstboten mit Speisen voll. Diese Pflicht, die Du Bousquier als eine Belohnung dargestellt hatte, trug ihm die absoluteste Verschwiegenheit seines bretonischen Dieners ein.

»Was wollen Sie, Mademoiselle?« sagte René zu Suzanne, als sie eintrat; »es ist nicht Ihr Tag, wir haben heute Madame Lardot keine Wäsche zu schicken.« – .»Dummer Esel!« versetzte Suzanne lachend.

Das hübsche Mädchen stieg hinauf und ließ René seine Schüssel in Milch gekochter Buchweizenfladen weiteressen. Du Bousquier lag noch im Bett und käute seine Glücksprojekte wieder; denn wie allen denen, die die Drängen der Liebesfreude zu sehr ausgedrückt haben, blieb ihm nichts weiter übrig als der Ehrgeiz. Der Ehrgeiz und das Spiel sind unerschöpflich. Auch werden bei einem Mann von gesundem Organismus die Leidenschaften, die dem Gehirn entspringen, stets die Leidenschaften des Herzens überdauern.

»Da bin ich!« sagte Suzanne und setzte sich mit einer so ungestümen Bewegung auf das Bett, daß die Vorhänge an den Stangen knarrten. »Was ist denn, mein Engel?« fragte der alte Junggeselle und setzte sich im Bett auf. »Monsieur«, sagte Suzanne feierlich, »Sie werden erstaunt sein, mich hier zu sehen; aber ich befinde mich in Umständen, die mich nötigen, mich nicht darum zu kümmern, was man darüber redet.« – »Was ist denn los?« fragte Du Bousquier weiter und kreuzte die Arme über der Brust, »Aber verstehen Sie mich denn nicht?« erwiderte Suzanne. »Ich weiß«, fuhr sie fort und zog einen niedlichen Schmollmund, »daß es lächerlich von einem armen Mädchen ist, einem Manne Scherereien zu machen für etwas, was er für Lappalien hält. Aber wenn Sie mich kennen würden, wenn Sie wüßten, wessen ich für den Mann, der mir zugetan wäre, so wie ich ihm zugetan sein würde, fähig wäre, würden Sie es niemals bereuen, mich geheiratet zu haben. Hier freilich würde ich Ihnen nicht viel nützen können; aber wenn wir nach Paris gingen, würden Sie sehen, wohin ich einen Mann von Geist und Fähigkeiten, so wie Sie, zu einer Zeit, wo die Regierung von Grund aus umgewälzt wird und wo die Ausländer die Herren sind, führen könnte! Schließlich, unter uns gesagt, ist denn das, wovon hier die Rede ist, ein Unglück? Ist es nicht vielmehr ein Glück, das Sie sich eines Tages teuer erkaufen würden? Für wen sorgen Sie? Für wen arbeiten Sie?« – »Für mich!« rief Du Bousquier brutal.

»Altes Ungeheuer, Sie werden niemals Vater sein!« rief Suzanne im Ton einer dunklen Prophezeiung.

»Was soll das heißen? Keine Dummheiten, Suzanne; ich glaube noch zu träumen.«

»Aber welchen Beweis brauchen Sie denn?« rief Suzanne und erhob sich.

Du Bousquier schob seine baumwollene Nachtmütze auf seinem Kopf mit einer Energie hin und her, die bewies, daß eine wunderbare Klarheit in seinen Gedanken aufdämmerte. ›Er glaubt es wahrhaftig!‹ sagte Suzanne zu sich selbst, ›und es schmeichelt ihm. Mein Gott, wie leicht doch diese Männer auf alles hereinfallen‹.

»Suzanne, was zum Teufel soll ich tun? Es ist so merkwürdig ... Ich, der ich glaubte ... Es steht nämlich so, daß ... Doch nein, nein, es kann ja nicht sein ...«

»Was, Sie können mich nicht heiraten?« – »Oh, was das angeht, keineswegs! Ich habe Verpflichtungen.« – »So? Gegenüber Mademoiselle Armande oder gegenüber Mademoiselle Cormon, die Ihnen beide schon einen Korb gegeben haben? Hören Sie, Monsieur du Bousquier, meine Ehre hat keine Gendarmen nötig, Sie nach dem Standesamt zu schleppen. Es wird mir nicht an solchen fehlen, die mich heiraten wollen, und ich will keinen Mann, der mich nicht zu schätzen weiß. Eines Tages möchten Sie es bereuen, daß sie sich heute so zeigen, denn nichts in der Welt, kein Gold noch Geld, wird mich dazu bringen, Ihnen Ihr Gut wiederzugeben, wenn Sie es heute ausschlagen.«

»Aber, Suzanne, bist du sicher? ...« – »Aber Monsieur!« brauste das Wäschermädchen, in ihre Tugend gehüllt, auf. »Wofür halten Sie mich? Ich erinnere Sie nicht an die Versprechungen, die Sie mir gemacht haben und die ein armes Mädchen, das sich nichts anderes vorzuwerfen hat, als daß ihr Ehrgeiz so groß ist wie ihre Liebe, ins Verderben gestürzt haben.«

Du Bousquier war von tausend widerstreitenden Gefühlen, der Freude, des Mißtrauens, der Berechnung, bestürmt. Er hatte seit langem beschlossen, Mademoiselle Cormon zu heiraten, denn die Charta, auf die er spekulierte, eröffnete seinem Ehrgeiz die glänzende Laufbahn eines Abgeordneten. Seine Heirat mit der alten Jungfer würde ihn bei der Stadt so hoch zu Ansehen bringen, daß er einen großen Einfluß erlangen würde. So stürzte ihn das von der boshaften Suzanne heraufbeschworene Gewitter in große Verwirrung. Ohne jene heimliche Hoffnung hätte er Suzanne ohne weitere Überlegung geheiratet. Er hätte sich offen an die Spitze der liberalen Partei von Alençon gestellt. Nach einer solchen Heirat verzichtete er auf die obere Gesellschaft und fiel in die bürgerliche Klasse der Kaufleute, der reichen Fabrikanten, der Viehmäster zurück, die ihn im Triumph als ihren Kandidaten aufstellen würden. Du Bousquier sah schon im Geiste die Linke. Er verbarg keineswegs dies feierliche innere Zurategehen. Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und ließ seinen unbedeckten Schädel sehen, denn die Mütze war herabgefallen. Wie alle, die über das Ziel hinausgehen und mehr finden, als sie erwartet haben, war Suzanne wie aus den Wolken gefallen. Um ihr Erstaunen zu verbergen, nahm sie die melancholische Pose eines mißbrauchten Mädchens vor seinem Verführer an; aber innerlich lachte sie wie ein geriebenes Frauenzimmer, das ein schlaues Spiel gewinnt.

»Mein liebes Kind, ich lasse mich nicht auf solche Aufschneidereien ein!«

Dies war der kurze Satz, mit dem der ehemalige Lieferant seine innere Beratung schloß. Du Bousquier bildete sich etwas darauf ein, zur Schule der kynischen Philosophen zu gehören, die nicht auf die Frauen ›hereinfallen‹ wollen und für die alle derselben ›verdächtigen‹ Klasse angehören. Diese starken Köpfe, die gewöhnlich schwache Männer sind, haben einen Katechismus für den Gebrauch der Frau. Für sie sind alle, von der Königin von Frankreich bis zur Modistin, durchaus leichtfertig, spitzbübisch, mörderisch, sogar ein wenig betrügerisch, von Grund aus lügenhaft und unfähig, anderes als Nichtigkeiten zu denken. Für sie sind die Frauen heimtückische Bajaderen, die man tanzen, lachen und singen lassen muß; sie sehen in ihnen nichts Großes und Heiliges; sie kennen nicht die Poesie der Sinne, nur die grobe Sinnlichkeit. Sie sind wie die Fresser, die die Küche für den Speisesaal halten. Nach diesen Rechtsgrundsätzen erniedrigt die Frau, wenn sie nicht beständig tyrannisiert wird, den Mann zum Sklaven, In dieser Beziehung war Du Bousquier wiederum das Gegenstück des Chevaliers. Indem er seinen Satz aussprach, warf er seine Nachtmütze ans Bettende, ähnlich dem Papst Gregor, der die Kerze umstürzte, während er einen Bannfluch schleuderte, und Suzanne sah nunmehr, daß der alte Junggeselle ein Toupet trug.

»Denken Sie daran, Monsieur du Bousquier«, erwiderte Suzanne majestätisch, »daß es meine Pflicht war, zu Ihnen zu kommen; denken Sie daran, daß es geboten war, Ihnen meine Hand anzubieten und die Ihre zu verlangen; aber denken Sie auch daran, daß ich eine Frau bin, die weiß, was sich schickt, und mir nichts vergeben habe; ich habe mich nicht so weit erniedrigt, zu plärren wie eine dumme Liese, ich habe nicht darauf gedrungen, ich habe Sie keineswegs gequält. Sie kennen jetzt meine Lage! Sie wissen, daß ich in Alençon nicht bleiben kann, meine Mutter wird mich schlagen; Madame Lardot reitet auf ihren Prinzipien herum, als ob sie sie plätten wollte, sie wird mich davonjagen. Was bleibt mir armen Wäscherin anderes übrig, als ins Spital zu gehen? Soll ich betteln gehen? Nein! Lieber werfe ich mich in die Brillante oder in die Sarthe. Ist es denn aber nicht viel einfacher, wenn ich nach Paris gehe? Meine Mutter kann mich unter irgendeinem Vorwand hinschicken: ein Onkel kann mich brauchen, eine Tante kann im Sterben liegen oder eine Dame sich für mich interessieren. Es handelt sich also nur um das nötige Geld für die Reise und alles übrige...«

Diese Mitteilung hatte für Du Bousquier tausendmal mehr Bedeutung als für den Chevalier de Valois, aber er allein und der Chevalier wußten um das Geheimnis, das erst im Laufe dieser Geschichte enthüllt werden wird. Zunächst genügt es, zu sagen, daß die Lüge Suzannes eine so große Verwirrung in den Gedanken des alten Junggesellen hervorbrachte, daß er zu einer ernsthaften Überlegung unfähig war. Ohne diese Benommenheit und einen gewissen heimlichen Stolz – denn jeder Gimpel geht seiner Eigenliebe auf den Leim – hätte er geglaubt, daß ein anständiges Mädchen hundertmal lieber gestorben wäre, ehe es eine solche Auseinandersetzung angeknüpft und Geld von ihm verlangt hätte. Er hätte in dem Blick der Grisette die grausame Gier des Spielers gesehen, der imstande wäre, einen Mord zu begehen, um sich einen Einsatz zu verschaffen.

»Du willst also nach Paris?« fragte er. Als Suzanne diese Frage hörte, blitzte in ihren grauen Augen die helle Freude auf; aber der glückliche Du Bousquier sah nichts.

»Ja, gewiß, Monsieur!« Du Bousquier hub seltsame Klagen an: Er hatte soeben die letzte Zahlung auf sein Haus geleistet, er mußte den Maler, den Maurer, den Schreiner befriedigen; doch Suzanne ließ ihn reden, sie wartete darauf, daß er die Summe nennen würde. Du Bousquier bot hundert Taler. Suzanne spielte, was man im Kulissenstil einen falschen Abgang nennt, sie ging auf die Tür zu.

»Nun, wo willst du hin?« rief Du Bousquier unruhig. »Da hast du dir was Schönes eingebrockt«, sagte er zu sich selbst; »der Teufel soll mich holen, wenn ich ihr mehr als den Halskragen zerdrückt habe! ... Verflucht! Sie macht sich einen Scherz zunutze, um auf dich einen Wechsel, mit der geladenen Pistole in der Hand, zu ziehen!«

»Aber Monsieur«, schluchzte jetzt Suzanne, »ich gehe zu Madame Granson, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins, die, soviel ich weiß, ein armes Mädchen im gleichen Fall sozusagen aus dem Wasser gezogen hat.«

»Madame Granson?« – »Ja«, erwiderte Susanne, »die Verwandte von Mademoiselle Cormon, der Vorsitzenden des Mütterfürsorgevereins. Mit Verlaub haben die Damen der Stadt da eine Einrichtung geschaffen, die manches arme Ding davon abhalten wird, ihr Kind umzubringen, wofür man vor drei Jahren in Mortagne die schöne Faustine d'Argentan mit dem Tode bestraft hat.« – »Da, Suzanne«, sagte Du Bousquier und reichte ihr einen Schlüssel, »öffne selbst den Sekretär, nimm den angebrochenen Beutel, welcher noch sechshundert Francs enthält; es ist alles, was ich besitze.«

Der alte Lieferant bekundete durch seine Niedergeschlagenheit, wie schwer es ihm wurde, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

›Alter Gauner‹ sagte Suzanne im stillen, ›ich werde von seinem Toupet erzählen.‹ Sie verglich Du Bousquier mit dem köstlichen Chevalier de Valois, der nichts gegeben, aber der sie verstanden, ihr einen Rat erteilt und der die Grisetten in sein Herz geschlossen hatte.

»Wenn du mich zum besten hast, Suzanne«, rief da Du Bousquier, als er sah, daß sie ihre Hand in der Schublade hatte ... »Nun«, meinte sie mit einer grandiosen Unverschämtheit, »Sie würden sie mir doch auch geben, wenn ich Sie darum bäte?«

Der Lieferant, der sich an der Ehre seiner Galanterie gepackt fühlte und an seine gute Zeit zurückdachte, ließ ein Knurren der Zustimmung hören. Suzanne nahm den Beutel und verließ das Zimmer, nachdem sie sich von dem alten Junggesellen hatte auf die Stirn küssen lassen, der dabei aussah, als kombinierte er ungefähr folgendes: ›Das ist ein Zoll, der mich teuer zu stehen kommt. Immerhin ist es besser, als vor Gericht als Verführer einer Kindesmörderin zu erscheinen.‹

Suzanne verbarg den Beutel in einer Art Markttasche aus feinem Weidengeflecht, die sie am Arm hatte, und fluchte dem Geiz Du Bousquiers, denn sie hatte tausend Francs haben wollen. Wenn ein Mädchen erst von einer Begierde besessen ist und sich auf den Weg des Betrages begeben hat, geht sie weit. Als die schöne Plätterin die Rue du Bercail entlangging, überlegte sie, daß der Mütterfürsorgeverein, dessen Vorsitzende Mademoiselle Cormon war, ihr vielleicht die Summe, die sie sich zur Bestreitung ihrer Ausgaben ausgerechnet hatte und die für eine Grisette aus Alençon sehr beträchtlich war, ergänzen würde. Überdies haßte sie Du Bousquier. Es schien, als ob der alte Hagestolz Furcht davor hatte, daß man sein angebliches Verbrechen Madame Granson verriet. Suzanne beschloß, auf die Gefahr hin, von dem Mütterfürsorgeverein nicht einen Sois zu erhalten, den ehemaligen Lieferanten bei ihrem Weggang von Alençon in die unentwirrbaren Schlingen eines Provinzklatsches zu verwickeln. Es steckt in der Grisette immer etwas von der Bosheit des Affen. Suzanne setzte also eine recht trübselige Miene auf, als sie bei Madame Granson eintrat.

Madame Granson, die Witwe eines Oberstleutnants der Artillerie, der bei Jena gefallen war, besaß als ganzes Vermögen eine kärgliche Pension von neunhundert Francs, hundert Taler Rente für sich selbst, außerdem einen Sohn, dessen Erziehung und Unterhalt ihre Ersparnisse aufgezehrt hatten. Sie bewohnten in der Rue du Bercail eins der armseligen Erdgeschosse, die der Reisende mit einem Blick übersieht, wenn er in die Hauptstraße der kleinen Stadt einbiegt. Es hatte ein Halbtor, das sich auf drei mächtigen Stufen erhob; ein Gang, an dessen Ende sich eine von einer Holzgalerie überdeckte Treppe befand, führte in den inneren Hof. Auf der einen Seite des Ganges lagen das Eßzimmer und die Küche, auf der andern ein Salon für alle Zwecke und das Schlafzimmer der Witwe. Athanase Granson, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, wohnte in einer Mansarde über dem ersten Stockwerk des Hauses. Er brachte dem Haushalt seiner armen Mutter den Zuschuß von sechshundert Francs, die ihm ein kleiner Posten beim Gemeindeamt eintrug, wo er bei den Zivilstandsakten beschäftigt war, und den er dem Einfluß seiner Verwandten, Mademoiselle Cormon, verdankte. Nach diesen Angaben wird jeder Madame Granson in ihrem kalten Salon mit gelben Vorhängen und Möbeln aus gelbem Utrechter Samt vor Augen haben, wie sie nach einem Besuch die kleinen Schilfmatten wieder zurechtrückt, die sie vor die Stühle zu schieben pflegte, damit der gebohnerte rote Steinfußboden nicht beschmutzt würde; wie sie dann wieder mit ihrer Näharbeit ihren mit Kissen ausstaffierten Lehnstuhl am Arbeitstisch, der zwischen den beiden Fenstern unter dem Bilde des Oberstleutnants der Artillerie steht, einnimmt, von wo aus sie die ganze Rue du Bercail mit allem, was da kommt und geht, übersehen kann. Sie war eine gute Frau, die in bürgerlicher Einfachheit gekleidet war, wie es zu ihrem blassen Gesicht, das der Kummer förmlich ausgedörrt hatte, paßte. Die unerbittliche Bescheidenheit der Armut zeigte sich in allen kleinen Nebendingen dieses Haushalts, der die rechtschaffenen, strengen Sitten der Provinz spiegelte. In diesem Augenblick befanden sich der Sohn und die Mutter in dem Eßzimmer, wo sie zum Frühstück eine Tasse Kaffee nebst Butter und Radieschen zu sich nahmen. Um zu begreifen, welches Vergnügen der Besuch Suzannes Madame Granson bereiten sollte, ist es nötig, die geheimen Interessen der Mutter und des Sohnes darzulegen.

Athanase Granson war ein magerer, blasser junger Mann von mittlerer Figur, mit hohlem Gesicht, in welchem zwei schwarze, geistsprühende Augen wie zwei Kohlen funkelten. Die etwas gequälten Linien seines Gesichts, die Krümmungen des Mundes, sein vorspringendes Kinn, der regelmäßige Schnitt der marmornen Stirn, ein Ausdruck der Melancholie, der von dem Gefühl des Elends herrührte, das im Widerspruch zu der innern Kraft stand, deren er sich bewußt war, bekundeten einen begabten Menschen in Gefangenschaft. Überall anderswo als in Alençon hätte ihm seine Erscheinung den Beistand bedeutender Männer oder Frauen, die das Genie in seinem Inkognito erkannten, verschafft. War es nicht das Genie selbst, so war es doch die Form, die es annimmt; war es nicht die Kraft eines großen Herzens, so doch ein Leuchten, das sie dem Blick verleiht. Obwohl er die feinste Sensibilität der Seele hätte ausdrücken können, so war seine Schüchternheit doch so groß, daß sie fast die Anmut der Jugend zerstörte; auch ließ der Frost der Armut nichts Kühnes in ihm aufkommen. Das Provinzleben, ohne Erfolg, ohne Beifall, ohne Ermutigung, zog einen Kreis um ihn, in dem jeder Gedanke in der Knospe welken mußte. Überdies hatte Athanase den spröden Stolz, den die Armut bei erlesenen Menschen züchtet, einen Stolz, der sie in ihrem Kampf mit Menschen und Dingen wohl erhöht, ihnen aber bei ihrem Fortkommen hinderlich ist. Das Genie verfährt auf zwei Arten: entweder nimmt es, was ihm gehört, sobald es dessen ansichtig wird, wie es Napoleon und Molière gemacht haben, oder es wartet darauf, daß man zu ihm komme, wenn es sich in der Stille offenbart hat. Der junge Granson gehörte zu der Klasse begabter Menschen, die sich selbst nicht kennen und leicht mutlos werden. Seine Seele war beschaulich, er lebte mehr im Denken als im Tun. Vielleicht wäre er jenen, welche sich das Genie nicht ohne das leidenschaftliche Flackern des Franzosen denken können, unvollkommen erschienen; doch war er mächtig in der Welt des Geistes, und er sollte durch eine Reihe innerer Kämpfe, die sich dem gewöhnlichen Blick entziehen, zu jenen plötzlichen Entschließungen gelangen, die deren Abschluß bilden und die Dummköpfe zu dem Ausruf veranlassen: Er ist verrückt. Die Verachtung, welche die Welt über die Armut ergießt, lähmte Athanase; die entnervende Atmosphäre einer beklemmenden Einsamkeit erschlaffte seinen Geist, der sich immer wieder aufs neue anspannte, ein schreckliches Spiel ohne jeglichen Erfolg, das die Seele ermüdete. Athanase hätte sich den ausgezeichnetsten Männern Frankreichs an die Seite stellen können; aber dieser Adler, der in einen Käfig gesperrt war, wo er kein Futter fand, war im Begriff, Hungers zu sterben, wiewohl sein glühendes Auge an den Weiten des Himmels und den Höhen, in denen das Genie schwebt, geschweift hatte. Obwohl seine Arbeiten im Gemeindeamt bei den Zivilstandsakten der allgemeinen Aufmerksamkeit entgingen, vergrub er seine nach Ruhm begehrenden Gedanken in seiner Seele, denn sie hätten ihm schaden können. Jedoch in noch tieferer Verborgenheit hielt er das Geheimnis seines Herzens, eine Leidenschaft, die seine Wangen aushöhlte und seine Stirn welk machte. Er liebte seine entfernte Verwandte, jene Mademoiselle Cormon, die seine unbekannten Rivalen, der Chevalier de Valois und Du Bousquier, umlauerten. Diese Liebe war von der Berechnung erzeugt worden. Mademoiselle Cormon galt für eine der reichsten Personen der Stadt: der arme Junge war also durch das Begehren nach materiellem Glück, durch den tausendmal gehegten Wunsch, die alten Tage seiner Mutter zu verschönen, durch die Sehnsucht nach einer behaglichen Existenz, die für geistig arbeitende Menschen so notwendig ist, dahin gebracht worden, sie zu lieben, und dieser recht unschuldige Ausgangspunkt entehrte seine Liebe in seinen Augen. Er fürchtete überdies, daß die Welt sich über die Liebe eines jungen Mannes von dreiundzwanzig Jahren zu einer Vierzigjährigen lustig machen würde. Trotzdem war seine Leidenschaft echt; denn alles, was auf diesem Gebiete sonst überall unpassend erscheinen muß, ist in der Provinz möglich. In der Tat, da die Sitten dort ohne Gewagtheiten, ohne Bewegung, ohne Geheimnis sind, machen sie die Heiraten notwendig. Keine Familie nimmt einen jungen Mann von lockeren Sitten auf. So natürlich in einer großen Stadt ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen Mann wie Athanase und einem schönen Mädchen wie Suzanne erscheinen würde, in der Provinz ist es von Übel. Ein anstößiges Vorleben vereitelt von vornherein die Heirat eines armen jungen Mannes, während bei einer reichen Partie natürlich ein Auge zugedrückt wird. Zwischen der Verderbtheit gewisser Verhältnisse und einer echten Liebe kann ein vermögensloser gemütvoller Mann nicht zaudern: er zieht die Leiden der Tugend den Leiden des Lasters vor. Aber in der Provinz sind die Frauen, in die sich ein junger Mann verlieben kann, selten: ein schönes, reiches junges Mädchen würde in einem Lande, wo alles Berechnung ist, nie die Seine werden; ein armes schönes Mädchen zu lieben ist ihm untersagt, denn das hieße, wie die Provinzialen es ausdrücken, den Hunger mit dem Durst vermählen; eine mönchische Einsamkeit ist jedoch der Jugend unzuträglich. Diese Gründe geben die Erklärung, warum das Provinzleben so vornehmlich auf der Ehe begründet ist. Daher müssen glühende, heftig begehrende Naturen, die gezwungen sind, sich aus ihrer Notlage eine Unabhängigkeit zu schaffen, aus jenen kalten Regionen fliehen, wo das Geistesleben von einer brutalen Gleichgültigkeit verfolgt wird, wo keine Frau das Los eines Mannes der Wissenschaft oder eines Künstlers teilen möchte oder könnte. Wer vermag die Leidenschaft, die Athanase für Mademoiselle Cormon hegte, zu begreifen? Weder die Reichen, diese Sultane der Gesellschaft, die ihre Harems dort finden, noch die Spießbürger, welche auf der ausgetretenen Landstraße der Vorurteile einhertrotten, noch die Frauen, die der Leidenschaft der Künstler verständnislos gegenüberstehen und ihnen als Erwiderung ihre Tugenden entgegenhalten, weil sie glauben, daß die beiden Geschlechter von denselben Gesetzen regiert werden. Hier muß man sich wohl an die jungen Menschen wenden, die in der Zeit, wo alle ihre Kräfte sich spannen, unter ihren ersten unterdrückten Begierden leiden; an die an ihrem Genie krankenden Künstler, die in der Umklammerung der Not ersticken; an die mit Talenten Begabten, die oft jeden Halts und aller Freunde entbehren und über die doppelte Pein des Leibes und der Seele, welche gleiche Schmerzen verursachen, schließlich doch Sieger geblieben sind. Alle diese kennen die nagenden Schmerzen, die Athanase verzehrten; sie alle haben angesichts der großen Ziele, zu denen ihnen die Wege abgeschnitten waren, lange, ratlose Erwägungen in ihrem Hirn hin und her gewälzt; sie alle haben das Verdorren der Hoffnungskeime erfahren, wenn der Same des schaffenden Genies auf dürren Sand fällt. Sie wissen, daß die Kraft der Begierden im Verhältnis zu der Größe der Phantasie steht. Je höher sie sich aufschwingen, desto tiefer fallen sie; und wie viele Bande reißen nicht bei solchem Sturz! Ihr glühendes Auge hat wie Athanase eine Zukunft voll Glanz erblickt, die sie erwartete und von der sie sich nur durch einen dünnen Flor getrennt glaubten; diesen Flor, der ihre Blicke nicht aufhielt, hat die Gesellschaft in eine Mauer aus Erz verwandelt. Von einer Berufung, von der Liebe zur Kunst getrieben, haben sie wohl auch manchmal versucht, sich Gefühle, die die Gesellschaft fortwährend materiell ausnützt, zweckdienlich zu machen. Was! In der Provinz werden die Heiraten ganz und gar zu dem Zweck geschlossen, sich ein behagliches Dasein zu schaffen, und einem armen Künstler, einem Mann der Wissenschaft sollte es verboten sein, der Ehe eine doppelte Bestimmung zu geben, sie als Mittel zu gebrauchen, sich durch eine sichere Existenz die Möglichkeit der Gedankenarbeit zu schaffen? Von solchen Ideen bewegt, betrachtete Athanase Granson anfangs die Heirat mit Mademoiselle Cormon von dem Gesichtspunkt, daß er dadurch in den Stand gesetzt würde, seinem Leben eine bestimmte abschließende Richtung zu geben; er würde den Weg des Ruhms einschlagen, seine Mutter glücklich machen können, und er hielt sich für fähig, Mademoiselle Cormon treulich zu lieben. Bald schuf sich sein eigener Wille, ohne daß er dessen gewahr wurde, eine echte Leidenschaft: er beschäftigte sich eingehend mit dem alten Mädchen, und schließlich, durch den Zauber, den die Gewohnheit webt, kam er dazu, nur noch das Schöne in ihr zu sehen und ihre Fehler zu vergessen. Bei einem jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren haben die Sinne einen so großen Teil an der Liebe! Ihre Glut erzeugt eine Art Prisma zwischen seinen Augen und der Frau. In dieser Hinsicht ist die Umarmung, in der sich Cherubin auf der Bühne Marcellines bemächtigt, ein genialer Zug bei Beaumarchais. Aber wenn man bedenkt, daß in der tiefen Einsamkeit, in welche die Not Athanase versenkte, Mademoiselle Cormon das einzige Wesen war, das seine Blicke anhaltend auf sich zog, und daß sie vom vollen Tageslicht beschienen war, wird man da nicht diese Liebe begreiflich finden? Das so sorgfältig verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag. Die Wünsche, die Leiden, die Hoffnung, die Überlegung ließen den See, der sich in Athanases Seele ausbreitete und den jede Stunde um einen Tropfen Wassers vermehrte, still und allmählich anschwellen. Je mehr der innere Kreis, den die durch die Sinne gesteigerte Phantasie beschrieb, sich erweiterte, desto unnahbarer wurde Mademoiselle Cormon, desto mehr nahm die Schüchternheit Athanases zu. Die Mutter hatte alles erraten. Als echte Frau der Provinz berechnete sie naiv im Innern alle Vorteile dieser Sache. Sie sagte sich, daß sich Mademoiselle Cormon sehr glücklich schätzen müßte, einen hochbegabten jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, der der Familie und dem Lande Ehre machen würde, zum Gatten zu bekommen; aber die Hindernisse, die die Armut von Athanase und das Alter Mademoiselle Cormons in den Weg legten, schienen ihr unübersteigbar: sie wußte kein anderes Mittel, sie zu überwinden, als die Geduld. Wie Du Bousquier, wie der Chevalier de Valois, hatte wie ihre Politik, sie lauerte den Umständen auf, sie wartete mit der ganzen Schlauheit, die der mütterliche Eigennutz verleiht, auf den günstigen Moment. Dem Chevalier de Valois mißtraute Madame Granson keineswegs, aber sie war der Meinung, daß Du Bousquier, obwohl er einen Korb bekommen hatte, noch Ansprüche gehend machte. Madame Granson war die geheime und sehr gewandte Feindin des alten Lieferanten und fügte ihm erhebliches Übel zu, um ihrem Sohn, dem sie übrigens noch nichts von ihren heimlichen Umtrieben gesagt hatte, zu nützen. Wer begriffe jetzt nicht, welche Bedeutung die Lüge Suzannes, wenn sie sie erst einmal Madame Granson anvertraut hatte, erlangen mußte! Welche Waffe in den Händen der Wohltätigkeitsdame, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins! Wie sie die Neuigkeit leise herumtragen und mitleidig frömmlerisch für die keusche Suzanne Almosen sammeln würde!

In diesem Augenblick saß Athanase nachdenklich mit aufgestützten Armen am Tisch und rührte mit dem Löffel in seiner leeren Tasse herum. Er ließ seine zerstreuten Blicke über den roten Steinfußboden, die Rohrstühle, das angestrichene Büfett, die wie ein Schachbrett gewürfelten rosa und weißen Gardinen des armseligen Zimmers schweifen, das wie eine Kneipe tapeziert und mit der Küche durch eine Glastür verbunden war. Er saß seiner Mutter gegenüber, mit dem Rücken gegen den Kamin, auf den von der Straße her das helle Tageslicht fiel, und so tauchte sein blasses, von schönen schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht, in dem die Augen noch von den verzweifelten Gedanken des Morgens loderten, plötzlich vor Suzanne auf. Das Mädchen, das fraglos einen Instinkt für das Elend und für die Leiden des Herzens hatte, durchzuckte jener elektrisierende Funke, von dem man nicht weiß, woher er kommt, der unerklärlich ist, den starke Geister leugnen, doch dessen Berührung so viele Männer und Frauen schon in sich gespürt haben. Es ist gleichsam, als ob ein Licht die finstere Zukunft erhellte und ein Vorgefühl der reinen Freuden erwiderter Liebe und gegenseitigen Verstehens aufdämmerte. Mehr noch, es ist der starke, sichere Griff einer Meisterhand auf der Klaviatur der Sinne. Der Blick wird von einer unwiderstehlichen Macht angezogen, das Herz fühlt sich bewegt, in der Seele erklingen die Melodien des Glückes, eine Stimme ruft: Er ist's! Dann gießt oft das Schicksal eine kalte Dusche über dieses Feuer, und alles ist vorbei. Eine Flut von Gedanken strömte rasch wie der Blitz auf Suzanne ein. Ein Strahl der wahren Liebe verbrannte das Unkraut, das unter dem Hauch der Liederlichkeit eines vergnügungssüchtigen Lebens hochgeschossen war. Es wurde ihr klar, was sie an Reinheit und Würde einbüßte, indem sie so fälschlich ihre Mädchenehre brandmarkte. Was gestern noch ein lustiger Streich in ihren Augen war, wurde nun zu einem ernsten, über sie gefällten Urteil. Sie wich vor dem Gelingen zurück. Doch die Aussichtslosigkeit eines Erfolges, Athanases Armut, die unsichere Hoffnung, Reichtum zu erwerben, um dann mit vollen Händen aus Paris zurückzukehren und zu sagen: Ich liebte dich! – dies alles oder, wenn man will, ein Verhängnis wischte diese edleren Regungen bald hinweg. Die ehrgeizige Grisette bat mit schüchterner Miene um eine kurze Unterredung mit Madame Granson und wurde von ihr in das Schlafzimmer geführt. Als Suzanne wegging, blickte sie zum zweitenmal Athanase an, den sie noch in derselben Stellung fand; sie drängte ihre Tränen zurück. Madame Granson hingegen strahlte vor Freude. Endlich hatte sie eine schreckliche Waffe gegen Du Bousquier in die Hand bekommen, mit der sie ihm eine tödliche Wunde würde beibringen können. Sie hatte dem armen Mädchen den Schutz aller Wohltätigkeitsdamen, aller Mitglieder des Mütterfürsorgevereins versprochen ..., sie sah voraus, daß ein Dutzend Besuche, während welcher sich über dem Haupte des alten Junggesellen ein schreckliches Gewitter zusammenziehen mußte, ihren Tag ausfüllen würden. So gut der Chevalier de Valois die Wendung der Dinge auch vorausgesehen hatte, er hatte sich doch keinen so großen Skandal, als tatsächlich daraus entstand, versprochen.

»Mein liebes Kind«, sagte Madame Granson zu ihrem Sohn, »du weißt, wir essen heute bei Mademoiselle Cormon, verwende etwas mehr Sorgfalt auf deinen Anzug. Du solltest deine Toilette nicht so sehr vernachlässigen, du gehst einher wie ein Strolch. Zieh dein schönes Hemd mit der Krause an und deinen grünen Tuchrock! Ich habe meine Gründe?« fügte sie mit schlauer Miene hinzu, »Übrigens reist Mademoiselle Cormon nach Le Prebaudet, und es wird heute viel Besuch bei ihr sein. Wenn ein junger Mann heiraten will, muß er alles aufbieten, um zu gefallen, Mein Gott, wenn die Mädchen die Wahrheit sagen wollten, würdest du sehr erstaunt sein, mein Kind, zu hören, was sie verliebt macht. Oft genügt es, daß ein Mann an der Spitze einer Kompanie Soldaten vorüberreitet oder daß er mit knapp anliegenden Beinkleidern auf einem Ball erscheint. Eine Wendung des Kopfes, eine melancholische Haltung nehmen oft schon die Phantasie gefangen; man schmiedet sich einen Roman um den Helden. Er ist oft zwar nur ein Dummkopf, aber die Heirat ist gemacht. Studiere den Chevalier de Valois, nimm seine Manieren an; paß auf, wie er sich mit Leichtigkeit bewegt, er hat kein so gezwungenes Wesen wie du! Rede ein bißchen! Man könnte meinen, du kannst gar nichts, wo du doch sogar Hebräisch verstehst!«

Athanase hörte seine Mutter mit erstaunter, doch willfähriger Miene an; dann stand er auf, nahm seine Mütze und begab sich ins Rathaus, ›Ob meine Mutter mein Geheimnis erraten hat?‹ fragte er sich.

Er ging durch die Rue du Val-Noble, wo Mademoiselle Cormon wohnte. Dieses kleine Vergnügen gönnte er sich jeden Morgen, und er ließ sich dann tausend phantastische Dinge durch den Kopf gehen: ›Sie hat sicherlich keine Ahnung, daß in diesem Augenblick ein junger Mann an ihrem Hause vorbeigeht, der sie von Herzen lieben würde, ihr treu bliebe, ihr keinen Kummer machte und ihr die Verfügung über ihr Vermögen ließe, ohne sich einzumischen. Mein Gott, wie seltsam ist das! Zwei Menschen in der Lage, in der wir uns befinden, in derselben Stadt, zwei Schritte voneinander entfernt, und nichts kann sie zusammenbringen. Wenn ich heute abend mit ihr spräche?‹

Währenddessen ging Suzanne nach Hause zu ihrer Mutter und dachte an den armen Athanase. Sie fühlte die Fähigkeit in sich, ihm mit ihrem schönen Körper den Weg zu bahnen, daß er flugs zu seiner Krone käme, so wie es schon viele Frauen für einen Mann, den sie übermenschlich liebten, erträumt haben.

Jetzt ist es notwendig, daß wir bei der alten Jungfer eintreten, die der Mittelpunkt so vieler zusammenlaufender Interessen war und bei der sich die handelnden Personen dieses Schauspiels mit Ausnahme von Suzanne noch an demselben Abend treffen sollten. Diese letztere, kühn genug, um am Anfang ihres Lebens, wie Alexander, die Schiffe hinter sich zu verbrennen und den Kampf mit einer erlogenen Verfehlung zu beginnen, verschwand von der Bühne, nachdem sie so ein gewichtiges Interesse in die Handlung verflochten hatte. Ihre Wünsche sollten übrigens vollständig in Erfüllung gehen. Sie verließ ihre Vaterstadt einige Tage danach, mit Geld und allerhand schönen Putzsachen versehen, unter denen sich ein prachtvolles Kleid aus grünem Rips und ein entzückender grüner, rosa gefütterter Hut von Monsieur de Valois befand, ein Geschenk, dem sie vor allen andern, selbst vor dem Geld der Damen des Mütterfürsorgevereins, den Vorzug gab. Wäre der Chevalier zu der Zeit nach Paris gekommen, wo sie dort glänzte, sicherlich hätte sie alles um seinetwillen verlassen. Ähnlich der keuschen Suzanne der Bibel war sie von den Greisen kaum mit den Augen berührt worden, und so ließ sie sich glücklich und voller Hoffnungen in Paris nieder, während ganz Alençon ihr Mißgeschick beklagte, für das die Damen der beiden Vereine, der Wohltätigkeitsverein und der Mütterfürsorgeverein, eine lebhafte Sympathie an den Tag legten. Kann Suzanne als Typus jener schönen Normanninnen gelten, die, wie ein gelehrter Arzt festgestellt hat, für den Verbrauch, den das monströse Paris auf diesem Gebiet hat, den dritten Teil stellen, so muß gesagt werden, daß sie in den obersten und anständigsten Schichten der Galanterie verblieb. Zu einer Zeit, wo, wie Monsieur de Valois sagte, die Frau nicht mehr existierte, wurde sie bloß ›Madame du Val-Noble‹; früher wäre sie die Rivalin der Rhodope, der Imperia, der Ninon gewesen. Einer der ersten. Schriftsteller der Restauration nahm sie unter seinen Schutz, vielleicht wird er sie heiraten; er ist Journalist und steht mithin über der öffentlichen Meinung, weil er alle sechs Jahre eine neue fabrizierte.

In Frankreich gibt es fast in jeder Präfektur zweiten Ranges einen Salon, in dem sich die hochgestellten und angesehenen Personen, die jedoch noch keineswegs die Crême der Gesellschaft sind, zu versammeln pflegen. Der Herr und die Herrin des Hauses gehören wohl zu den Spitzen der Stadt und werden überall empfangen, wo es ihnen beliebt hinzugehen; es findet kein Fest, kein diplomatisches Diner statt, ohne daß sie eingeladen werden. Jedoch die Schloßbesitzer, die Pairs, die schöne Besitzungen haben, die hohe Gesellschaft, des Departements kommen nicht zu ihnen und beschränken den Verkehr mit ihnen auf einen gegenseitigen Besuch, ein angenommenes und erwidertes Diner, eine Abendgesellschaft. Dieser gemischte Salon, wo sich der niedere Adel mit festem Posten, der Klerus, das Beamtentum trifft, übt einen großen Einfluß aus. Die Vernunft und der Geist des Landes haben ihren Sitz in dieser soliden, prunklosen Gesellschaft, wo jeder die Einkünfte des Nachbars kennt, wo man eine vollkommene Gleichgültigkeit für den Luxus und die Toilette an den Tag legt, die man im Vergleich zu einem ›Ochsentaschentuch‹, das heißt einem Stück Feld von zehn oder zwölf Morgen, dessen Erwerb der Gegenstand jahrelanger Erwägung und unendlicher diplomatischer Unterhandlungen ist, als Kinderei betrachtet. Unerschütterlich in ihren guten oder schlechten Vorurteilen, verfolgt diese Clique denselben Weg, ohne rückwärts oder vorwärts zu blicken. Sie läßt nichts, was aus Paris kommt, ohne ein langes Examen zu, sträubt sich gegen die Kaschmirschals ebenso wie gegen die Staatspapiere, spottet der Neuheiten, liest nichts und ignoriert alles: Wissenschaft, Literatur, industrielle Erfindungen. Sagt ihr ein Präfekt nicht zu, so verlangt sie einen andern, und wenn sich der Administrator widersetzt, isoliert sie ihn nach Art der Bienen, welche eine Schnecke, die in ihren Bienenkorb gekrochen ist, mit Wachs bedecken. Dort werden die Klatschereien oft feierliche Urteilssprüche. Obwohl man da nur Spielpartien arrangiert, finden sich doch hie und da junge Frauen ein; sie kommen hin, um sich den Beifall für ihr gutes Betragen zu holen oder sich ihre Wichtigkeit bestätigen zu lassen. Oft wird die Eigenliebe einiger Alteingesessener dadurch verletzt, daß man einem Haus solche Oberherrschaft einräumt; doch trösten sie sich, wenn sie bedenken, welche Kosten solche führende Stellung verursacht, und ziehen lieber selbst Nutzen daraus. Wenn die wichtigen Persönlichkeiten nicht reich genug sind, um offenes Haus zu halten, wählen sie zum Ort der Zusammenkunft, wie die Leute von Alençon, das Haus einer harmlosen Person, deren gesetzte Lebensweise, deren Charakter oder Stellung so beschaffen ist, daß sie die Gesellschaft bei sich Herr sein läßt, so daß niemandes Eitelkeit oder Interessen; verletzt werden. So war es seit langem in Alençon der Brauch, daß die gute Gesellschaft bei der alten Jungfer zusammenkam, auf deren Vermögen es, ohne daß sie es wußte, Madame Granson, ihre Cousine dritten Grades, und die beiden alten Junggesellen, deren geheime Hoffnungen vorhin .enthüllt worden sind, abgesehen hatten. Mademoiselle Cormon lebte mit ihrem Onkel mütterlicherseits zusammen, einem ehemaligen Großvikar des Bistums Séez, der ehedem ihr Vormund gewesen war und den sie beerben sollte. Die Familie, die Rose-Marie-Victoire Cormon repräsentierte, zählte früher zu den angesehensten der Provinz. Obwohl sie bürgerlich war, verkehrte sie mit dem Adel, mit dem sie sich oft verbunden hatte. Sie hatte vormals den Ducs d'Alençon Intendanten, eine Menge Richter und dem Klerus mehrere Bischöfe geliefert. Monsieur de Sponde, der Großvater mütterlicherseits von Mademoiselle Cormon, war von Adel und Monsieur Cormon, ihr Vater, vom Dritten Stand in die Generalstände gewählt worden; aber keiner von beiden hatte diese Mission angenommen. Seit ungefähr hundert Jahren hatten sich die Mädchen mit Adligen der Provinz verheiratet, so daß in dem ganzen Herzogtum und in allen Stammbäumen Schößlinge dieser Familie zu finden waren. Keine bürgerliche Familie sah so nach Adel aus.

Das Haus, in dem Mademoiselle Cormon wohnte, war unter Heinrich IV. von Pierre Cormon, dem Intendanten des letzten Duc d'Alençon, erbaut worden. Es hatte immer ihrer Familie gehört, und von allen ihren sichtbaren Besitztümern reizte dieser am meisten die Begierde ihrer beiden alten Bewerber. Weit davon entfernt, etwas einzubringen, verursachte dieser Wohnsitz große Ausgaben. Doch ist es so selten, in einer Provinzstadt eine Wohnung zu finden, die im Mittelpunkt liegt, keine unangenehme Nachbarschaft hat, von außen schön und im Innern bequem ist, daß ganz Alençon darauf neidisch war. Dieses alte vornehme Haus war gerade mitten in der Rue du Val-Noble gelegen, deren Namen in ›le Val-Noble‹ verunstaltet worden war, wahrscheinlich weil das kleine Flüßchen, die Brillante, das durch Alençon fließt, dort eine Vertiefung des Bodens hervorbringt. Es zeichnet sich durch die kräftige Architektur, die Maria von Medici bevorzugte, aus. Obwohl es aus Granit, einem schwer zu verarbeitenden Stein, gebaut ist, haben seine Ecken, Fenster- und Türumrahmungen vorspringende Verzierungen in Gestalt von romanischen Nagelköpfen. Es besteht aus dem Erdgeschoß und einem Stockwerk. Sein außergewöhnlich hohes Dach zeigt vorspringende Fensterkreuze, die ausgehauene Giebelfelder haben und recht elegant in die mit Blei ausgeschlagene Regentraufe eingefügt sind, welche außen mit Geländersäulen versehen ist. Zwischen je zwei Fensterkreuzen streckt sich eine Traufröhre in Gestalt eines phantastischen Tierrachens ohne Körper vor, der das Wasser auf große, mit fünf Löchern versehene Steine speit. Die beiden Giebel haben einen Blumenstrauß aus Blei auf ihrer Spitze, das Symbol des Bürgertums, denn nur die Adligen besaßen ehemals das Recht, ihren Giebel mit einem Wetterhahn zu krönen. An der rechten Hofseite sind die Wagenschuppen und die Stallungen, links die Küche, der Holzschuppen und das Waschhaus. Einer der oberen Flügel des Einfahrtstores pflegte offenzustehen, in dem unteren Teil war eine kleine, niedrige Tür mit einer Klingel und einer runden Öffnung angebracht, durch welche die Vorübergehenden in der Mitte eines geräumigen Hofes ein korbförmiges Blumenbeet sehen konnten, dessen aufgehäufelte Erde mit einer kleinen Ligusterhecke umgeben war. Einige Rosenstöcke, die das ganze Jahr hindurch blühten, Nelken, Skabiosen, Lilien und spanischer Ginster standen in dem Beet, um welches man in der warmen Jahreszeit Kästen mit Myrten, Lorbeer- und Granatbäumen herumstellte. Ein Fremder mußte nach der peinlichen Sauberkeit, die diesen Hof und seine Nebengebäude auszeichnete, ohne weiteres auf eine alte Jungfer als Besitzerin schließen; das Auge, das hierüber wachte, mußte, weniger aus Anlage als aus Betätigungsdrang, ein beschäftigungsloses, aufspürendes, konservierendes sein. Nur ein altes Fräulein, das seinen immer leeren Tag auszufüllen hatte, konnte dafür sorgen, daß das Gras zwischen den Pflastersteinen ausgerissen, die Bekrönung der Mauern gereinigt, daß ewig gefegt und gescheuert wurde und die Ledervorhänge der Remise immer geschlossen blieben. Sie allein war fähig, aus Mangel an Beschäftigung in eine kleine Provinzstadt zwischen dem Perche, der Bretagne und der Normandie, einem Landstrich, wo man stolz eine krasse Gleichgültigkeit gegen den Komfort zur Schau trägt, eine Art holländischer Sauberkeit einzuführen. Niemals stiegen der Chevalier de Valois und Du Bousquier die Stufen der doppelten Freitreppe hinauf, die die Plattform dieses Hauses einschloß, ohne daß der eine sich sagte: es sei eines Pairs von Frankreich würdig, und der andere: der Bürgermeister der Stadt müsse hier wohnen. Eine Glastür schloß diese Vortreppe ab, und durch sie gelangte man in ein von einer zweiten, ähnlichen Tür erhelltes Vorzimmer, das den Durchgang zu der Vortreppe des Gartens bildete. Diese Art Galerie, die mit roten Steinfliesen ausgelegt und in Manneshöhe getäfelt war, hatte man zum Spital der invaliden Familienporträts gemacht: bei einigen war das Auge verletzt, bei anderen die Schulter beschädigt worden; einer hielt seinen Hut in einer Hand, die nicht mehr da war, einem andern war ein Bein abgenommen worden. An diesem Ort legte man die Mäntel, die Galoschen, die Holzschuhe, die Regenschirme, die Hüte, die Pelze ab. Es war das Arsenal, wo jeder Stammgast bei seiner Ankunft sein Gepäck ließ und es beim Fortgehen wieder holte. Längs jeder Wand stand eine Bank für die Dienstboten, die mit Stocklaternen kamen, und ein großer Ofen, um den Zugwind zu bekämpfen, der aus dem Hof und dem Garten wehte. Das Haus war demnach in zwei gleiche Teile geteilt: auf der einen, der Hofseite, befand sich das Treppenhaus, ein großer, nach dem Garten zu gelegener Speisesaal, außerdem eine Anrichtekammer, die mit der Küche in Verbindung stand; auf der andern ein vierfenstriger Salon mit zwei angrenzenden kleineren Zimmern, von denen das eine, ein Boudoir, die Aussicht auf den Garten hatte, das andere, ein Arbeitszimmer, sein Licht vom Hofe empfing. Das erste Stockwerk bestand aus der vollständigen Wohnung, wie sie zu einem Haushalt gehört, und den Zimmern, die der alte Abbé de Sponde innehatte. Die Dachstuben mußten wohl seit langem die Unterkunft der Ratten und Mäuse sein, deren nächtliche Großtaten Mademoiselle Cormon, mit steter Verwunderung über die Nutzlosigkeit aller gegen sie gebrauchten Mittel, dem Chevalier de Valois berichtete. Der Garten, der ungefähr einen halben Morgen groß ist, wird von der Brillante begrenzt, so benannt wegen der Glimmerteilchen, die in ihrem Bette glänzen, das heißt überall sonst, bloß nicht in dem Val-Noble, wo ihr dürftiges Wasser von den Farbstoffen und dem Abfall der Industrien der Stadt verunreinigt wird. Das dem Garten Mademoiselle Cormons gegenüberliegende Ufer ist, wie in allen Provinzstädten, durch die ein Fluß geht, mit Häusern besetzt, wo Lärm erzeugende Berufe ausgeübt werden; doch zum Glück hatte sie derzeit nur ruhige Leute sich gegenüber, Kleinbürger, einen Bäcker, einen Fleckenreiniger, ein paar Kunsttischler. Dieser Garten voll gewöhnlicher Blumen endigt in einer Terrasse, die einen Kai bildet, von dem einige Stufen zur Brillante hinabführen. Auf dem Geländer der Terrasse denke man sich große blauweiße Steingutvasen, in denen Nelken blühen; rechts und links, die angrenzenden Mauern entlang, zwei quadratisch zugeschnittene Lindenlauben: und man hat einen Begriff von dieser Landschaft in ihrer züchtigen Behaglichkeit, ihrer ruhigen Einfachheit, mit der bescheidenen kleinstädtischen Ansicht, die das jenseitige Ufer und seine ärmlichen Häuser, das seichte Wasser der Brillante, der Garten und die an den benachbarten Mauern angebrachten Lauben samt dem ehrwürdigen Gebäude der Cormon darbot. Welch ein Friede! Welche Ruhe! Nichts Prunkhaftes, aber auch nichts Vergängliches. Da erscheint alles ewig. Das Erdgeschoß war also für den Empfang bestimmt. Alles atmete darin die alte, wandelbare Provinz. Der große viereckige Salon mit vier Türen und vier Fenstern war bescheiden mit grau bemaltem Täfelwerk bekleidet. Über dem Kamin hing ein länglicher Spiegel, dessen obere Partie den Tag von den Stunden geführt, grau in grau gemalt, darstellte. Diese Art Malerei verheerte alle; Gesimse über den Türen; hier wie in einem größten Teil der Häuser des mittleren Frankreichs hatte der Künstler diese ewigen Jahreszeiten verkörpert, die einem mit ihren schauderhaften mähenden, schlittschuhlaufenden, säenden, blumenstreuenden Amoretten so unerträglich sind. Jedes Fenster hatte Vorhänge aus grünem Damast, die von Schnüren mit großen Quasten hochgenommen waren und riesige Baldachine bildeten. Die Möbel mit Stickereibezug zeigten auf ihren bemalten und lackierten hölzernen Lehnen von verschnörkelter Form, wie sie im vorigen Jahrhundert Mode war, Medaillons mit den Fabeln von Lafontaine. Doch waren einige Stühle und Sessel am Rande gestopft. Die Decke war durch einen dicken Balken in zwei Hälften geteilt, von dessen Mitte ein alter, in einen grünen Bezug eingenähter Kronleuchter aus Bergkristall herabhing. Auf dem Kaminsims standen zwei blaue Sèvresvasen, alte Leuchter, die am Spiegel befestigt waren, und eine Uhr, deren Sujet der letzten Szene des ›Deserteur‹ entnommen war und so die ungeheuere Beliebtheit des Werkes von Sedaine bewies. Diese Uhr, aus vergoldetem Kupfer, zeigte elf Personen, von denen jede vier Zoll hoch war: im Hintergrund der Deserteur, der, von Soldaten umringt, das Gefängnis verläßt, vorn die niedergesunkene junge Frau, die ihm die Begnadigung hinzeigt. Der Kamin, die Schaufeln und Zangen waren in einem der Uhr ähnlichen Stil, die Füllungen der Täfelung hatten die jüngsten Porträts der Familie zum Schmuck, darunter ein oder zwei Rigaud und drei Pastelle von Latour. Vier Spieltische, ein Tricktrack, ein Tisch für das Pikettspiel verstellten das riesengroße Zimmer, das einzige, das einen gedielten Fußboden hatte. Das Schreibkabinett, ganz in altem roten Lack, Schwarz und Gold, getäfelt, hätte einige Jahre später einen unsinnigen Preis erzielen müssen, doch Mademoiselle Cormon hatte keine Ahnung davon; hätte man ihr aber für jedes Feld der Täfelung tausend Taler geboten, sie würde es nimmermehr hergegeben haben, denn sie hatte die Eigenart, sich nie von etwas zu trennen. In der Provinz glaubt man immer, daß die Vorfahren Schätze verborgen haben. Das unnütze Boudoir war mit dem altmodischen Perser überspannt, wonach sich heutigentags die Liebhaber des nach der Pompadour genannten Stils die Beine ablaufen. Der Speisesaal, der mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt war, hatte keine Decke, sondern bemalte Balken. Ungeheure Büfetts mit Marmoraufsatz dienten hier den Schlachten, die den Mägen der Provinz geliefert werden. Die Mauern waren al fresco mit einem Blumengitter bemalt. Die Stühle waren aus lackiertem Rohr und die Türen aus naturfarbenem Nußbaum. Alles diente dazu, den patriarchalischen Charakter im Innern und im Äußern dieses Hauses auf bewundernswerte Weise zu vervollständigen. Der Geist der Provinz hatte alles darin konserviert; nichts war weder neu nach alt, weder jung noch verfallen. Eine kalte Exaktheit machte sich überall bemerkbar.

Die Touristen der Bretagne und der Normandie, der Maine und des Anjou müssen alle in den größeres Städten dieser Provinzen ein Haus gesehen haben, das mehr oder weniger dem Hause der Cormon glich; denn es ist in seiner Art der Urtypus der bürgerlichen Häuser eines großen Teiles von Frankreich und verdient seinen Platz in diesem Buche um so mehr, als es eine Sitte erläutert und Vorstellungen verkörpert. Wer fühlt nicht schon, wie ruhig und gewohnheitsmäßig das Leben in diesem alten Hause war? Es gab darin auch eine ›Bibliothek‹, aber sie war etwas unterhalb des Niveaus der Brillante untergebracht, war gut gebunden und sogar in Reifen gelegt, und der Staub, der sie bedeckte, war weit davon entfernt, ihr zu schaden, sondern erhöhte nur ihren Wert. Die Werke waren dort mit der Sorgfalt verwahrt, die man in den Provinzen, wo keine Weinberge sind, den unverfälschten, erlesenen, durch ihren altertümlichen Duft ausgezeichneten Erzeugnissen angedeihen läßt, die von den Keltern der Bourgogne, der Touraine, der Gascogne und des Südens geliefert werden. Die Transportkosten sind zu hoch, um schlechte Weine kommen zu lassen.

Der Grundstock der Gesellschaft von Mademoiselle Cormon bestand aus ungefähr hundertfünfzig Personen – einige waren auf dem Lande, andere krank, wieder andere reisten in Geschäften in dem Departement umher; aber es gab gewisse Getreue, die, unbeschadet der geladenen Gesellschaften, alle Tage kamen, ebenso wie die Leute, die aus Pflicht oder Gewohnheit genötigt waren, in der Stadt zu wohnen. All diese Leute waren in reiferem Alter; wenige unter ihnen waren gereist, die meisten waren in der Provinz geblieben, und etliche hatten sich an der Chouannerie beteiligt. Man fing an, ohne Furcht von diesem Kriege zu sprechen, seitdem den heldenmütigen Verteidigern der guten Sache Belohnungen zuteil wurden. Monsieur de Valois, einer der Anstifter des letzten Kampfes, in welchem der Marquis de Montauran, den seine Geliebte auslieferte, umgekommen war und in dem sich gar der berühmte Marche-à-Terre, der zur Zeit ruhig seinen Viehhandel im Umkreis von Mayenne betrieb, ausgezeichnet hatte, gab seit sechs Monaten lustige Streiche zum besten, die man einem alten Republikaner namens Hulot, dem Kommandanten einer in Alençon von 1798 bis 1800 stehenden Halbbrigade, der einige Andenken in dem Lande hinterlassen, gespielt hatte. Die Frauen machten keine große Toilette, außer am Mittwoch, dem Tage, wo Mademoiselle Cormon zum Diner einlud und wo die Geladenen des vorigen Mittwochs ihre Dankvisite machten. An jedem Mittwoch war große Gesellschaft, die Versammlung war zahlreich, Gäste und Besucher erschienen im höchsten Staat; einige Frauen brachten ihre Handarbeiten mit, Strickzeug oder Handstickerei, junge Mädchen arbeiteten ungeniert an einem Muster von Alençonspitzen, womit sie ihren Unterhalt verdienten. Manche Ehemänner brachten ihre Frauen aus schlauer Berechnung mit, denn man traf dort wenige junge Leute; kein Wort wurde da ins Ohr gesagt, ohne daß es die Aufmerksamkeit erregte: es bestand also weder für ein junges Mädchen noch für eine junge Frau die Gefahr, daß man ihr einen Liebesantrag machte. Jeden Abend um sechs Uhr bekam das lange Vorzimmer sein Mobiliar; die Stammgäste brachten ihre Spazierstöcke, ihre Mäntel, ihre Laternen. Alle kannten sich so gut, die Gewohnheiten waren so patriarchalisch familiär, daß, wenn zufällig der alte Abbé de Sponde in der Laube und Mademoiselle Cormon auf ihrem Zimmer war, weder Josette, das Zimmermädchen, noch Jacquelin, der Diener, noch die Köchin ihnen den Besuch meldete. Der Erstgekommene erwartete den zweiten; dann, wenn die Stammgäste in genügender Zahl für ein Pikett, ein Whist oder Boston da waren, fingen sie an, ohne auf den Abbé de Sponde oder Mademoiselle zu warten. Wenn es dunkel wurde, kamen auf ein Klingelzeichen Josette oder Jacquelin herbei und machten Licht, Wenn der Abbé den Salon erleuchtet sah, kam er gemächlich herein. Alle Abende waren das Tricktrack, der Pikettisch, die drei Tische für Boston und Whist besetzt, was einen Durchschnitt von fünfundzwanzig bis dreißig Personen ergab, wenn man diejenigen, die plauderten, mitrechnet; doch kamen oft mehr als vierzig. Jacquelin zündete dann auch im Arbeitszimmer und dem Boudoir Licht an. Zwischen acht und neun Uhr kamen die Dienstboten nacheinander ins Vorzimmer, um ihre Herrschaften abzuholen; und wenn es kein sensationelles Vorkommnis gab, war um zehn Uhr kein Mensch mehr im Salon. Um diese Stunde wanderten die Stammgäste in Gruppen durch die Straßen, sprachen über die Trümpfe oder tauschten Bemerkungen über die zum Kauf ausersehenen Felder, die Verteilung von Erbschaften, die Streitigkeiten von Erben oder die Anmaßung der aristokratischen Gesellschaft aus. Es war, als käme man in Paris aus dem Theater. Ein paar Leute, die viel von Poesie sprachen, von der sie nichts verstanden, zogen über die Sitten der Provinz los. Doch legt die Stirn in die linke Hand, stellt einen Fuß auf den Feuerbock, stützt den Ellbogen aufs Knie; dann, wenn ihr den friedlichen, einstimmigen Zusammenklang, den diese Landschaft, dieses Haus und sein Inneres, die Gesellschaft und ihre durch die geistige Enge wie zwischen Pergamentblätter geschlagenes Gold vergrößerten Interessen in euch aufgenommen habt, dann fragt euch, was das Menschenleben ist! Dann entscheidet euch zwischen dem Manne, der auf die ägyptischen Obelisken Enten eingemeißelt hat, und dem, der zwanzig Jahre lang mit Du Bousquier, Monsieur de Valois, Mademoiselle Cormon, dem Präsidenten des Gerichtshofes, dem königlichen Staatsanwalt, dem Abbé de Sponde, Madame Granson e tutti quanti Boston gespielt hat. Wenn die ewig gleiche, alltägliche Wiederkehr der nämlichen Schritte auf dem nämlichen Fußpfade das Glück nicht sind, so täuschen sie das Glück doch so gut vor, daß Menschen, die die Stürme eines bewegten Lebens zum Nachdenken über die Wohltat eines ruhigen Daseins gebracht haben, sagen werden, dies sei das Glück. Um die Bedeutung des Salons von Mademoiselle Cormon in Ziffern auszudrücken, genügt es zu sagen, daß der geborene Statistiker der Gesellschaft, Du Bousquier, ausgerechnet hatte, daß die Personen, die dort verkehrten, hunderteinunddreißig Stimmen in der Wahlversammlung und zusammen, achtzehnhunderttausend Livres Rente in Ländereien der Provinz besaßen. Doch war die Stadt Alençon nicht ganz und gar in diesem Salon vertreten, die hohe aristokratische Gesellschaft hatte den ihren;, außerdem war da noch der Salon des Obersteuereinnehmers, der wie eine von der Regierung eingerichtete Verwaltungsherberge war, wo die ganze Gesellschaft tanzte, intrigierte, schwirrte, liebte und soupierte. Diese beiden andern Salons standen mit dem Hause Cormon durch einige, die da und dort verkehrten, in Verbindung et vice versa. Jedoch der Salon Cormon war ein strenger Richter über das, was in den beiden andern Lagern vorging; man kritisierte da den Luxus der Diners, man sprach endlos über das Eis auf den Bällen, erörterte das Benehmen der Frauen, die Toiletten und die Neuheiten, die dort auftauchten.

Mademoiselle Cormon, eine Art sozialer Grundpfeiler, um den sich eine imposante Clique scharte, mußte also natürlicherweise der Zielpunkt zweier so tief Ehrgeiziger wie Monsieur de Valois und Du Bousquier werden. Für den einen wie für den ändern war da die Stufe zum Deputierten, und demnach für den Adligen die Pairswürde und für den Lieferanten die Stelle eines Obersteuereinnehmers. Ein maßgebender Salon begründet sich in der Provinz ebenso schwer wie in Paris, doch dieser stand von vornherein fertig da. Mademoiselle Cormon heiraten hieß über Alençon herrschen. Athanase, der einzige der drei Prätendenten auf die Hand der alten Jungfer, der nichts mehr berechnete, liebte die Person ebensosehr wie das Vermögen. War die Lage der vier Personen nicht, um den Tagesjargon zu gebrauchen, eine eigentümliche dramatische Konstellation? Waren diese drei Rivalen, die sich schweigend um ein altes Mädchen drängten, das trotz des glühenden und sehr berechtigten Wunsches, sich zu verheiraten, keine Ahnung davon hatte, nicht seltsam genug? Doch obwohl all diese Umstände es ungewöhnlich erscheinen lassen, daß dieses Mädchen noch nicht verheiratet war, ist es ist nicht schwer zu erklären, wie und warum sie trotz ihres Vermögens und ihrer drei Verliebten noch dem Jungfrauenstande angehörte. Erstens hatte Mademoiselle Cormon, gemäß den Gesetzen ihrer Familie, den Wunsch, einen Edelmann zu heiraten; jedoch von 1789 bis 1799 waren die Verhältnisse für diese Ansprüche sehr ungünstig. Sie wollte eine Frau von Stand sein, hatte aber auch schreckliche Angst vor dem Revolutionstribunal. Diese beiden an Stärke gleichen Gefühle hoben sich nach einem in der Ästhetik wie in der Statik geltenden Gesetze gegenseitig auf. Dieser Zustand der Ungewißheit gefällt übrigens den Mädchen, solange sie sich für jung halten und sich das Recht zuschreiben, einen Gatten zu wählen. Frankreich hat es erfahren, daß das Resultat des von Napoleon befolgten politischen Systems war, recht viele Witwen zu machen. Unter seiner Herrschaft waren die Erbinnen im Vergleich zu den heiratsfähigen Männern sehr in der Überzahl. Als das Konsulat die innere Ordnung der Dinge wiederhergestellt hatte, waren die äußeren Schwierigkeiten für eine Verheiratung Mademoiselle Cormons ebensogroß als vordem. Wenn einerseits Mademoiselle Cormon sich sträubte, einen alten Mann zu heiraten, so verboten ihr die Umstände und die Furcht, sich lächerlich zu machen, einen sehr jungen zu ehelichen. Nun aber verheirateten die Familien ihre Söhne sehr früh, um sie der Gefahr der Konskription zu entziehen. Schließlich hätte sie, aus dem Eigensinn des Besitzenwollens, auch keinen Soldaten genommen; denn sie nahm keinen Mann, um ihn dem Kaiser abzutreten, sie wollte ihn für sich allein haben. Von 1804 bis 1815 war es ihr demnach unmöglich, mit den jungen Mädchen, die sich um die passenden, durch die Kanonen an Zahl verminderten Partien stritten, den Kampf aufzunehmen. Außer ihrer Vorliebe für den Adel hatte Mademoiselle Cormon die sehr entschuldbare fixe Idee, daß sie um ihrer selbst willen geliebt sein wollte. Man würde nicht glauben, wie weit sie dieser Wunsch geführt hatte. Sie hatte ihren Verstand angestrengt, ihren Anbetern tausend Fallen zu legen, um ihre Gefühle auf die Probe zu stellen. Ihre Fußschlingen waren so geschickt gelegt, daß die Unglücklichen alle hereinfielen und den sonderbaren Prüfungen, denen sie sie unterzog, ohne daß sie es wußten, unterlagen. Mademoiselle Cormon studierte sie nicht, sie spionierte sie aus. Ein leicht hingesprochenes Wort, ein von ihr mißverstandener Scherz genügte ihr, um diese Bewerber als unwürdig zu verwerfen: der eine hatte weder Gemüt noch Zartgefühl, der andere log und war ein schlechter Christ; der eine wollte ihr ihre alten Bäume umhauen lassen und unter dem Trauhimmel Geld herausschlagen, der andere war kein Charakter, der sie glücklich machen konnte; dort vermutete sie ererbte Gicht, hier schreckte sie ein unmoralisches Vorleben ab; wie die Kirche beanspruchte sie für ihre Altäre einen schönen Priester; dann wiederum wollte sie ihrer vermeintlichen Häßlichkeit und angeblichen Fehler halber geheiratet werden, wie es andere Frauen um ihrer Vorzüge, die sie nicht besitzen, und hypothetischen Schönheit willen wünschen. Der Ehrgeiz Mademoiselle Cormons hatte seinen Ursprung in den zartesten Gefühlen der Frau: sie wollte ihren Geliebten beglücken, indem sie ihm nach der Heirat tausend Tugenden aufdeckte, so wie andere Frauen die tausend Unvollkommenheiten enthüllen, die sie bis dahin sorgfältig verschleiert haben; aber man verstand sie nicht: das edle Mädchen traf nur auf gemeine Seelen, in denen die bare Berechnung der positiven Interessen herrschte und die für die schönen Neigungen des Gefühls kein Verständnis hatten. Je mehr sie sich jenem fatalen Zeitpunkt näherte, den man so sinnreich die ›zweite Jugend‹ nennt, desto größer wurde ihr Mißtrauen. Sie setzte sich aus Verstellung in das ungünstigste Licht und spielte ihre Rolle so gut, daß die zuletzt Angeworbenen zögerten, ihr Los mit dem ihrigen zu verknüpfen, denn das Versteckspielen ihrer Tugend erforderte eine Anstrengung, zu der sich die wenigsten Männer, die eine fix und fertige Tugend haben wollen, hergeben. Die beständige Furcht, daß man sie nur um ihres Vermögens willen heiraten wolle, machte sie unruhig und über die Maßen argwöhnisch. Sie stellte den Reichen nach, und den reichen Leuten stand es natürlich frei, große Heiraten zu schließen; sie fürchtete die armen Leute, denn sie traute ihnen nicht die Uneigennützigkeit zu, die sie forderte: so daß ihre Exklusivität und die Umstände den Männern, die so wie graue Erbsen verlesen wurden, auf eine sonderbare Art ein Licht aufsteckten. Bei jeder fehlgeschlagenen Heirat mußte das arme Mädchen in ihrer Verachtung bestärkt werden und schließlich dazu kommen, die Männer in einem ganz falschen Licht zu sehen. Ihr Charakter gewann allmählich eine geheime Menschenfeindlichkeit, die in ihre Unterhaltung eine leise Bitterkeit und eine gewisse Schroffheit in ihren Blick mischte. Ihre Ehelosigkeit befestigte sie in ihrer zunehmenden Sittenstrenge, denn da sie an ihrer Sache verzweifelte, suchte sie sich zu vervollkommnen. Edle Rache! Sie schliff den von den Männern verworfenen rauhen Diamanten für Gott. Bald wendete sich die öffentliche Meinung gegen sie, denn die Welt bestätigt das Urteil, daß eine Frau, die unvermählt bleibt, weil sie alle Heiraten ausschlägt oder verfehlt, über sich selbst fällt. Jedermann glaubt, daß dieses Sitzenbleiben geheime Ursachen hat, die immer falsch ausgelegt werden. Einer sagte, sie sei mißgestaltet, ein anderer, sie habe verborgene Gebrechen; doch das arme Mädchen war rein wie ein Engel, gesund wie ein Kind und voll guten Willens, denn die Natur hatte sie zu allen Freuden, allem Glück, allen Beschwerden der Mutterschaft bestimmt.

Mademoiselle Cormon fand jedoch in ihrer Erscheinung nicht den nötigen Helfershelfer für ihre Wünsche. Sie besaß keine andere Schönheit als die, die man so unzutreffend ›la beauté du diable‹ nennt und die in einer großen Jugendfrische besteht, welche, theologisch gesprochen, der Teufel ja nicht haben kann, es sei denn, daß damit seine Lust gemeint sei, sich beständig zu verjüngen. Die Füße der Erbin waren groß und platt; ihr Bein, das sie, ohne etwas dabei zu finden, häufig beim Hochheben des Kleides, wenn sie bei Regenwetter aus dem Haus oder der Kirche Saint-Léonard kam, sehen ließ, konnte eigentlich nicht für ein Frauenbein gelten. Es war ein nerviges Bein mit einer recht starken muskulösen Wade wie bei einem Matrosen. Eine gute dicke Brust, ein Ammenbauch, kräftige, mollige Arme, rote Hände entsprachen den rundlichen Formen und der fetten Weiße der normannischen Schönheiten. Mit der Stirn gleichstehende Augen von unbestimmter Farbe gaben ihrem dicken Gesicht, das des Adels der Linien entbehrte, ein erstauntes Aussehen, eine schafsmäßige Einfalt, die sehr gut für eine alte Jungfer paßte: wenn Rose nicht unschuldig gewesen wäre, so hätte sie doch so ausgesehen. Ihre Adlernase stand im Widerspruch zu der niedrigen Stirn, denn es ist selten, daß man bei dieser Form der Nase keine schöne Stirn findet. Trotz ihrer vollen roten Lippen, dem Merkmal großer Güte, mußte man doch nach der Stirn auf zuwenig Klugheit schließen, als daß ihr Herz vom Verstand geleitet sein konnte; sie müßte gutherzig ohne Anmut sein. Man ist eben sehr streng gegen die Mängel der Tugend, während man für die Eigenarten des Lasters voller Nachsicht ist. Ungewöhnlich lange, kastanienbraune Haare gaben dem Gesicht Rose Cormons den Reiz, der in der Kraft und Fülle, den Hauptzügen ihrer Person lag. Zur Zeit ihrer erhöhten Ansprüche pflegte sie die Dreiviertelansicht ihres Profils zu geben, um ein sehr hübsches Ohr zu zeigen, das sich von dem zarten Weiß ihres Halses und ihrer Schläfen, welches durch die Fülle ihres Haares vertieft wurde, abhob, wenn man sie so im Ballkleid sah, konnte sie für schön gelten. Ihre quellenden Formen, ihre Taille, ihre kräftige Gesundheit entlockten den Offizieren der Kaiserzeit den Ausruf: ›Ein strammes Mädchen!‹ Doch mit den Jahren hatte sich die Fülle, die durch ein ruhiges, keusches Leben noch zugenommen hatte, so schlecht über den ganzen Körper verteilt, daß sie die ursprünglichen Formen zerstört hatte. Nunmehr konnte kein Korsett die Hüften des armen Mädchens, das aus einem Stück gegossen zu sein schien, erkennen lassen. Das frühere Ebenmaß ihres Busens war nicht mehr vorhanden, und sein außergewöhnlicher Umfang gab der Befürchtung Raum, daß sie, wenn sie sich bückte, von den obern Partien zu Boden gerissen würde; doch hatte ihr die Natur ein Gegengewicht gegeben, das die lügnerische Vorsicht einer ›Turnüre‹ überflüssig machte. Bei ihr war alles echt. Das Kinn hatte, indem es sich verdreifachte, die Länge des Halses verringert und die Haltung des Kopfes beeinträchtigt. Rose hatte keine Runzeln, aber Falten, und die Spaßvögel behaupteten, daß sie, um sich nicht wund zu reiben, Puder zwischen die Gelenke streute, wie man es bei kleinen Kindern macht. Diese beleibte Person mußte einem sich in Begierde verzehrenden jungen Manne, wie Athanase, die Art Reize bieten, die seine Phantasie aufstachelten. Denn die junge Einbildungskraft, die lüstern und ungestüm ist, liebt es, in solch lebendigen Kissen zu versinken. Das fette Rebhuhn lockt den Gaumen des Feinschmeckers. Viele elegante verschuldete Pariser hätten sich sehr leicht dazu entschlossen, das Glück Mademoiselle Cormons zu begründen. Aber das arme Mädchen war schon über vierzig. Nunmehr, nachdem sie lange gekämpft hatte, ihrem Leben den Inhalt zu geben, der die Frau erst zur Frau macht, und gezwungen war, Mädchen zu bleiben, befestigte sie sich in ihrer Tugend durch die strengsten religiösen Übungen. Sie hatte ihre Zuflucht zur Religion genommen, dieser großen Trösterin der zu wohl behüteten Jungfräulichkeit. Ein Beichtvater leitete Mademoiselle Cormon in sehr läppischer Weise seit drei Jahren in ihren Kasteiungen. Er empfahl ihr den Gebrauch der Geißel, die, wenn man der modernen Medizin Glauben schenken soll, eine den Erwartungen dieses armen Priesters, dessen hygienische Kenntnisse nicht sehr ausgedehnt waren, entgegengesetzte Wirkung hat. Diese unsinnigen Maßnahmen fingen an, eine klösterliche Färbung über das Gesicht Rose Cormons zu breiten, die oft in Verzweiflung geriet, wenn sie auf ihrem weißen Teint die gelben Töne der Überreife sah. Der leichte Flaum, der ihre Oberlippe zierte, wuchs und zeichnete eine Linie wie von Kohle; die Schläfen bekamen leichte bläuliche Schatten. Kurzum, der Verfall begann. Es war in Alençon bekannt, daß das Blut Mademoiselle Cormon zu schaffen machte. Sie schenkte dem Chevalier de Valois ihr Vertrauen, zählte ihm ihre Fußbäder auf und erwog im Gespräche mit ihm die Anwendung kühlender Mittel. Der Schlauberger zog dann seine Tabaksdose hervor und betrachtete zum Abschluß dieser Erörterungen die Prinzessin Goritza. »Das wahre Beruhigungsmittel, Mademoiselle«, sagte er, »wäre ein schöner, guter Mann.« – »Aber wem sich vertrauen?« erwiderte sie.

Der Chevalier pflegte dann die Tabakskrümel, die sich in die Falten seines seidenen Rockes oder seiner Weste verkrochen hatten, abzuklopfen. Für jedermann wäre diese Handbewegung sehr natürlich gewesen, doch dem armen Mädchen verursachte sie große Ängste. Die Heftigkeit dieser gegenstandslosen Leidenschaft war so groß, daß Rose nicht mehr wagte, einem Mann ins Gesicht zu sehen, so sehr fürchtete sie, daß man in ihren Blicken das Gefühl, von dem sie durchbohrt wurde, lesen könnte. Aus einer Laune, die vielleicht nur die Fortsetzung ihres ehemaligen Verfahrens war, behandelte sie die Männer, die ihr noch zusagen konnten und obwohl sie sich zu ihnen hingezogen fühlte, schlecht, damit man nur ja nicht meinen könnte, sie mache ihnen den Hof. Die meisten Leute der Gesellschaft, denen die Fähigkeit abging, ihre Motive, die immer edel waren, zu verstehen, deuteten ihr Benehmen gegen ihre Mitbrüder im Zölibat dann als Rache für einen voraussichtlichen oder schon entschiedenen Korb. Zu Beginn des Jahres 1815 erreichte Rose das unselige Alter, das sie nicht eingestand: sie wurde zweiundvierzig Jahre. Ihr Begehren nahm alsdann eine Stärke an, die an Monomanie grenzte, denn sie sah ein, daß jede Hoffnung auf Nachkommenschaft bald vergeblich sein würde; und was sie in ihrer himmlischen Unwissenheit über alles wünschte, das waren Kinder. Es gab keinen einzigen Menschen in Alençon, der dieser tugendhaften Person auch nur den Wunsch zu einem Liebesabenteuer zugetraut hätte, sie liebte im allgemeinen, ohne etwas Wirkliches von der Liebe zu wissen; sie war eine katholische Agnes, unfähig der kleinsten List der Agnes Molières. Seit einigen Monaten rechnete sie auf einen Zufall. Die Verabschiedung der kaiserlichen Truppen und die Wiederherstellung der königlichen Armee brachte einen gewissen Umschwung in dem Geschick vieler Männer mit sich, die zurückkehrten, die einen mit Halb-Sold, die andern mit oder ohne Pension, jeder in seine Heimat und alle von dem Wunsche beseelt, ihr schlechtes Los zu verbessern und ein Ende zu machen, das für Mademoiselle Cormon ein seliger Anfang sein konnte. Es war unwahrscheinlich, daß unter denen, die sich in der Umgegend niederließen, nicht ein braver, ehrenwerter, vor allen Dingen gesunder Offizier von angemessenem Alter sein sollte, dessen Charakter eine Entschädigung für die bonapartistischen Ansichten wäre; vielleicht würden sich sogar welche finden, die, um eine verlorene Stellung wiederzugewinnen, Royalisten würden. Diese Berechnung ließ Mademoiselle Cormon noch während der ersten Monate des Jahres ihre strenge Haltung wahren; doch das Militär, das in der Stadt seinen Wohnsitz nahm, war durchweg entweder zu alt oder zu jung, zu bonapartistisch oder zu liederlich, in Verhältnissen, die sich mit den Sitten, dem Rang und dem Vermögen von Mademoiselle Cormon nicht vertrugen, und so verzweifelte sie jeden Tag mehr. Die höheren Offiziere hatten alle ihre günstige Stellung unter Napoleon benutzt und sich verheiratet, und diese wurden freilich im Interesse ihrer Familien alle Royalisten. Wie sehr Mademoiselle Cormon Gott auch bat, ihr einen Mann zu geben, damit sie auf christliche Art glücklich sein könne, es war offenbar bestimmt, daß sie als Jungfrau und Märtyrerin sterben sollte, denn kein Mann trat auf, der zu ihrem Gatten geschaffen war. In den Unterhaltungen, die jeden Abend bei ihr stattfanden, wurde das Verzeichnis der Personalakten so gut geführt, daß kein einziger Fremder nach Alençon kam, ohne daß sie über seine Sitten, sein Vermögen und seine Stellung unterrichtet wurde. Aber Alençon ist keine Stadt, die den Fremden herbeilockt, sie liegt auf dem Wege zu keiner größeren Stadt, sie hat keine Möglichkeiten. Nicht einmal die Seeleute, die von Brest nach Paris fahren, halten sich dort auf. Das arme Mädchen begriff endlich, daß sie auf die Eingesessenen angewiesen war; ihr Auge bekam jetzt manchmal einen wilden Ausdruck, den der spitzbübische Chevalier mit einem schlauen Blick erwiderte, wobei er seine Tabaksdose herauszog und die Prinzessin Goritza betrachtete. Er wußte, daß in der weiblichen Jurisprudenz die Treue zur ersten Geliebten eine Bürgschaft für die Zukunft ist. Doch gestehen wir es, Mademoiselle Cormon hatte wenig Geist: sie hatte keine Ahnung von den Kunstgriffen mit der Tabaksdose. Sie verdoppelte ihre Wachsamkeit, um den ›bösen Geist‹ zu bekämpfen. Ihre aufrichtige Frömmigkeit und ihre strengen Prinzipien verbannten ihre grausamen Leiden in die tiefste Verborgenheit ihres Herzens. Jeden Abend, wenn sie allein war, dachte sie an ihre verlorene Jugend, ihre dahingewelkte Frische, an die heißen Wünsche der betrogenen Natur; und während sie ihre Leidenschaft, Hymnen, die dazu verdammt waren, ungedruckt zu bleiben, am Fuße des Kreuzes opferte, nahm sie sich vor, wenn der Zufall ihr einen wohlgesinnten Mann in den Weg stellte, so nähme sie ihn, ohne ihn auf die Probe zu stellen, wie er wäre. Wenn sie an gewissen, besonders harten Abenden ihre guten Eigenschaften einer Prüfung unterzog, so ging sie in Gedanken so weit, einen Unterleutnant, ja einen Raucher zu heiraten, den sie durch ihre Fürsorge, Liebe und Sanftmut zum besten Menschen der Welt zu machen sich vornahm; sie wollte ihn sogar nehmen, wenn er bis über die Ohren verschuldet wäre. Aber es gehörte die Stille der Nacht zu diesen phantastischen Heiraten, wo sie sich darin gefiel, die erhabene Rolle des Schutzengels zu spielen. Am Morgen, wenn Josette das Bett ihrer Herrin drunter und drüber fand, hatte sie ihre Würde wiedergewonnen; am Morgen nach dem Frühstück wollte sie einen Mann von vierzig Jahren, einen tüchtigen, guterhaltenen Grundbesitzer, der noch für jung gelten konnte.

Der Abbé de Sponde war unfähig, seiner Nichte in ihren Bemühungen um die Ehe im geringsten beizustehen. Dieser Biedermann, der ungefähr siebzig Jahre zählte, schrieb das Unheil der Französischen Revolution einer Absicht der Vorsehung zu, die in ihrem Zorneseifer die zügellose Kirche treffen wollte. Der Abbé de Sponde hatte sich darum auf den längst verlassenen Pfad begeben, den die Einsiedler, die in den Himmel kommen wollten, ehedem begingen: er führte ein asketisches Leben, ohne Emphase, ohne äußeren Triumph. Er entzog dem Auge der Welt seine Werke der Barmherzigkeit, seine fortwährenden Gebete, seine Bußübungen; er dachte, daß die Priester alle während der Heimsuchung so handeln sollten, und er ging mit gutem Beispiel voran. Während er der Welt ein ruhiges und heiteres Antlitz zeigte, hatte er sich von den weltlichen Interessen vollständig losgesagt: er dachte ausschließlich an die Unglücklichen, die Bedürfnisse der Kirche und sein eigenes Heil. Er hatte die Verwaltung seines Vermögens seiner Nichte überlassen, die ihm die Einkünfte übergab und der er eine mäßige Pension bezahlte, damit er den Überschuß zu heimlichen Almosen und Gaben an die Kirche verwenden könne. Alle Liebe des Abbés war auf seine Nichte übergegangen, die in ihm einen Vater sah; aber es war ein zerstreuter Vater, der die Regungen des Fleisches nicht begriff und Gott dankte, daß er seine teure Tochter im Stande der Ehelosigkeit ließ, denn er hatte seit seiner Jugend die Anschauungsweise des heiligen Chrysostomus angenommen, der geschrieben hat, daß ›der Stand der Jungfräulichkeit dem Stande der Ehe so übergeordnet sei, wie der Engel über dem Menschen stehe‹. Mademoiselle Cormon, die gewohnt war, ihren Onkel zu respektieren, wagte nicht, ihn in die Wünsche nach einer Änderung ihres Zustandes einzuweihen. Der wackere Mann, der seinerseits an den Gang der Dinge im Hause gewöhnt war, hätte übrigens an der Einführung eines Herrn in den Haushalt wenig Gefallen gefunden. Der Abbé de Sponde, der immer mit der Not, die er linderte, beschäftigt und im Gebet entrückt war, hatte häufig ein zerstreutes Wesen, das die Leute der Gesellschaft für Geistesabwesenheit hielten. Er sprach wenig und schwieg auf eine liebenswürdige, wohlwollende Art. Er war ein hochgewachsener Mann, hager, mit ernsten, feierlichen Manieren; sein Gesicht drückte sanfte Gefühle, eine große innere Ruhe aus, und seine Anwesenheit gab dem Hause eine ehrwürdige Autorität. Er hatte eine große Vorliebe für den voltairianischen Chevalier de Valois. Diese beiden majestätischen Überbleibsel des Adels und des Klerus erkannten sich, obwohl ihre Sitten so verschieden waren, an ihren allgemeinen Zügen. Übrigens war der Chevalier ebenso salbungsvoll mit dem Abbé de Sponde, wie er gegen seine Grisetten väterlich war.

Manche könnten glauben, daß Mademoiselle Cormon alle Mittel anwandte, um zu ihrem Ziele zu kommen, daß sie mit den den Frauen erlaubten Kunstgriffen sich zum Beispiel auf die Toilette verlegte, sich dekolletierte, daß sie von den negativen Koketterien, der Entfaltung eines prächtigen Rüstzeuges, Gebrauch machte. Nichts von alledem! Sie war heldenhaft und unbeweglich in ihren Brusttüchern wie ein Soldat in seinem Schilderhaus, Ihre Kleider, ihre Hüte, ihr ganzer Putz wurde bei den Modewarenhändlerinnen von Alençon hergestellt, zwei buckligen Schwestern, denen es nicht an Geschmack fehlte. Trotz der inständigen Vorstellungen dieser beiden Künstlerinnen sträubte sich Mademoiselle Cormon gegen die Täuschungskünste der Eleganz. Sie wollte in allem anständig sein, an Leib und Schmuck, vielleicht paßte doch die schwerfällige Machart ihrer Kleider gerade gut zu ihrer Physiognomie. Mache sich, wer will, über das arme Ding lustig! Ihr, großmütige Seelen, die ihr euch nicht um die Form kümmert, die das Gefühl annimmt, und es da bewundert, wo ihr es findet, werdet einen Schatz in ihr sehen! Leichtfertige Frauen möchten wohl die Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung bezweifeln und sagen, daß in Frankreich kein Mädchen existiert, das zu einfältig ist, sich einen Mann einzufangen, daß Mademoiselle Cormon eine jener ungeheuerlichen Ausnahmen bildet, die als Typus hinzustellen einem der gesunde Menschenverstand verbietet; daß das tugendhafteste und einfältigste Mädchen, das sich einen Gründling fischen will, auch einen Köder für seine Angel findet. Aber diese Kritiken werden hinfällig, wenn man bedenkt, daß die erhabene katholische, apostolische und römische Religion in der Bretagne und dem alten Herzogtum Alençon noch in ihrer ganzen Kraft besteht. Der Glaube, die Frömmigkeit lassen diese Spitzfindigkeiten nicht zu. Mademoiselle Cormon wandelte auf den Wegen des Heils und zog die Leiden ihrer allzusehr verlängerten Jungfräulichkeit dem Unglück einer Lüge, der Sünde einer List vor. Bei einem Mädchen, das sich Kasteiungen auferlegte, konnte die Tugend nicht ins Wanken geraten, die Liebe oder die Berechnung müßte sich ihr schon mit sehr entschiedenem Auftreten nahen. Überdies haben wir den Mut, eine Bemerkung zu machen, die für eine Zeit, wo die Religion den einen nur noch ein Mittel, den andern Poesie ist, grausam genannt werden muß.

Die Frömmigkeit verursacht eine Krankheit des moralischen Sehorgans. Sie raubt durch eine Gnade der Vorsehung den Seelen, die auf dem Wege zur Ewigkeit sind, das Gesicht für viele kleine irdische Dinge. Mit einem Wort: Die frommen Frauen sind in vielen Punkten dumm. Diese Dummheit beweist übrigens, mit welcher Kraft sie ihren Geist den himmlischen Sphären zukehren, obwohl der Voltairianer, Chevalier de Valois, behauptete, daß es außerordentlich schwer zu entscheiden sei, ob die dummen Mädchen von selber fromm werden, oder ob die Frömmigkeit die Wirkung habe, die klugen Mädchen dumm zu machen. Laßt es euch gesagt sein, daß die reinste katholische Tugend mit ihrer inbrünstigen Annahme jeder Schickung, ihrem demütigen Sichunterordnen unter das göttliche Gesetz, ihrem Glauben, daß der Finger Gottes dem Ton jedes Menschenschicksals seine Spuren aufpräge, das geheimnisvolle Licht ist, das sich in die letzten Spalten dieser Geschichte einschleichen und sie in ihren Wesenszügen deutlich erkennbar machen wird, was ihren Wert für alle, die noch Glauben haben, nur erhöhen dürfte. Außerdem, wenn es Dummheit sein sollte, warum soll man sich nicht ebensogut mit den Leiden der Dummheit wie mit den Leiden des Genies beschäftigen? Das eine ist ein soziales Element, das unendlich viel verbreiteter ist als das andere.

Mademoiselle Cormon sündigte also in den Augen der Welt durch die himmlische Unwissenheit der Jungfrauen. Sie hatte gar keine Beobachtungsgabe, und ihr Benehmen gegen ihre Bewerber bewies dies zur Genüge. Selbst ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, das noch keinen Blick in einen Roman getan hätte, würde in den Blicken von Athanase hundert Liebeskapitel gelesen haben. Mademoiselle Cormon aber sah rein nichts darin und erkannte auch an dem Zittern seiner Stimme nicht die Kraft eines Gefühls, das sich nicht hervorwagte. Da sie selbst voller Scham war, erriet sie die Scham des andern nicht. Sie, die ehemals zu ihrem Verderben dazu fähig war, Verfeinerungen der Empfindsamkeit zu ersinnen, bemerkte diese bei Athanase nicht. Dieses seelische Phänomen wird die nicht wundernehmen, welche wissen, daß die Anlagen des Herzens ebenso unabhängig von denen des Geistes sind, wie die Fähigkeiten des Genies von den edlen Eigenschaften der Seele. Die vollkommenen Menschen sind so selten, daß Sokrates, der zu den kostbarsten Perlen der Menschheit gehört, mit einem Phrenologen seiner Zeit darin übereinstimmte, er sei von Geburt aus eigentlich ein rechter Spitzbube. Ein großer General kann in Zürich sein Vaterland retten und doch mit Lieferanten unter einer Decke stecken. Ein Bankier von zweifelhafter Ehrlichkeit kann Staatsmann werden, Ein großer Musiker kann entzückende Melodien erfinden und doch eine Fälschung begehen. Eine gefühlvolle Frau kann sehr dumm sein. Kurzum, eine fromme Christin kann eine sehr schöne Seele haben und taub sein für die Töne, die aus einer schönen Seele neben ihr kommen. Dieselben Launen, die von körperlichen Gebrechen herrühren, trifft man auch in der moralischen Welt, Diese gute Seele, die sich grämte, daß sie ihre Früchte nur für sich und ihren alten Onkel einkochte, war fast lächerlich geworden. Diejenigen, die wegen ihrer guten Eigenschaften, manche auch wegen ihrer Fehler, Sympathien für sie hatten, machten sich über ihre verfehlten Heiraten lustig. Man unterhielt sich oft darüber, was aus ihrem Reichtum, ihren Ersparnissen und der Hinterlassenschaft des Onkels werden solle. Seit langem hatte man sie in Verdacht, daß sie im Grunde, obwohl es nicht den Anschein hatte, ein Original sei. In der Provinz ist es nicht erlaubt, ein Original zu sein. Das heißt Ideen haben, die von den andern nicht verstanden werden, und man verlangt dort Gleichheit des Geistes ebensowohl wie Gleichheit der Sitten. Die Verheiratung Mademoiselle Cormons galt seit 1804 als so problematisch, daß, wenn man in Alençon einer Sache alle Wahrscheinlichkeit absprechen wollte, es hieß: »Es ist so sicher wie die Heirat Mademoiselle Cormons«. Man muß zugeben, daß der Spott zu den stärksten Notwendigkeiten der Franzosen gehört, selbst wenn ihn eine so vortreffliche Person hervorrief. Nicht nur, daß sie die ganze Stadt bei sich empfing, sie war auch wohltätig, fromm, unfähig, eine Bosheit zu sagen; nebenbei war sie eins mit dem Geist und den Sitten der Bewohner, die sie als reinstes Symbol ihres Lebens verehrten; sie war mit den Gewohnheiten der Provinz verwachsen, hatte sich niemals daraus entfernt, teilte ihre Vorurteile, ihre Interessen, vergötterte sie. Trotz ihrer achtzehntausend Livres Rente an Grund und Boden, ein für die Provinz ansehnliches Vermögen, richtete sie sich doch nach den weniger reichen Häusern. Wenn sie sich auf ihr Landgut, Le Prebaudet, begab, fuhr sie in einer alten Korbhalbkutsche, die zwischen zwei Hängeriemen aus weißem Leder schwebte, von einer alten schnaufenden Stute gezogen wurde und auf beiden Seiten mit vor Alter rot gewordenen Ledervorhängen nur unvollkommen geschlossen war. Diese Kutsche, welche die ganze Stadt kannte, wurde von Jacquelin ebenso sorgfältig behandelt wie das schönste Pariser Coupé. Mademoiselle hing daran, sie benutzte sie seit zwölf Jahren, was sie übrigens mit der Siegesfreude eines Menschen zu erwähnen pflegte, der auf seinen Geiz stolz ist. Die meisten Einwohner rechneten es Mademoiselle Cormon hoch an, daß sie sie nicht durch den Luxus, den sie hätte entfalten können, demütigte; es ist sogar anzunehmen, daß, wenn sie eine Kalesche aus Paris hätte kommen lassen, man darüber noch mehr als über ihre fehlgegangenen Heiraten seine Glossen gemacht hätte. Der eleganteste Wagen hätte sie übrigens wie die alte Halbkutsche auch nirgends anders hingebracht als nach Le Prebaudet. Und die Provinz, die immer nur den Zweck im Auge hat, kümmert sich nicht um die Schönheit der Mittel; sie müssen nur wirksam sein.

Um die Schilderung der intimen Gebräuche dieses Hauses zu vervollständigen, ist es notwendig, um Mademoiselle Cormon und den Abbé de Sponde noch Jacquelin, Josette und Mariette, die Köchin, zu gruppieren, die sich dem Wohlbehagen des Onkels und der Nichte widmeten. Jacquelin, ein Mann von vierzig Jahren, kurz und dick, mit dunkelrotem braungebrannten Gesicht, wie ein bretonischer Matrose, diente dem Hause seit zweiundzwanzig Jahren. Er wartete bei Tisch auf, striegelte die Stute, arbeitete im Garten, putzte die Schuhe des Abbé, machte Besorgungen, sägte das Holz, kutschierte, holte aus Le Prebaudet den Hafer, das Heu und das Stroh; abends blieb er im Vorzimmer, wo er wie ein Bärenhäuter schlief. Er liebte, wie man sagte, Josette, ein Mädchen von sechsunddreißig Jahren, die Mademoiselle Cormon weggeschickt haben würde, wenn sie sich verheiratet hätte. So sparten diese beiden armen Leutchen ihren Lohn zusammen und liebten sich in aller Stille; sie warteten und hofften auf die Heirat Mademoiselles, wie die Juden den Messias erwarten. Josette, die zwischen Alençon und Mortagne geboren war, war klein und fett. Ihrem Gesicht, das einer beschmutzten Aprikose glich, fehlte es nicht an ausgeprägter Eigenart und Klugheit; man sagte ihr nach, daß sie ihre Herrin regierte. Josette und Jacquelin, die einer Lösung sicher waren, verbargen eine Befriedigung, die darauf hätte schließen lassen können, daß die beiden Liebenden die Zukunft schon im voraus diskontierten. Mariette, die Köchin, auch schon seit fünfzehn Jahren im Hause, verstand es, alle Gerichte so zuzubereiten, daß es dem Lande zur Ehre gereichte.

Eine besondere Erwähnung gebührt auch noch der alten rotbraunen normannischen Stute, die Mademoiselle Cormon auf ihr Landgut Le Prebaudet zog, denn alle fünf Bewohner dieses Hauses hatten für das Tier eine närrische Liebe. Sie hieß Penelope und tat ihren Dienst seit achtzehn Jahren, Sie wurde so gut gepflegt, mit solcher Pünktlichkeit versorgt, daß Jacquelin und Mademoiselle hofften, sie noch weitere zehn Jahre brauchen zu können. Das Tier war der Gegenstand fortwährender Unterhaltung und Beschäftigung: es schien, daß Mademoiselle Cormon, die ihre im Innern verschlossene Mütterlichkeit keinem Kinde zuwenden konnte, sie auf dieses glückliche Tier übertrug. Penelope hatte Mademoiselle daran gehindert, sich Zeisige, Katzen und Hunde anzuschaffen, dieses Surrogat einer Familie, das sich fast alle Wesen, die inmitten der Gesellschaft einsam sind, zulegen.

Diese vier treuen Diener – denn die Intelligenz Penelopes hatte sich bis zu der guter Dienstboten erhoben, während sich die andern zu der stummen und unterwürfigen Regelmäßigkeit des Tieres erniedrigt hatten – verrichteten tagtäglich dieselben Beschäftigungen mit der Unfehlbarkeit eines Uhrwerks. Aber sie sagten, sie seien früher besser daran gewesen. Mademoiselle Cormon, wie alle Menschen, die mit großer Entschiedenheit von einer fixen Idee besessen sind, wurde weniger aus Charakteranlage als aus dem Bedürfnis, sich zu betätigen, wunderlich und zanksüchtig. Da sie ihre Sorge keinem Mann und keinen Kindern angedeihen lassen konnte, verlegte sie sich auf Kleinigkeiten. Sie sprach stundenlang über die unbedeutendsten Dinge, über ein Dutzend mit Z gezeichnete Servietten, die sie vor die mit O bezeichneten gelegt gefunden hatte.

»Wo bloß Josette ihre Gedanken hat?« sagte sie; »Josette denkt an gar nichts.«

Mademoiselle fragte acht Tage lang, ob Penelope um zwei Uhr ihr Futter bekommen habe, weil sich Jacquelin ein einziges Mal verspätet hatte. Ihre geringe Phantasie erging sich in Nichtigkeiten. Eine Staubschicht, die der Flederwisch vergessen, ein paar von Mariette schlecht geröstete Brotschnitten, das Versäumnis Jacquelins, die Fenster, auf welche die Sonne, schien, zu schließen, so daß die Möbel in Gefahr standen auszubleichen, all diese kleinen großen Dinge riefen ernste Auseinandersetzungen hervor, bei denen Mademoiselle heftig wurde. Alles wäre anders geworden! schrie sie. Sie erkenne ihre guten, alten Dienstboten nicht mehr; sie ließen nach, und sie wäre zu gut. Eines Tages gab ihr Josette den ›Tag des Christen‹ anstatt des ›Meßbuchs für die vierzehn Tage vor Ostern‹. Am Abend erfuhr dies Unglück die ganze Stadt. Mademoiselle war genötigt gewesen, aus Saint-Léonard wegzugehen, und ihr plötzlicher Aufbruch in der Kirche, wo sie alle Betstühle in Bewegung gebracht hatte, ließ Ungeheueres vermuten. Sie war also verpflichtet, ihren Freunden die Ursache dieses Mißgeschickes anzugeben. »Josette«, hatte sie mit Sanftmut gesagt, »daß so etwas nicht noch einmal vorkommt!«

Ohne es zu wissen, war Mademoiselle Cormon sehr zufrieden über diese kleinen Vorkommnisse, denn sie dienten als Ventil für ihre verhaltene Bitterkeit. Der Geist hat seine Ansprüche; er bedarf wie der Körper einer Gymnastik. Diese wechselhaften Launen wurden von Josette und Jacquelin hingenommen wie die Schwankungen der Witterung vom Landmann. Diese drei Leutchen sagten: »Es ist schönes Wetter!« oder: »Es regnet!«, ohne den Himmel darum anzuklagen. Manchmal fragten sie sich des Morgens in der Küche, wenn sie aufgestanden waren, welche Laune Mademoiselle wohl heute haben würde, so wie ein Landmann nach den Nebeln des Frührots sieht. Mademoiselle Cormon war schließlich dazu gekommen, in den Winzigkeiten ihres Daseins sich selbst zu beschauen. Sie und Gott, ihr Beichtvater und ihre große Wäsche, die Früchte, die sie einzukochen hatte, die Messen, die sie hörte, und der Onkel, den sie pflegte, hatten ihre schwache Intelligenz vollkommen aufgesogen. Kraft einer Art des Sehens, die den von Natur oder durch Zufall egoistisch gewordenen Menschen eigentümlich ist, vergrößerten sich für sie die Kleinigkeiten ihrer Existenz. Der geringsten Störung in ihrem Verdauungsapparat wurde bei ihrer vollkommenen Gesundheit eine erschreckende Wichtigkeit beigelegt. Sie stand übrigens in medizinischen Dingen noch ganz unter der Zuchtrute unserer Voreltern und nahm viermal im Jahr zur Vorsicht eine Medizin ein, an der Penelope krepiert wäre, die sie aber erfrischte. Wenn Josette beim Auskleiden auf der noch atlasweichen Schulter von Mademoiselle ein Pickelchen fand, so gab dies zu minutiösen Nachforschungen über alle Nahrungssäfte der Woche Veranlassung. Was für ein Triumph, wenn Josette ihre Herrin an einen gewissen zu sehr gewürzten Hasenbraten erinnerte, der an diesem schrecklichen Blütchen schuld sein mußte. Mit welcher Freude sagten dann beide: »Kein Zweifel, es ist der Hasenbraten.«

»Mariette hatte ihn zu sehr gewürzt«, fing dann Mademoiselle an, »ich sage ihr immer, sie soll alles für meinen Onkel und mich milde machen; aber Mariette hat so viel Gedächtnis wie ...« – »Wie der Hase«, fiel Josette ein. »Es ist wahr«, erwiderte Mademoiselle, »sie hat nicht mehr Gedächtnis wie der Hase, das hast du gut gesagt.«

Viermal im Jahr, zu Anfang jeder Jahreszeit, verbrachte Mademoiselle Cormon eine bestimmte Anzahl von Tagen auf ihrem Landgut Le Prebaudet – Es war gegen Mitte Mai, und Mademoiselle Cormon wollte sich überzeugen, ob ihre Apfelbäume gut ›geschneit‹ hatten, ein Ausdruck, mit dem man auf dem Lande den Anblick bezeichnet, den der Blütenfall unter den Bäumen hervorruft. Wenn der kreisförmige Haufen der abgefallenen Blüten wie eine Schneeschicht aussieht, kann der Besitzer auf eine reichliche Mosternte rechnen. Zur selben Zeit, da Mademoiselle Cormon derart ihre Fässer eichte, wachte sie auch über die Reparaturen, die der Winter nötig gemacht hatte, ordnete die Bestellung ihres Gemüse- und Obstgartens an, aus denen sie dann reichliche Vorräte zog. Jede Jahreszeit hatte ihre besonderen Angelegenheiten. Vor ihrer Abreise gab Mademoiselle Cormon ihren Getreuen ein Abschiedsdiner, obwohl sie sie nach drei Wochen wiedersah. Die Abreise von Mademoiselle Cormon war immer eine Begebenheit, die durch ganz Alençon widerhallte. Ihre Stammgäste, die mit einem Besuch im Rückstand waren, kamen dann zu ihr. Ihr Empfangssalon war voll; jeder wünschte ihr eine gute Reise, als ob sie sich hätte nach Kalkutta einschiffen wollen. Am nächsten Morgen standen dann die Handelsleute auf der Schwelle ihrer Läden. Groß und klein sah die Halbkutsche vorüberfahren, und es war, als ob man sich eine Neuigkeit mitteilte, indem der eine zum andern sagte: »Mademoiselle Cormon fährt nach Le Prebaudet!« Hier sagte einer: »Die hat zu leben!« Ein Nachbar erwiderte dann: »Was willst du, mein Lieber, es ist eine brave Person; wenn das Geld immer in solche Hände käme, gäbe es keinen Bettler im Land ...« Dort äußerte sich ein anderer: »Sieh da, ich wundere mich nicht, daß unser hochstämmiger Wein blüht, Mademoiselle Cormon fährt nach Le Prebaudet. Wie kommt es, daß sie gar nicht heiratet?« – »Ich würde sie trotzdem nehmen«, erwiderte ein Spötter, »dann ist die Heirat schon halb gemacht, indem nämlich eine Partei zustimmt, nur die andere will nicht.« – »Bah, für Monsieur du Bousquier wird der Ofen geheizt!« – »Monsieur du Bousquier? ... Sie hat ihm einen Korb gegeben!« Abends sagte man sich bei allen Zusammenkünften feierlich: »Mademoiselle Cormon ist abgereist.« Oder: »Also haben Sie Mademoiselle Cormon abreisen lassen?«

Der von Suzanne zu ihrem Skandal gewählte Mittwoch war durch Zufall just der Abschiedsmittwoch, ein Tag, an dem Mademoiselle Cormon Josette mit dem Gepäck zusetzte, das mitgenommen werden sollte. Am Vormittag waren in der Stadt Dinge geschehen und gesagt worden, die diese Abschiedsversammlung zu einem großen Ereignis stempelten. Madame Granson hatte in zehn Häusern Alarm geschlagen, während das alte Mädchen über das beriet, was sie für alle Fälle auf ihrer Reise mitzunehmen hatte, und der boshafte Chevalier de Valois bei Mademoiselle Armanda d'Esgrignon, der Schwester des alten Marquis d'Esgrignon und Königin des aristokratischen Salons, eine Partie Pikett spielte. Wenn es für niemand gleichgültig war, zu sehen, was für ein Gesicht der Verführer am Abend machen würde, so war es für den Chevalier und Madame Granson wichtig, zu wissen, wie Mademoiselle Cormon in ihrer doppelten Eigenschaft als mannbares Mädchen und als Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins die Neuigkeit aufnehmen würde. Was den unschuldigen Du Bousquier angeht, so ging er auf dem Korso spazieren und fing an zu glauben, daß ihn Suzanne zum besten gehabt hatte. Dieser Verdacht bestärkte ihn noch in seinen Grundsätzen bezüglich der Frauen.

An diesen Galatagen war der Tisch bei Mademoiselle Cormon schon um halb vier Uhr gedeckt. Zu jener Zeit dinierte die fashionable Welt von Alençon an außergewöhnlichen Tagen um vier Uhr. Noch während der Kaiserzeit dinierte man wie ehemals um zwei Uhr; aber man aß zu Abend. Eine der Freuden, denen sich Mademoiselle Cormon, ohne sich Böses dabei zu denken, mit besonderem Genuß hingab, obwohl sie sicherlich auf Egoismus beruhte, bestand in der unaussprechlichen Befriedigung, sich als Herrin des Hauses, die Gäste empfangen wird, angekleidet zu sehen. Wenn sie sich so gerüstet fand, schlich sich ein Hoffnungsstrahl in das Dunkel ihres Herzens, eine Stimme sagte ihr, daß die Natur sie nicht umsonst so verschwenderisch ausgestattet habe und daß sich ein unternehmender Mann finden würde. Ihr Begehren wurde wieder aufgefrischt, wie sie ihren Körper aufgefrischt hatte; sie betrachtete sich in ihrem doppelten Staat mit einem gewissen Rauschgefühl, und diese Befriedigung hielt an, während sie hinunterging und den Salon, das Kabinett und das Boudoir mit einem gefürchteten Blick streifte. Sie ging mit der naiven Zufriedenheit des Reichen umher, der in jedem Augenblick denkt, daß er reich ist und daß es ihm niemals an etwas fehlen wird. Sie blickte auf ihre unverwüstlichen Möbel, ihre Antiquitäten, ihre Lackarbeiten; sie sagte sich, daß so schöne Dinge einen Herrn haben müßten. Wenn sie den Speisesaal bewundert hatte, wo der längliche, mit einem schneeweißen Linnen bedeckte Tisch stand, auf dem in gleichmäßigen Zwischenräumen etwa zwanzig Gedecke angeordnet waren, nachdem sie die Reihe der Flaschen, die sie bezeichnet hatte und die ehrenwerte Etiketten trugen, in Augenschein genommen hatte; nachdem sie peinlich die auf kleine Zettel von der zitternden Hand des Abbé aufgeschriebenen Namen nachgeprüft hatte – es war dies die einzige Aufgabe im Haushalt, der sich der Abbé unterzog, und es knüpften sich daran immer umständliche Erörterungen über den Platz jedes Gastes –, dann gesellte sich Mademoiselle in ihrem vollen Putz zu ihrem Onkel, der sich zu dieser Zeit, der lieblichsten des Tages, auf der Terrasse längs der Brillante erging und dem Gesang der Vögel zuzuhören liebte, die sich in der Lindenlaube eingenistet hatten und weder Jäger noch Kinder zu fürchten brauchten. Während dieser Stunden der Erwartung suchte sie den guten Alten immer durch ein paar ungereimte Fragen in ein Gespräch zu ziehen, das dazu bestimmt war, ihn aufzuheitern. Der Grund – und diese Eigentümlichkeit soll das Charakterbild der trefflichen Person beschließen – war der folgende:

Mademoiselle Cormon sah es als eine ihrer Pflichten an, zu reden; nicht daß sie schwatzhaft gewesen wäre, sie war unglücklicherweise zu beschränkt und kannte zuwenig Redensarten, um ein Gespräch führen zu können; aber sie glaubte damit eine von der Religion vorgeschriebene soziale Pflicht zu erfüllen, die uns auferlegt, sich seinen Mitmenschen angenehm zu machen. Diese Verpflichtung kostete sie so viel Anstrengung, daß sie über diesen Punkt des Höflichkeitskatechismus ihren religiösen Beistand, den Abbé Couturier, befragt hatte. Trotz der bescheidenen Bemerkung seines Beichtkindes, daß sich ihr Geist, um etwas Unterhaltendes zu finden, einer schweren inneren Arbeit unterziehen müsse, las ihr der alte Priester, der in Fragen des Verhaltens unerschütterlich war, eine ganze Passage aus dem heiligen Franz von Sales über die Pflichten der Frau der Gesellschaft vor, über die wohlanständige Heiterkeit frommer Christinnen, die sich ihre Strenge für sich selbst aufsparen und sich in ihrem Hause liebenswürdig zeigen sollten, so daß sich ihre Mitmenschen nicht bei ihnen langweilen. Da sie nun ihrem Beichtvater, der ihr das plaudern zur Pflicht gemacht hatte, um jeden Preis gehorchen wollte, so geriet die Arme in ihrem Korsett in Schweiß, wenn die Unterhaltung erschlaffte, so schwer wurde ihr der Versuch, ihre Gedanken auszudrücken, um die ermatteten Gespräche wieder zu beleben. Sie gab dann seltsame Satzgebilde zum besten, etwa wie das folgende: ›Niemand kann an zwei Stellen zugleich sein, wenn er nicht ein Vögelchen ist‹, womit sie eines Tages nicht ohne Erfolg eine Diskussion über die Allgegenwart der Apostel hervorrief, die sie nicht hatte begreifen können. Solche Schnitzer trugen ihr in der Gesellschaft den Beinamen ›die gute Mademoiselle Cormon‹ ein. Im Munde der Schöngeister der Gesellschaft bedeutete dies Wort, daß sie dumm war wie ein Fisch und ein bißchen ›dämlich‹; aber viele, die ihrer Geistesstufe angehörten, nahmen das Wort in seinem eigentlichen Sinne und antworteten: »O ja, Mademoiselle Cormon ist vortrefflich!«

Manchmal stellte sie, immer um ihren Gästen angenehm zu sein und ihre Pflichten gegen sie zu erfüllen, so alberne Fragen, daß die Leute in ein Gelächter ausbrachen. Sie fragte zum Beispiel, was die Regierung mit den Steuern mache, die sie schon seit so langer Zeit empfinge; warum die Bibel nicht zur Zeit Jesu Christi gedruckt worden sei, da sie doch von Moses stamme. Ihre Intelligenz war die gleiche wie die jenes ›country gentleman‹, der, als er im Unterhaus immer von der Posterität sprechen hörte, aufstand, um den berühmt gewordenen ›Speech‹ zu halten: »Messieurs, ich höre hier immer von der Posterität sprechen, ich möchte gern wissen, was diese Macht für England getan hat?«

Bei solchen Gelegenheiten kam der heroische Chevalier de Valois, wenn er das Lächeln sah, das unbarmherzige Halbwisser austauschten, dem alten Mädchen mit allen Kräften seiner geistreichen Diplomatie zu Hilfe. Der alte Edelmann, der die Frauen zu bereichern liebte, verlieh Mademoiselle Cormon Geist, indem er der Äußerung eine paradoxe Wendung gab und deckte den Rückzug so geschickt, daß es den Anschein hatte, als habe Mademoiselle etwas Kluges gesagt. Einmal gestand sie ganz ernsthaft, daß sie nicht wisse, welcher Unterschied zwischen einem Ochsen und einem Stier sei. Der entzückende Chevalier tat dem Gelächter Einhalt, indem er erwiderte, daß der Ochse immer nur der Onkel einer Färse sein könne. Ein andermal, da sie viel von jungen Pferden und den Schwierigkeiten dieses Handels sprechen hörte, ein oft erneuerter Gesprächsstoff in einem Lande, wo das prachtvolle Gestüt Le Pin zu Hause ist, begriff sie, daß die Pferde vom ›Belegen‹ kommen, und fragte, warum das ›Belegen‹ nicht zweimal im Jahre stattfände. Der Chevalier zog das Gelächter auf sich. »Das wäre leicht möglich«, sagte er. Die Anwesenden horchten auf. »Der Fehler ist der«, erklärte er, »daß die Züchter noch nicht dahintergekommen sind, auf welche Art man die Stuten zwingt, kürzer als elf Monate zu tragen.«

Die Gute wußte ebensowenig, was ›Belegen‹ ist, als sie einen Ochsen von einem Stier unterscheiden konnte. Der Chevalier de Valois diente einer Undankbaren, denn Mademoiselle Cormon hatte von keinem seiner ritterlichen Dienste eine Ahnung. Wenn die Unterhaltung wieder in Fluß gekommen war, glaubte sie zu bemerken, daß sie nicht so dumm war, als sie zu sein glaubte. Schließlich, eines Tages, fühlte sie sich in ihrer Dummheit so heimisch wie der Duc de Brancas; denn der Held des ›Zerstreuten‹ machte es sich in dem Graben, in den er hineingeworfen worden war, so bequem, daß, als man ihn herauszuholen kam, er fragte, was man von ihm wolle. Seit diesem Zeitpunkt, der der jüngsten Vergangenheit angehört, verlor Mademoiselle Cormon alle Furcht, sie bekam eine Sicherheit, die ihren ›Schnitzern‹ etwas von der Feierlichkeit verlieh, mit der die Engländer ihre patriotischen Albernheiten begehen und die gewissermaßen der Dünkel der Dummheit ist. Während sie nun majestätischen Schrittes auf ihren Onkel zuging, überlegte sie, welche Frage sie an ihn stellen könnte, um ihn der Schweigsamkeit zu entreißen, die ihr immer schmerzlich war, denn sie glaubte, er langweile sich.

»Lieber Onkel«, sagte sie, hing sich an seinen Arm und schmiegte sich fröhlich an seine Seite – dies war auch eine ihrer Annahmen, sie dachte: ›Wenn ich einen Mann hätte, würde ich so sein!‹ –, »Onkel, wenn alles hienieden durch Gottes Willen geschieht, gibt es also für alles einen Grund?«

»Sicherlich!« gab ihr der Abbé de Sponde ernsthaft zur Antwort. Da er seine Nichte sehr liebhatte, ließ er sich von ihr immer mit einer himmlischen Geduld aus seinen Betrachtungen reißen.

»Also, wenn ich Mädchen bleibe, nehmen wir einmal an, so will dies Gott?«

»Ja, mein Kind«, sagte der Abbé.

»Jedoch, da nichts mich hindert, morgen zu heiraten, so kann sein Wille durch meinen vernichtet werden?«

»Das wäre so, würden wir den wahren Willen Gottes kennen«, erwiderte der ehemalige Prior der Sorbonne. »Beachte, meine Tochter, du sagst: ›wenn‹.«

Das arme Mädchen, welches gehofft hatte, ihren Onkel durch einen Beweisgrund ad omnipotentem in ein Gespräch über die Ehe hineinzuziehen, war ganz verdutzt; aber die Frauen von schwachem Verstand befolgen die schreckliche Logik der Kinder, die darin besteht, von der Antwort zur Frage zu gehen, eine Logik, die oft in Verlegenheit bringt.

»Aber, lieber Onkel, Gott hat die Frauen doch nicht dazu gemacht, daß sie Mädchen bleiben, da müßten sie entweder alle Mädchen sein oder alle Frauen. Es liegt eine Ungerechtigkeit in der Verteilung der Rollen.«

»Meine Tochter, du gibst der Kirche unrecht, die die Ehelosigkeit als den besten Weg, zu Gott zu gelangen, vorschreibt.«

»Aber wenn die Kirche recht hat und jedermann ein guter Katholik wäre, würde das Menschengeschlecht doch aufhören, Onkel?«

»Du bist zu klug, Rose, man muß nicht so klug sein, um glücklich zu sein.«

Ein solches Wort brachte ein Lächeln der Befriedigung auf die Lippen des armen Mädchens und bestärkte sie in der guten Meinung, die sie von sich zu haben anfing. So tragen die Leute, unsere Freunde und unsere Feinde, die Mitschuld an unsern Fehlern! In diesem Augenblick wurde die Unterhaltung durch das allmähliche Erscheinen der Gäste unterbrochen. An solchen Galatagen kam es immer zu kleinen Vertraulichkeiten zwischen dem Dienstpersonal und den eingeladenen Personen. Mariette sagte zu dem Gerichtspräsidenten, der ein ausnehmend guter Kostgänger war, als sie ihn vorübergehen sah; »Ah, Monsieur du Renceret, ich habe den Blumenkohl ›au gratin‹ eigens für Sie gemacht, denn Mademoiselle weiß, wie gern Sie ihn essen, und hat zu mir gesagt: ›Mache ihn ja gut, Mariette, Monsieur le President kommt!‹«

»Die gute Mademoiselle Cormon!« erwiderte der Gerichtsherr des Landes; »Mariette, haben Sie ihn auch mit Sauce anstatt mit Bouillon begossen? Das macht ihn saftiger!« Der Präsident verschmähte nicht, in das Beratungszimmer einzutreten, wo Mariette ihre Urteile fällte, dort begutachtete er alles mit dem Blick des Gastronomen und äußerte seine Meinung als Kenner.

»Guten Tag, Madame Granson«, sagte Jacquelin, der Madame Granson den Hof machte, »Mademoiselle hat an Sie gedacht, es gibt ein Fischgericht für Sie!« Was den Chevalier de Valois angeht, so sagte er mit dem ungezwungenen Ton eines Grandseigneurs, der sich herabläßt, zu Mariette: »Nun, teure Meisterköchin, der ich das Kreuz der Ehrenlegion erteilen werde, gibt es irgendeinen feinen Bissen, für den man sich den Appetit aufsparen muß?«

»Jawohl. Monsieur de Valois, einen Hasen aus Le Prébaudet, er wog vierzehn Pfund.«

»Braves Mädchen!« versetzte der Chevalier und gab ihr einen Klaps auf die Wange; »ah, er wiegt vierzehn Pfund!«

Du Bousquier war nicht eingeladen. Mademoiselle Cormon blieb dem System, das man kennt, treu und behandelte diesen Fünfzigjährigen, für den sie unerklärliche, in den tiefsten Falten ihres Herzens verborgene Gefühle hegte, schlecht. Obwohl sie ihn abgewiesen hatte, tat es ihr manchmal leid; sie fühlte so etwas wie eine Ahnung, daß sie ihn heiraten würde, und zugleich ein Entsetzen, das sie hinderte, diese Heirat zu wünschen. Ihre von ihren Vorstellungen erregte Einbildungskraft beschäftigte sich mit Du Bousquier. Ohne daß sie es sich eingestanden hätte, machten die herkulischen Formen des Republikaners starken Eindruck auf sie. Madame Granson und der Chevalier de Valois, die sich die Widersprüche Mademoiselle Cormons nicht erklären konnten, hatten verstohlene naive Blicke erhascht, deren Bedeutung so klar war, daß es alle beide für nötig erachteten, die schon einmal gescheiterten, aber sicherlich noch beibehaltenen Hoffnungen des Lieferanten zu zerstören. Zwei Gäste, die durch ihr Amt von vornherein entschuldigt waren, ließen auf sich warten; der eine war Monsieur Coudrai, der Vorsteher des Hypothekenamts; der andere, Monsieur Chesnel, der frühere Intendant des Hauses d'Esgrignon, der Notar der hohen Aristokratie, die ihn mit der Achtung behandelte, wie es seine Tugenden verdienten; er war außerdem Besitzer eines ansehnlichen Vermögens. Als diese beiden verspäteten Gäste anlangten, rief Jacquelin, der sie in den Salon gehen sah: »Sie sind alle im Garten!«

Ohne Zweifel waren die Mägen schon sehr ungeduldig, denn beim Anblick des Vorstehers des Hypothekenamts, eines der liebenswürdigsten Männer der Stadt, der nur den Fehler hatte, ihres Vermögens wegen eine unausstehliche alte Person geheiratet zu haben und Witze zu machen, über die er immer zuerst lachte, erhob sich das beifällige Gemurmel, mit dem die zuletzt Gekommenen in solchen Fällen stets empfangen werden. Während man die offizielle Meldung, daß angerichtet sei, erwartete, wandelte die Gesellschaft auf der Terrasse längs der Brillante und betrachtete die Wasserpflanzen, das Mosaik des Flußbetts, die hübschen Einzelheiten der auf dem andern Ufer zusammengedrängten Häuser, die alten Holzgalerien, die eingefallenen Fensterlehnen, die schrägen Stützsparren eines Zimmers, das über den Fluß hing, die Gärtchen, in denen Lumpen zum Trocknen hingen, die Werkstatt des Schreiners, all dieses Elend der kleinen Stadt, dem die Nähe des Wassers, eine hängende Trauerweide, Blumen, ein Rosenstock soviel malerische Anmut verleihen. Der Chevalier studierte alle Gesichter, weil schon der Brand, den er entfacht hafte, sich bereits den besten Kreisen der Stadt mitgeteilt hatte; aber noch sprach niemand laut von der großen Neuigkeit: Suzanne und Du Bousquier. Die Leute der Provinz verstehen im höchsten Grade die Kunst, einen Klatsch vorzubereiten. Der Moment zur Unterhaltung über dieses seltsame Abenteuer war noch nicht gekommen, es überlegte sich noch jeder, was er zu sagen habe. Vorläufig flüsterte man sich ins Ohr: »Sie wissen?« – »Ja.« – »Du Bousquier?« – »Und die schöne Suzanne.« – »Mademoiselle Cormon weiß noch nichts?« – »Nein.« – »Ach!«

Es war das ›Piano‹ des Klatsches. Das ›Rinforzando‹ sollte erst beginnen, wenn man bei der ersten Vorspeise spielt. Plötzlich faßte Monsieur de Valois Madame Granson ins Auge, die ihren grünen Hut mit den Aurikelsträußchen aufgepflanzt hatte und deren Gesicht vor Ungeduld zuckte. War es die Lust, das Konzert zu beginnen? Obwohl eine solche Neuigkeit in dem ereignisarmen Leben dieser Leute wie eine auszubeutende Goldmine war, glaubte der scharf beobachtende, mißtrauische Chevalier bei der guten Frau den Ausdruck eines noch tieferen Gefühls zu bemerken: die Freude über den Sieg einer persönlichen Sache! :.. Sogleich drehte er sich um, um Athanase zu prüfen, und überraschte ihn in der bedeutsamen Haltung größter Vertieftheit. Ein Blick, den der junge Mann auf den Brustkasten Mademoiselle Cormons warf, der zwei Regimentspauken glich, ließ in der Seele des Chevaliers ein plötzliches Licht aufgehen. Dieser Blitz erhellte ihm mit einem Male die ganze Vergangenheit. ›Ach, zum Teufel! Das habe ich dumm angefangen!‹

Monsieur de Valois näherte sich Mademoiselle Cormon und reichte ihr den Arm, um sie in den Speisesaal zu führen. Die alte Jungfer hegte für den Chevalier große Hochachtung, denn sein Name und die Stellung, die er in den aristokratischen Kreisen des Departements einnahm, bildeten die Hauptzierde ihres Salons. Vor ihrem innern Forum sagte sie sich seit zwölf Jahren, daß sie Madame de Valois werden wolle. Dieser Name war, was den Rang, den Adel und die äußern Vorzüge einer Partie angeht, wie ein Zweig, an dem ihre Gedanken hängenblieben, wenn sie aus ihrem Hirn ausschwärmten; aber wenn der Chevalier de Valois der vom Herzen, vom Verstand, vom Ehrgeiz Erwählte war, so verursachte ihr diese alte Ruine, obwohl sie wie ein Prozessionsheiliger frisiert war, doch ein gewisses Grauen: wenn sie auch einen Edelmann in ihm sah, so sah das Mädchen in ihm doch keinen Ehemann. Die von dem Chevalier im Punkte der Ehe geheuchelte Gleichgültigkeit und besonders seine vorgebliche Sittenreinheit in einem Hause, das voller Grisetten war, taten ihm ganz gegen seine Voraussicht enormen Abbruch. Dieser Edelmann, der in der Sache der Lebensrente so richtig gesehen hatte, täuschte sich in diesem Punkt. Ohne daß sie es selbst wußte, ließen sich die Gedanken Mademoiselle Cormons über den allzu tugendhaften Chevalier ungefähr also wiedergeben: ›Wie schade, daß er nicht ein bißchen leichtfertig ist!‹ Die Erforscher des menschlichen Herzens haben beobachtet, daß die Frömmlerinnen eine Neigung für lockere Vögel haben, und fanden, daß dieser Geschmack im Widerspruch zu der christlichen Tugend stehe. Aber, welche Aufgabe ist geziemender für die tugendhafte Frau, als, gleich der Kohle, die trüben Wasser des Lasters zu reinigen? Und dann: Ist es nicht natürlich, daß die edlen Geschöpfe, die zu strenge Prinzipien haben, um die eheliche Treue jemals zu überschreiten, sich einen Gatten von großer praktischer Erfahrung wünschen? Lockere Vögel sind groß in der Liebe. So bejammerte es die gute Mademoiselle, daß ihr erwähltes Gefäß in zwei Stücke gebrochen war. Gott allein konnte den Chevalier de Valois und Du Bousquier zusammenschweißen. Um die Wichtigkeit der wenigen Worte zu verstehen, die der Chevalier und Mademoiselle Cormon im Begriff waren miteinander auszutauschen, muß man zwei ernste Angelegenheiten, die in der Stadt im Umlauf waren und über die die Meinungen auseinandergingen, berühren. Du Bousquier war auf geheimnisvolle Weise damit verquickt. Die eine betraf den Pfarrer von Alençon, der seinerzeit den Eid auf die Konstitution abgelegt hatte und der nunmehr das Widerstreben seiner katholischen Gemeinde durch die Entfaltung der höchsten Tugenden überwand. Er war ein Cheverus im kleinen und so beliebt, daß ihn bei seinem Tode die ganze Stadt beweinte. Mademoiselle Cormon und der Abbé gehörten zu dem orthodoxen Kirchensprengel, der für Rom das war, was die Ultras für Ludwig XVIII. wurden. Der Abbé vor allem wollte ganz und gar nichts von der Kirche wissen, die gezwungenermaßen einen Kompromiß mit denen, die den Eid abgelegt hatten, eingegangen war. Jener Pfarrer wurde in dem Hause Cormon, dessen Sympathien sich dem Vikar von Saint-Léonard, der aristokratischen Pfarrkirche von Alençon, zuwandten, nicht empfangen. Du Bousquier, dieser wütende Liberale in der Haut eines Royalisten wußte, wie notwendig zwischen den Unzufriedenen, die den Hauptbestand aller Opposition bilden, die Anknüpfungspunkte sind, und er hatte schon um diesen Pfarrer alle Sympathien der Mittelklasse geschart. Nun die zweite Angelegenheit. Unter der heimlichen Anregung dieses groben Diplomaten war die Idee entstanden, in Alençon ein Theater zu bauen. Die Seiden Du Bousquiers kannten nicht ihren Mahomet, aber sie waren nur um so eifriger, da sie ihren eigenen Einfall zu verteidigen glaubten. Athanase war einer der glühendsten Verfechter der Erbauung eines Theatersaals, und seit einigen Tagen warb er für die Sache, die alle jungen Leute zu der ihrigen gemacht hatten, Anhänger in den Büros des Rathauses.

Der Edelmann reichte Mademoiselle seinen Arm zum Promenieren; sie nahm ihn und dankte ihm mit einem glücklichen Blick für seine Aufmerksamkeit, worauf der Chevalier mit einem schlauen Hinweis auf Athanase sagte: »Mademoiselle, Sie, die den sozialen Konventionen so großen Wert beilegen und mit der dieser junge Mann durch einige Bande verknüpft ist...«

»Nur durch sehr entfernte«, warf sie ein.

»Sollten Sie nicht«, fuhr der Chevalier fort, »von dem Einfluß, den Sie auf ihn und seine Mutter haben, Gebrauch machen, um ihn vor dem Verderben zu bewahren? Er ist schon nicht sehr religiös, er hält zu dem konstitutionellen Priester; aber das wäre noch nicht schlimm. Weit gefährlicher ist dies: Stürzt er sich nicht besinnungslos in die Opposition, ohne zu wissen, welche Folgen sein gegenwärtiges Betragen für die Zukunft haben wird? Er betreibt den Bau des Theaters, er läßt sich in dieser Sache von dem verkleideten Republikaner, dem Du Bousquier, zum Narren halten ...«

»Mein Gott, Monsieur de Valois«, erwiderte sie, »seine Mutter sagt mir, daß er Geist hat, und er kann nicht bis drei zählen; er pflanzt sich immer vor einem auf wie eine Null...«

»Die an nichts denkt!« fiel der Vorsteher des Hypothekenamts ein. »Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt! ... Mein Kompliment dem Chevalier de Valois!« begrüßte er ihn dann mit der Emphase, die Henri Monnier dem Joseph Prud'homme, dem bewunderungswürdigen Typus der Klasse, zu der der Vorsteher des Hypothekenamts gehörte, zuschreibt.

Monsieur de Valois dankte mit dem trockenen und gönnerhaften Gruß des Edelmanns, der die Distanz hält; dann schleppte er Mademoiselle Cormon zu einigen entfernteren Blumentöpfen, um dem Eindringling zu verstehen zu geben, daß er nicht ausspioniert sein wollte.

»Wie sollen die jungen Leute, die in diesen abscheulichen kaiserlichen Lyzeen erzogen wurden, zu vernünftigen Ideen kommen?« sagte der Chevalier, der sich dem Ohr Mademoiselle Cormons genähert hatte, leise; »gute Sitten und edle Gewohnheiten erzeugen große Ideen und die wahre Liebe. Wenn man ihn so ansieht, möchte man wetten, daß der arme Kerl ganz idiotisch wird und elend zugrunde geht. Sehen Sie, wie bleich und abgezehrt er ist?«

»Seine Mutter gibt vor, er arbeite zu angestrengt«, meinte unschuldig das alte Mädchen; »er verbringt die Nächte, aber womit? Mit Lesen, Schreiben. Wie soll ein junger Mann aussehen, der in der Nacht schreibt?«

»Aber natürlich, das erschöpft seine Kräfte«, fing der Chevalier wieder an, der den Versuch, Athanase bei Mademoiselle in Mißkredit zu bringen, fortsetzen wollte; »die Sitten dieser kaiserlichen Lyzeen waren wirklich abscheulich.«

»O ja«, sagte die unbefangene Mademoiselle Cormon, »führte man sie nicht mit Trommlern an der Spitze spazieren? Ihre Lehrer hatten nicht so viel Religion wie die Heiden. Und man steckte die armen Jungen in Uniform, gerade wie Soldaten. Wie lächerlich!«

»Da hat man die Resultate!« sagte der Chevalier und deutete auf Athanase. »Hätte sich zu meiner Zeit jemals ein junger Mann geschämt, eine hübsche Frau anzusehen? Der da schlägt die Augen nieder, wenn er Sie sieht. Mir ist bange um den jungen Mann, weil er mich interessiert. Sagen Sie ihm, er soll nicht mit den Bonapartisten für diesen Theaterbau gemeinsame Sache machen. Wenn diese jungen Leute es nicht auf dem Wege des Aufstandes, denn das ist für mich gleichbedeutend mit konstitutionell, verlangen, wird die Regierung es schon bauen. Und sagen Sie seiner Mutter, daß sie ihn im Auge behält.«

»Oh, ich weiß genau, daß sie ihn nicht mit den auf Halbsold gesetzten Leuten und der schlechten Gesellschaft zusammenkommen läßt. Ich werde mit ihr sprechen«, erwiderte Mademoiselle Cormon, »denn er könnte seinen Posten im Rathaus verlieren. Und wovon sollten dann er und seine Mutter leben? Das macht einen schaudern!«

Der Chevalier sagte zu sich selbst, während er Mademoiselle Cormon ansah, was Monsieur de Talleyrand über seine Frau sagte: ›Meiner Treu, man finde mir eine, die dümmer ist! Ist nicht die Tugend, die die Intelligenz tötet, ein Laster? Aber welche entzückende Frau! Welche Prinzipien! Welche Unwissenheit!‹

Man begreift, daß dieser Monolog an die Prinzessin Goritza gerichtet war und daß ihm eine Prise folgte.

Madame Granson hatte bemerkt, daß der Chevalier von Athanase sprach. Voll Begierde, das Ergebnis dieser Unterhaltung kennenzulernen, folgte sie Mademoiselle Cormon, die mit großer Würde auf den jungen Mann zuschritt. Aber in diesem Augenblick meldete Jacquelin Mademoiselle, daß angerichtet sei. Die alte Jungfer winkte dem Chevalier mit einem Blick. Jedoch der galante Vorsteher des Hypothekenamts, der anfing, im Benehmen des Chevalier die Schranke zu sehen, die in dieser Zeit die Provinzadligen zwischen sich und dem Bürgertum errichteten, freute sich, ihm den Rang abzulaufen; er stand neben Mademoiselle Cormon, rundete seinen Arm, um ihn ihr zu reichen, und sie war genötigt, ihn anzunehmen. Der Chevalier stürzte sich aus Diplomatie auf Madame Granson.

»Mademoiselle Cormon, meine Liebe«, sagte er und schritt bedächtig als Letzter hinter allen Gästen her, »hegt das lebhafteste Interesse für Ihren lieben Athanase. Aber Ihr Sohn ist schuld, daß dies Interesse abnimmt; er ist irreligiös und liberal, er legt sich für das Theater ins Zeug, er hält es mit den Bonapartisten, interessiert sich für den konstitutionellen Pfarrer. Dieses Betragen kann ihn um den Posten im Rathaus bringen. Sie wissen, wie sorgfältig die Regierung des Königs aussiebte! Wo will Ihr Sohn, wenn man ihn wegschickt, eine Stellung finden? Er soll sich nur ja hüten, sich bei der Verwaltung mißliebig zu machen!«

»Monsieur le Chevalier«, gab die geängstigte Mutter zur Antwort, »wie bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet! Sie haben recht, mein Sohn wird von einer bösen Clique verführt, und ich werde ihn darüber aufklären.«

Der Chevalier hatte seit langem mit einem einzigen Blick die Natur von Athanase ergründet; er hatte das wenig biegsame Element der republikanischen Gesinnung in ihm erkannt, für die ein junger Mann dieses Alters alles opfert, der von dem so schwer erfaßbaren wie mißverstandenen Wort ›Freiheit‹ berauscht ist, das für die verächtlich Zurückgestoßenen eine Fahne der Empörung ist, und für sie bedeutet Empörung Rache. Athanase mußte seinem Glauben treu bleiben, denn seine Überzeugung war für ihn mit seinen Künstlerschmerzen, seiner bittern Auffassung der sozialen Zustände verwoben. Er wußte nicht, daß er, wie alle Menschen höherer Art, im Alter von sechsunddreißig Jahren, wenn er die Menschen, ihre Verhältnisse und sozialen Interessen erst richtig einzuschätzen gelernt hätte, seine Meinungen, für die er jetzt seine Zukunft opferte, verändern würde. Sich zur Linken von Alençon bekennen, das hieß die Gunst von Mademoiselle Cormon verscherzen. Hierin sah der Chevalier klar. So war also diese anscheinend so friedliche Gesellschaft innerlich ebenso erregt wie die diplomatischen Kreise, wo die List, die Gewandtheit, die Leidenschaften, die Interessen sich um die ernstesten Fragen von Reich zu Reich drehen. Die Gäste saßen endlich um den Tisch herum, auf dem der erste Gang prangte, und jeder aß, wie man in der Provinz ißt, ohne sich wegen seines guten Appetits zu genieren, und nicht wie in Paris, wo die Kinnbacken sich so bewegen, als läge ein Verbot darauf, welches dahin zielt, die Gesetze der Anatomie Lügen zu strafen. In Paris ißt man nicht herzhaft darauflos, man unterdrückt seinen Genuß, während in der Provinz die Dinge natürlich zugehen und man sich vielleicht ein wenig zu sehr auf diese große und allgemeine Existenznotwendigkeit, zu der Gott seine Geschöpfe verdammt hat, konzentriert. Es war am Ende des ersten Ganges, als Mademoiselle Cormon ihren berühmtesten Schnitzer vom Stapel ließ, denn man sprach zwei Jahre lang davon, und die Sache wird bei den Zusammenkünften der Kleinbürger von Alençon, wenn von ihrer Heirat die Rede ist, noch heute erzählt. Die Unterhaltung, die beim Angriff auf die vorletzte Vorspeise sehr angeregt und wortreich geworden war, hatte sich naturgemäß dem Thema des Theaterbaus und des Priesters, der auf die Verfassung geschworen hatte, zugewandt. In der ersten Hitze des Royalismus um 1816 wollten diejenigen, die man späterhin die Jesuiten des Landes nannte, den Abbé François seines Amtes entsetzen. Du Bousquier, den Monsieur de Valois in Verdacht hatte, die Stütze des Priesters und der Urheber dieser Intrige zu sein, und dem der Edle sowieso mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit alles zugeschoben hätte, saß auf dem Armsünderstühlchen, ohne daß jemand ein Wort zu seiner Verteidigung sagte. Athanase, der einzige Gast, der Offenheit genug besaß, um eine Lanze für Du Bousquier zu brechen, war nicht in der Lage, vor diesen Machthabern von Alençon, die er übrigens sehr dumm fand, seine Gedanken darzulegen. Nur die jungen Männer der Provinz sind gewöhnt, Leuten eines gewissen Alters gegenüber eine respektvolle Haltung zu bewahren und ihnen weder entgegenzutreten, noch ihnen heftig zu widersprechen. Die Unterhaltung, die durch köstliche Enten mit Oliven niedergehalten war, fiel schließlich ganz unter den Tisch. Mademoiselle Cormon, auf den Erfolg ihrer eigenen Enten eifersüchtig, wollte Du Bousquier, den man als einen gefährlichen Ränkeschmied hinstellte und den man zu allem fähig hielt, in Schutz nehmen.

»Ich glaubte«, sagte sie, »Monsieur du Bousquier beschäftigte sich nur mit Kindereien.«

Unter den gegenwärtigen Umständen hatte dies Wort eine überwältigende Wirkung. Mademoiselle Cormon erfreute sich eines großen Triumphes. Sie bewirkte, daß die Prinzessin Goritza mit der Nase auf den Tisch fiel. Der Chevalier, der auf eine so treffende Bemerkung von Seiten seiner Dulzinea nicht gefaßt war, war so verwundert, daß er zunächst kein Wort des Lobes fand, um seinen Beifall treffend auszudrücken; er applaudierte geräuschlos, indem er die Fingerspitzen aneinandertippte, wie man es in der Italienischen Oper macht.

»Sie ist himmlisch geistreich«, sagte er zu Madame Granson; »ich habe immer gesagt, daß sie eines Tages ihre Geschütze auffahren lassen wird.« – »Aber beim intimen Zusammensein ist sie entzückend«, antwortete die Witwe.

»Beim intimen Zusammensein, Madame, haben alle Frauen Geist«, erwiderte der Chevalier.

Nachdem sich das homerische Gelächter gelegt hatte, fragte Mademoiselle Cormon nach dem Grund ihres Erfolges, Nunmehr begann das ›Forte‹ des Klatsches. Du Bousquier wurde als unverehelichter Vater Gigogne geschildert, als ein Ungeheuer, das seit fünfzehn Jahren das Findelhaus ganz allein versorgte; endlich lag seine Sittenverderbtheit klar auf der Hand, ein würdiges Seitenstück zu seinen Pariser Saturnalien usw. Unter der Anführung des Chevaliers de Valois, des geschicktesten Dirigenten für solche Orchester, wurde die Ouvertüre dieses Klatsches prachtvoll.

»Ich weiß nicht«, begann er mit wohlmeinender Miene, »was einen Du Bousquier hindern könnte, eine Mademoiselle Suzanne Soundso – wie heißt sie? Suzette! – zu heiraten. Obwohl ich bei Madame Lardot wohne, kenne ich diese kleinen Mädchen nur vom Sehen. Wenn diese Suzon ein großes schönes Mädchen ist, herausfordernd, mit grauen Augen, schlanker Taille, kleinem Fuß – ich habe, wie gesagt, kaum auf sie geachtet, doch ist mir ihr Auftreten sehr keck vorgekommen –, so ist sie in Manieren diesem Du Bousquier noch sehr überlegen. Im übrigen hat Suzanne den Adel der Schönheit; von diesem Gesichtspunkt wäre diese Heirat also eine Mesalliance für sie. Sie wissen, daß der Kaiser Joseph in Lucienne begierig war, die Dubarry zu sehen; er reichte ihr seinen Arm, um sie spazieren zu führen; das arme Mädchen, das von soviel Ehre betroffen war, zögerte, ihn anzunehmen. Der Kaiser sagte hierauf: ›Die Schönheit ist immer eine Königin!‹ Beachten Sie, daß es ein österreichischer Deutscher war«, fügte der Chevalier hinzu; »aber glauben Sie mir, Deutschland, das hier für sehr bäurisch gilt, ist ein Land voll noblen Rittertums und schöner Sitten, besonders gegen Polen und Ungarn zu, wo es ...«

Hier unterbrach sich der Chevalier, da er befürchtete, in eine Anspielung auf sein persönliches Glück zu verfallen; er nahm nur seine Tabaksdose zur Hand und vertraute den Rest der Anekdote der Prinzessin an, die ihm seit sechsunddreißig Jahren zulächelte.

»Dieser Ausspruch war sehr zartfühlend für Ludwig XV.«, bemerkte Du Ronceret.

»Aber es handelt sich, glaube ich, hier doch um den Kaiser Joseph!« warf Mademoiselle Cormon mit vielwissender Miene ein.

»Mademoiselle«, versetzte der Chevalier, als er sah, wie der Präsident, der Notar und der Hypothekenamtsvorsteher boshafte Blicke tauschten. »Madame Dubarry war die Suzanne Ludwigs XV., eine Tatsache, die uns Tunichtguten sehr wohl bekannt ist, die aber junge Damen nicht wissen dürfen. Ihre Unkenntnis beweist, daß Sie ein fleckenloser Diamant sind; die historischen Verderbtheiten reichen nicht zu Ihnen heran.«

Der Abbé de Sponde blickte den Chevalier de Valois freundlich an und machte mit dem Kopf eine Bewegung lobender Zustimmung.

»Mademoiselle kennt die Geschichte nicht?« fragte der Vorsteher des Hypothekenamts.

»Wenn Sie Ludwig XV. und Suzanne durcheinanderbringen, wie soll ich Ihre Geschichte kennen?« erwiderte Mademoiselle Cormon mit engelgleicher Miene, froh, daß die Platte mit den Enten leer und die Unterhaltung wieder belebt war. Und abermals forderte ihre Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch ihrer Gäste heraus. »Die arme Kleine!« sagte der Abbé de Sponde. »Wenn ein Unglück da ist, darf die christliche Liebe, die ein göttliches Gesetz und so blind wie die heidnische Liebe ist, sich nicht mehr um den Grund kümmern. Sie sind Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins, liebe Nichte, man muß diesem armen Mädchen helfen, das sich nun schwer verheiraten wird.«

»Armes Ding!« ließ sich Mademoiselle Cormon vernehmen.

»Glauben Sie, daß Du Bousquier sie heiratet?« fragte der Gerichtspräsident.

»Wenn er ein anständiger Kerl wäre, würde er es tun«, erwiderte Madame Granson; »aber wahrhaftig, ich glaube, mein Hund hat mehr Anstand ...«

»Immerhin ist Azor ein großer Lieferant«, bemerkte der Vorsteher des Hypothekenamtes fein, der sich aus einem Kalauer ein Bonmot zu machen bemühte.

Beim Dessert war wiederum die Rede von Du Bousquier, der zu allerlei lustigen Einfällen, die der Wein noch befeuerte, Veranlassung gab. Seine mutmaßliche Vaterschaft war der Ausgangspunkt einer Reihe von Wortspielen, deren Doppelsinn so angelegt war, daß alle Attribute, die man Du Bousquier irgend beilegen konnte, in ihrem Wortlaut komisch genug an die Vaterschaft erinnerten. Selbst der Abbé und der Chevalier, die Vertreter der Kirche und des Adels, stiegen, ohne ihre Würde abzulegen, in die Arena des Kalauers hinab. Als die allgemeine Teilnahme an dieser Belustigung ihren Gipfel erreicht hatte, rief der Vorsteher des Hypothekenamts: »Still! Ich höre Du Bousquiers Stulpenstiefel kommen, die gewiß mehr als je zuvor gestülpt sind.«

Es ist fast immer so, daß ein Mann sich in Unkenntnis der Gerüchte befindet, die über ihn in Umlauf sind: eine ganze Stadt beschäftigt sich mit ihm, verleumdet ihn oder bringt ihn in Verruf; wenn er keine Freunde hat, wird er nichts davon erfahren. So kam es also, daß der unschuldige Du Bousquier, der Du Bousquier, der so gern schuldig gewesen wäre und wünschte, daß Suzanne nicht gelogen hätte, von nichts eine Ahnung hatte: niemand hatte ihm etwas von den Enthüllungen Suzannes gesagt, denn man hielt es für unpassend, ihn in einer Sache zu befragen, die sich um einen so heiklen Punkt drehte. Du Bousquier erschien also, als die Gesellschaft eben aus dem Speisesaal kam, um in dem Salon, wohin schon einige Leute für den Abend gekommen waren, den Kaffee zu nehmen, in einer sehr unternehmenden und ein wenig geckenhaften Haltung. Mademoiselle Cormon wagte in ihrer Verschämtheit den schrecklichen Verführer nicht anzublicken; sie hatte sich Athanases bemächtigt, dem sie eine Moralpredigt hielt und die schrecklichsten Gemeinplätze royalistischer Politik und religiöser Sittenlehre zum besten gab. Der arme Dichter, der nicht wie der Chevalier de Valois eine mit einer Prinzessin geschmückte Tabaksdose besaß, um diese Salven von Dummheit besser aushalten zu können, hörte seiner Angebeteten mit blödem Schweigen zu und blickte auf ihre monströse Brust, die ihm in absoluter Ruhe, ein Urbild gewaltiger Massenentfaltung, entgegenstarrte. Seine Begierden erzeugten eine Art Rausch in ihm, der die dünne, helle Stimme von Mademoiselle in ein sanftes Gemurmel und ihre flachen Reden in geistvolle Aussprüche verwandelte.

Die Liebe ist ein Falschmünzer, der beständig aus plumpen Soustücken Louisdors und manchmal auch aus Louisdors Soustücke macht.

»Also Sie versprechen es mir, Athanase?«

Dieser Schlußsatz traf das Ohr des glücklichen jungen Mannes wie jene Geräusche, bei denen man jäh aus dem Schlafe auffährt.

»Was, Mademoiselle?« erwiderte er.

Mademoiselle Cormon stand stracks auf und sah Du Bousquier an, der in diesem Moment dem dicken Gotte der Fabel glich, den die Republik auf ihre Taler prägte; sie schritt auf Madame Granson zu und sagte ihr ins Ohr: »Meine arme Freundin, Ihr Sohn ist ein Idiot! Das Lyzeum ist sein Verhängnis gewesen.« Das sagte sie, da ihr einfiel, mit welcher Beharrlichkeit der Chevalier von der schlechten Erziehung in den Lyzeen gesprochen hatte.

Was für ein Schlag! Ohne es zu wissen, hatte der arme Athanase Gelegenheit gehabt, seine Brandfackel auf die Reiser im Herz des alten Mädchens zu schleudern; hätte er ihr zugehört, so hätte er ihr seine Leidenschaft begreiflich machen können, denn in der Erregtheit, in der sich Mademoiselle Cormon befand, hätte ein einziges Wort genügt; aber jene dumpfe Begierde, die ein Merkmal jugendlicher und wahrer Liebe ist, hatte ihn zugrunde gerichtet, so wie sich manchmal ein lebensvolles Kind aus Unwissenheit den Tod gibt.

»Was hast du denn zu Mademoiselle Cormon gesagt?« fragte Madame Granson ihren Sohn.

»Nichts.«

»Nichts! ... ich werde das aufklären!« sagte sie zu sich selbst mit der Absicht, die ernsten Angelegenheiten auf morgen zu schieben, denn da sie der Meinung war, daß Du Bousquier bei der Mademoiselle alles Ansehen verloren habe, legte sie diesem Wort keine Wichtigkeit bei.

Die vier Tische waren bald mit ihren sechzehn Spielern besetzt. Vier Personen saßen beim Pikett, dem teuersten Spiel, bei dem man viel Geld verlieren konnte. Monsieur Chesnel, der Prokurator des Königs und zwei Damen spielten im Kabinett mit den roten Lackarbeiten ein Tricktrack. Die Kerzen der Armleuchter wurden angezündet; dann verteilte sich die Zierde der Gesellschaft Mademoiselle Cormons auf den Sofas, um die Tische, vor dem Kamin, und jedes neu angekommene Paar richtete an Mademoiselle die Frage: »Sie fahren morgen nach Le Prebaudet?«

»Ich muß wohl«, erwiderte sie.

Die Herrin des Hauses schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Madame Granson fiel der wenig natürliche Zustand des alten Mädchens zuerst auf: Mademoiselle Cormon war in Gedanken!

»Woran denken Sie, Cousine?« fragte sie sie endlich, als sie sie im Boudoir sitzend fand.

»Ich denke«, antwortete sie, »an das arme Mädchen. Bin ich nicht Vorsitzende des Mütterfürsorgevereins? Ich will Ihnen zehn Taler holen.«

»Zehn Taler!« rief Madame Granson aus; »Sie haben noch nie soviel gegeben.«

»Aber, meine Liebe, es ist so natürlich, Kinder zu haben.«

Dieser unmoralische, aus dem Herzen kommende Satz verblüffte die Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins, Du Bousquier war augenscheinlich in der Achtung Mademoiselle Cormons gestiegen.

»Wahrhaftig«, sagte Madame Granson, »Du Bousquier ist nicht nur ein Ungeheuer, er ist ein Ehrloser! Wenn man ein Mädchen ins Gerede gebracht hat, muß man es nicht wenigstens schadlos halten? Wäre es nicht viel mehr seine Sache als die unsere, sich der Kleinen anzunehmen? Sie scheint mir übrigens eine recht üble Person zu sein, denn sie hätte noch einen andern als diesen zynischen Du Bousquier in Alençon gefunden, man muß doch sehr leichtfertig sein, sich an ihn zu wenden.«

»Zynisch! Sie lernen, scheint's, von Ihrem Sohn lateinische Wörter, die unverständlich sind! Ich will gewiß Monsieur Du Bousquier nicht entschuldigen: aber sagen Sie mir, wieso ein Mädchen leichtfertig ist, wenn es einen Mann dem andern vorzieht?«

»Liebe Cousine, nehmen wir an, Sie würden meinen Sohn Athanase heiraten, es wäre dies nur ganz natürlich: er ist jung und schön und hat eine große Zukunft, er wird der Ruhm Alençons werden. Doch alle Welt würde sagen, Sie haben sich einen Vorrat an Liebesglück zugelegt, damit Ihnen die ehelichen Freuden nie ausgehen; es würde neidische Frauen geben, die sagen, Sie seien verderbt. Doch was macht das? Sie würden wahrhaftig geliebt werden. Wenn Athanase Ihnen dumm vorkommt, so ist es nur darum, meine Liebe, weil er zu gescheit ist! Die Extreme berühren sich. Freilich lebt er wie ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren; er hat sich nicht im Schlamm von Paris gewälzt. Nun drehen wir die Sache um, wie mein seliger Mann zu sagen pflegte: es ist dasselbe wie mit Du Bousquier und Suzanne. Sie würde man verleumden, aber über Du Bousquier sagt man alles mit Recht. Verstehen Sie?«

»Nicht mehr, als wenn Sie griechisch mit mir redeten«, versetzte Mademoiselle Cormon und sperrte die Augen weit auf beim Anspannen aller ihrer Geisteskräfte.

»Nun denn, Cousine, um es geradeheraus zu sagen: Suzanne kann Du Bousquier nicht lieben. Und wenn das Herz bei dieser Sache nicht mitspricht...«

»Aber womit liebt man denn, wenn nicht mit dem Herzen?«

Hier nun sagte sich Madame Granson dasselbe, was der Chevalier gedacht hatte: »Diese gute Cousine ist doch zu unschuldig, das geht schon über das Erlaubte !« Laut äußerte sie: »Liebes Kind, mir scheint, daß die Kinder nicht bloß durch den Geist empfangen werden.«

»Aber ja doch, meine Liebe, denken Sie doch an die Heilige Jungfrau ...«

»Aber Du Bousquier ist nicht der Heilige Geist!«

»Das ist wahr«, gab Mademoiselle zurück, »er ist ein Mann! – ein Mann, dessen Wesen so gefährlich ist, daß sich seine Freunde damit befassen müssen, ihn zu verheiraten.«

»Sie können dies herbeiführen, Cousine ...«

»Auf welche Art?« rief das alte Mädchen mit dem Enthusiasmus der christlichen Barmherzigkeit.

»Empfangen Sie ihn nicht mehr, bis er eine Frau genommen hat! Sie sind es der Moral und der Religion schuldig, sein Verhalten auf eine exemplarische Weise zu mißbilligen.«

»Bei meiner Rückkehr aus Le Prebaudet werden wir weiter von der Sache reden, liebe Madame Granson; ich werde meinen Onkel und den Abbé Couturier befragen«, sagte Mademoiselle Cormon und begab sich wieder in den Salon, wo gerade eine höchst angeregte Stimmung herrschte.

Die Lichter, die Gruppen geschmackvoll gekleideter Frauen, der feierliche Ton, der aristokratische Anstrich dieser Versammlung erfüllte Mademoiselle Cormon wie ihre Gesellschaft mit großem Stolz. Viele waren der Ansicht, daß es in Paris in den besten Kreisen nicht vornehmer zuginge. In diesem Augenblick war Du Bousquier, der mit Monsieur de Valois und zwei alten Damen, Madame Coudrai und Madame du Ronceret, eine Whistpartie spielte, der Gegenstand einer dumpfen Neugierde. Einige junge Frauen näherten sich ihm unter dem Vorwand, beim Spiel zuzusehen, und betrachteten ihn, obwohl verstohlen, mit so eigentümlichen Blicken, daß der alte Junggeselle schließlich glaubte, etwas an seiner Toilette versäumt zu haben.

›Sollte mein Toupet schief sitzen?‹ fragte er sich in der quälenden Unruhe, welche alte Junggesellen manchmal befällt. Er benutzte einen schlecht ausgespielten Zug, der einen siebenten ›Robber‹ beendete, um vom Tisch aufzustehen.

»Ich kann keine Karte berühren, ohne zu verlieren!« sagte er. »Ich habe wirklich zu großes Pech!«

»Sie sind zu glücklich an anderer Stelle«, versetzte ihm der Chevalier mit einem bedeutsamen Blick.

Diese Antwort machte natürlich die Runde durch den Salon, und jeder war voll Bewunderung über den köstlichen Witz des Chevaliers, dieses Talleyrand von Alençon. »Niemand anders als Monsieur de Valois kann solche Sachen sagen«, meinte die Nichte des Pfarrers von Saint-Léonard.

Du Bousquier betrachtete sich in dem kleinen länglichen Spiegel über dem ›Deserteur‹ und fand nichts Außergewöhnliches an sich. Nach unzähligen Wiederholungen des unendlich variierten Textes vollzog sich der Aufbruch um zehn Uhr, und die Gäste nahmen ihren Weg entlang der Garderobenablage durch das langgestreckte Vorzimmer. Einigen Bevorzugten gab Mademoiselle Cormon das Geleit bis auf die Vortreppe und umarmte sie zum Abschied. Die einen gingen dem Schloß und der Straße nach der Bretagne zu, die andern begaben sich nach dem an der Sarthe gelegenen Stadtteil. Dann begannen die Gespräche, die auf diesem Wege zu dieser Stunde seit zwanzig Jahren geführt worden waren. Es hieß unfehlbar: »Mademoiselle Cormon sah heute abend gut aus.« – »Mademoiselle Cormon? ... Ich fand sie sonderbar.« – »Wie der gute Abbé alt wird! Haben Sie gesehen, wie er eingeschlafen ist. Er ist geistig abwesend, er weiß nicht, was er für Karten hat.« – »Wir werden ihn bald verlieren.« – »Es ist schön heut abend. Morgen wird ein schöner Tag sein.« – »»Ein schönes Wetter zum Abblühen der Apfelbäume.« – »Sie haben uns geschlagen; aber wenn Sie mit Monsieur de Valois zusammen sind, machen Sie immer solche Streiche.« – »Wieviel hat er denn gewonnen?« – »Heute abend hat er drei bis vier Francs gewonnen. Er verliert niemals.« – »Ja, wahrhaftig! Wissen Sie, daß das Jahr dreihundertfünfundsechzig Tage hat und daß er in dieser Zeit so viel gewinnen kann, als ein Landgut kostet?« –»Oh, was haben wir heute abend für schlechte Kauen gehabt!« – »Sie haben es gut. Sie sind nun zu Hause; aber wir müssen noch durch die halbe Stadt.« – »Ich bedauere Sie nicht, Sie könnten sich einen Wagen halten und brauchten nicht zu Fuß zu gehen.« – »Ach! ich bitte Sie, wir haben eine Tochter zu verheiraten, das nimmt dem Wagen gleich ein Rad. und der Unterhalt unseres Sohnes in Paris ein zweites.« – »Wollen Sie immer noch einen Magistratsbeamten aus ihm machen?« – »Was sollen die jungen Leute werden? ... Schließlich ist es doch keine Schande, dem König zu dienen.«

Manchmal wurde unterwegs eine Unterhaltung über den Most oder den Flachs, immer mit denselben Wendungen und zu den entsprechenden Jahreszeiten geführt. Wenn ein Beobachter des menschlichen Herzens in dieser Straße gewohnt hätte, hätte er den Gesprächen nach immer wissen können, welcher Monat gerade war. Doch in diesem Moment waren die Gespräche rein scherzhafter Natur, denn Du Bousquier, der allein vor den Gruppen herging, trällerte, ohne die Bezüglichkeit zu ahnen, die bekannte Melodie: ›Zarte Frau, vernimmst du das Gezwitscher ...‹ Für viele war Du Bousquier ein sehr fähiger Mensch, der falsch beurteilt wurde. Seitdem der Präsident du Ronceret auf seinem Posten durch eine neue königliche Institution bestätigt worden war, neigte er zu Du Bousquier. Für die andern war der Lieferant ein gefährlicher Mann von schlechten Sitten, der zu allem fähig war. In der Provinz wie in Paris gleichen die Männer in exponierter Stellung jener Statue der hübschen allegorischen Erzählung von Addison, um derentwillen sich zwei Ritter, die jeder von einer andern Seite zu dem Scheideweg gelangen, an dem sie sich erhebt, schlagen. Der eine sagt, sie sei weiß, der andere hält sie für schwarz; dann, als sie beide am Boden liegen, sehen sie, daß sie rechts weiß, links schwarz ist; ein dritter Ritter kommt ihnen zu Hilfe und findet sie rot.

Als der Chevalier de Valois zu Hause angelangt war, sagte er sich: ›Es ist Zeit, das Gerücht meiner Verheiratung mit Mademoiselle Cormon zu verbreiten. Die Neuigkeit wird aus dem Salon der D’Esgrignons kommen, von dort nach Séez zu dem Bischof gelangen, durch die Großvikare dem Pfarrer von Saint-Léonard zugebracht werden, der nicht verfehlen wird, sie dem Abbé Couturier mitzuteilen: So empfängt Mademoiselle Cormon den Schuß aus nächster Nähe. Der alte Marquis d’Esgrignon wird den Abbé de Sponde zum Diner einladen, um einem Klatsch Einhalt zu tun, der Mademoiselle Cormon nachteilig wäre, wenn ich mich gegen sie erklärte, mir, wenn sie mich ausschlüge. Der Abbé wird in eine regelrechte Klemme geraten. Mademoiselle Cormon wird gegen einen Besuch von Mademoiselle d'Esgrignon, die ihr die Bedeutung und den Glanz dieser Verbindung dartun wird, nicht standhalten können. Die Erbschaft vom Abbé beträgt mehr als hunderttausend Taler, die Ersparnisse des Mädchens dürften sich auf mehr als zweihunderttausend Livres belaufen; sie hat ihr Haus, Le Prebaudet und fünfzehntausend Livres Rente. Ein Wort zu meinem Freund, dem Comte de Fontaine, und ich werde Bürgermeister von Alençon, Abgeordneter; dann einmal auf den Sitzen der Rechten, werden wir zur Pairswürde gelangen, wenn wir nur rufen: ›Schluß der Debatte!‹ oder ›Zur Tagesordnung!‹

Madame Granson hatte nach ihrer Rückkehr eine lebhafte Auseinandersetzung mit ihrem Sohn, der nicht verstehen wollte, was seine Anschauungen mit seiner Liebe zu tun hätten. Es war der erste Streit, der die Harmonie dieses kleinen Haushalts störte.

Am nächsten Morgen, um neun Uhr, fuhr Mademoiselle Cormon, mit Josette in ihre Kutsche gepackt, wie eine Pyramide über dem Chaos ihrer Gepäckstücke emporragend, die Rue Saint-Blaise hinauf, auf Le Prebaudet zu, wo das Ereignis sie überraschen sollte, das ihre Heirat beschleunigte und das weder Madame Granson, noch Du Bousquier, noch Monsieur de Valois, noch Mademoiselle Cormon voraussehen konnte. Der Zufall ist der größte Zauberer.

Am Tage nach ihrer Ankunft in Le Prebaudet war Mademoiselle Cormon um acht Uhr morgens während ihres Frühstücks in aller Ahnungslosigkeit damit beschäftigt, die verschiedenen Berichte ihres Aufsehers und ihres Gärtners entgegenzunehmen, als Jacquelin ins Zimmer stürzte.

»Mademoiselle«, rief er ganz außer Fassung, »Ihr Monsieur Onkel schickt einen Eilboten, den Sohn der Mutter Grosmort, mit einem Brief. Der Junge ist vor Tag von Alençon fort, und da ist er schon. Er ist gerannt wie Penelope. Soll man ihm ein Glas Wein geben?«

»Was ist geschehen, Josette? Sollte mein Onkel... ?«

»Da könnte er doch nicht schreiben«, meinte die Dienerin, die die Befürchtungen ihrer Herrin erriet.

»Schnell, schnell!« rief Mademoiselle Cormon, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, »Jacquelin soll Penelope anspannen! Richte dich so ein, daß du in einer halben Stunde alles eingepackt hast«, sagte sie zu Josette, »wir kehren in die Stadt zurück ...«

»Jacquelin!« schrie Josette, die von der Aufregung, die sich im Gesicht der Mademoiselle malte, angesteckt worden war.

Jacquelin, den Josette schon instruiert hatte, kam herbei und sagte: »Aber Mademoiselle, Penelope frißt ihren Hafer.«

»Nun, was geht mich das an? Ich will sofort abfahren.«

»Aber Mademoiselle, es wird regnen!«

»Dann werden wir eben naß.«

»Es brennt«, brummte Josette, ärgerlich über das Stillschweigen, das Mademoiselle beibehielt, während sie den Brief wieder und wieder las.

»Trinken Sie doch wenigstens Ihren Kaffee aus, lassen Sie sich nicht das Blut zu Kopf steigen, Sie sind ganz rot.«

»Ich bin wirklich rot, Josette!« sagte sie, als sie sich in einem Spiegel betrachtete, von dem das Stanniol abfiel und der ihre Züge doppelt verzerrt wiedergab. »Mein Gott, wenn ich häßlich würde!« dachte Mademoiselle Cormon. »Komm, Josette, komm, mein Kind, kleide mich an! Ich will fertig sein, bevor Jacquelin Penelope angespannt hat. Wenn du mein Gepäck nicht so rasch aufladen kannst, lasse ich es hier, lieber, als daß ich Zeit verliere!«

Wenn der Leser begriffen hat, bis zu welchem Grade der krankhafte Wunsch, sich zu verheiraten, in Mademoiselle Cormon gediehen war, wird er ihre Aufregung teilen. Der würdige Onkel teilte seiner Nichte mit, daß Monsieur de Troisville» ehemaliger Offizier in russischen Diensten, Enkel eines seiner besten Freunde, wünsche, sich nach Alençon zurückzuziehen, und ihn, eingedenk der Freundschaft, die der Abbé seinem Großvater, dem Vicomte de Troisville, Eskadronchef unter Ludwig XV., entgegengebracht hatte, um seine Gastfreundschaft bäte. Der alte Generalvikar, in größter Verlegenheit, ersuchte seine Nichte inständig, zurückzukehren und ihm zu helfen, ihren Gast zu empfangen und die Honneurs des Hauses zu machen, denn der Brief hatte sich verspätet, Monsieur de Troisville konnte ihnen schon am Abend über den Hals kommen. Konnte nach Lesen dieses Briefes noch die Sorge für Le Prebaudet in Frage kommen? Der Aufseher und der Pächter, die die Erregtheit ihrer Herrin mit ansahen, verhielten sich ruhig und erwarteten ihre Befehle. Beim Hinausgehen hielten sie sie an, um ihre Aufträge zu erfahren, aber zum erstenmal in ihrem Leben antwortete ihnen Mademoiselle Cormon, die despotische alte Jungfer, die alles selbst beaufsichtigte: »Macht, was ihr wollt!«, was sie vor Verwunderung ganz starr machte; denn ihre Herrin pflegte sonst die Aufsicht so weit zu treiben, daß sie die Früchte zählte und sie sortenweise in ein Buch eintrug, um den Verbrauch jeder Sorte nach der entsprechenden Anzahl kontrollieren zu können.

»Ich glaube zu träumen«, sagte Josette, als sie ihre Herrin wie einen Elefanten, dem Gott Flügel gegeben hatte, die Treppe hinunterfliegen sah.

Bald verließ Mademoiselle trotz strömenden Regens Le Prebaudet und überließ ihre Leute sich selbst. Jacquelin wagte es nicht, den gewöhnlich langsamen Trott der gemächlichen Penelope, die, ähnlich der schönen Königin, deren Namen sie trug, ebensoviele Schritte rückwärts als vorwärts zu machen schien, anzutreiben. Doch als sie dies bemerkte, befahl Mademoiselle Jacquelin mit spitzer Stimme, die arme, ahnungslose Stute, wenn nötig, mit Peitschenhieben zum Galopp zu bringen; so sehr war sie in Angst, daß sie das Haus zum Empfang Monsieur de Troisvilles nicht rechtzeitig standesgemäß in Ordnung bringen könnte. Sie rechnete sich aus, daß der Enkel eines Freundes ihres Onkels nicht älter als vierzig Jahre sein könne; ein Offizier mußte unfehlbar unverheiratet sein; sie nahm sich also vor, Monsieur de Troisville mit Hilfe ihres Onkels nicht in demselben Zustand, in dem er hereingekommen war, aus ihrem Haus hinauszulassen. Obwohl Penelope im Galopp lief, rief Mademoiselle Cormon, die von ihren Toiletten und der Hochzeitsnacht träumte, mehrmals Jacquelin zu, sie kämen nicht vom Fleck, Sie rückte in ihrer Kutsche hin und her, ohne auf Josettes Fragen zu antworten, und sprach mit sich selbst, wie jemand, der große Pläne im Kopf herumwälzt. Endlich bog die Kutsche von der Seite von Mortagne in die Hauptstraße von Alençon ein, die Rue Saint-Blaise genannt wird; gegen das Hôtel du More zu nimmt sie den Namen Rue de la Porte de Séez an und wird die Rue du Bercail, wo sie auf die Landstraße nach der Bretagne mündet. Wenn die Abreise von Mademoiselle Cormon in Alençon schon Aufsehen erregte, so kann man sich denken, welchen Tumult ihre Rückkehr am Tage nach ihrer Ankunft in Le Prebaudet, bei strömendem Regen, der ihr ins Gesicht peitschte, ohne daß sie es zu beachten schien, verursachte. Jedermann bemerkte den wahnsinnigen Galopp Penelopes, die verschmitzte Miene Jacquelins, die frühe Stunde, das Drunter und Drüber der Gepäckstücke, schließlich die lebhafte Unterhaltung Josettes und Mademoiselle Cormons, vor allem ihre Ungeduld. Die Besitzungen des Hauses Troisville lagen zwischen Alençon und Mortagne. Josette kannte die verschiedenen Zweige der Familie Troisville. Ein Wort, das Mademoiselle geäußert hatte, als sie das Pflaster von Alençon erreichten, hatte Josette eingeweiht; die Unterhaltung hatte sich zwischen ihnen entsponnen, und beide hatten festgestellt, daß der erwartete Monsieur de Troisville ein Edelmann zwischen vierzig und zweiundvierzig Jahren, Junggeselle und weder reich noch arm sein müsse, Mademoiselle Cormon sah sich schon als Vicomtesse de Troisville.

›Und mein Onkel sagte mir nichts, weiß nichts, kümmert sich um nichts! ... Oh, das sieht ihm recht ähnlich! Er würde seine Nase vergessen, wenn sie ihm nicht im Gesicht angewachsen wäre!‹

Hat man nicht beobachtet, daß unter solchen Umständen die alten Jungfern, wie Richard III. geistreich, wild, kühn, großsprecherisch werden und, wie betrunkene Schreiber, vor nichts mehr zurückschrecken? Die Stadt Alençon, in der sich die Nachricht von der eiligen, durch ernste Umstände herbeigeführten Rückkehr sofort von der Rue Saint-Blaise bis zur Porte de Séez verbreitete, war in all ihren öffentlichen und häuslichen Funktionen gestört. Die Köchinnen, die Kaufleute, die Passanten erzählten sich die Neuigkeit von Tür zu Tür; dann gelangte sie in die obere Region. Die Worte: ›Mademoiselle Cormon ist zurückgekommen‹ platzten wie eine Bombe in jede Häuslichkeit hinein. Nunmehr verließ Jacquelin seinen Sitz vorn auf der Halbkutsche, den er durch ein Verfahren, das die Tischler nicht kannten, poliert hatte; er öffnete selbst die große grüne, oben runde Tür, die wie zum Zeichen der Trauer geschlossen war, denn in Mademoiselle Cormons Abwesenheit fanden die Zusammenkünfte nicht statt. Die Getreuen bewirteten dann der Reihe nach den Abbé de Sponde, und Monsieur de Valois revanchierte sich, indem er ihn zum Marquis d'Esgrignon einlud. Jacquelin rief Penelope, die er mitten auf der Straße hatte stehenlassen, mit vertraulichem Ton; das Pferd, das daran gewöhnt war, drehte sich von selbst um, ging durch die Tür und wich im Hof aus, um das Blumenbeet nicht zu beschädigen. Jacquelin nahm es am Zügel und schob den Wagen vor die Treppe.

»Mariette!« rief Mademoiselle Cormon.

»Mademoiselle?« gab Mariette zurück, die dabei war, die Einfahrtstür zu schließen.

»Der Vicomte ist noch nicht gekommen?«

»Nein, Mademoiselle.«

»Und mein Onkel?«

»Ist in der Kirche, Mademoiselle.«

Jacquelin und Josette standen auf der untersten Stufe der Vortreppe und streckten die Hände aus, um ihrer Herrin, die aus der Halbkutsche herausgekommen war und sich auf dem Gestell aufrichtete, wobei sie sich an den Vorhängen festhielt, behilflich zu sein, Mademoiselle warf sich in ihre Arme; denn seit zwei Jahren wollte sie es nicht mehr riskieren, sich des eisernen Wagentritts, der mit doppelten Ringen und dazu noch mit großen Bolzen überaus solid in dem Gestell befestigt war, zu bedienen. Als Mademoiselle Cormon oben auf der Treppe stand, überblickte sie ihren Hof mit zufriedener Miene.

»Los, los, Mariette, lassen Sie die Tür und kommen Sie her!«

»Der Teufel ist los!« sagte Jacquelin zu Mariette, als die Köchin an der Kutsche vorbeikam.

»Laß mal hören, mein Kind, was für Vorräte hast du?« fragte Mademoiselle Cormon, die sich, wie erschöpft vor Anstrengung, auf der Bank des Vorzimmers niedergelassen hatte.

»Nichts habe ich!« sagte Mariette und stemmte die Arme in die Hüften, »Mademoiselle weiß doch, daß Monsieur l'Abbé in Ihrer Abwesenheit immer außer dem Hause speist. Gestern habe ich ihn bei Mademoiselle Armande abgeholt.«

»Wo ist er denn?«

»Monsieur l'Abbé? Er ist in der Kirche, er kommt erst um drei Uhr nach Hause.«

»Er denkt doch an gar nichts, mein Onkel! Hätte er dir nicht sagen können, du sollst auf den Markt gehn? Geh, Mariette; wirf das Geld nicht hinaus aber spare an nichts, kaufe, was es Gutes, Besonderes und Delikates gibt! Erkundige dich bei der Postwagenhaltestelle, wie man Pasteten herbekommt! Ich will Krebse aus den Quellbächen, der Brillante. Wieviel Uhr ist es?«

»Dreiviertel neun.«

»Mein Gott, Mariette, verlier nicht die Zeit mit Schwatzen! Die Person, die mein Onkel erwartet, kann jeden Augenblick kommen. Wenn wir ihm ein Frühstück bereiten sollten, wären wir schön in Verlegenheit.«

Mariette wendete sich zu der in Schweiß gebadeten Penelope und sah Jacquelin mit einem Blick an, der sagen wollte: ›Diesmal wird die Mademoiselle sicher einen am Wickel kriegen.‹

»Nun zu uns beiden, Josette«, fuhr die alte Jungfer fort, »wir müssen sehen, wo wir Monsieur de Troisville hinlegen können.«

Mit welchem Genuß sie diesen Satz aussprach! Monsieur de Troisville (ausgesprochen Treville) ›hinlegen‹! Welche Ideenverbindung mit diesem Wort! Sie schwamm in den seligsten Hoffnungen.

»Wollen Sie ihn in dem grünen Zimmer unterbringen?«

»Dem des Bischofs? Nein, das ist zu nah neben meinem«, sagte Mademoiselle Cormon, »das geht wohl für Monseigneur, der ein heiliger Mann ist.«

»Dann geben Sie ihm das Zimmer Ihres Onkels!«

»Das ist so kahl, daß es unschicklich wäre.«

»Ei, Mademoiselle, so schlagen Sie ihm doch ein Bett in Ihrem Boudoir auf! Da ist ja ein Kamin. Moreau wird in seinem Lager schon ein Bett ungefähr vom gleichen Stoff wie. die Tapete finden.«

»Du hast recht, Josette, Lauf also hin zu Moreau; besprich mit ihm alles, was geschehen muß, ich erlaube es dir! Wenn das Bett (das Bett des Monsieur de Troisville) heute abend heraufgeschafft werden kann, ohne daß Monsieur de Troisville es merkt, falls Monsieur de Troisville gerade ankommen sollte, während Moreau da ist, so ist es mir recht. Wenn Moreau es nicht übernimmt, dann lege ich Monsieur de Troisville in das grüne Zimmer, obwohl Monsieur de Troisville da sehr nahe bei mir wäre.«

Josette ging; ihre Herrin rief sie zurück.

»Laß Jacquelin zu Moreau gehn, erklär ihm alles!« rief sie mit schallender Stimme, die voll Entsetzen war. »Ich muß mich ja anziehn! Wenn Monsieur de Troisville mich überrascht! Und mein Onkel ist nicht da, ihn zu empfangen! ... Ach! mein Onkel, mein Onkel! ... Komm, Josette, hilf mir beim Ankleiden!«

»Aber Penelope!« bemerkte Josette unklugerweise.

Die Augen Mademoiselle Cormons sprühten zum erstenmal in ihrem Leben Funken. »Immer Penelope! Penelope hier, Penelope da! Ist denn Penelope die Herrin?«

»Aber sie ist ganz in Schweiß und hat noch nicht ihren Hafer gefressen.«

»So laß sie krepieren!« schrie Mademoiselle Cormon; ›wenn ich nur heirate‹, dachte sie.

Als Josette dieses Wort hörte, das ihr wie ein Mord erschien, war sie einen Augenblick sprachlos; dann purzelte sie auf ein Zeichen, das ihre Herrin ihr machte, die Treppe hinunter.

»Sie hat den Teufel im Leib, Jacquelin!« war das erste Wort Josettes.

So kam an diesem Tage alles zusammen, um den großen Theatercoup herbeizuführen, der über das Leben von Mademoiselle Cormon entschied. Die Stadt war schon ganz außer Rand und Band infolge der fünf erschwerenden Umstände, unter welchen die plötzliche Rückkehr Mademoiselle Cormons erfolgt war, nämlich: der strömende Regen, der Galopp der atemlosen Penelope, die, in Schweiß gebadet, mit eingezogenen Flanken dahertrabte; die frühe Stunde, das übereinandergeworfene Gepäck und das sonderbare, fassungslose Aussehen Mademoiselles. Doch als Mariette auf den Markt kam, um alles einzuholen, als Jacquelin zu dem ersten Tapezierer Alençons, Rue de la Porte de Séez, zwei Schritte von der Kirche entfernt, kam, um dort ein Bett zu holen, knüpften sich daran die schwerwiegendsten Vermutungen. Man besprach dieses merkwürdige Vorkommnis auf dem Korso, auf der Promenade; es beschäftigte die ganze Stadt, selbst Mademoiselle Armande, bei der sich der Chevalier de Valois befand. Zwei Tage lang war die Stadt Alençon von diesen kapitalen Ereignissen auf den Kopf gestellt, so daß ein paar alte Frauen untereinander sagten: »Das ist ja das Ende der Welt,« In allen Häusern hieß es: »Was ist denn bei den Cormons los?« Der Abbé de Sponde, den man geradezu ausfragte, als er aus Saint-Léonard kam und sich zu einem Spaziergang auf dem Korso mit dem Abbé Couturier begab, antwortete in seiner gutmütigen Art, daß er den Vicomte de Troisville erwarte, einen Edelmann, der während der Emigration in russischen Diensten gestanden habe und jetzt nach Alençon ziehen wolle. Von zwei bis fünf Uhr lief in der Stadt ein mündlicher Telegraph und teilte allen Bewohnern mit, daß Mademoiselle Cormon endlich einen passenden Gatten gefunden habe und daß sie den Vicomte de Troisville heiraten würde. Hier sagte man: »Moreau macht schon das Bett.« Dort war das Bett sechs Fuß lang. Bei Madame Granson in der Rue de Bercail war das Bett vier Fuß lang. Bei Du Ronceret, wo Du Bousquier dinierte, war es nur ein einfaches Ruhebett. Unter den kleinen Bürgersleuten behauptete man, daß es elfhundert Francs koste. Allgemein hieß es; man solle den Tag nicht vor dem Abend loben. Ein Stück weiter weg wurde gesagt, die Karpfen seien teiltet geworden, Mariette habe sich auf den Markt gestürzt und alles ausgeplündert. Oben in der Rue Saint-Blaise wurde erzählt. Penelope sei krepiert. Dieser Todesfall wurde bei dem Obersteuereinnehmer in Zweifel gezogen. Auf der Präfektur jedoch stand fest, daß das Tier vor dem Tor des Hauses Cormon seinen Geist aufgegeben habe, so rasend sei Mademoiselle auf ihre Beute losgefahren. Der Sattler, der an der Ecke der Rue de Séez wohnte, war kühn genug, fragen zu kommen, ob an dem Wagen etwas passiert sei, um dabei zu hören, ob Penelope draufgegangen wäre. Von dem oberen Ende der Rue Saint-Blaise bis zum untern Ende der Rue du Bercail erfuhr man, daß Penelope, das schweigende Opfer der Raserei seiner Herrin, dank der Sorgfalt Jacquelins noch lebe, daß sie aber in einem schlimmen Zustand sei. Auf der ganzen Bretagner Straße war der Vicomte de Troisville ein Letztgeborener ohne Sou, denn die Besitzungen des Perche gehörten dem Marquis de Troisville, Pair von Frankreich, der zwei Kinder hatte. Diese Heirat war ein großes Glück für den armen Emigranten, der Vicomte war für Mademoiselle Cormon wie geschaffen; die Aristokratie der Bretagner Straße billigte diese Heirat, das alte Mädchen konnte sein Vermögen nicht besser verwenden. Jedoch in der Bourgeoisie war der Vicomte de Troisville ein russischer General, der gegen Frankreich gekämpft hatte und mit einem großen Vermögen, das er am Hofe von St. Petersburg erlangt hatte, zurückkam; er war ein ›Ausländer‹, einer von den Alliierten, die von den Liberalen gehaßt wurden. Der Abbé de Sponde hatte diese Heirat heimlich vermittelt. Alle, die das Recht hatten, bei Mademoiselle Cormon aus und ein zu gehn wie bei sich selbst, nahmen sich vor, sie am Abend zu besuchen. Während dieser die ganze Stadt durchzitternden Erregung, die Suzanne fast in Vergessenheit geraten ließ, war Mademoiselle Cormon nicht weniger in Unruhe; sie wurde von ganz neuen Gefühlen bestürmt. Als sie ihren Salon, ihr Boudoir, das Kabinett, den Speisesaal mit ihren Blicken prüfte, befiel sie eine unbekannte Angst. Eine Art böser Geist wollte ihr diese altgewohnte Pracht verhöhnen; die schönen Sachen, die sie seit ihrer Kindheit bewundert hatte, wurden mit Mißtrauen angesehen, kamen ihr auf einmal alt und abgenutzt vor. Kurzum, es bemächtigte sich ihrer die Furcht, wie sie über die Autoren kommt, die einem anspruchsvollen oder blasierten Kritiker das Werk vorlesen, das sie für vollkommen gehalten haben. Die Situationen scheinen althergebracht; die vorzüglichsten Wendungen werden hinkend und schief; die Bilder verzerren oder widersprechen sich, das Falsche springt ins Auge. So zitterte auch das arme Mädchen davor, auf den Lippen des Monsieur de Troisville ein Lächeln der Verachtung für diesen Salon eines Bischofs zu sehn; sie fürchtete, er könne einen kalten Blick auf diesen altertümlichen Speisesaal werfen; kurzum, sie war bange, daß der Rahmen das Bild alt erscheinen lassen könne. Wenn diese Antiquitäten einen Widerschein des Alters auf sie würfen? Diese Frage, die sie sich vorlegte, verursachte ihr eine Gänsehaut. In diesem Augenblick hätte sie den vierten Teil ihres Vermögens hingegeben, wenn sie ihr Haus dadurch im Handumdrehen, mit einem Zauberstab hätte verwandeln können. Welcher General hat am Vorabend einer Schlacht nicht einen Schauder empfunden?' Die Arme stand zwischen einem Austerlitz und einem Waterloo.

›Madame la Vicomtesse de Troisville‹, sagte sie sich, ›wie schön das klingt! Unser Reichtum käme wenigstens in ein gutes Haus.‹

Sie befand sich in solch gereiztem Zustand, daß die feinsten Fasern ihres Nervensystems und der Papillen, die so lange unter der Fleischesfülle vergraben und wie taub gewesen waren, erzitterten. All ihr Blut war, von der Erwartung aufgepeitscht, in Wallung. Sie fühlte die Kraft in sich, wenn es erforderlich wäre, mit Monsieur de Troisville ein Gespräch zu führen. Es ist überflüssig, von dem Eifer zu reden, mit dem sich Josette, Jacquelin, Mariette, Moreau und seine Gesellen betätigten. Es war die Geschäftigkeit von Ameisen, die um ihre Eier bemüht sind. Alles, was durch tägliche Sorgfalt so sauber war, wurde gescheuert, gebürstet, gewaschen, gebügelt. Das Geschirr, das nur bei festlichen Gelegenheiten gebraucht wurde, kam ans Tageslicht. Die damastenen, mit A, B, C, D numerierten Servietten wurden aus den Tiefen der Schränke, wo sie in einer dreifachen, mit fürchterlichen Stecknadelreihen versehenen Umhüllung lagen, hervorgeholt. Die kostbarsten Regale der »Bibliothek« wurden inspiziert. Mademoiselle opferte drei Flaschen der famosen Liköre von Madame Amphoux, der berühmtesten Destilliererin von jenseits des Meeres, eine Marke, die den Kennern teuer war. Dank der Opferbereitschaft ihrer Offiziere konnte sich Mademoiselle in den Kampf wagen. Die verschiedenen Waffen, die Möbel, die Küchengeschützwerke, das Rüstzeug der Speisekammer, die Lebensmittel, die Munition, die Reservekorps waren auf der ganzen Linie bereit. Jacquelin, Mariette und Josette erhielten den Befehl, sich in Gala zu werfen. Der Garten wurde geharkt. Das alte Mädchen bedauerte, daß es sich nicht mit den Nachtigallen im Garten ins Einvernehmen setzen konnte, damit sie ihre schönsten Triller zum besten gäben. Schließlich, um vier Uhr, um die Stunde, da der Abbé de Sponde nach Hause kam, wo Mademoiselle schon glaubte, daß sie umsonst ihr kokettestes Gedeck aufgelegt, ihr leckerstes Mahl bereitet hätte, ließ sich in Le Val-Noble das Horn eines Postillions vernehmen.

»Er ist's!« sagte sie sich und empfand die Peitschenhiebe in ihrem Herzen.

In der Tat hatte, durch so vielen Klatsch angekündigt, ein Kabriolett mit Postpferden, in dem ein einzelner Herr saß, solches Aufsehen gemacht, als es durch die Rue Saint-Blaise fuhr und in die Rue du Cours einbog, daß ein paar Schlingel und einige Erwachsene ihm gefolgt waren und vor der Tür des Hauses Cormon stehenblieben, um es einfahren zu sehn. Jacquelin, der seine eigene Heirat witterte, hatte das Posthorn in der Rue Saint-Blaise gehört und beide Torflügel geöffnet. Der Postillion, den er kannte, setzte seinen Stolz darein, gut anzufahren, und hielt gerade vor der Freitreppe. Es ist selbstverständlich, daß Jacquelin für einen tüchtigen Rausch des Postillions sorgte. Der Abbé ging seinem Gast entgegen, und mit einer Behendigkeit, wie sie Diebe nicht größer hätten entfalten können, wurde der Wagen seines Inhalts beraubt. Er kam in den Schuppen, das Tor wurde geschlossen, und jede Spur von der Ankunft Monsieur de Troisvilles war in wenigen Minuten weggewischt. Zwei chemische Substanzen können sich nicht rascher miteinander verbinden, als das Haus Cormon den Vicomte de Troisville in sich aufnahm. Mademoiselle, deren Herz wie das einer Eidechse, die ein Hirtenjunge eingefangen hat, schlug, blieb heroisch in ihrer Bergère neben dem Kamin sitzen. Josette öffnete die Tür, und der Vicomte de Troisville, von dem Abbé de Sponde gefolgt, zeigte sich den Blicken der Jungfer.

»Liebe Nichte, dies ist Monsieur le Vicomte de Troisville, der Enkel eines Studienfreundes von mir. Monsieur de Troisville, das ist meine Nichte, Mademoiselle Cormon.«

›Oh, der gute Onkel, wie er die Sache gleich so gut anfaßt‹, dachte Rose-Marie-Victoire.

Der Vicomte war, um ihn mit zwei Worten zu schildern, ein Du Bousquier als Edelmann. Der ganze Unterschied, der die gewöhnliche Art von der vornehmen Art trennt, lag zwischen ihnen. Wenn sie beide zusammen dagewesen wären, hätte selbst der eingefleischteste Liberale nicht die Aristokratie leugnen können. Die Kraft des Vicomte war von Eleganz geadelt; in seinen Körperformen prägte sich Würde aus; er hatte blaue Augen und schwarze Haare, einen olivfarbenen Teint und konnte nicht älter sein als sechsundvierzig Jahre. Er war wie ein schöner Spanier, der sich in dem Eise Rußlands gut konserviert hatte. Die Manieren, der Gang, die Haltung, alles verriet den Diplomaten, der Europa kennengelernt hatte. Er war gekleidet wie ein vornehmer Mann auf Reisen. Monsieur de Troisville schien müde zu sein, der Abbé bot ihm an, ihn in das für ihn bestimmte Zimmer zu geleiten, und war ganz verdutzt, als seine Nichte das in ein Schlafzimmer verwandelte Boudoir öffnete. Mademoiselle Cormon und ihr Onkel überließen den noblen Fremden dann seinen Obliegenheiten, bei denen ihm Jacquelin, der das benötigte Gepäck herbeischaffte, behilflich war. Der Abbé de Sponde und seine Nichte machten einen Spaziergang längs der Brillante, um sich die Zeit zu verkürzen, bis Monsieur de Troisville seine Toilette beendet haben würde. Obwohl der Abbé de Sponde durch einen sonderbaren Zufall zerstreuter war als sonst, so war seine Nichte nicht minder mit ihren Gedanken beschäftigt. Beide gingen schweigend dahin. Niemals hatte die alte Jungfer einen so hinreißenden Mann gesehen wie diesen olympischen Vicomte. Sie konnte sich nicht, nach Art einer Deutschen, sagen: »Das ist mein Ideal!« Aber sie war vom Kopf bis zu den Füßen hingerissen und sagte sich: »Das ist etwas für mich!« Plötzlich schoß sie in die Küche, um zu sehen, ob das Diner einen Aufschub erleiden könne, ohne von seiner Güte einzubüßen.

»Dieser Monsieur de Troisville ist sehr liebenswürdig, Onkel«, sagte sie, als sie wiederkehrte.

»Er hat doch noch gar nichts gesagt, mein Kind«, gab ihr der Abbé lachend zur Antwort.

»Aber man sieht das an seinem Auftreten, an seiner Physiognomie. Ist er unverheiratet?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Abbé, der an ein bewegtes Gespräch mit dem Abbé Couturier über die Gnade dachte; »Monsieur de Troisville hat mir geschrieben, daß er hier ein Haus kaufen möchte. Wenn er verheiratet wäre, würde er wohl nicht allein gekommen sein«, warf er sorglos hin, denn es fiel ihm nicht ein, daß seine Nichte den Wunsch haben könne, sich zu verheiraten.

»Ist er reich?«

»Er ist der Jüngste eines jüngeren Zweiges«, erwiderte der Onkel; »sein Großvater hat Schwadronen kommandiert; aber der Vater dieses jungen Mannes hat sich schlecht verheiratet.«

»Dieser junge Mann!« hauchte die alte Jungfer; »aber mir scheint, Onkel, daß er gut fünfundvierzig Jahre alt ist«, sagte sie, denn sie empfand ein ausgesprochenes Verlangen, ihrer beider Alter in Beziehung zueinander zu bringen.

»Ja«, meinte der Abbé, »aber einem armen Priester von siebzig Jahren erscheint ein Vierziger jung.«

In ganz Alençon wußte man nun schon, daß der Vicomte de Troisville bei Mademoiselle Cormon angelangt war. Der Fremde gesellte sich bald zu seinen Wirten und bewunderte den Anblick der Brillante, den Garten und das Haus.

»Es wäre mein sehnlichster Wunsch, Monsieur l'Abbé, ein Haus wie dieses zu finden.« Die Jungfer wollte eine Erklärung darin erblicken und schlug die Augen nieder. –»Sie müssen es sehr lieben, Mademoiselle«, sagte der Vicomte.

»Wie sollte ich es nicht lieben! Es ist seit dem Jahre 1574 in unserer Familie. Um jene Zeit erwarb einer unserer Vorfahren, der Intendant des Duc d'Alençon, das Grundstück und, erbaute es«, gab Mademoiselle Cormon zur Antwort. »Es ist auf Grundpfählen erbaut.«

Da Jacquelin meldete, daß serviert sei, reichte Monsieur de Troisville dem glücklichen Mädchen seinen Arm; doch war sie bemüht, sich nicht zu sehr darauf zu stützen, damit es nicht den Anschein habe, als käme sie ihm entgegen.

»Alles ist sehr harmonisch hier«, äußerte sich der Vicomte, als man Platz nahm.

»Unsere Bäume sind voller Vögel, die uns umsonst Musik machen; niemand stört sie, und jede Nacht singt die Nachtigall«, flötete Mademoiselle Cormon.

»Ich. meine das Innere des Hauses«, bemerkte der Vicomte, der sich nicht die Mühe nahm, Mademoiselle Cormon zu studieren, und ihre Geistesarmut nicht erkannte, »ja, alles ist im Einklang, wie berechnet, die Farbtöne, die Möbel, der Charakter.«

»Es kostet uns aber auch ein Stück Geld, die Abgaben sind enorm«, erwiderte die gute Mademoiselle. die das Wort ›berechnet‹ auffing,

»So! Die Abgaben sind hoch hier?« fragte der Vicomte, der zerstreut war und das ungereimte Zeug nicht beachtete.

»Ich weiß nicht«, sagte der Abbé; »meine Nichte verwaltet unser beider Vermögen.«

»Die Abgaben sind eine Lappalie für reiche Leute«, versetzte Mademoiselle Cormon, die nicht für geizig gelten wollte; »was die Möbel angeht, so lasse ich sie, wie sie sind, und ändere nichts. Es sei denn, daß ich mich verheitatete; dann soll alles hier nach dem Geschmack des Hausherrn gerichtet werden.«

»Sie haben vortreffliche Grundsätze, Mademoiselle«, meinte lächelnd der Vicomte. »Sie werden einen Mann glücklich machen ...«

›Noch nie hat mir jemand etwas so Schönes gesagt‹, dachte Mademoiselle.

Der Vicomte machte Mademoiselle Cormon Komplimente über das Tafelservice, die Führung des Hauses und bekannte, daß er die Provinz für rückständig gehalten habe; er finde sie jedoch ›sehr komfortabel‹.

›Was ist das für ein Wort, mein Gott‹, ging es ihr durch den Kopf; ›wäre doch der Chevalier da, um darauf zu antworten. Kom-for-tabel! Sind das mehrere Wörter? Mut!‹ sagte sie sich, ›es ist vielleicht ein russisches Wort, ich brauche nicht darauf zu antworten ...‹ – »Aber«, fing sie laut an, denn wie bei allen menschlichen Wesen in entscheidenden Momenten löste sich auch ihr die Zunge, »wir haben hier die glänzendste Gesellschaft, Monsieur. Die Zusammenkünfte der Stadt sind übrigens stets bei mir. Sie werden gleich selbst sehen, denn einige unserer Freunde haben sicher von meiner Rückkehr gehört und werden mich besuchen wollen. Da ist der Chevalier de Valois, ein Edelmann des vormaligen Hofes, der ungemein viel Geist und Geschmack besitzt; dann der Marquis d'Esgrignon und Mademoiselle Armande, seine Schwester« (sie besann sich eines Besseren und biß sich auf die Lippen) »... eine in ihrer Art bemerkenswerte Dame«, fügte sie hinzu, »Sie wollte unvermählt bleiben, um ihr Vermögen ihrem Bruder und ihrem Neffen zu hinterlassen.«

»Ah!« ließ sich der Vicomte hören; »ja, die d'Esgrignon, ich erinnere mich ihrer.«

»Alençon ist sehr lustig«, fing Mademoiselle wieder an, die in Schwung gekommen war, »man amüsiert sich hier vortrefflich. Der Obersteuereinnehmer gibt Bälle, der Präfekt ist ein liebenswürdiger Mann, Monseigneur, der Bischof, beehrt uns manchmal mit seinem Besuch ...«

»Nun«, sagte der Vicomte lächelnd, »ich habe gut daran getan, zurückzukommen und, wie der Hase, im Lager zu sterben.«

»Ja, ich bin auch wie ein Hase«, stimmte die alte Jungfer ein, »ich sterbe da, wo ich hingehöre.«

Der Vicomte hielt das so wiedergegebene Sprichwort für einen Scherz und lächelte.

»Ei!« dachte das alte Mädchen, »alles geht gut, dieser hier versteht mich.«

Die Unterhaltung bewegte sich in Allgemeinheiten. Kraft einer geheimnisvollen, unbekannten und unerklärlichen Macht fand Mademoiselle Cormon, im Drange liebenswert zu erscheinen, in ihrem Hirn alle Redewendungen des Chevaliers de Valois. Es war wie in einem Duell, in dem der Teufel selbst die Pistole anzulegen schien, Niemals wurde besser auf einen Gegner gezielt. Der Vicomte de Troisville war zu taktvoll, um von der Vortrefflichkeit des Diners zu sprechen. Doch sein Schweigen war ein Lob. In den köstlichen Weinen,. die ihm Jacquelin verschwenderisch kredenzte, glaubte er Freunde wiederzuerkennen, die er mit lebhafter Freude wiedersah; und der wirkliche Kenner gibt seinen Beifall nicht laut kund: er genießt. Er erkundigte sich wißbegierig nach dem Preis der Grundstücke, der Häuser, der Baustellen. Er ließ sich von Mademoiselle Cormon lang und breit die Stelle beschreiben, wo die Brillante und die Sarthe zusammenfließen. Er wunderte sich, daß sich die Stadt so weit von dem Fluß entfernt hingesetzt habe; die Topographie des Landes interessierte ihn sehr. Der schweigsame Abbé ließ seine Nichte das große Wort führen. In der Tat glaubte Mademoiselle Cormon den Vicomte eingefangen zu haben; er lächelte ihr gewinnend zu und knüpfte während dieses Diners festere Bande, als die eifrigsten Freier es in vierzehn Tagen zuwege gebracht hatten. So können Sie sich vorstellen, daß nie zuvor ein Gast mit kleinen Handreichungen so verwöhnt, mit Aufmerksamkeiten so überhäuft wurde. Es war, als wäre ein teurer Liebhaber in die Häuslichkeit, deren Glück er ausmacht, zurückgekehrt, Mademoiselle erriet den Moment, da der Fremde Brot begehrte. Sie ließ kein Auge von ihm; wenn er den Kopf wandte, legte sie ihm geschickt das Gericht noch einmal auf, das ihm zu schmecken schien; sie hätte ihn zu Tode gefüttert, wenn er gefräßig gewesen wäre. Sie wollte auf liebliche Art zeigen, wessen sie in der Liebe fähig war! Sie war nicht so dumm, sich in den Schatten zu stellen, sie ließ tapfer alle Segel flattern, hißte alle Flaggen, präsentierte sich als die Königin von Alençon und rühmte ihre eingemachten Früchte. Sie sprach von sich, fischte nach Komplimenten, als ob sie ihre eigene Posaune wäre. Sie sah, daß sie dem Vicomte gefiel, denn ihr Begehren hatte sie so verwandelt, daß sie fast Frau geworden war. Beim Dessert hörte sie, nicht ohne inneres Entzücken, das Hin und Her im Vorzimmer und die Geräusche im Salon, welche die üblichen Besucher ankündigten. Sie stellte diesen Eifer ihrem Onkel und dem Vicomte de Troisville als einen Beweis der Zuneigung dar, die man für sie hegte, während es nur die Wirkung der unwiderstehlichen Neugier war, die die Stadt ergriffen hatte. Voller Ungeduld, sich in ihrem Glanz zu zeigen, hieß Mademoiselle Cormon Jacquelin den Kaffee und die Liköre im Salon servieren, und der Diener machte sich daran, die Pracht eines Meißener Services, das nur zweimal im Jahr aus dein Schrank kam, vor der Elite der Gesellschaft zu entfalten. Alle diese Nebenumstände wurden natürlich von der Gesellschaft, die schon leise ihre Glossen tuschelte, bemerkt.

»Teufel!« rief Du Bousquier, »lauter Liköre von Madame Amphoux, die sonst nur an hohen Festtagen hervorkommen!«

»Das ist entschieden eine Heirat, die schon seit einem Jahr schriftlich vereinbart worden ist!« meinte der Präsident Du Ronceret. »Es laufen seit einem Jahr Briefe mit dem Poststempel Odessa beim Postdirektor ein.«

Madame Granson schauderte zusammen. Der Chevalier de Valois, der, obwohl er für viere gegessen hatte, bis ihm die linke Partie seines Gesichts blaß wurde, fühlte, daß er im Begriff war, sein Geheimnis preiszugeben, und sagte: »Finden Sie es nicht kalt heute? Ich bin ganz erfroren.«

»Das macht die Nachbarschaft Rußlands«, versetzte Du Bousquier.

Der Chevalier sah ihn mit einer Miene an, die bedeutete: ›Gut gegeben.‹

Mademoiselle Cormon sah so strahlend, so triumphierend aus, daß man sie schön fand. Dieses ungewöhnliche Aussehen kam nicht nur vom Gefühl; der ganze Strom ihres Blutes tobte in ihr seit dem Morgen, und ihre Nerven erzitterten unter der Vorahnung einer großen Krise; es bedurfte aller dieser Umstände, um sie sich selber so unähnlich zu machen. Mit welchem Wonnegefühl und welcher Feierlichkeit stellte sie nicht den Vicomte dem Chevalier, den Chevalier dem Vicomte, ganz Alençon Monsieur de Troisville, Monsieur de Troisville ganz Alençon vor. Erklärlicherweise fanden sich der Vicomte und der Chevalier, diese beiden aristokratischen Naturen, sofort; sie erkannten sich gegenseitig als der gleichen Sphäre angehörig und blieben plaudernd vor dem Kamin stehen. Ein Kreis bildete sich um sie, und man lauschte ihrer Unterhaltung, obwohl sotto voce geführt, mit andächtigem Schweigen. Um sich die Wirkung dieser Szene ausmalen zu können, stelle man sich Mademoiselle Cormon vor, wie sie, mit dem Rücken gegen den Kamin gekehrt, damit beschäftigt ist, den Kaffee ihres vermeintlichen Zukünftigen zu bereiten.

Monsieur de Valois: »Monsieur le Vicomte, heißt es, hat die Absicht, sich hier niederzulassen?«

Monsieur de Troisville: »Ja, ich suche hier ein Haus...« (Mademoiselle Cormon dreht sich um, mit der Tasse in der Hand.) »Und zwar ein großes, um ...« (Mademoiselle Cormon reicht die Tasse.) »meine Familie unterzubringen.« (Die Blicke Mademoiselles verdunkeln sich.)

Monsieur de Valois: »Sie sind verheiratet?«

Monsieur de Troisville: »Seit sechzehn Jahren mit der Tochter der Fürstin Scherbeloff.«

Mademoiselle Cormon sank, wie vom Blitz getroffen, um. Du Bousquier, der sie taumeln sah, stürzte auf sie zu, fing sie in seinen Armen auf, und man öffnete die Tür, damit er unbehindert mit seiner Riesenlast hindurchgehen konnte. Der ungestüme Republikaner, von Josette beraten, fand die Kraft, die alte Jungfer in ihr Zimmer zu tragen, wo er sie aufs Bett niederlegte. Josette schnitt das übermäßig geschnürte Korsett mit der Schere auf. Du Bousquier sprengte ihr ohne viel Federlesens Wasser ins Gesicht und auf die Brust, die wie die über die Ufer getretene Loire herausquoll. Die Kranke öffnete die Augen, sah Du Bousquier, und die Scham beim Anblick dieses Mannes entlockte ihr einen Schrei. Du Bousquier zog sich zurück, und nach ihm traten sechs Frauen, unter Anführung von Madame Granson, die vor Freude strahlte, ins Zimmer. Und was hatte inzwischen der Chevalier de Valois getan? Er deckte treu seinem System den Rückzug.

»Arme Mademoiselle Cormon«, sagte er zu Monsieur de Troisville und schaute auf die Versammlung, die sich unter dem Bann seiner aristokratischen Blicke das Lachen verhielt, »sie leidet so an Blutwallungen, sie wollte sich, bevor sie nach Le Prebaudet, ihrem Landgut, ging, zu keinem Aderlaß entschließen, und da hat sie es nun. Das macht der Frühling.«

»Sie ist heute früh in den Regen gekommen«, meinte der Abbé de Sponde, »sie hat sich wahrscheinlich ein wenig erkältet, und das hat diesen Anfall, der manchmal kommt, herbeigeführt; aber es hat nichts zu bedeuten.«

»Sie sagte mir vorgestern, daß sie ihn seit drei Monaten nicht gehabt hat, und meinte noch, er würde ihr einmal wieder einen bösen Streich spielen«, erläuterte der Chevalier weiter.

›Ei sieh da, du bist verheiratet!‹ sagte Jacquelin insgeheim mit einem Blick auf Monsieur de Troisville, der in kleinen Schlückchen seinen Kaffee trank.

Der treue Diener machte die Enttäuschung seiner Herrin zu seiner eigenen; er handelte in ihrem Sinne und trug die Liköre der Madame Amphoux, die dem Junggesellen und nicht dem Ehemann einer Russin angeboten worden waren, hinweg. All diese kleinen Einzelheiten wurden bemerkt und erweckten Heiterkeit. Der Abbé de Sponde kannte den Grund der Reise von Monsieur de Troisville; jedoch in seiner Zerstreutheit hatte er nichts davon gesagt, da er nicht annahm, daß seine Nichte Monsieur de Troisville das geringste Interesse entgegenbringen könne. Was den Vicomte angeht, so war er mit dem Zweck seiner Reise beschäftigt und hatte keine Veranlassung gehabt, sein Verheiratetsein zu erwähnen, da er, gleich vielen Männern, keinen Antrieb verspürte, von seiner Frau zu sprechen. Auch glaubte er, Mademoiselle Cormon sei unterrichtet. Du Bousquier trat wieder herein und wurde mit Fragen bestürmt. Die eine der sechs Damen kam herunter und meldete, daß es Mademoiselle Cormon besser gehe und daß ihr Arzt gekommen sei; aber sie müsse im Bett bleiben, es scheine nötig, sie zur Ader zu lassen. Der Salon war bald ganz gefüllt. Die Abwesenheit Mademoiselle Cormons gestattete den Damen, sich über die tragikomische Szene zu unterhalten, die ausgesprochen, kommentiert, ausgeschmückt, weitergedichtet, mit Zusätzen versehen, ausgemalt und verziert wurde und die verursachte, daß sich am folgenden Tage ganz Alençon mit Mademoiselle Cormon beschäftigte.

»Dieser gute Monsieur Du Bousquier, wie er sie trug! Was für Fäuste!« sagte Josette zu ihrer Herrin, »Wahrhaftig, .er war ganz blaß vor Mitleid, er liebt Sie noch immer!«

Dieser Satz beschloß den feierlichen und schrecklichen Tag. Am Tage darauf wurden während des ganzen Vormittags die geringsten Einzelheiten dieser Komödie .in allen Häusern Alençons zum besten gegeben und erregten – zur Schande dieser Stadt sei es gesagt – ein allgemeines Gelächter. Mademoiselle Cormon, der der Aderlaß sehr gut getan hatte, hätte jedoch an diesen Morgen die verwegensten Spötter einschüchtern müssen, wären sie Zeugen gewesen, mit welcher edlen Würde und wunderbaren christlichen Ergebung sie dem Mann, der sie so unfreiwillig hinters Licht geführt hatte, den Arm gab, um sich zum Frühstück führen zu lassen. Ihr grausamen Spötter hättet sie sehen müssen, wie sie zu dem Vicomte sagte: »Madame de Troisville wird hier schwerlich eine Wohnung finden, die ihr zusagt; erweisen Sie mir die Ehre, Monsieur, so lange in meinem Hause zu verweilen, bis Sie sich in der Stadt eine eingerichtet haben.«

»Aber Mademoiselle, ich habe zwei Söhne und zwei Töchter, wir würden Sie sehr stören!«

»Weisen Sie mich nicht ab!« erwiderte sie mit einem Blick, in dem Zerknirschung zu lesen war.

»Ich habe es Ihnen in dem Brief, den ich Ihnen aufs Geratewohl schickte, schon angeboten«, sagte der Abbé, »aber Sie haben ihn nicht erhalten.«

»Wie, Onkel, Sie wußten?...« Sie hielt inne. Josette seufzte. Weder der Vicomte de Troisville noch der Onkel bemerkten etwas. Nach dem Frühstück begleitete der Abbé de Sponde, wie sie am Abend vorher vereinbart hatten, den Vicomte in die Stadt, um ihm die Häuser zu zeigen, die er kaufen könne, oder die Plätze, die zum Bauen geeignet wären.

Als sich Mademoiselle Cormon allein im Salon befand, sagte sie zu Josette mit kläglicher Miene: »Mein Kind, ich bin zu dieser Stunde das Gespött der ganzen Stadt.«

»Nun, Mademoiselle, heiraten Sie!«

»Ich bin aber gar nicht vorbereitet, eine Wahl zu treffen.«

»Bah! Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, nähme ich Monsieur du Bousquier.«

»Josette, Monsieur de Valois sagt, er sei solch ein Republikaner!«

128»Ach, Ihre Messieurs wissen nicht, was sie sagen. Sie behaupten ja, er habe die Republik bestohlen, also liebte er sie nicht!« gab Josette zur Antwort, ehe sie hinausging.

›Dieses Mädchen ist erstaunlich klug‹, dachte Mademoiselle Cormon, die, ihrer Ratlosigkeit überlassen, zurückblieb.

Sie sah ein, daß eine rasche Heirat das einzige Mittel sei, um dem Gerede ein Ende zu machen, Diese letzte, so offenbar demütigende Schlappe war geeignet, sie zu einem äußersten Entschluß zu treiben, denn für den beschränkten Geist ist es schwer, den einmal betretenen guten oder bösen Pfad zu verlassen. Jeder der beiden Junggesellen hatte die Situation, in welcher sich die alte Jungfer befinden mußte, begriffen, und sie hatten sich beide vorgenommen, sich am Morgen nach ihrem Befinden zu erkundigen und im Junggesellenstil ›ihre Sache voranzutreiben‹. Monsieur de Valois fand, daß der Ernst der Situation eine peinliche Toilette erfordere; er nahm ein Bad und striegelte sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt, Zum ersten- und letztenmal sah ihn Cesarine mit unglaublicher Geschicklichkeit eine Spur Rot auflegen. Du Bousquier, der grobschlächtige Republikaner, achtete seinerseits gar nicht auf seine Toilette. Er ging geradewegs auf sein Ziel los und erschien als erster. Solche Kleinigkeiten entscheiden über die Geschicke der Menschen wie über die der Nationen. Die Attacke Kellermanns bei Marengo, die Ankunft Blüchers bei Waterloo, die Verachtung Ludwigs XIV. für den Prinzen Eugen, der Pfarrer von Denain, alle diese großen Ursachen glücklicher Ereignisse und Katastrophen werden von der Geschichte verzeichnet; aber niemand zieht daraus die Lehre, in den kleinen Vorkommnissen des Lebens nichts zu versäumen. Und dann geschehen solche Dinge wie die folgenden: die Duchesse de Langeais wird Nonne, weil sie nicht die Geduld gehabt hat, zehn Minuten zu warten; der Richter Popinot verschiebt es auf den folgenden Tag, den Marquis d'Espard zu befragen; Charles Grandet kehrt über Bordeaux zurück, anstatt über Nantes zu kommen, und man nennt diese Ereignisse Zufälligkeiten, Schicksalsfügungen! Eine Spur von Rot aufzulegen zerstörte die Hoffnungen des Chevaliers de Valois; nur auf diese Weise konnte dieser Edelmann ums Leben kommen: er hatte von der Gunst der Grazien gelebt, er sollte von ihrer Hand den Tod finden. Während der Chevalier die letzte Hand an seine Toilette legte, betrat der dicke Du Bousquier den Salon der verzweifelten alten Jungfer. Dieses Eintreten traf mit einem für den Republikaner günstigen Gedankengang zusammen, der sich aus einer inneren Beratung, die nichtsdestotrotz dem Chevalier alle Vorteile einräumte, ergab.

›Gott will es‹, sagte sich die alte Jungfer, als sie Du Bousquier erblickte.

»Sie werden nicht zürnen, Mademoiselle, daß ich mich persönlich nach Ihrem Befinden erkundige. Ich wollte mich nicht auf den Schlingel René verlassen.«

»Es geht mir vollkommen gut«, erwiderte sie mit bewegter Stimme. »Ich danke Ihnen, Monsieur du Bousquier«, fuhr sie nach einer Weile mit starker Betonung fort, »für die Mühe, die Sie sich mit mir gegeben und die ich Ihnen gestern verursacht habe ...«

Sie erinnerte sich daran, daß Du Bousquier sie in seinen Armen gehalten hatte, und dieser Zufall vor allem erschien ihr als eine Fügung des Himmels. Zum erstenmal hatte sie ein Mann mit offenem Gürtel, aufgerissenem Schnürleib gesehen; alle ihre Schätze waren vor seinen Augen aus ihrem Schrein herausgeschleudert worden.

»Es war mir eine solche Lust, Sie zu tragen, daß ich Sie leicht fand.«

Hierbei sah Mademoiselle Cormon Du Bousquier an, wie sie noch keinen Mann der Welt angesehen hatte. Der so ermutigte Lieferant erwiderte mit einem Blick, der sie ins Herz traf.

»Es ist schade«, fügte er hinzu, »daß mir das nicht das Recht gegeben hat, Sie für immer zu behalten!« (Sie lauschte entzückt) »Wie Sie so auf Ihrem Bett ohnmächtig dalagen, waren Sie – unter uns gesagt – hinreißend! Ich habe nie in meinem Leben eine schönere Frau gesehen, und ich habe viele Frauen gesehen! ... Üppige Frauen sind ein herrlicher Anblick. Sie brauchen sich nur zu zeigen, so siegen sie!«

»Sie wollen über mich spotten«, wandte das alte Mädchen ein. »und das ist nicht schön, weil das, was mir gestern passierte, vielleicht von der ganzen Stadt falsch ausgelegt wird.«

»So wahr ich Du Bousquier heiße, Mademoiselle, mein Gefühl für Sie hat sich nie geändert, und Ihre damalige Weigerung hat mich nicht entmutigt!«

Die alte Jungfer hatte die Augen gesenkt. Es entstand ein Schweigen, das Du Bousquier grausam dünkte. Doch Mademoiselle Cormon faßte einen Entschluß, sie hob die Lider, Tränen traten in ihre Augen, und sie blickte du Bousquier zärtlich an.

»Wenn das so ist, so versprechen Sie mir nur, als Christ zu leben, meine religiösen Gewohnheiten nicht zu stören, mich meinen Beichtvater wählen zu lassen, und ich bin die Ihre«, sagte sie und reichte ihm ihre Hand.

Du Bousquier ergriff diese gute dicke Hand voller Taler und küßte sie ehrfürchtig.

»Jedoch«, sagte sie und überließ ihre Hand seinen Küssen, »ich verlange noch etwas!«

»Es ist gewährt, und wenn es unmöglich ist, es wird geschehen« – (eine Reminiszenz an Beaujon).

»Mein Gott!« stieß sie hervor, »aus Liebe zu mir müssen Sie eine große Sünde auf sich nehmen, denn die Lüge ist eine der sieben Todsünden; doch Sie werden sie beichten, nicht wahr? Wir werden beide dafür Buße tun ..,« (Sie blickten sich zärtlich an.) »Und vielleicht zählt sie zu den Lügen, die die Kirche Notlügen nennt...«

›Sollte sie wie Suzanne sein?‹ fragte sich Du Bousquier; ›welch ein Glück!‹ – »Sagen Sie es nur, Mademoiselle«, ermutigte er sie.

»Sie müssen es auf sich nehmen ...«stammelte sie.

»Was?«

»Zu sagen, daß diese Heirat seit sechs Monaten beschlossene Sache sei...«

»Reizende Frau«, sagte der Lieferant mit dem Ton eines Mannes, der ein Opfer bringt, »was täte man nicht für eine Frau, die man seit zehn Jahren anbetet.«

»Trotz meiner Strenge!« scherzte sie.

»Ja, trotz Ihrer Strenge.«

»Monsieur du Bousquier, ich habe Ihnen unrecht getan.« Sie reichte ihm wiederholt ihre rote dicke Hand, die er aufs neue küßte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der verführerisch zurechtgemachte, aber verspätete Chevalier de Valois erschien vor den Augen der Verlobten.

»Ah!« sagte er, als er eintrat, »Sie sind schon auf, Schönste?«

Sie lächelte dem Chevalier zu und fühlte einen Druck am Herzen. Monsieur de Valois sah fabelhaft jung und hinreißend aus wie Lauzun, als dieser zu Mademoiselle ins Palais-Royal kam.

»Nun, lieber Du Bousquier«, meckerte er wohlwollend, so sicher glaubte er sich seines Erfolges, »Monsieur de Troisville und der Abbé de Sponde beschauen Ihr Haus wie zwei Geometer.«

»Wahrhaftig«, versetzte Du Bousquier, »wenn der Vicomte de Troisville es haben will, so gehört es für vierzigtausend Francs ihm. Ich brauche es nicht länger! Wenn es mir Mademoiselle erlaubt? ... Es ist Zeit, daß man es erfährt ... Mademoiselle, darf ich es sagen? ... Ja? – Nun denn, mein lieber Chevalier, seien Sie der erste, den ich von der Ehre« (Mademoiselle Cormon schlug die Augen nieder), »von der Gunst in Kenntnis setze, die Mademoiselle mir erweist und die ich seit sechs Monaten verheimlicht habe. Wir heiraten in wenigen Tagen, der Vertrag ist aufgesetzt, er wird morgen unterzeichnet. Sie begreifen nun, daß ich mein Haus in der Rue du Cygne nicht mehr brauche! Ich suchte unter der Hand einen Käufer, und der Abbé de Sponde, der es wußte, hat natürlich Monsieur de Troisville hingeführt...«

Diese grobe Lüge hatte solchen Anschein von Wahrheit, daß der Chevalier darauf hereinfiel. ›Mein lieber Chevalier‹ war wie die Rache, die Peter der Große an Karl XII. bei Poltawa für alle seine früheren Niederlagen nahm, Du Bousquier rächte sich da von Herzen für tausend Stiche, die er schweigend hingenommen hatte; in seinem Triumph machte er jedoch eine allzu jugendliche Bewegung, er griff sich in sein Toupet und ... behielt es in der Hand.

»Ich gratuliere Ihnen beiden«, sagte der Chevalier in verbindlichem Ton, »und wünsche, daß es bei Ihnen wie in den Feenmärchen heißen möge: Sie waren sehr glücklich und hatten viele Kinder.« Und er nahm eine Prise. »Aber Sie vergessen, Monsieur, daß Sie ein Toupet tragen«, fügte er spöttisch hinzu.

Du Bousquier wurde rot; er hielt das Toupet zehn Zoll über seinem Schädel. Mademoiselle Cormon bückte auf, sah die Kahlheit des Schädels und schlug die Augen wieder schamhaft zu Boden. Du Bousquier warf dem Chevalier einen Blick zu, wie ihn giftiger keine Sumpfkröte auf ihre Beute schleudern konnte.

›Verfluchte Aristokraten, die ihr mich verachtet habt, ich werde euch eines Tages zermalmen!‹ dachte er.

Der Chevalier glaubte wieder die Oberhand erlangt zu haben. Mademoiselle Cormon war jedoch nicht von der Art, daß sie den Zusammenhang, der für den Chevalier zwischen dem Toupet und seinen Wünschen bestand, begriffen hätte; und auch wenn sie ihn begriffen hätte, gehörte ihr ihre Hand doch nicht mehr. Monsieur de Valois sah ein, daß alles verloren war. Da die ahnungslose Jungfer die beiden Männer stumm sah, wollte sie sie beschäftigen.

»Machen Sie doch eine Partie Pikett zusammen!« sagte sie ohne Arg.

Du Bousquier lächelte und holte als zukünftiger Herr des Hauses den Spieltisch herbei. Der Chevalier de Valois, sei es, daß er den Kopf verloren hatte, .sei es, daß er dableiben wollte, um die Ursache seines Mißgeschicks zu studieren und ihm abzuhelfen, ließ sich treiben wie ein Hammel, den man zur Schlachtbank fuhrt. Er hatte den heftigsten Keulenschlag bekommen, der ihn treffen konnte, und er hatte das Recht, davon benommen zu sein. Bald kamen der würdige Abbé de Spende und der Vicomte de Troisville nach Hause. Sogleich stand Mademoiselle Cormon auf, lief ins Vorzimmer, nahm ihren Onkel beiseite und flüsterte ihm ihren Entschluß ins Ohr. Als sie hörte, daß das Haus in der Rue du Cygne Monsieur de Troisville zusagte, bat sie ihren Zukünftigen, er möchte ihr den Dienst erweisen, Monsieur de Troisville zu sagen, ihr Onkel habe gewußt, daß es verkäuflich sei. Sie wagte nicht, diese Lüge dem Abbé anzuvertrauen, aus Furcht vor seiner Zerstreutheit. Doch trug die Lüge bessere Früchte als eine tugendhafte Tat. Am Abend erfuhr ganz Alençon die große Neuigkeit. Seit vier Tagen war die Stadt in Atem gehalten worden wie in den unseligen Tagen von 1814 und 1815. Die einen lachten, die ändern hießen die Heirat willkommen; diese tadelten sie, jene fanden sie in Ordnung. Die Mittelklasse von Alençon freute sich, sie erblickte einen Sieg darin. Am nächsten Tage tat der Chevalier de Valois bei seinen Freunden die grausame Äußerung: »Die Cormons enden, wie sie angefangen haben: Intendant und Lieferant – das ist beinahe dasselbe!«

Die Wahl Mademoiselle Cormons traf den armen Athanase ins Herz, doch ließ er sich nichts von der schrecklichen Erregung, die ihn durchschüttelte, anmerken. Als er von der Verlobung hörte, war er beim Präsidenten Du Ronceret, wo seine Mutter eine Partie Boston spielte. Madame Granson sah ihren Sohn in einem Spiegel, sie fand ihn blaß; doch war er es schon seit dem Morgen, denn er hatte unbestimmte Gerüchte von dieser Heirat gehört. Mademoiselle Cormon war für Athanase die Karte, auf die er sein Leben gesetzt hatte, und er hatte schon ein deutliches Vorgefühl einer Katastrophe. Wenn die Seele und die Phantasie sich ein Unglück vergrößern und es zu einer für Kopf und Schulter zu schweren Last gemacht haben, wenn eine langgehegte Hoffnung, deren Erfüllung den Geier, der am Herzen nagt, beschwichtigt hätte, fehlschlägt und der Mensch, trotz der göttlichen Macht, weder an sich, noch an seine Kraft, noch an die Zukunft glaubt, dann geht er zugrunde. Athanase war ein Opfer der kaiserlichen Erziehung. Das Verhängnis, diese Religion des Kaisers, stieg vom Thron hernieder bis in die letzten Reihen der Armee, bis in die Schulbänke. Athanase heftete die Augen auf das Spiel Madame du Roncerets mit einer dumpfen Betroffenheit, die so gut für Gleichgültigkeit gelten konnte, daß Madame Granson glaubte, sich über die Gefühle ihres Sohnes getäuscht zu haben. Die anscheinende Gleichgültigkeit von Athanase war eine Erklärung für seine Weigerung, dieser Heirat seine »liberalen« Ansichten zu opfern, welches Wort ›liberal‹ der Kaiser Alexander vor kurzem geprägt hatte; und das, glaube ich, von Madame de Staël auf Benjamin Constant übergegangen war. Von jenem Abend an pflegte der unglückliche junge Mann sich an dem malerischsten Punkte der Sarthe zu ergehen, wo die Zeichner, die sich mit Alençon befaßten, sich aufstellten, um ihre Skizzen zu machen. Dort stehen Mühlen. Der Fluß gibt den Wiesen ein heiteres Ansehen. Die Ufer der Sarthe zieren hochgewachsene, schlanke Bäume. Wenn die Landschaft auch flach ist, so entbehrt sie doch nicht der lieblichen Anmut, die Frankreich auszeichnet, wo die Blicke niemals durch ein zu grelles licht ermüdet oder durch anhakende Nebel betrübt werden. Dieser Ort war einsam. In der Provinz achtet niemand auf eine schöne Aussicht, sei es, daß man dazu zu blasiert ist oder weil man keine Empfänglichkeit für Poesie hat. Wenn es in der Provinz eine Promenade, einen freien Platz oder einen Spazierweg gibt, von wo aus sich eine weite Aussicht bietet, so geht niemand hin. Athanase gewann diese vom Wasser belebte Einsamkeit, wo die Wiesen beim ersten Schein der Frühlingssonne zu grünen anfingen, lieb. Wer ihn da zuweilen unter einer Pappel sitzen sah und seinen tiefgründigen Blick auffing, sagte zu Madame Granson: »Ihr Sohn hat etwas.«

»Ich weiß, was er tut!« antwortete dann mit wohlgefälligem Gesichtsausdruck seine Mutter und gab zu verstehen, daß er über einem großen Werk brüte.

Athanase kümmerte sich nicht mehr um Politik, er hatte keine Meinung mehr; doch erschien er verschiedene Male recht heiter, heiter aus Ironie, wie es die sind, die sich für sich allein gegen die ganze Welt auflehnen. Dieser junge Mann, der abseits von der Gedankensphäre, von allen Vergnügungen der Provinz stand, interessierte wenige Leute, er war nicht einmal ein Gegenstand der Neugierde. Wenn man zu seiner Mutter über ihn sprach, so geschah es ihretwegen. Keine einzige Seele sympathisierte mit der Seele von Athanase, keine Frau, kein Freund kam zu ihm, um seine Tränen zu trocknen, er ließ sie in die Sarthe fallen. Wenn die schöne Suzanne des Weges gekommen wäre, wieviel Unglück hätte diese Begegnung verhindert, denn diese beiden Wesen hätten sich geliebt! Sie kam übrigens hin. Der Ehrgeiz Suzannes wurde durch die Erzählung eines sehr seltsamen Abenteuers angestachelt, das um 1799 in dem ›Hôtel du More‹ begonnen und ihren Kindskopf in große Verwirrung gebracht hatte. Eine Pariser Dirne von engelgleicher Schönheit hatte von der Polizei den Auftrag bekommen, den Marquis de Montauran, einen den Chouans von den Bourbonen entsandten Befehlshaber, in sich verliebt zu machen; sie hatte ihn in dem ›Hôtel du More‹ bei seiner Rückkehr von dem Feldzug nach Mortagne abgewartet, hatte ihn verführt und ausgeliefert. Diese phantastische Person, die Macht der Schönheit über den Mann, alles in dieser Geschichte der Marie de Verneuil und des Marquis de Montauran, hatten Suzanne den Kopf verdreht. Schon von früher Jugend lebte in ihr die Begierde, mit den Männern zu spielen. Es war ihr nicht unlieb, einige Monate nach ihrer Flucht den Weg über ihre Vaterstadt zu nehmen, um mit einem Künstler, in die Bretagne zu gehen. Sie wollte Fougères sehen, wo sich das Abenteuer des Marquis de Montauran abgespielt hatte, und den Schauplatz jenes bunten Krieges kennenlernen, von dessen noch wenig bekannten traurigen Begebenheiten sie in ihrer Kindheit gehört hatte. Außerdem machte es ihr Vergnügen, so verwandelt und ausstaffiert, daß niemand sie wiedererkannte, Alençon zu passieren. Sie hatte die Absicht, im Handumdrehen ihrer Mutter einen ruhigen Lebensabend zu verschaffen und dem armen Athanase in zarter Weise eine Summe zukommen zu lassen, die in unserer Zeit für das Genie dasselbe bedeutet, was im Mittelalter das Schlachtpferd und die Rüstung waren, die Rebekka; Ivanhoe zukommen ließ.

Ein Monat verging, in dem bezüglich der Heirat Mademoiselle Cormons die sonderbarsten Annahmen in Umlauf waren. Es gab eine Partei Ungläubiger, die die Heirat in Abrede stellte, und eine Partei Gläubiger, die an ihr festhielt. Nach vierzehn Tagen erlitt die Partei der Ungläubigen eine heftige Schlappe. Das Haus Du Bousquiers wurde für dreiundvierzigtausend Francs an Monsieur de Troisville verkauft, der in Alençon nur ein ganz bescheidenes Haus haben wollte; denn er sollte später, nach dem Ableben der Fürstin Scherbeloff, nach Paris ziehen; er wollte diese Erbschaft in Ruhe abwarten und mittlerweile sein Besitztum wieder instand setzen. Soviel stand fest: Die Ungläubigen gaben sich nicht geschlagen. Sie meinten, Du Bousquier mache, ob verheiratet oder nicht, ein glänzendes Geschäft; sein Haus war ihm nur auf siebenundzwanzigtausend Francs zu stehen gekommen. Die Gläubigen waren durch diese treffende Bemerkung der Ungläubigen getroffen. Chesnel, der Notar von Mademoiselle Cormon, habe noch kein Wort vom Ehekontrakt gehört, sagten die Ungläubigen wiederum. Die in ihrem Vertrauen unerschütterlichen Gläubigen trugen am zwanzigsten Tag einen völligen Sieg über die Ungläubigen davon. Monsieur Lepressoir, Notar der Liberalen, kam zu Mademoiselle Cormon, wo der Kontrakt unterzeichnet wurde. Dies war das erste der zahlreichen Opfer, die Mademoiselle Cormon ihrem Manne bringen sollte. Du Bousquier hegte gegen Chesnel einen glühenden Haß; er schob ihm die erste Abweisung zu, die ihm Mademoiselle Armande erteilt hatte, und die Abweisung von Mademoiselle Armande hatte seiner Meinung nach die Weigerung Mademoiselle Cormons herbeigeführt. Der alte Athlet des Direktoriums hatte sich in dem Herzen der edelmütigen Jungfer, die glaubte, die edle Seele des Lieferanten falsch beurteilt zu haben, schon so festgesetzt, daß sie ihr Unrecht wiedergutmachen wollte: sie opferte ihren Notar der Liebe. Nichtsdestoweniger machte sie ihm von dem Kontrakt Mitteilung, und Chesnel, der ein Mann würdig Plutarchs war, verteidigte die Interessen Mademoiselle Cormons schriftlich. Dieser Umstand allein zögerte die Heirat hinaus. Mademoiselle Cormon erhielt verschiedene anonyme Briefe. Sie erfuhr zu ihrem großen Erstaunen, Suzanne wäre ein ebenso jungfräuliches Mädchen wie wahrscheinlich sie selbst, und der Verführer mit dem Toupet würde in diesen Dingen niemals etwas ausrichten. Mademoiselle Cormon verachtete anonyme Briefe; aber sie schrieb an Suzanne mit der Absicht, den Mütterfürsorgeverein aufzuklären. Suzanne, die zweifellos die bevorstehende Heirat Du Bousquiers erfahren hatte, gestand ihre List ein, schickte der Gesellschaft tausend Francs und brachte den Lieferanten dadurch stark in Mißkredit. Mademoiselle Cormon rief den Mütterfürsorgeverein zusammen, der eine außerordentliche Sitzung abhielt, wo beschlossen wurde, daß der Verein nicht mehr dem erst bevorstehenden, sondern einzig dem bereits eingetroffenen Unglück seine Hilfe zuteil werden lassen sollte. Trotz dieser Umtriebe, welche die Stadt hinreichend mit destilliertem Klatsch versorgten, den sie begehrlich einsog, wurde das Aufgebot in der Kirche und im Rathaus veröffentlicht. Athanase mußte die Akten vorbereiten. Mit Rücksicht auf die öffentliche Sittlichkeit und Ordnung begab sich die Braut nach Le Prebaudet, wohin Du Bousquier, mit gräßlich prunkvollen Buketts bewaffnet, am Morgen kam und am Abend zum Diner wieder zurückkehrte. Schließlich, an einem regnerischen trüben Junitage, fand in der Pfarrkirche im Beisein von ganz Alençon die Eheschließung Mademoiselle Cormons mit Sieur Du Bousquier, wie die Ungläubigen sagten, statt. Die Gatten begaben sich in einer für Alençon prachtvollen Kutsche, die Du Bousquier hatte heimlich aus Paris kommen lassen, von ihrem Haus ins Rathaus, vom Rathaus in die Kirche. Die Abschaffung der alten Kalesche war in den Augen der Stadt ein gewisses Unglück. Der Sattler von der Porte de Séez erhob ein Ach- und Wehgeschrei, denn er büßte fünfzig Francs ein, die ihm das Ausflicken der Kalesche sonst eingebracht hätte. Alençon sah mit Schrecken, welchen Luxus das Haus Cormon in die Stadt einführte. Jedermann befürchtete die Verteuerung der Lebensmittel, die Erhöhung der Mietpreise und das Eindringen Pariser Möbel. Es gab ein paar von Neugier angestachelte Personen, die Jacquelin ein Zehnsoustück gaben, um die Kutsche, dieses Attentat auf die Sparsamkeit der Gegend, aus der Nähe besehen zu dürfen. Die beiden in der Normandie gekauften Pferde flößten gleichfalls großen Schrecken ein.

»Wenn wir für uns selbst solche Pferde kaufen«, sagte der Kreis du Roncerets, »werden wir an die, die uns welche abkaufen wollen, keine mehr loswerden.«

Obwohl diese Logik dumm war, so schien sie doch insofern tiefgründig, als sie verhinderte, daß man im Lande mit fremdem Gelde Wucher trieb. Denn für die Provinz besteht der Reichtum der Nationen weniger in einer aktiven Zirkulation des Geldes als in einer sterilen Anhäufung. Die mörderische Verwünschung der alten Jungfer ging in Erfüllung. Penelope erlag der Brustfellentzündung, die sie sich vierzig Tage vor der Hochzeit geholt hatte; nichts konnte sie retten. Madame Granson, Mariette, Madame Coudrai, Madame du Ronceret, die ganze Stadt bemerkte, daß Madame du Bousquier mit dem ›linken Fuß‹ in die Kirche getreten war, ein um so schrecklicheres Omen, als das Wort ›die Linke‹ schon eine politische Bedeutung annahm. Der Priester, der die Trauungsformel zu lesen hatte, schlug das Buch zufällig bei dem ›De profundis‹ auf. So war diese Eheschließung denn von so verhängnisvollen, unheilkündenden, niederschmetternden Umständen begleitet, daß niemand Gutes prophezeite. Es kam noch schlimmer. Es fand kein Hochzeitsmahl statt, weil die Neuvermählten gleich nach Le Prebaudet abreisten. Die Pariser Bräuche siegten also über die der Provinz, hieß es. Am Abend wurden alle diese Nichtigkeiten durchgehechelt, und allgemein machte man der Erbitterung in Schmähreden Luft, denn das Hochzeitsgelage ist in der Provinz sozusagen der der Gesellschaft gebührende Pflichtteil. Die Hochzeit Josettes und Jacquelins ging lustig vonstatten: sie waren die beiden einzigen, die den düstern Prophezeiungen widersprachen.

Du Bousquier wollte den Profit, den er bei seinem Hause gemacht hatte, dazu verwenden, das Haus Cormon zu modernisieren und zu restaurieren. Er hatte beschlossen, ein halbes Jahr in Le Prebaudet zu verbringen, und nahm seinen Onkel, den Abbé de Sponde, mit. Diese Neuigkeit verbreitete Schrecken in der Stadt, wo jeder ahnte, daß Du Bousquier das Land in den verhängnisvollen Luxus hineinziehen würde. Die Angst nahm zu, als die Leute sahen, wie Du Bousquier eines Morgens, um die Arbeiten zu überwachen, in einem mit einem neuen Pferd bespannten Tilbury, René in Livree zu seiner Seite, aus Le Prebaudet nach dem Val-Noble kam. Der erste Akt seiner Verwaltung war der gewesen, daß er alle Ersparnisse seiner Frau in Staatspapieren anlegte, die auf siebenundsechzig Francs fünfzig Centimes standen. Im Zeitraum eines Jahres, währenddessen er beständig auf Hausse spekulierte, begründete er ein eigenes Vermögen, das beinahe so ansehnlich war wie das seiner Frau. Jedoch diese grimmigen Weissagungen, diese aufregenden Neuerungen wurden von einem Ereignis übertroffen, das sich an diese Heirat knüpfte und sie noch verhängnisvoller erscheinen ließ. Am Abend der Hochzeit saßen Athanase und seine Mutter nach ihrem Essen vor einem kleinen Flackerfeuer aus Reisigbündeln, das ihnen die Magd zum Nachtisch im Salon angezündet hatte.

»Also wir gehen heute abend zum Präsidenten Du Ronceret, da wir ohne Mademoiselle Cormon sind«, begann Madame Granson; »mein Gott, ich werde mich nie daran gewöhnen, sie Madame Du Bousquier zu nennen, der Name will mir nicht über die Lippen.«

Athanase sah seine Mutter mit melancholischer, gezwungener Miene an; er konnte nicht mehr lächeln, und er wollte diesen naiven Gedanken, der seiner Wunde wohltat, ohne sie zu heilen, gutheißen. »Mama«, sagte er mit kindlichem Ausdruck und gebrauchte seit Jahren zum erstenmal wieder dies Wort, »liebe Mama, gehen wir doch noch nicht fort, es sitzt sich so gut hier vor dem Feuer.«

Die Mutter hörte diese Bitte eines tödlich verwundeten Herzens an, ohne sie zu verstehen.

»Gut, bleiben wir, mein Sohn! Ich bleibe viel lieber hier mit dir sitzen, als ein Boston zu spielen, wobei :ich mein Geld verlieren kann.«

»Du bist so schön heut abend, ich sehe dich gern an. Außerdem bin ich in einer Stimmung, die zu diesem kleinen Zimmer, wo wir so viel gelitten haben, so gut paßt.«

»Wo wir noch weiter leiden werden, mein lieber Athanase, bis deine Arbeiten Erfolg haben werden. Ich bin ans Elend gewöhnt, aber du, mein geliebtes Kind, du verbringst deine Jugend ohne Freuden. Nichts als Arbeit in deinem Leben! Dieser Gedanke ist ein Schmerz für eine Mutter; er quält mich des Abends und weckt mich des Morgens, Mein Gott, mein Gott! was habe ich dir getan, für welches Verbrechen strafst du mich?« Sie verließ ihren Lehnsessel, nahm einen kleinen Stuhl und rückte ihn an Athanase heran, um ihren Kopf an seine Brust legen zu können. Die wahre Mutterliebe ist immer voll Anmut. Athanase küßte seine Mutter auf die Augen, auf ihre grauen Haare, auf die Stirn und legte in diese Liebkosung sein ganzes zärtliches Gefühl.

»Ich werde niemals Erfolg haben!« sagte er, in der Absicht, seine Mutter über den traurigen Entschluß, den er in seinem Hirn herumwälzte, zu täuschen.

»Bah! wirst du wohl nicht so mutlos sein! Wie du es sagst, der Gedanke vermag alles. Mit zehn Flaschen Tinte, zehn Ries Papier und seinem starken Willen hat Luther Europa umgewälzt. Nun, du wirst dich auszeichnen und mit denselben Mitteln, mit denen er das Böse getan hat, das Gute tun. Hast du das nicht gesagt? Siehst du, ich merke mir, was du sagst: ich verstehe dich besser, als du glaubst, denn ich trage dich noch in meinem Schoß, und der geringste Gedanke von dir widerhallt darin, wie ehemals deine leiseste Bewegung.«

»Ich kann hier nicht Erfolg haben, siehst du, Mama; und ich will nicht, daß du meine Verzweiflung, meine Kämpfe, meine Qualen mit ansiehst. O Mutter, laß mich Alençon verlassen; ich will fern von dir leiden!«

»Ich will immer an deiner Seite sein!« erwiderte die Mutter mit Bestimmtheit. »Du willst ohne deine Mutter leiden, deine arme Mutter, die deine Magd sein will, wenn es not tut, die sich, wenn du es verlangst, verbergen will, um dir nicht im Wege zu sein, die dich darin nicht des Hochmuts zeihen würde? Nein, nein, Athanase, wir werden uns niemals trennen!« Athanase preßte seine Mutter an sich, wie ein mit dem Tode Kämpfender, der das Leben umarmt. »Ich will es aber!« entgegnete er; »sonst richtest du mich zugrunde ... Dieser doppelte Schmerz, der meinige und der deinige, tötet mich. Und ich will doch wohl leben, nicht wahr?« Madame Granson sah ihren Sohn mit einem entgeisterten Blick an. »Das also hast du im Sinn? Man hat es mir schon gesagt. Du willst fort!«

»Ja.«

»Du wirst wohl nicht weggehen, ohne mir alles zu sagen, ohne mich aufzuklären. Du brauchst Geld, Sachen! Ich habe ein paar Louisdor in meinen Unterrock eingenäht, die muß ich dir geben.« Athanase weinte, »Das ist alles, was ich dir sagen wollte«, gab er zur Antwort; »jetzt führe ich dich zu dem Präsidenten. Komm ...«

Der Sohn und die Mutter verließen das Haus. Athanase verließ seine Mutter an der Schwelle des Hauses, wo sie den Abend verbringen wollte. Er blickte lange auf den Lichtschein, der durch die Fensterläden drang; er drückte sich gegen die Wand und empfand eine stürmische Freude, als er nach einer Viertelstunde seine Mutter sagen hörte:»Große Unabhängigkeit im Herzen.«

»Arme Mutter, ich habe sie betrogen!« rief er und lief nach dem Ufer der Sarthe.

Er kam bei der schönen Pappel an, wo er seit vierzig Tagen über so vieles nachgedacht und wohin er zwei schwere Steine zum Sitzen getragen hatte. Er betrachtete die schöne Gegend, auf der der Mondschein lag. Noch einmal stieg eine ruhmvolle Zukunft vor ihm auf: er kam durch Städte, wo sein Name widerhallte; er hörte das Beifallklatschen der Menge, atmete den Weihrauch der Huldigungen ein, berauschte sich an seinem erträumten Leben, schwang sich strahlend zu strahlenden Triumphen auf, errichtete sich ein Denkmal des Ruhms, beschwor alle seine Illusionen vor seinen Sinnen herauf, um ihnen in einem olympischen Taumel für immer Lebewohl zu sagen. Einen Augenblick war die Bezauberung möglich gewesen; nun war sie für immer dahingeschwunden. In diesem höchsten Augenblick umfing er seinen schönen Baum, an den er sich wie an einen Freund gelehnt hatte, mit den Armen; dann steckte er einen Stein in jede Tasche seines Mantels und knöpfte ihn zu. Er war absichtlich ohne Hut weggegangen. Er suchte die tiefe Stelle, die er seit langem gewählt hatte; er ließ sich beherzt hinuntergleiten, wobei er bemüht war, möglichst wenig Geräusch zu machen, und es gelang ihm. Als gegen halb zehn Uhr seine Mutter nach Hause kam, sagte die Magd nichts von Athanase, sondern gab ihr einen Brief. Madame Granson öffnete ihn und las die wenigen Worte: ›Meine gute Mutter, ich bin fortgegangen, zürne mir nicht!‹

»Er hat einen schönen Streich gemacht!« rief sie. »Und seine Wäsche! Und Geld! Nun, er wird mir schreiben, ich werde ihn finden. Daß die Kinder doch immer klüger sein wollen als Vater und Mutter.« Und sie legte sich ruhig schlafen.

Die Sarthe war am Morgen vorher stark angeschwollen, und die Fischer hatten das vorausgesehen. Dieses Anschwellen trüben Wassers treibt die Aale in Scharen aus ihren Bächen in den Fluß. Ein Fischer hatte seine Netze an der Stelle ausgeworfen, die sich der arme Athanase in der Hoffnung ausgesucht hatte, daß man ihn dort niemals finden würde. Gegen sechs Uhr morgens brachte der Fischer den Leichnam des jungen Mannes herauf. Die zwei, drei Freundinnen, die die arme Witwe besaß, wendeten alle erdenkliche Vorsicht an, um sie auf die Schreckensnachricht vorzubereiten. Man kann sich vorstellen, was für ein Aufsehen dieser Selbstmord in Alençon machte. Am Abend vorher hatte der arme begabte junge Mann keinen einzigen Gönner; als er tot war, riefen tausend Stimmen: »Wie gern hätte ich ihm geholfen!« Es ist so bequem, ohne Unkosten wohltätig zu sein! Der Chevalier de Valois konnte eine Erklärung für den Selbstmord geben. In einem Anfall von Rachsucht enthüllte der Edelmann die naive, aufrichtige, schöne Liebe, die Athanase für Mademoiselle Cormon hegte. Madame Granson entsann sich nun daraufhin unzähliger kleiner Umstände, die dem Chevalier recht gaben. Die Geschichte wurde rührend, einige Frauen weinten. Für Madame Gransons Schmerz, der stumm nach innen gekehrt war, hatte man geringes Verständnis, Die Mütter trauern auf zwei verschiedene Arten. Wenn eine Mutter einen Sohn verliert, der geachtet, bewundert, jung und schön war, einer großen Zukunft entgegenging oder schon berühmt war, so erregt dies allgemeines Bedauern; die Welt hilft den Schmerz mit tragen und mildert ihn durch ihre Teilnahme. Doch der Schmerz jener Mütter, die allein wissen, was ihr Kind war, denen allein sein Wert lächelte, die allein die Schätze eines allzufrüh abgebrochenen Lebens kannten: dieser Schmerz verbirgt seinen Trauerflor, dessen Farbe andere Trauerbekundungen verblassen läßt; aber er stellt sich nicht aus. Glücklicherweise gibt es wenige Frauen, die davon wissen, welche Herzenssaite dabei für immer zerreißt. Bevor Madame du Bousquier in die Stadt zurückkam, war schon eine von ihren guten Freundinnen, die Präsidentin du Ronceret, zu ihr geeilt, um ihr diesen Leichnam auf das Rosenbett ihrer Freuden zu werfen und ihr zu eröffnen, welcher Liebe sie sich versagt hatte. Tropfen für Tropfen goß sie ihr den Wermut in den Honigmond ihrer Ehe. Als Madame du Bousquier nach Alençon wiederkehrte, traf sie Madame Granson zufällig an der Ecke des Val-Noble. Der Blick der zu Tode betrübten Mutter traf sie ins Herz. Er war wie geladen mit Anklagen und Verwünschungen. Madame du Bousquier war darüber entsetzt; dieser Blick verkündete und wünschte ihr Unglück. Am Abend nach der Katastrophe begab sich Madame Granson, nachdem sie ihren Sohn mit eigener Hand in das Leichentuch gehüllt und dabei an die Mutter des Heilands gedacht hatte, von fürchterlicher Angst bewegt in das Haus des konstitutionellen Pfarrers. Sie hatte zu denen gehört, die dem Stadtpfarrer am schroffsten gegenüberstanden, und zu dem Vikar von Saint-Léonard gehalten; doch schauderte sie bei dem Gedanken an die Unbeugsamkeit ihrer eigenen Partei im Punkte der katholischen Doktrin. Sie fand den bescheidenen Priester damit beschäftigt, den Hanf und Flachs unterzubringen, den er allen armen Frauen und Mädchen der Stadt zum Spinnen gab, damit es den Arbeiterinnen nicht an Arbeit fehle; eine weise Fürsorge, die manchen Hausstand, der sich zum Betteln außerstande sah, vor dem Äußersten bewahrte. Der Pfarrer legte seine Arbeit beiseite und führte Madame Granson in das Zimmer, wo ein Mahl auf ihn wartete, das sie in seiner Einfachheit an ihren eigenen Haushalt erinnerte. »Monsieur l'Abbé«, sagte sie; »ich komme, um Sie zu bitten ...« Sie brach in Tränen aus und konnte nicht weiterreden.

»Ich weiß, was Sie herführt«, erwiderte der fromme Mann, »doch müssen Sie und Ihre Verwandte, Madame du Bousquier, es übernehmen, Seine Ehrwürden, den Bischof von Séez zu besänftigen. Ja, ich werde für Ihren unglücklichen Sohn beten, ich werde Messen lesen; aber vermeiden wir jedes Ärgernis und suchen wir zu verhindern, daß sich die Böswilligen der Stadt in der Kirche versammeln ... Ich allein will, ohne andere Geistliche, in der Nacht...«

»Ja, ja, wie Sie wollen, wenn er nur in geweihte Erde kommt!« rief die arme Mutter und griff nach der Hand des Priesters, um sie zu küssen.

Gegen Mitternacht wurde von vier jungen Leuten, den vertrautesten Kameraden von Athanase, heimlich eine Bahre in die Pfarrkirche getragen. Es waren einige Freundinnen von Madame Granson zugegen, außerdem die sieben oder acht jungen Leute, mit denen der Dahingegangene befreundet gewesen war. Vier Fackeln erleuchteten die Bahre, die mit Trauerflor bedeckt war. Der Pfarrer las, von einem verschwiegenen Chorknaben bedient, die Totenmesse. Dann wurde der Selbstmörder geräuschlos in einer Ecke des Kirchhofes, wo ein schwarzes Kreuz ohne Inschrift der Mutter die Stelle anzeigte, begraben. Athanase lebte und starb in der Finsternis. Niemand klagte den Pfarrer an, der Bischof blieb still, die Frömmigkeit der Mutter sühnte den Unglauben des Sohnes.

Einige Monate später, an einem Abend, wurde die arme Frau, die außer sich vor Schmerz war, von der unerklärlichen Begierde erfaßt, wie sie manchmal über die Unglücklichen kommt, den bitteren Kelch ihres Schmerzes bis zur Neige zu leeren, und sie machte sich auf, um die Stelle zu finden, wo sich ihr Sohn ertränkt hatte. Vielleicht meinte sie unter jener Pappel einen Hauch seines Geistes zu verspüren; vielleicht auch wollte sie vor Augen sehen, worauf ihres Sohnes Blicke zuletzt geweilt hatten. Es mag Mütter geben, die bei solchem Anblick vergehen würden, andere weihen den Ort zu einer Stätte der Anbetung. Die geduldigen Anatomen der menschlichen Seele können nicht oft genug die Wahrheiten wiederholen, an denen immer wieder die Erziehung, die Gesetze, die philosophischen Systeme zerschellen. Sagen wir es uns immer wieder: Es ist absurd, die Gefühle auf gleiche Formeln zu bringen; in jedem Menschen verbinden sie sich mit den ihm eigenen Elementen und nehmen seine Physiognomie an.

Madame Granson sah von weitem ein weibliches Wesen kommen, das, an der Unglücksstätte angelangt, ausrief: »Da ist es also!« Ein einziges Geschöpf weinte da, wie die Mutter weinte: es war Suzanne. Als sie des Morgens im »Hôtel du More« angekommen war, hatte sie von der Katastrophe erfahren. Wäre der arme Athanase am Leben geblieben, so hätte sie getan, wovon großherzige Menschen ohne Geld träumen und woran die Reichen niemals denken, sie hätte ein paar tausend Francs geschickt und dazu geschrieben: ›Die Schuld eines Kameraden Ihres Vaters, der sie Ihnen zurückerstattet.‹ Suzanne hatte sich diese engelhafte List auf ihrer Reise ausgedacht.

Die Kurtisane bemerkte Madame Granson und entfernte sich schleunigst, nachdem sie ihr gesagt hatte: »Ich liebte ihn!«

Treu ihrer Natur, verließ Suzanne Alençon nicht, ohne die Orangenblüten, die die Neuvermählte schmückten, in Seerosen zu verwandeln. Sie als erste erklärte, daß Madame du Bousquier immer nur Mademoiselle Cormon sein würde. So rächte sie mit einem Schlage Athanase und den teuren Chevalier de Valois.

Alençon war Zeuge eines auf andere Weise kläglichen, langsamen Selbstmordes, denn Athanase wurde bald von der Gesellschaft vergessen, die ihre Toten nicht lange beklagen will und kann. Der arme Chevalier de Valois starb bei Lebzeiten; er tötete sich vierzehn Jahre lang jeden Morgen. Drei Monate nach der Verheiratung Du Bousquiers bemerkte die Gesellschaft nicht ohne Erstaunen, daß die Wäsche des Chevaliers gelb wurde und daß seine Haare unordentlich gekämmt waren. Mit wirrem Haar existierte der Chevalier de Valois nicht mehr. Einige Zähne aus Elfenbein waren desertiert, ohne daß man entdecken konnte, in welchem Körper sie ihren Sitz gehabt, ob sie der Fremdenlegion oder den Eingeborenen angehört hatten, ob sie tierischen oder pflanzlichen Ursprungs waren, ob das Alter sie dem Chevalier geraubt oder ob er sie in der Schublade seines Toilettentisches hatte liegenlassen. Die Krawatte schlang sich um sich selbst ohne jeden Anspruch auf Eleganz. Die Negerköpfe verblaßten und wurden schmierig. Die Runzeln des Gesichts falteten und schwärzten sich, die Haut wurde wie Pergament. Die ungepflegten Nägel bekamen hier und da einen schwarzsamtigen Rand. Die Weste zeigte sich gefurcht von Nasentropfen, die herabgefallen waren wie Herbstblätter. Die Watte in den Ohren erneuerte er nicht mehr täglich. Traurigkeit lag auf seiner Stirn und gelbe Töne waren in seinen Runzeln. Kurzum, der künstlich zurückgehaltene Verfall zeichnete Sprünge in dieses schöne Gebäude, und man konnte sehen, eine wie große Macht die Seele über den Körper hat, da der Kavalier, der Blonde, der jugendliche Liebhaber starb, als die Hoffnung in die Brüche ging. Bis dahin hatte sich die Nase des Chevaliers in anmutiger Form präsentiert; niemals war ihr eine feuchte schwarze Masse, noch ein Bernsteintropfen entfallen; aber die mit Tabak beschmierte Nase, von der die Tropfen die Rinne hinunterliefen, die über der Oberlippe lag, diese Nase, die keinen angenehmen Eindruck mehr machen wollte, gab erst Aufschluß darüber, welch ungeheure Sorgfalt der Chevalier ehemals auf sich verwandt und mit welcher Beharrlichkeit er seine Absichten auf Mademoiselle Cormon verfolgt hatte. Vernichtet fühlte er sich durch einen Kalauer Coudrais', dessen Absetzung er übrigens bewirkte. Es war der erste Racheakt, den der sonst gutartige Chevalier durchführte. Aber dieser Kalauer war auch mörderisch und übertraf alle Witze des Vorstehers des Hypothekenamtes um hundert Ellen. Als Monsieur du Coudrai das verwahrloste Riechorgan des Chevaliers bemerkt hatte, hatte er den Chevalier ›Nerestan‹ genannt. Kurzum: die Anekdoten machten es wie die Zähne; allmählich wurden sie seltener, aber der Appetit blieb. Aus dem Schiffbruch aller seiner Hoffnungen rettete der Chevalier nur seinen Magen; wenn ihm auch der Schnupftabak gleichgültiger geworden war, so aß er nach wie vor ungeheuer viel. Man stelle sich vor, wie groß die allgemeine Verwirrung war, .als man erfuhr, daß Monsieur de Valois sich nur noch selten mit der Prinzessin Goritza unterhielt. Eines Tages kam er zu Mademoiselle Armande mit einer Strumpfwade vorn an seinem Schienbein. Dieser Bankerott der äußeren Anmut war, weiß Gott, fürchterlich und ein Schlag für ganz Alençon? Dieser sozusagen junge Mann, der plötzlich zum Greis wurde, der unter dem Schwinden der Seelenkräfte von fünfzig Jahren auf neunzig überging, erschreckte die Gesellschaft, schließlich gab er sein Geheimnis preis: er hatte auf Mademoiselle Cormon gewartet, sie belauert; zehn Jahre lang hatte er, ein geduldiger Jäger, seinen Schuß vorbereitet und hatte das Wild verfehlt. Kurz, die ohnmächtige Republik siegte über die tapfere Aristokratie und dies inmitten der Restauration! Die Form triumphierte über den Inhalt, der Geist war von der Materie, die Diplomatie vom Aufruhr besiegt worden. Das letzte Unglück war, daß eine gekränkte Grisette das Geheimnis der Morgenstunden des Chevaliers enthüllte; nun galt er als Wüstling. Die Liberalen schoben ihm die Findelkinder Du Bousquiers zu, die der Faubourg Saint-Germain von Alençon mit großem Stolz akzeptierte; man lachte dort darüber und sagte: »Was hätte der arme Chevalier anderes tun sollen?« Er beklagte den Chevalier, nahm ihn unter seine Fittiche, belebte sein Lächeln, und ein schrecklicher Haß sammelte sich über dem Haupte Du Bousquiers. Elf Personen gingen zu den d'Esgrignon über und verließen den Salon Cormon.

Eine Hauptwirkung dieser Heirat war, daß die Parteien in Alençon sich nun sonderten und klar voneinander abhoben. Das Haus d'Esgrignon, dem sich die zurückgekehrten Troisville anschlossen, repräsentierte die hohe Aristokratie. Das Haus Cormon vertrat unter dem geschickten Einfluß Du Bousquiers jene unheilvolle Gesinnung, die weder wirklich liberal, noch offen royalistisch war und aus der an dem Tage, wo sich der Kampf zwischen der erhabensten, größten, einzig wahren Macht, dem Königtum, und der flachesten, veränderlichsten, tyrannischsten, der sogenannten parlamentarischen Macht, die vom Abgeordnetenhaus ausgeübt wird, entspann, die ›Zweihunderteinundzwanzig‹ hervorgingen. Der Salon Du Ronceret, der insgeheim mit dem Salon Cormon verbündet war, war freiheraus liberal.

Der Abbé de Sponde litt bei seiner Rückkehr aus Le Prébaudet beständig; er drängte seine Schmerzen zwar zurück und verheimlichte sie vor seiner Nichte; aber er öffnete sein Herz Mademoiselle Armande, der er gestand, daß er, wenn schon eine Torheit begangen werden sollte, den Chevalier de Valois Monsieur du Bousquier vorgezogen hätte. Niemals wäre der Chevalier so herzlos gewesen, einem armen Greis, der nur noch kurze Zeit zu leben hat, soviel Verdruß zu bereiten. Du Bousquier hatte in der Wohnung alles zerstört. Der Abbé sagte, während bittere Tränen aus seinen glanzlosen Augen traten: »Mademoiselle, ich habe nicht einmal mehr den Laubengang, wo ich fünfzig Jahre auf und ab gewandelt bin. Meine vielgeliebten Linden hat man umgehauen. Kurz vor meinem Tode erscheint mir die Republik noch in der Form einer schrecklichen Umwälzung im eigenen Hause.«

»Sie müssen Ihrer Nichte verzeihen«, meinte der Chevalier de Valois; »die republikanischen Ideen sind der erste Irrtum der Jugend, die nach der Freiheit begehrt und auf den schrecklichsten Despotismus, den des ohnmächtigen Pöbels, stößt. Ihre arme Nichte wird nicht dort gestraft, wo sie gesündigt hat.«

»Was soll ich in einem Hause anfangen, wo nackte Frauen auf den Wänden tanzen? Wo finde ich die Linden, unter denen ich mein Brevier gelesen habe?«

Gleich Kant, der keine Verbindung mehr in seine Gedanken bringen konnte, als man ihm die Tanne gefällt hatte, auf die er während seiner Betrachtungen zu blicken gewohnt war, konnte der gute Abbé seinen Gebeten nicht mehr denselben Schwung geben, weil er über schattenlose Gartenwege wandelte. Du Bousquier hatte einen englischen Garten anlegen lassen. »»Es ist besser so«, sagte Madame du Bousquier, ohne es zu glauben, jedoch der Abbé Couturier hatte ihr Absolution gegeben, vieles zu tun, um ihrem Mann zu gefallen.

Diese Restauration raubte dem Hause allen Glanz, alle Ehrwürdigkeit, seinen ganzen patriarchalischen Anstrich. Wie der Chevalier de Valois, dessen Verwahrlosung einer Abdankung gleichkam, existierte die bürgerliche Majestät des Salons Cormon nicht mehr, als er in Weiß mit Gold verwandelt, mit Ottomanen aus Mahagoni möbliert und mit blauer Seide austapeziert war. Der modern ausgeschmückte Speisesaal ließ die Schüsseln rasch kalt werden, man aß dort nicht mehr so gut wie früher, Monsieur Coudrai behauptete, daß ihm die guten Witze in der Kehle steckenblieben, wenn sein Blick auf die gemalten Figuren an der Wand fiele, die ihm gerade ins Gesicht starrten. Äußerlich war die Provinz noch zu merken; das Innere des Hauses deutete auf den Lieferanten des Direktoriums. Es war der schlechte Geschmack des Wechselagenten: Säulen aus Stuck, Glastüren, griechische Gesimse, Goldleisten, alle Stile durcheinander, eine Pracht ohne Sinn und Zusammenhang. Die Stadt Alençon hielt sich vierzehn Tage lang über diesen Luxus auf, der unerhört schien; dann einige Monate später war sie stolz darauf, und mehrere reiche Fabrikanten erneuerten ihr Mobiliar und richteten sich neue Salons ein. In der Stadt kamen moderne Möbel auf. Man sah Astrallampen! Der Abbé de Sponde kam als erster hinter die heimlichen Leiden, die diese Ehe in das Leben seiner geliebten Nichte bringen sollte. Der Charakter edler Einfachheit, der ihr gemeinsames Dasein ausgezeichnet hatte, ging im ersten Winter verloren, währenddessen Du Bousquier im Monat zwei Bälle gab. In diesem gottesfürchtigen Hause sollten Violine und die profane Musik weltlicher Feste ertönen! Der Abbé lag betend auf den Knien, solange die Belustigung dauerte. Dann wurde das politische System dieses ernsten Salons langsam umgewandelt. Der Großvikar durchschaute Du Bousquier: er zitterte vor seinem herrischen Ton, er sah Tränen in den Augen seiner Nichte, als sie die Verfügung über ihr Vermögen aufgeben mußte und ihr Mann ihr nur noch die Verwaltung über die Wäsche, den Tisch und die Dinge ließ, die das Gebiet der Frauen sind. Rose hatte keine Befehle mehr zu erteilen. Einzig der Wille des Hausherrn war entscheidend für Jacquelin, der ausschließlich Kutscher geworden war, für René, den Groom, für einen Küchenchef, den man aus Paris hatte kommen lassen, denn Mariette war nur noch Küchenmädchen. Madame du Bousquier hatte nur noch Josette zu regieren. Weiß man, wie schwer es ist, auf die köstlichen Gewohnheiten der Macht zu verzichten? Wenn der Triumph des Willens für große Männer ein berauschendes Vergnügen ist, so ist er für beschränkte Geschöpfe das ganze Leben. Man muß Minister gewesen und in Ungnade gefallen sein, um den herben Schmerz der Madame du Bousquier zu ermessen, da sie zum vollständigsten Helotentum herabsank. Sie mußte oft spazierenfahren, wenn sie keine Lust dazu hatte, Leute bei sich zu sehen, die ihr nicht gefielen; sie hatte ihr liebes Geld nicht mehr unter sich, sie, die hatte ausgeben können, soviel sie wollte, und gar nichts ausgegeben hatte. Jede festgezogene Grenze flößt den Wunsch ein. sie zu überschreiten. Die heftigsten Leiden kommen davon, daß man den freien Willen unterbindet. Doch waren diese Anfänge noch glücklich. Jedes Zugeständnis an die Autorität des Gatten wurde der armen Frau von ihrer Liebe zu ihm diktiert. Du Bousquier benahm sich anfangs ausgezeichnet zu seiner Gattin; er war liebenswürdig, gab ihr für jeden netten Eingriff einleuchtende Gründe. Das lang verödete Schlafzimmer widerhallte am Abend von den Gesprächen der beiden Gatten am Kamin. Während der ersten, zwei Jahre ihrer Ehe erschien Madame du Bousquier sehr zufrieden. Sie hatte die ungezwungene, etwas verschmitzte Miene, die man bei jungen Frauen, die eine Liebesheirat gemacht haben, trifft. Das Blut setzte ihr nicht mehr zu. Diese Haltung verwirrte die Spötter, dementierte die Gerüchte, die über die Bousquier im Umlauf waren, und machte die Beobachter des menschlichen Herzens stutzig. Rose-Marie-Victoire fürchtete so sehr, die Liebe ihres Mannes und seines Gesellschaft zu verlieren, wenn sie ihm mißfiele oder Anstoß bei ihm erregte, daß sie ihm alles geopfert hätte, selbst ihren Onkel. Die kleinen nichtigen Freuden Madame de Bousquiers täuschten den Abbé, der seine persönlichen Bekümmernisse leichter trug in dem Gedanken, daß seines Nichte glücklich sei: Alençon dachte anfangs wie der Abbé. Aber da war ein Mann, der war schwerer zu täuschen ;als die ganze Stadt. Der Chevalier de Valois, der auf den heiligen Berg der hohen Aristokratie geflüchtet war, verbrachte sein Leben bei den d'Esgrignon. Er hörte die Klatschereien und üblen Nachreden und dachte Tag und Nacht, daß er nicht sterben dürfe, bevor er sich gerächt habe. Es hatte dem Mann mit den Witzen einen Schlag versetzt, er wollte Du Bousquier mitten ins Herz treffen. Der arme Abbé sah, in welche Niederträchtigkeit seine Nichte durch ihre erste und letzte Liebe hineinkam; er schauderte, als sich ihm die heuchlerische Natur seines Neffen enthüllte und er sein hinterlistiges Getriebe durchschaute. Obwohl Du Bousquier sich bei dem Gedanken an die Erbschaft seines Onkels zusammennahm und ihm keinen Verdruß bereiten wollte, fügte er ihm doch eine letzte Kränkung zu, die ihn ins Grab brachte. Wenn man das Wort ›Intoleranz‹ durch das Wort ›Prinzipientreue‹ ersetzt, wenn man einsieht, daß der Stoizismus, den man beispielsweise bei Walter Scott an der puritanischen Seele des Vaters Jeanie Deans bewundert, in der katholischen Seele des ehemaligen Großvikars nicht zu verdammen ist; wenn man das ›Pontius mori quam foedari‹, das immer in der republikanischen Gesinnung groß erscheint, in der römischen Kirche anerkennt, dann wird man begreifen, welchen Schmerz es dem Abbé de Sponde bereiten mußte, als er in dem Salon seines Neffen den abtrünnigen, rückfälligen, ketzerischen Priester, den Feind der Kirche, den Verfechter des Eides auf die Verfassung sah. Du Bousquier, dessen geheimer Ehrgeiz es war, das Land zu regieren, wollte zum ersten Pfande seiner Macht den Vikar von Saint Léonard mit dem Stadtpfarrer versöhnen, und er erreichte sein Ziel. Seine Frau glaubte ein Werk des Friedens zu tun, da, wo der unwandelbare Abbé nur Verrat sah. Der Abbé de Sponde sah sich in seinem Glauben vereinsamt. Der Bischof kam zu Du Bousquier und zeigte sich zufrieden über das Aufhören der Feindseligkeiten. Die Tugenden des Abbé François hatten alles besiegt, nur nicht den römischen Katholiken, der mit Corneille hätte ausrufen können: »Mein Gott, wie viele Tugend machst du mir verhaßt! Der Abbé starb, als die Orthodoxie in der Diözese erlosch.

Im Jahre 1819 hatte das Erbteil des Abbé de Sponde die territorialen Einkünfte Madame du Bousquiers auf fünfundzwanzigtausend Livres gebracht, ohne Le Prebaudet und das Haus des Val-Noble zu rechnen. Um diese Zeit war es, daß Du Bousquier seiner Frau das Kapital der Ersparnisse, die sie ihm eingehändigt hatte, zurückgab; sie sollte es zur Erwerbung der an Le Prebaudet angrenzenden Ländereien verwenden, wodurch dieses Besitztum eins der beträchtlichsten des Departements wurde; denn die Güter, die dem Abbé de Sponde gehört hatten, stießen gleichfalls an Le Prebaudet. Niemand wußte, wie groß das private Vermögen Du Bousquiers war; er hatte seine Kapitalien bei den Kellers in Paris angelegt, wohin er vier Reisen im Jahre machte. Doch zu dieser Zeit galt er als der reichste Mann im Departement L'Orne, Dieser geschickte Mann, der ewige Kandidat der Liberalen, dem stets sieben oder acht Stimmen in allen unter der Restauration gelieferten Wahlschlachten fehlten und der, als er sich als royalistischer Ministerieller wählen lassen wollte, wobei es ihm nicht gelang, den Widerwillen der Regierung zu überwinden, obgleich ihm die Kongregation und der Magistrat zur Seite standen, die Liberalen nach außen hin schmähte; dieser haßerfüllte, rasend ehrgeizige Republikaner beschloß im Augenblick, wo sie siegreich waren, mit dem Royalismus und der Aristokratie im Lande zu kämpfen. Du Bousquier stützte sich mittels einer gut gespielten Frömmigkeit auf die Priesterschaft: er begleitete seine Frau in die Kirche, er gab Geld für die Klöster der Stadt, unterstützte die Brüderschaft vom Heiligen Herzen und sprach sich bei allen Gelegenheiten, wo die Geistlichkeit gegen die Stadt, das Departement oder den Staat kämpfte, für die Geistlichkeit aus. Von den Liberalen heimlich gehalten, von der Geistlichkeit beschützt, nach außen konstitutioneller Royalist, stand er stets der Aristokratie zur Seite, um sie zu ruinieren, und es gelang ihm. Immer aufmerksam auf die Fehler, die die Regierung und die Adelsspitzen begingen, führte er mit Hilfe der Bourgeoisie alle Verbesserungen aus, die der Adel, die Pairs und das Ministerium vorschlugen und in die Wege leiteten und die sie infolge der albernen Eifersucht der Mächtigen in Frankreich wieder verdarben. Die konstitutionelle Partei behielt die Oberhand in der Sache des Pfarrers, in der Errichtung des Theaters, in allen Fragen der Vergrößerung, die Du Bousquier vorausgesehen hatte und die er von der liberalen Partei, zu der er sich gesellte, wenn die Debatten ihren Höhepunkt erreichten, um das Wohl des Landes zu verfechten, vorschlagen ließ. Du Bousquier führte in das Departement die Industrie ein. Er beschleunigte das Aufblühen der Provinz, den Familien zum Trotz, die an der Route de Bretagne wohnten. Er bereitete so seine Rache gegen die Besitzer von Schlössern vor, besonders gegen die d'Esgrignon, denen er eines Tages einen giftigen Dolch in die Brust stoßen wollte. Er gab Summen, um die Spitzenmanufaktur von Alençon zu fördern; er belebte den Leinenhandel, die Stadt bekam eine Weberei. Indem er sich so mit allen Interessen befaßte und ins Herz der Massen einschrieb, indem er tat, was das Königtum unterließ, riskierte er keinen roten Heller. Von seinem großen Vermögen gestützt, konnte er die Realisierung abwarten, die unternehmende, aber in ihren Bewegungen durch Geldmangel gehemmte Leute so oft glücklichen Nachfolgern überlassen müssen. Er machte sich zum Bankier. Dieser Laffitte im kleinen schoß Geld zu allen neuen Erfindungen vor, verschaffte sich aber vorher Sicherheiten. Er machte sehr gute Geschäfte bei seinen Bemühungen um das öffentliche Wohl; er rief die Versicherungsgesellschaften ins Leben, war der Protektor der neuen Unternehmungen für öffentliche Verkehrsmittel; er veranlaßte die Petitionen an die Regierung zur Erlangung der nötigen Straßen und Brücken. Da er der Regierung also zuvorkam, erblickte sie darin einen Eingriff in ihre Machtsphäre. Die Kämpfe entspannen sich für sie zur Unzeit, denn das Wohl des Landes erforderte es, daß die Behörde nachgab. Du Bousquier brachte den Adel der Provinz gegen den Adel des Hofes und die Pairs auf. Schließlich bewerkstelligte er den erschreckenden Beitritt eines ansehnlichen Teils der konstitutionellen Royalisten zu dem Kampf, den das ›Journal des Debats‹ und Monsieur de Chateaubriand gegen den Thron führten, einer undankbaren Opposition, die auf schimpflichen Interessen beruhte und eine der Ursachen des Sieges der Bourgeoisie und des Journalismus im Jahre 1830 war. So hatten Du Bousquier und seine Partei das Glück, das Leichenbegängnis des Königtums, das keinerlei Sympathiekundgebung hervorrief, mit anzusehen, denn die Provinz war aus vielerlei hier unvollkommen aufgeführten Ursachen längst von ihm abgefallen. Der alte Republikaner, der so viele Messen auf dem Buckel und fünfzehn Jahre Komödie gespielt hatte, um seine Vendetta zu befriedigen, riß selbst auf dem Rathaus unter dem Beifall der Menge die weiße Fahne herunter. Kein Mann in Frankreich warf auf den im August des Jahres 1830 errichteten neuen Thron einen so berauschten Blick freudiger Rache. Für ihn war die Thronbesteigung des jüngeren Zweiges der Sieg der Revolution. Für ihn war der Sieg der Trikolore die Wiederauferstehung des Berges, der diesmal den Adel durch ein sichereres Mittel als das der Guillotine niedermachen würde, weil es ein weniger gewaltsames war. Die Pairswürde ohne Erblichkeit, die Nationalgarde, die den Krämer von der Ecke und den Marquis auf das nämliche Feldbett wirft, die Abschaffung der Majorate, die ein bürgerlicher Advokat verlangte, die ihrer Oberherrschaft beraubte katholische Kirche, alle gesetzgebenden Neuerungen vom August 1830 waren für Du Bousquier die kunstgerechteste Anwendung der Prinzipien von 1793. Seit l830 ist dieser Mann Obersteuereinnehmer. Er stützte sich, um weiter zu kommen, auf seine Verbindung zum Duc d'Orleans, dem Vater des Königs Louis-Philippe, und mit Monsieur de Folmon, dem ehemaligen Intendanten der verwitweten Duchesse d'Orleans. Man schätzt ihn auf achtzigtausend Livres Rente. In den Augen seines Landes ist Monsieur du Bousquier ein vortrefflicher, achtbarer Mann von unerschütterlichen Grundsätzen, makellos, von verbindlichem Wesen. Alençon verdankt ihm seinen Anschluß an die industrielle Bewegung, die es zum ersten Glied einer Kette, die die Bretagne vielleicht eines Tages mit dem, was man die moderne Zivilisation nennt, verbinden wird. Alençon, das im Jahre 1816 keine zwei eigenen Wagen besaß, sah zehn Jahre später, ohne sich darüber zu verwundern, Kaleschen, Coupés, Landauer, Kabrioletts und Tilburys durch seine Straßen rollen. Die Bürger und Grundbesitzer, die zuerst voll Schrecken darüber waren, daß die Preise in die Höhe gingen, sahen später ein, daß diese Preiserhöhung eine finanzielle Rückwirkung in ihren Einkünften hatte. Das prophetische Wort des Präsidenten Du Ronceret: »Du Bousquier ist ein Mann von Bedeutung!« wurde von der ganzen Gegend übernommen. Aber unglücklicherweise hat dieser Satz für seine Frau eine schreckliche Kehrseite. Der Ehemann gleicht in nichts dem Mann der Öffentlichkeit, dem Politiker. Dieser treffliche Bürger, so liberal nach außen, so gutmütig, von soviel Liebe für sein Land beseelt, ist zu Hause ein Despot und ohne Spur von ehelicher Liebe. Dieser so tief verschlagene, heuchlerische und schlaue Mann, dieser Cromwell des Val-Noble, benimmt sich in seinem Hause, wie er sich gegen die Aristokratie benahm, die er liebkoste, um sie zu erdrosseln. Wie sein Freund Bernadotte zog er einen samtenen Handschuh über seine Hand aus Eisen. Seine Frau schenkte ihm keine Kinder. Die Aussage Suzannes, die Andeutungen des Chevaliers trafen also zu. Aber die liberale Bourgeoisie, die konstitutionell royalistische Bourgeoisie, der Landadel, die Stadtverwaltung und die »Priesterpartei, wie sie der ›Constutionnel‹ nannte, gaben Madame du Bousquier die Schuld. »Monsieur du Bousquier habe sie geheiratet, als sie schon zu alt war!« sagte man. Außerdem, welch Glück für die Arme, denn in ihrem Alter ist es so gefährlich, Kinder zu bekommen! Wenn Madame du Bousquier unter Tränen Madame Coudrai oder Madame du Ronceret ihre periodische Bekümmernis klagte, sagten diese Damen: »Was fällt Ihnen ein, meine Liebe, Sie wissen nicht, was Sie wünschen; ein Kind wäre Ihr Tod!«

Viele Männer, die wie Coudrai ihre Hoffnungen auf den Sieg Du Bousquiers setzten, ließen durch ihre Frauen sein Lob verkünden. Man versetzte der armen Person so grausame Reden wie: »Sie können von Glück sagen, daß Sie einen so tüchtigen Mann bekommen haben! Ihnen wird es nicht so gehen wie andern Frauen, die Waschlappen zu Männern haben, unfähig, ihre Interessen wahrzunehmen und die Kinder anzuleiten.«

»Ihr Mann macht Sie zur ersten Frau des Landes! Mit dem sind Sie nicht angeführt: der regiert ganz Alençon.«

»Aber es wäre mir lieber«, erwiderte die arme Madame, »daß er sich weniger um die öffentlichen Angelegenheiten kümmerte und ...«

»Sie sind schwer zu befriedigen, liebe Madame du Bousquier, alle Frauen beneiden Sie um Ihren Mann.«

So von aller Welt falsch beurteilt, die anfing, sie ins Unrecht zu setzen, fand sie, als Christin, in ihrem Innern die Kraft, ihre Tugenden zu entfalten. Sie verbrachte ihr Leben in Tränen und zeigte der Welt stets eine ruhige Außenseite.

War es für ein frommes Gemüt nicht ein Verbrechen daß ihr der Gedanke fortwährend das Herz zernagte: ›Ich liebte den Chevalier de Valois, und ich bin die Frau Du Bousquier!‹ Die Liebe von Athanase bereitete ihr auch Gewissensbisse und verfolgte sie in ihren Träumen. Der Tod ihres Onkels, dessen Besorgnisse zur Wahrheit geworden waren, machte ihr die Zukunft noch trüber, denn sie mußte immer denken, welcher Kummer es für ihren Onkel gewesen wäre, den Umschwung der politischen und religiösen Überzeugung des Hauses Cormon zu sehen. Oft bricht das Unglück mit der Geschwindigkeit des Blitzes herein wie bei Madame Granson; bei der alten Jungfer breitete es sich wie ein Tropfen Öl aus, der langsam den ganzen Stoff durchtränkt.

Der Chevalier de Valois war der arglistige Schmied des Unglücks der Madame du Bousquier. Es lag ihm am Herzen, ihr die Schuppen von den Augen fallen zu lassen; denn der in Liebesdingen so erfahrene Chevalier durchschaute den verheirateten Du Bousquier, wie er den Junggesellen durchschaut hatte. Doch der tiefgründige Republikaner war nicht so leicht zu fassen: sein Salon war dem Chevalier de Valois natürlich verschlossen, wie all denen, welche in den ersten Tagen seiner Ehe das Haus Cormon verleugnet hatten. Überdies war er über die Lächerlichkeit erhaben, er besaß ein ungeheures Vermögen, er herrschte in Alençon, seine Frau kümmerte ihn gerade so viel, wie es Richard III. gekümmert hätte, das Pferd krepieren zu sehen, mit dessen Hilfe er die Schlacht gewonnen. Ihrem Manne zu Gefallen hatte Madame du Bousquier mit dem Hause d'Esgrignon gebrochen; sie ging nicht mehr hin; doch wenn ihr Mann sie bei seinen Reisen nach Paris allein ließ, machte sie Mademoiselle Armande einen Besuch. Zwei Jahre nach ihrer Heirat, beim Tod des Abbé de Sponde, redete Mademoiselle Armande Madame du Bousquier an, als sie Saint-Léonard, wo sie eine Totenmesse für den Abbé gehört hatte, verließ. Das. großmütige Mädchen glaubte der trauernden Erbin bei dieser Gelegenheit etwas Tröstliches sagen zu müssen. Sie gingen zusammen im Gespräch über den teuren Entschlafenen von Saint-Léonard auf den Korso, und vom Korso erreichten sie das Madame du Bousquier verbotene Haus d'Esgrignon, in das Mademoiselle Armande sie durch die gewinnende Unterhaltung hineinzog. Die arme betrübte Frau fand einen Trost darin, mit einem Menschen über ihren Onkel zu reden, der diesem so nahegestanden hatte. Auch wollte sie die Begrüßung des alten Marquis, den sie schon drei Jahre nicht mehr gesehen hatte, entgegennehmen. Es war halb zwei Uhr. sie traf den Chevalier de Valois, der zu Tisch da war und der zum Gruß ihre beiden Hände nahm.

»Nun, verehrungswürdige, geliebte Madame«, sagte er mit bewegter Stimme, »wir haben unsern gottergebenen Freund verloren; wir teilen Ihre Trauer, ja Ihr Verlust wird hier ebenso tief gefühlt wie bei Ihnen zu Hause ... mehr noch«, fügte er mit einer Anspielung auf Du Bousquier hinzu.

Nach einigen Beileidsbezeigungen, die jeder heruntersagte, nahm der Chevalier galant den Arm von Madame du Bousquier, legte ihn auf den seinen, drückte ihn zärtlich und führte sie in eine Fensternische.

»Sind Sie wenigstens glücklich?« fragte er mit väterlichem Ton.

»Ja«, erwiderte sie und senkte den Blick.

Bei diesem ›Ja‹ gesellten sich Madame de Troisville, die Tochter der Fürstin Scherbeloff, und die alte Marquise de Castéran, von Mademoiselle Armande begleitet, zum Chevalier. Alle gingen bis zum Mittagessen in den Garten, und Madame du Bousquier, von ihrem Schmerz ganz betäubt, merkte nicht, daß die Damen und der Chevalier es auf eine kleine Verschwörung der Neugierde angelegt hatten. ›Wir haben sie, nun wollen wir die Lösung des Rätsels wissen!‹ stand in den Blicken geschrieben, die diese sich zuwarfen.

»Damit Ihr Glück vollständig würde, müßten Sie Kinder haben, einen schönen Knaben wie meinen Neffen ...« meinte Mademoiselle Armande.

Madame du Bousquier kamen Tränen in die Augen.

»Ich habe sagen hören, daß Sie in dieser Sache der einzig schuldige Teil sind, daß Sie vor einer Schwangerschaft Angst haben«, meinte der Chevalier.

»Ich!« rief sie naiv, »ich würde hundert Jahre Hölle hinnehmen, wenn ich nur dadurch ein Kind erkaufen könnte!«

Nachdem diese Frage angeschnitten war, entspann sich eine Unterhaltung, die von der Vicomtesse de Troisville und der alten Marquise de Castéran mit großer Geschicklichkeit geführt wurde. Sie umstrickten die arme Frau derart, daß sie, ohne es gewahr zu werden, alle Geheimnisse ihrer Ehe preisgab, Mademoiselle Armande hatte den Arm des Chevaliers genommen und sich mit ihm entfernt, damit die drei Frauen über die Ehe plaudern konnten, Madame du Bousquier wurden dann über die tausend Enttäuschungen ihrer Ehe die Augen geöffnet, und da sie dumm war wie zuvor, amüsierte sie ihre Vertrauten durch köstliche Naivitäten. Obwohl die taube Ehe der ehemaligen Mademoiselle Cormon im ersten Augenblick die ganze Stadt belustigte, die bald in die Mühen Du Bousquiers eingeweiht wurde, gewann sich Madame du Bousquier trotzdem die Achtung und die Sympathie aller Frauen. Solange Mademoiselle Cormon auf eine Heirat Jagd gemacht hatte, ohne daß es ihr geglückt war, machte sich jeder über sie lustig; doch als man sah, in welche besondere Lage sie die Strenge ihrer religiösen Prinzipien versetzte, bewunderte man sie. Aus der ›guten Mademoiselle Cormon‹ wurde die ›arme Madame du Bousquier‹. Der Chevalier machte so Du Bousquier allerdings für einige Zeit verhaßt und lächerlich, aber schließlich nahm die Lächerlichkeit ab; und nachdem jeder seinem Witz über ihn freien Lauf gelassen hatte, erschöpfte sich die Klatschsucht. Dann schien der geschwächte Republikaner, da er schon siebenundfünfzig Jahre zählte, vielen auch ein Recht auf den Ruhestand zu haben. Diese Begebenheit aber verschärfte den Haß, den Du Bousquier gegen das Haus d'Esgrignon hegte, bis zu einem Grade, daß er ihn am Tage der Rache unerbittlich machte. Madame du Bousquier erhielt den Befehl, niemals wieder den Fuß in dieses Haus zu setzen. In Wiedervergeltung des Streichs, den der Chevalier ihm gespielt hatte, ließ er in den ›Courrier de l'Orne‹, den er kurz vorher gegründet hatte, die folgende Anzeige einrücken:

›Diejenige Person, die die Existenz eines gewissen Monsieur de Pombreton vor, während oder nach der Emigration nachweisen kann, erhält eine jährliche Rente von tausend Francs.‹

Obwohl die Ehe von Madame du Bousquier im wesentlichen negativer Natur war, erblickte sie darin doch Vorteile: war es nicht besser, für den bedeutendsten Mann der Stadt zu sorgen, als allein zu leben? Du Bousquier war immerhin den Hunden, Katzen, Zeisigen vorzuziehen, an die die alten Jungfern ihr Herz hängen; er brachte seiner Frau doch wenigstens ein reelleres und weniger eigennütziges Gefühl entgegen als die Dienstboten, die Beichtväter und die Erbschleicher. Späterhin sah sie in ihrem Mann das Werkzeug göttlichen Zornes, denn in ihrer Sehnsucht nach der Ehe erkannte sie unzählige Sünden; sie erhielt nun die gerechte Strafe für das Unglück Madame Gransons, das sie verschuldet hatte, und den vorzeitigen Tod ihres Onkels. Der Religion gehorsam, die befiehlt, die Rute zu küssen, die einen züchtigt, pries sie ihren Man und lobte ihn öffentlich, jedoch im Beichtstuhl oder des Abends beim Gebot weinte sie oft und flehte zu Gott um Vergebung für die Abtrünnigkeit ihres Mannes, der das Gegenteil von dem dachte, was er sagte, der der Aristokratie und der Kirche, den beiden Religionen des Hauses Cormon, den Tod wünschte. Alle ihre Gefühle waren zertreten und hingeopfert worden; doch die Pflicht zwang sie, ihrem Mann ein glückliches Los zu bereiten, ihm nichts in den Weg zu legen, und eine unerklärliche Zuneigung, die vielleicht die Gewohnheit gezeitigt hatte, band sie an ihn: so war ihr ganzes Leben zum dauernden Widersinn geworden. Sie hatte einen Mann geheiratet, dessen Führung und Gesinnungen ihr ein Greuel waren, um den sie jedoch in ständiger Sorgfalt bemüht sein sollte. Oft war sie im siebenten Himmel, wenn Du Bousquier ihr Eingemachtes oder das Essen schmeckte; sie wachte darüber, daß seine kleinsten Wünsche befriedigt wurden. Wenn er das Kreuzband seiner Zeitung auf dem Tisch liegen ließ, anstatt es wegzuwerfen, sagte sie: »Lassen Sie es, René, Monsieur hat es nicht ohne Absicht hingelegt!«

Ging Du Bousquier auf Reisen, so kümmerte sie sich um seinen Mantel, seine Wäsche; sein materielles Wohlsein beschäftigte sie bis ins kleinste. Wenn er nach Le Prébaudet fuhr, studierte sie das Barometer schon am Abend vorher, um zu sehen, ob das Wetter schön würde. Sie suchte aus seinem Blick seinen Willen zu erraten, wie ein Hund, der auch im Schlaf seinen Herrn hört und sieht. Wenn der dicke Du Bousquier, von dieser befohlenen Liebe besiegt, sie um die Taille faßte, auf die Stirn küßte und sagte: »Du bist eine gute Frau!«, traten dem armen Geschöpf Freudentränen in die Augen. Vielleicht, daß sich Du Bousquier zu einer Entschädigung, die ihm die Achtung von Rose-Marie-Victoire verschaffen sollte, verpflichtet glaubte, denn die katholische Tugend befiehlt keine so vollkommene Verstellung, wie die von Madame du Bousquier war. Wenn aber die gottesfürchtige Frau manchmal die Reden mit anhörte, die haßerfüllte Leute, die sich hinter die konstitutionellen Meinungen versteckten, in ihrem Hause hielten, blieb sie stumm. Sie schauderte, wenn sie den Untergang der Kirche voraussah; manchmal wagte sie ein dummes Wort, eine Bemerkung, die Du Bousquier mit einem Blick entzweischnitt. Der Widerstreit einer derart hin und her gezerrten Existenz machte Madame du Bousquier schließlich ganz stumpfsinnig; sie fand es einfacher und würdiger, ihre Intelligenz ganz nach innen zu kehren, ohne Proben davon zu geben, und war es zufrieden, ein rein animalisches Dasein zu führen. Sie zeigte eine sklavische Unterwürfigkeit und hielt es für ein verdienstliches Werk, daß sie die Erniedrigung, in die ihr Mann sie versetzte, hinnahm. Der Gehorsam, den sie ihrem Mann leistete, entlockte ihr nie das geringste Murren. Dieses furchtsame Schaf wandelte fürderhin auf den Wegen, die der Hirte ihm vorzeichnete. Sie verließ nicht mehr den Schoß der Kirche, widmete sich ganz den strengsten religiösen Übungen und entsagte Satan und seinen weltlichen Freuden und Werken. So bot sie die Vereinigung der reinsten christlichen Tugenden in ihrer Person, und Du Bousquier wurde sicherlich einer der glücklichsten Männer des Königreichs Frankreich und Navarra.

»Sie bleibt einfältig bis zu ihrem letzten Atemzuge«, sagte der seines Postens enthobene grausame Vorsteher des Hypothekenamts, der aber trotzdem in der Woche zweimal bei ihnen zu Tisch war.

Diese Geschichte bliebe seltsam unvollkommen, wenn man nicht des seltsamen Zusammentreffens des Todes des Chevaliers de Valois mit dem Tode von Suzannes Mutter Erwähnung tun würde. Der Chevalier starb zugleich mit der Monarchie im August 1830. Er gesellte sich zu dem Gefolge Karls X. in Nonancourt und begleitete den König ehrerbietig mit allen Troisville, den Castéran, den Verneuil usw. bis Cherbourg. Der alte Edelmann hatte fünfzigtausend Francs, zu welcher Summe seine Ersparnisse und der Wert der Rente angewachsen waren, mit sich genommen; er gab sie mit dem Hinweis auf seinen baldigen Tod einem der Getreuen seines Herrn, der sie dem König mit den Worten einhändigen sollte, daß dieses Geld von der Güte Seiner Majestät herrührt und daß der Besitz des letzten der Valois der Krone gebühre. Man weiß nicht, ob diese inbrünstige Beflissenheit das Widerstreben des Bourbonen bezwang, der sein schönes Königreich ohne einen Sou verließ und den die Hingebung des Chevaliers doch wohl rühren mußte; sicher ist, daß Cesarine, die Universalerbin des Monsieur de Valois, kaum sechshundert Livres Rente erhielt. Der Chevalier kehrte, von Schmerz und Erschöpfung überwältigt, nach Alençon zurück, und er starb, als Karl X. den Boden des Exils betrat.

Madame du Val-Noble und ihr Beschützer, der im jener Zeit die Rache der liberalen Partei fürchtete, waren froh, einen Vorwand zu haben, um inkognito in das Dorf kommen zu können, wo Suzannes Mutter starb. Bei der Versteigerung, die nach dem Hinscheiden des Chevaliers de Valois abgehalten wurde, trieb Suzanne, die ein Andenken von ihrem ersten guten Freund zu haben wünschte, den Preis der Tabaksdose auf die enorme Summe von tausend Francs. Das Porträt der Prinzessin Goritza war schon allein so viel wert. Zwei Jahre später erlangte ein junger Stutzer, der sich eine Sammlung der schönsten Tabaksdosen des letzten Jahrhunderts angelegt hatte, von Suzanne die des Chevaliers, die sich durch eine wunderschöne Form auszeichnete. Das Kleinod, das der Vertraute der ritterlichsten Liebe und der Trost eines alten Mannes gewesen war, fand nunmehr seinen Platz in einer Art Privatmuseum. Wenn die Toten wissen könnten, was nach ihrem Ableben geschieht, so müßte die linke Seite des Chevaliers in diesem Augenblick erröten.

Wenn diese Geschichte nur die Wirkung hätte, den Besitzern teurer Reliquien einen frommen Schauder einzuflößen, so daß sie in einer Testamentsklausel über den Verbleib kostbarer Erinnerungszeichen eines vergangenen Glücks die Bestimmung treffen, sie nur in brüderliche Hände gelangen zu lassen, so würde sie dem romantischen, zu Herzensabenteuern neigenden Teil des Publikums schon einen großen Dienst erweisen; aber sie enthält noch eine höhere Moral... Tut sie nicht die Notwendigkeit einer Reform des Unterrichts dar? Ruft sie nicht förmlich das Einschreiten eines aufgeklärten Unterrichtsministeriums zur Errichtung von Lehrstühlen für Anthropologie an, einer Wissenschaft, in der uns Deutschland schon überholt hat? Die modernen Mythen sind noch schwerer zu verstehen als die Mythen des Altertums, obwohl man uns mit Mythen überhäuft. Die Mythen bedrängen uns von allen Seiten, sie sind zu allem nütze, erklären alles. Wenn sie, wie die humanistische Schule behauptet, die Fackeln der Geschichte sind, so werden sie die Reiche vor jeder Revolution bewahren, wenn nur die Professoren der Geschichte die Erklärungen, die sie von ihnen geben, bis in die Volksmassen der Departements dringen lassen. Wäre Mademoiselle Cormon in der Literatur bewandert gewesen, hätte es in dem Departement de l'Orne einen Professor der Anthropologie gegeben, hätte sie Ariost gelesen, wäre es dann wohl zu all dem Ungemach ihres Ehelebens gekommen? Sie hätte dann vielleicht zu ergründen gesucht, warum der italienische Dichter uns zeigt, wie Angelika den Medor, der ein blonder Chevalier de Valois ist, dem Roland, dessen Roß umgekommen und der nur rasen konnte, vorzog. Kann Medor nicht als die mythische Gestalt der Höflinge des weiblichen Königtums gelten und Roland als der Mythus der zügellosen, rasenden, kraftlosen Revolutionen, die alles zerstören, ohne etwas zu zeugen? Wir sprechen hier, ohne die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen, die Meinung eines Schülers von Ballanche aus.

Keine Kunde ist über die kleinen Diamant-Negerköpfe zu uns gedrungen. Man kann Madame du Val-Noble heute in der Oper sehen. Dank ihrer ersten Erziehung durch den Chevalier de Valois kann man sie beinahe für eine Dame der guten Gesellschaft halten, während sie doch nur eine Dame zur guten Gesellschaft ist.

Madame du Bousquier lebt noch immer; heißt dies nicht, daß sie noch immer leidet? Als sie sechzig Jahre alt wurde, zu einem Zeitpunkt also, wo die Frauen es sich gestatten, Geständnisse zu machen, sagte sie zu Madame Coudrai, deren Mann im August 1830 seinen Posten wiedererlangte, sie ertrüge den Gedanken nicht, als Jungfrau zu sterben.

Paris, Oktober 1836


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