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Die Leiden des Erfinders

Am Tage darauf ließ Lucien seinen Paß beglaubigen, kaufte sich einen Stock und nahm an dem Platz bei der Rue d'Enfer einen Torwagen, der ihn für zehn Sous nach Longjumeau fuhr. In der ersten Nacht schlief er im Stall eines Pachthofes zwei Meilen von Arpajon. Als er Orleans erreicht hatte, war er schon sehr schlaff und hinfällig; aber ein Schiffer fuhr ihn für drei Franken nach Tours, und während der Fahrt brauchte er für seine Nahrung nicht mehr als zwei Franken. Von Tours nach Poitiers ging Lucien fünf Tage. Ein gutes Stück hinter Poitiers besaß er nur noch hundert Sous, aber er nahm seine letzte Kraft zusammen, um weiterzugehen. Einmal wurde er auf einer weiten Ebene von der Nacht überrascht und beschloß eben, die Nacht im Freien zuzubringen, als er am Ende eines Hohlweges eine Kalesche bemerkte, die den Hügel heraufkam. Ohne daß der Postillion, die Reisenden und ein Kammerdiener, der auf dem Bock saß, es merkten, konnte er sich hinten zwischen zwei Koffer verstecken, setzte sich so, daß die Stöße des Wagens ihn möglichst wenig trafen, und schlief ein. Als ihn am Morgen die Sonne, die auf seine Augen fiel, und eine laute Stimme weckten, sah er, daß er in Mansle war, in dem Städtchen, in dem er vor anderthalb Jahren, das Herz voller Liebe, Hoffnung und Freude, auf Frau von Bargeton gewartet hatte. Er sah sich mit Staub bedeckt und Neugierige und Postillione um sich herumstehen und merkte, daß er entdeckt war; er sprang auf die Füße und wollte eben etwas sagen, als zwei Reisende, die aus der Kalesche gestiegen waren, ihm das Wort abschnitten: er sah den neuen Präfekten der Charente, den Grafen Sixtus du Châtelet, und seine Frau Louise von Nègrepelisse.

»Wenn wir gewußt hätten, welchen Reisegefährten der Zufall uns gegeben hat ...« sagte die Gräfin. »Wollen Sie nicht zu uns einsteigen?«

Lucien grüßte das Paar kühl und warf ihm einen zugleich schüchternen und drohenden Blick zu; dann entfernte er sich auf einem Seitenwege, der aus Mansle hinausführte. Er wollte einen Bauernhof suchen, wo er Brot und Milch zum Frühstück bekommen, sich ausruhen und in Ruhe über seine Zukunft nachdenken konnte. Er besaß noch drei Franken. Der Dichter der Margueriten lief, vom Fieber vorwärts getrieben, noch lange; er wanderte den Fluß entlang talabwärts und betrachtete die Landschaft, die immer malerischer wurde. Gegen Mittag erreichte er eine Stelle, wo der breite Wasserspiegel eine Art von Weiden umgebenen See bildete. Er verweilte, um dieses dichte, erfrischende Wäldchen zu betrachten, dessen ländliche Anmut seine Seele bewegte. Zwischen den Wipfeln gewahrte er das Strohdach eines Hauses, das neben einer Mühle an einem Arm des Flusses gelegen war. Als einziger Schmuck standen einige Büsche Jasmin, Geißblatt und Hopfen davor, und ringsherum wuchs blühender Phlox. Auf dem Mauerwerk, das die Straße vor dem Hochwasser zu schützen bestimmt war, sah er Netze in der Sonne liegen. In dem klaren Teich neben der Mühle, der zwischen den beiden Wasserläufen lag, die brausend die Räder trieben, schwammen Enten. Die Mühle klapperte. Auf einer ländlichen Bank sah der Dichter eine behäbige Frau sitzen, die strickte und auf ein Kind achtgab, das die Hühner neckte.

»Gute Frau,« sagte Lucien und trat näher, »ich bin sehr müde, habe das Fieber und besitze nur noch drei Franken; wollen Sie mich eine Woche lang auf dem Stroh schlafen lassen und mir Schwarzbrot und Milch geben? Mittlerweile kann ich meinen Verwandten schreiben, die mir Geld schicken oder mich hier abholen.«

»Gern,« sagte sie, »falls mein Mann will. He, Mann, komm doch mal her!«

Der Müller kam heraus, sah Lucien an, nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte: »Drei Franken für eine Woche? Wir werden Ihnen gar nichts abnehmen.«

»Vielleicht werde ich schließlich noch Müllerknecht«, sagte der Dichter zu sich selbst, als er, ehe er sich in das Bett legte, das ihm die Müllerin bereitet hatte, die entzückende Landschaft betrachtete. Dann schlief er und schlief so lange, daß seine Wirte ängstlich wurden.

»Courtois, sieh doch nach, ob der junge Mann tot oder lebendig ist; es sind jetzt vierzehn Stunden, daß er sich hingelegt hat, ich traue mich nicht hinaufzugehen«, sagte die Müllerin am nächsten Tag gegen zwölf Uhr mittags.

»Ich glaube,« sagte der Müller und fuhr fort, seine Netze und sein Fischgerät in Ordnung zu bringen, »der hübsche Bursche könnte so ein schwächlicher Schauspieler sein, der keinen Heller besitzt.«

»Woran siehst du denn das, Mann?« fragte die Müllerin.

»Na ja doch, er ist weder ein Prinz, noch Minister, noch Deputierter, noch Bischof; warum sind seine Hände also weiß wie die eines Menschen, der nichts tut?«

»Es ist doch sehr sonderbar, daß der Hunger ihn nicht weckt«, sagte die Müllerin, die für den Gast, den der Zufall ihr in das Haus geschickt, ein Frühstück bereitet hatte. »Ein Schauspieler?« wiederholte sie; »wohin sollte er gehen? Es ist noch nicht die Zeit des Jahrmarkts in Angoulême.«

Der Müller und die Müllerin hatten keine Ahnung, daß es neben dem Schauspieler, dem Prinzen und dem Bischof eine Art Mensch gibt, der zugleich Prinz und Schauspieler ist und ein wundervolles heiliges Amt verwaltet: den Dichter, der nichts zu tun scheint und trotzdem, wenn es ihm gelungen ist, sie darzustellen, ein Herrscher der Menschheit ist.

»Was soll er denn also sein?« sagte Courtois zu seiner Frau.

»Am Ende war es gefährlich, ihn aufzunehmen«, meinte die Müllerin.

»Bah! die Diebe sind schlauer als der, da wären wir schon ausgeplündert«, versetzte der Müller.

»Ich bin weder Prinz, noch Dieb, noch Bischof, noch Schauspieler«, sagte Lucien, der plötzlich hinzutrat und ohne Zweifel vom Fenster aus das Gespräch der Frau mit ihrem Manne gehört hatte, in traurigem Ton. »Ich bin ein armer abgematteter junger Mann und bin von Paris zu Fuß hierhergegangen. Ich heiße Lucien von Rubempré und bin der Sohn des Herrn Chardon, des Vorgängers von Postel, der die Apotheke in Houmeau hat. Meine Schwester hat David Séchard geheiratet, den Buchdrucker von der Place de Mûrier in Angoulême.«

»Warten Sie mal!« sagte der Müller. »Ist dieser Drucker nicht der Sohn des alten Schlaukopfs, der sein Gut in Marsac bewirtschaftet?«

»Eben der«, antwortete Lucien.

»Ein kurioser Vater, muß ich sagen!« fuhr Courtois fort. »Er läßt, sagt man, bei seinem Sohne alles versteigern, und dabei besitzt er über zweimalhunderttausend Franken in Grund und Boden, ohne seine Sparbüchse zu rechnen.«

Wenn Seele und Leib nach einem langen und schmerzlichen Kampfe zusammengebrochen sind, dann folgt auf die Stunde, wo die Kraft versagt, der Tod oder eine totenähnliche Vernichtung, in der aber die widerstandsfähigen Naturen dann wieder neue Kräfte gewinnen. Lucien, der sich in einer solchen Krise befand, schien in dem Augenblick, wo er die, wenn auch unbestimmte Nachricht von einer Katastrophe erhielt, die über seinen Schwager David Séchard hereingebrochen war, fast vernichtet zu sein.

»Oh, meine Schwester!« rief er; »mein Gott, was habe ich getan, ich bin ein Elender.«

Bleich und matt wie ein Sterbender sank er auf eine Holzbank, die Müllerin brachte ihm schnell einen Napf Milch und zwang ihn zu trinken, aber er bat den Müller, ihm beizustehn und ihn ins Bett zu bringen, und bat ihn um Verzeihung, daß er ihm mit seinem Tod Ungelegenheiten mache, denn er glaubte, sein letztes Stündlein wäre gekommen. Der Dichter sah den Tod vor Augen und bekam religiöse Gedanken: er wollte den Geistlichen sehen, beichten und die Sakramente empfangen. Diese Klagen, die ein schöner Jüngling mit schwacher Stimme stöhnte, rührten Frau Courtois sehr.

»Hör mal, Mann, steig aufs Pferd und hole Herrn Marron, den Arzt von Marsac; er wird sehen, was der junge Mann hat, der mir gar nicht gefallen will, und du bringst auch den Geistlichen mit. Vielleicht wissen sie besser als du, wie es mit diesem Drucker von der Place du Mûrier steht, da Postel der Schwiegersohn des Herrn Marron ist.«

Als Courtois fort war, brachte die Müllerin, die wie alle Menschen vom Lande den festen Glauben hatte, wenn ein Mensch krank wäre, müßte er tüchtig essen, Lucien, der alles mit sich machen ließ, sein Frühstück. Die heftigen Gewissensbisse, die ihm zusetzten, entrissen ihn, unterstützt durch den kräftigen Gegenreiz, den diese Art von Medizin bewirkte, seiner Niedergeschlagenheit.

Die Mühle von Courtois war eine Meile von Marsac, der Hauptstadt des Bezirks, gelegen, die auf dem halben Weg zwischen Mansle und Angoulême liegt. Daher war der wackere Müller mit dem Arzt und dem Geistlichen von Marsac bald wieder zur Stelle. Diese beiden Männer hatten von der Liebschaft Luciens mit Frau von Bargeton sprechen hören, und da das ganze Departement der Charente in diesem Augenblick von der Verheiratung dieser Dame und ihrer Rückkehr nach Angoulême mit dem neuen Präfekten, dem Grafen Sixtus du Châtelet, sprach, waren der Arzt und der Geistliche, als sie hörten, daß Lucien bei dem Müller war, sehr neugierig, etwas von den Gründen zu hören, die die Witwe des Herrn von Bargeton gehindert hatten, den jungen Dichter zu heiraten, mit dem sie seinerzeit geflohen war, und zu erfahren, ob er ins Land zurückkäme, um seinem Schwager David Séchard zu helfen. Neugier und Menschlichkeit vereinigten sich also, dem sterbenden Dichter schnelle Hilfe zu bringen. Und so hörte Lucien zwei Stunden, nachdem Courtois weggeritten war, auf dem steinigen Mühldamm das Kabriolett des Landarztes herbeirasseln. Die Herren Marron der Arzt war der Neffe des Geistlichen traten sofort in Luciens Zimmer, so daß Lucien in diesem Augenblick Leute vor sich sah, die zu dem Vater David Séchards in so naher Beziehung standen, wie sie Nachbarn in einem Winzerstädtchen haben können. Als der Arzt den Sterbenden betrachtet, ihm den Puls gefühlt und die Zunge angesehen hatte, sah er die Müllerin an und lächelte in einer Weise, die jede Sorge zerstreute.

»Frau Courtois,« sagte er, »wenn Sie, wie ich nicht zweifle, eine gute Flasche Wein im Keller haben und in Ihrem Fischbehälter einen guten Aal, dann bringen Sie das Ihrem Patienten, dem weiter nichts fehlt, als daß er zerschlagen ist. Wenn er das überstanden hat, wird unser großer Mann schnell wieder auf den Beinen sein.«

»Ach, lieber Herr,« sagte Lucien, »mein Leiden sitzt nicht im Körper, sondern in der Seele; dieser wackere Mann hat ein Wort gesprochen, das mich fast umgebracht hat, denn er sagte mir, daß es im Hause meiner Schwester, Frau Séchard, schlimm steht! Um Gottes willen, klären Sie mich auf, ich habe von Frau Courtois gehört, daß Sie Ihre Tochter an Postel verheiratet haben. Sie müssen doch etwas von der Angelegenheit David Séchards wissen.«

»Ja, er wird im Gefängnis sein«, antwortete der Arzt. »Sein Vater hat es abgelehnt, ihm zu helfen ...«

»Im Gefängnis! ... Und warum?«

»Wegen Wechseln, die aus Paris kamen und die er ohne Frage vergessen hatte, denn es heißt ja, er wisse nicht so recht Bescheid in seinen Geschäften«, erwiderte Herr Marron.

»Ich bitte Sie, lassen Sie mich mit dem Geistlichen allein«, sagte der Dichter, dessen Gesichtsausdruck sich furchtbar verdüstert hatte.

Der Arzt, der Müller und seine Frau begaben sich hinaus.

Als Lucien sich mit dem alten Priester allein sah, rief er: »Ich verdiene den Tod, und ich fühle ihn kommen. Ich bin ein Elender, dem nichts mehr übrigbleibt, als sich in die Arme der Religion zu werfen. Ich, hochwürdiger Herr, ich bin der Henker meiner Schwester und meines Bruders, denn David Séchard ist wie ein Bruder zu mir! Ich habe die Wechsel gefälscht, die David nicht bezahlen konnte ... ich habe ihn ruiniert. Das schreckliche Elend, in dem ich mich befand, hat mich dieses Verbrechen vergessen lassen. Die Prozesse, zu denen diese Wechsel Anlaß gaben, sind durch das Eingreifen eines Millionärs niedergeschlagen worden, und ich hatte geglaubt, er hätte sie eingelöst: es war also nichts damit!«

Und Lucien erzählte all sein Unglück. Als er seinen fieberhaften Bericht, der der Art nach, wie er gegeben wurde, eines Dichters würdig war, beendet hatte, bat er den Geistlichen, nach Angoulême zu gehen und sich bei Eva, seiner Schwester, und Frau Chardon, seiner Mutter, über den wahren Stand der Dinge zu unterrichten, damit er erführe, ob noch Hilfe möglich sei.

»Bis zu Ihrer Rückkehr, hochwürdiger Herr,« sagte er und vergoß dabei heiße Tränen, »werde ich leben können. Wenn meine Mutter, meine Schwester und David mich nicht zurückstoßen, werde ich nicht sterben.«

Die pariserische Beredsamkeit, die Tränen dieser erschreckenden Reue, der schöne, blasse Jüngling, der vor Verzweiflung fast starb, der Bericht von unglücklichen Ereignissen, die fast über Menschenkraft gingen, all das erregte das Mitleid und Interesse des Geistlichen.

»In der Provinz wie in Paris«, antwortete er ihm, »darf man nur die Hälfte dessen glauben, was gesprochen wird; erschrecken Sie also nicht über ein Gerücht, das drei Meilen von Angoulême sehr irrig sein kann. Der alte Séchard, unser Nachbar, hat Marsac seit einigen Tagen verlassen; vermutlich ist er also damit beschäftigt, die Angelegenheiten seines Sohnes zu ordnen. Ich gehe nach Angoulême und sage Ihnen, wenn ich zurückkomme, ob Sie in Ihre Familie zurückkehren können; Ihre Geständnisse und Ihre Reue werden mir helfen, für Sie zu wirken.«

Der Geistliche wußte nicht, daß Lucien seit anderthalb Jahren so oft bereut hatte, daß seine Reue, mochte sie noch so stark sein, keinen andern Wert hatte als den einer vollkommen und dazu noch im guten Glauben gespielten Szene! Dem Geistlichen folgte der Arzt. Der Neffe, der erkannte, daß der Patient eine Nervenkrise hatte, deren Gefahr schon zu schwinden anfing, brachte ihm den gleichen Trost wie der Onkel und bestimmte seinen Kranken schließlich, etwas zu sich zu nehmen.

Der Geistliche, der das Land und seine Gewohnheiten kannte, war nach Mansle gefahren, wo der Wagen von Ruffec nach Angoulême bald vorbeikam, in den er einstieg. Der alte Priester wollte sich bei seinem Großneffen Postel, dem Apotheker von Houmeau, der früher der Nebenbuhler des Buchdruckers bei der schönen Eva gewesen war, über David Séchard erkundigen. Auch ein Zuschauer, der wenig scharfsinnig gewesen wäre, müßte, wenn er gesehen hätte, wie behutsam der kleine Apotheker dem alten Herrn aus dem schrecklichen Rumpelkasten half, der damals den Verkehr von Ruffec nach Angoulême vermittelte, gemerkt haben, daß Herr und Frau Postel ihren ferneren Wohlstand sehr auf seine Erbschaft gründeten.

»Haben Sie gefrühstückt? Darf ich Ihnen etwas bringen? Wir erwarteten Sie nicht und sind angenehm überrascht.«

Es gab tausend Fragen auf einmal. Frau Postel war wie eigens von der Natur dazu ausersehen, die Frau eines Apothekers in Houmeau zu werden. Sie hatte die gleiche Figur wie der kleine Postel und das rote Gesicht eines auf dem Lande aufgewachsenen Mädchens; sie sah sehr gewöhnlich aus, und ihre ganze Schönheit bestand in der Frische ihres Wesens. Ihre roten Haare waren tief in die Stirn hereingekämmt; ihre Manieren und ihre Sprache paßten zu der Einfachheit, die sich in den Zügen ihres runden Gesichts, in dem Blick ihrer fast gelben Augen ausprägte; alles sprach davon, daß sie geheiratet worden war, weil sie Vermögen zu erwarten hatte. Daher führte sie denn auch ein Jahr nach der Heirat das Regiment und schien völlig die Herrin im Hause Postels geworden zu sein, der glücklich war, daß er diese Frau gefunden hatte. Frau Léonie Postel, geborene Marron, stillte einen Sohn, der der Liebling des alten Geistlichen, des Arztes und Postels war, ein sehr häßliches Kind, das seinem Vater und seiner Mutter glich.

»Nun, Onkel, was wollen Sie denn in Angoulême machen,« fragte Léonie, »da Sie nichts zu sich nehmen wollen und davon sprechen, wieder fortzugehen, nachdem Sie kaum gekommen sind?«

Sowie der würdige geistliche Herr den Namen Evas und David Séchards ausgesprochen hatte, errötete Postel, und Léonie warf dem kleinen Mann einen Blick gewohnheitsmäßiger Eifersucht zu, wie es eine Frau, die völlig Herrin ihres Mannes ist, im Interesse ihrer Zukunft und um der Vergangenheit willen immer tut.

»Was gehen Sie denn die Leute an, Onkel, daß Sie sich in ihre Sachen mischen?« fragte Léonie mit unverkennbarem Ärger.

»Sie sind unglücklich, meine Tochter«, versetzte der Geistliche und schilderte darauf Postel den Zustand, in dem sich Lucien bei Courtois befand.

»Oh! ist das die Equipage, in der er aus Paris zurückkommt?« rief Postel. »Armer Junge! Geist hat er schon und war ehrgeizig. Er hätte reich werden sollen, und nun kommt er ohne Heller zurück. Aber was soll er hier? Seine Schwester ist im entsetzlichsten Elend, denn all diese Genies, der David genau so wie Lucien, verstehen nichts vom Geschäft. Wir haben mit ihm vor Gericht zu tun gehabt, und als Richter habe ich seine Verurteilung unterzeichnen müssen. Das tut mir schrecklich leid! Ich weiß nicht, ob Lucien unter den jetzigen Umständen zu seiner Schwester gehen kann; aber in jedem Fall ist das Kämmerchen, das er hier bewohnt hat, frei, und ich räume es ihm gerne ein.«

»Gut, Postel«, sagte der Priester, setzte seinen Dreispitz auf, küßte das Kind, das auf Léonies Armen schlief, und schickte sich an, den Laden zu verlassen.

»Sie essen jedenfalls mit uns, Onkel,« sagte Frau Postel, »denn Sie werden, wenn Sie die Sachen dieser Leute entwirren wollen, nicht so schnell fertig werden. Mein Mann fährt Sie dann mit seinem Wägelchen nach Hause.«

Die beiden Gatten sahen ihrem kostbaren Großonkel nach, wie er sich nach Angoulême begab.

»Er geht noch ganz gut für sein Alter«, sagte der Apotheker.

Während der würdige Geistliche die Stufen nach Angoulême hinaufsteigt, wird es nützlich sein, die verworrenen Angelegenheiten, in die er nun hineinkam, auseinanderzusetzen.

Nach Luciens Abreise nach Paris wollte David Séchard, der wie ein tapferer und mit hoher Vernunft begabter Stier war, gleich dem, den die Maler dem Evangelisten zum Gefährten geben, schnell zu dem großen Vermögen kommen, das er sich an jenem Abend am Ufer der Charente, als er mit Eva auf dem Damm saß und ihr Hand und Herz versprach, weniger für sich, als für Eva und Lucien gewünscht hatte. Seine Frau in die Sphäre der Eleganz und des Reichtums zu bringen, die ihr gebührte, mit seinem mächtigen Arm den Ehrgeiz seines Bruders zu stützen: das war das Programm, das mit feurigen Lettern vor seinen Augen geschrieben stand. Die Zeitungen, die Politik, die ungeheure Entwicklung des Buchhandels, der Literatur und der Wissenschaften, die Neigung zur öffentlichen Erörterung aller Landesangelegenheiten, die ganze soziale Bewegung, die entstand, nachdem die Restauration festen Fuß gefaßt hatte, all das mußte sicherlich eine Menge Papier erfordern, die fast zehnfach so groß sein mußte als die, auf die der berühmte Ouvrard, der von ähnlichen Motiven sich leiten ließ, zu Beginn der Revolution spekuliert hatte. Aber im Jahre 1821 gab es in Frankreich zu viele Papiermühlen, als daß man hätte hoffen können, sich zu ihrem alleinigen Besitzer zu machen, wie es Ouvrard getan hatte, der sich der wichtigsten Fabriken bemächtigte, nachdem er zuvor ihre Erzeugnisse aufgekauft hatte. David besaß überdies weder die Kühnheit noch die Kapitalien, ohne die derartige Spekulationen nicht möglich sind. Gerade jetzt waren die Maschinen, die Papier in jeder Länge herstellten, in England aufgekommen. Also war nichts notwendiger, als die Papierfabrikation den Bedürfnissen der französischen Zivilisation anzupassen, die in gefährlicher Weise dazu überging, die Diskussion auf alles auszudehnen und das individuelle Denken fortwährend an den Tag zu legen was ein rechtes Unglück ist, denn die Völker, die überlegen, handeln sehr wenig. Während daher, seltsames Zusammentreffen, Lucien in das Räderwerk des ungeheuren Mechanismus des Journalismus hineingeriet und dabei Gefahr lief, seine Ehre und seinen Geist in Stücke gerissen zu bekommen, beschäftigte sich David Séchard in seiner Druckerei mit dem Fortschritt der periodischen Presse seinen materiellen Konsequenzen nach. Er wollte die Mittel dem Ergebnis anpassen, dem der Geist des Jahrhunderts zustrebte. Sein Gedanke, durch Herstellung billigen Papiers ein Vermögen zu machen, war durchaus richtig, und die Ereignisse haben seine Voraussicht gerechtfertigt. In den letzten fünfzehn Jahren sind der Behörde, die die Gesuche von Erfindern um Patenterteilung zu prüfen hat, mehr als hundert Denkschriften über angebliche Entdeckungen von Stoffen zugegangen, die für die Herstellung von Papier verwendet werden sollten. Er war sich mehr als je über die Nützlichkeit dieser Entdeckung, die nichts Großartiges an sich hatte, aber ungeheuren Gewinn versprach, klar und versenkte sich daher, nachdem sein Schwager nach Paris abgereist war, hartnäckig in das Studium, ohne das dieses Problem nicht zu lösen war. Da er alle seine Mittel erschöpft hatte, um heiraten und die Ausgabe für Luciens Reise nach Paris beschaffen zu können, sah er sich im Anfang seiner Ehe in der tiefsten Armut. Er hatte für den Betrieb seiner Druckerei tausend Franken behalten und schuldete dem Apotheker für einen Wechsel ebensoviel. So war für diesen tiefen Denker das Problem ein doppeltes: er mußte ein billiges Papier erfinden und mußte es schnell erfinden; er mußte endlich den Nutzen seiner Entdeckung den Bedürfnissen seines Haushalts und seines Geschäfts anpassen. Welches Beiwort verdient nun ein Gehirn, das imstande ist die grausamen Sorgen abzuschütteln, die die Not, welche verheimlicht werden muß, und das Schauspiel einer Familie ohne Brot und die täglichen Erfordernisse eines Berufs, wie der des Buchdruckers ist, nach sich ziehen, der so viel Sorgfalt verlangt, und dabei die Gebiete des Unbekannten mit der Glut und dem Rausch des Gelehrten zu erforschen, der auf der Suche nach einem Geheimnis ist, das sich mit jedem Tage neu vor dem Nachdenken und dem Studium des Eifrigen verbirgt? Ach, man wird sehen, daß die Erfinder noch ganz andere Leiden zu erdulden haben, ganz abgesehen von der Undankbarkeit der Massen, denen die Müßigen und die Unfähigen über einen genialen Menschen sagen: »Er war zum Erfinder geboren, er konnte nichts anderes tun. Man braucht ihm für seine Entdeckung so wenig Dank zu sagen wie einem Menschen, der zum Fürsten geboren ist! Er übt seine natürlichen Gaben aus! Und er hat außerdem seinen Lohn in der Arbeit selbst gefunden.«

Die Ehe bringt einem jungen Mädchen schwere geistige und körperliche Störungen, und wenn es sich unter den bürgerlichen Verhältnissen der Mittelklasse verheiratet, muß es überdies noch ganz neue Interessen kennen lernen und sich mit den Geschäften vertraut machen; für die junge Frau kommt also zunächst eine Zeit, wo sie lernen muß und nicht handeln kann. Die Liebe Davids zu seiner Frau schob zum Unglück die Erfahrungen, deren er bedurfte, hinaus; er wagte es am Tage nach der Hochzeit und an den folgenden Tagen nicht, ihr den Stand der Dinge zu bekennen. Trotz dem großen Elend, zu dem ihn der Geiz seines Vaters verdammte, konnte er sich nicht entschließen, ihr den Honigmonat durch den langweiligen Unterricht in seinem mühsamen Gewerbe und durch die Unterweisungen, deren die Frau eines Kaufmanns bedarf, zu verderben. Daher gingen die tausend Franken, seine einzige Habe, mehr für den Haushalt als für das Geschäft drauf. Die Nachlässigkeit Davids und die Unwissenheit seiner Frau dauerten vier Monate! Das Erwachen war schrecklich. Als der Wechsel Postels, den David unterschrieben hatte, fällig war, war kein Geld im Haus, und Eva kannte die Entstehung dieser Schuld nur zu gut, so daß sie ihren Brautschmuck und ihr Silberzeug opferte, damit er eingelöst werden konnte. Noch am Abend des Tages, an dem der Wechsel bezahlt worden war, wollte Eva ihren Mann dazu bewegen, mit ihr von den Geschäften zu sprechen, denn sie hatte bemerkt, daß er der Erfindung halber, von der er ihr einmal gesprochen hatte, seine Druckerei vernachlässigte. Seit dem zweiten Monat seiner Ehe verbrachte David den größten Teil seiner Zeit in dem Schuppen hinten im Hofe in einem kleinen Raum, der dazu diente, seine Walzen zu gießen. Drei Monate nach seiner Ankunft in Angoulême hatte er an Stelle der Ballen, mit Hilfe deren die Lettern mit Druckerschwärze betupft wurden, den flachen und den zylinderförmigen Auftrageapparat eingeführt, der die Druckerschwärze mit Hilfe von Walzen, die aus Leim und Melasse zusammengesetzt sind, verteilt und aufträgt. Diese erste Verbesserung der Buchdruckerkunst war so unbestreitbar, daß die Brüder Cointet sie sofort, nachdem sie ihre Wirkung gesehen hatten, gleichfalls anschafften. David hatte an die Mittelwand dieser Art Küche einen Ofen mit einer Kupferpfanne angebaut und hatte gesagt, er brauche auf solche Weise weniger Kohlen für den Umguß seiner Walzen, deren rostige Formen die Mauer entlang standen und die er in Wirklichkeit kaum zweimal umgoß. Er brachte an diesem Raume nicht nur eine starke eichene Tür an, die innen mit Eisenblech beschlagen war, sondern er ersetzte auch die schmutzigen Scheiben des Fensters durch neue Scheiben in geripptem Glas, damit niemand von außen sehen könnte, womit er sich beschäftigte. Beim ersten Wort, das Eva zu David über ihre Zukunft sprach, sah er sie mit unruhigem Blick an und brachte sie mit folgenden Worten zum Verstummen: »Liebes Kind, ich weiß, welche Gedanken dir der Anblick einer verödeten Werkstatt und die Art geschäftlichen Ruins, in dem ich bin, einflößen muß; aber siehst du,« fuhr er fort, führte sie an das Fenster und zeigte ihr das geheimnisvolle Häuschen, »dort drin liegt unser Glück ... wir werden noch ein paar Monate leiden müssen; aber laß uns geduldig leiden und laß mich die industrielle Erfindung machen, von der du weißt, daß sie all unserem Elend ein Ende machen wird.«

David war so gut, seiner Aufopferung mußte so sehr aufs Wort geglaubt werden, daß die arme Frau, die, wie alle Frauen, sich nur um die täglichen Ausgaben kümmerte, sich vornahm, ihren Mann mit den Sorgen des Haushalts zu verschonen; sie verließ also das hübsche blau und weiße Zimmer, in dem sie sich bisher damit begnügt hatte, Näharbeiten zu machen und mit ihrer Mutter zu plaudern, und begab sich in einen der Holzverschläge am Ende der Druckerei, um den geschäftlichen Betrieb kennen zu lernen. War das nicht heroisch von einer Frau, die schon guter Hoffnung war? Während dieser ersten Monate hatte der Druckereibetrieb Davids so gut wie gestockt, und die Arbeiter, die er bis dahin für seine Arbeiten gebraucht hatte, waren einer nach dem andern abgegangen. Die Brüder Cointet hatten eine Menge Aufträge und beschäftigten nicht nur die Arbeiter des Departements, die durch die Aussicht, bei ihnen gut zu verdienen, angelockt wurden, sondern auch einige aus Bordeaux, woher hauptsächlich die Lehrlinge gekommen waren, die sich für geschickt genug hielten, um sich dem Druck des Lehrverhältnisses zu entziehen. Als Eva untersuchte, worauf sich die Druckerei Séchard stützen konnte, fand sie nur drei Personen. Zunächst Cérizet, den Lehrling, den bei der Firma Didot auszubilden David Vergnügen gemacht hatte, wie es fast allen Faktoren geht, die aus der großen Zahl Arbeiter, denen sie vorstehen, immer einige auswählen, denen sie besonders zugetan sind; David hatte diesen Lehrling namens Cérizet nach Angoulême mitgebracht, wo er sich vervollkommnet hatte. Dann Marion, die dem Hause wie ein treuer Hund ergeben war; und schließlich ein Elsässer namens Kolb, der früher bei der Firma Didot Laufbursche gewesen war. Kolb war dann zum Militär ausgehoben worden und kam in dieser Zeit zufällig nach Angoulême, wo David ihn in dem Augenblick, als seine Militärzeit zu Ende ging, bei einer Parade erblickte. Kolb machte David einen Besuch und verliebte sich in die dicke Marion, bei der er alle die Eigenschaften entdeckte, die ein Mann seiner Klasse von einer Frau verlangt: die strotzende Gesundheit, die die Wangen bräunt, die männliche Kraft, mit der Marion eine Form mit Lettern ohne Schwierigkeit heben konnte, die Frömmigkeit, auf die die Elsässer Wert legen, die Treue gegen die Herrschaft, die von einem guten Charakter zeugt, und schließlich die Sparsamkeit, der sie eine Summe von tausend Franken, Wäsche und Kleider verdankte, die so rein gehalten waren, wie es in der Provinz der Brauch ist. Marion, die dick und fett und sechsunddreißig Jahre alt war, fühlte sich sehr geschmeichelt, Gegenstand der Aufmerksamkeit eines wohlgestalteten Kürassiers von fünf Fuß sieben Zoll zu sein, der ein kräftiger Kerl war, und brachte ihn natürlich auf den Gedanken, Drucker zu werden. In dem Augenblick, in dem der Elsässer endgültig verabschiedet wurde, hatten Marion und David einen ansehnlichen Bären aus ihm gemacht, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte. Es gab während dieser drei Monate nicht so fürchterlich viel Akzidenzaufträge, daß Cérizet sie nicht erledigen konnte. Dieser Cérizet war also zugleich Setzer, Metteur und Faktor der Druckerei und verwirklichte demnach, was Kant eine phänomenale Dreiheit nennt: er setzte, korrigierte seinen Satz, schrieb die Bestellungen ein und zog die Rechnungen aus; aber die meiste Zeit über hatte er nichts zu tun und las in seinem Verschlag Romane, bis wieder ein Plakat oder eine Einladungskarte bestellt wurde. Marion, die vom alten Séchard ausgebildet worden war, schnitt das Papier zurecht und befeuchtete es, half Kolb beim Drucken, hängte es zum Trocknen auf, beschnitt es und besorgte deswegen doch die Küche, für die sie am frühen Morgen auf den Markt ging.

Als Eva sich von Cérizet über das erste Halbjahr Bericht erstatten ließ, erfuhr sie, daß achthundert Franken eingegangen waren. Die Ausgaben beliefen sich, da Cérizet und Kolb tägich, der erste zwei Franken und der zweite einen Franken bekamen, auf sechshundert Franken. Da nun der Preis der Materialien, die für die hergestellten und gelieferten Arbeiten erforderlich waren, hundert und etliche Franken betrug, mußte es Eva klar werden, daß David in den ersten sechs Monaten seiner Ehe seine Miete, die Zinsen für das Kapital, das der Wert seiner Einrichtungen und sein Patent darstellten, die Löhne für Marion, die Druckerschwärze und schließlich die Gewinne, die ein Buchdrucker machen muß, und die Menge Druckereiutensilien verloren hatte, wie z.B. die Tuche, die Seidenstoffe, die man braucht, um den Druck der Presse auf die Lettern dadurch abzumindern, daß man ein Stück Stoff (den Deckel) zwischen den Tiegel der Presse und das Papier, auf das gedruckt wird, einschiebt. Nachdem Eva im allgemeinen die Mittel der Druckerei und ihre Ergebnisse kennen gelernt hatte, merkte sie schon, wie wenig Aussichten dieses Unternehmen, das an Auszehrung litt, im Vergleich mit der energischen Tätigkeit der Brüder Cointet hatte, die zugleich Papierfabrikanten, Zeitungsherausgeber, privilegierte Drucker der bischöflichen Kanzlei und Lieferanten für den Magistrat und die Präfektur waren. Die Zeitung, die Séchard Vater und Sohn vor zwei Jahren für zweiundzwanzigtausend Franken verkauft hatten, brachte jetzt jährlich achtzehntausend Franken ein. Eva gewahrte die Berechnung, die sich unter der anscheinenden Großmut der Brüder Cointet verbarg, welche der Druckerei Séchard genügend Aufträge ließen, um existieren zu können, aber nicht genug, um ihnen Konkurrenz zu machen. Als sie die Leitung der Geschäfte übernahm, fing sie damit an, ein genaues Inventar von allem, was an Wertstücken vorhanden war, aufzunehmen. Sie ließ die Werkstatt von Kolb, Marion und Cérizet aufräumen, putzen und alles in Ordnung bringen. Dann eines Abends, als David von einem Ausflug auf die Felder zurückkehrte er hatte eine alte Frau bei sich, die einen umfangreichen Packen schleppte, bat ihn Eva, er sollte ihr raten, wie man die Trümmer, die ihnen der alte Séchard hinterlassen hatte, nutzbringend verwenden könnte, und versprach ihm dabei, sie wollte die Geschäfte allein führen. Auf den Rat ihres Mannes verwandte Frau Séchard das ganze Papier, das sie gefunden und nach Sorten geordnet hatte, dazu, auf zwei Spalten und nur auf einem Bogen die illustrierten Volksgeschichten zu drucken, wie sie die Bauern in ihren Hütten an die Wände kleben: die Geschichte vom ewigen Juden, Robert dem Teufel, der schönen Magelone und etliche Wundergeschichten. Und nun machte sie Kolb zum Kolporteur. Cérizet verlor keinen Augenblick; er setzte diese naiven Seiten und ihre plumpen Ornamente vom Morgen bis zum Abend. Marion besorgte den Druck. Frau Chardon übernahm alle Hausgeschäfte, denn Eva kolorierte die Bilder. Binnen zwei Monaten verkaufte Frau Séchard dank dem Fleiß und der Ehrlichkeit Kolbs auf einem Gebiet von zwölf Meilen rings um Angoulême dreitausend Blätter, deren Herstellung sie dreißig Franken kosteten und die ihr, das Stück zu zwei Sous, dreihundert Franken einbrachten. Aber als alle Hütten und Wirtshäuser mit diesen Geschichten tapeziert waren, mußte man an eine andere Spekulation denken, denn der Elsässer konnte nicht über das Departement hinausreisen. Eva, die alles in der Druckerei durchwühlte, fand eine Sammlung Figuren, die zum Druck eines Almanachs nötig waren, der Schäferalmanach hieß und in dem die Dinge durch Zeichen und Bilder in roter, schwarzer und blauer Farbe wiedergegeben waren. Der alte Séchard, der nicht lesen und schreiben konnte, hatte früher einmal mit dem Druck dieses Buches, das für die bestimmt ist, die nicht lesen können, viel Geld verdient. Dieser Almanach, der einen Sou kostet, besteht aus einem Bogen, der vierundsechzigmal gefaltet wird, so daß ein Buch in 64° mit hundertachtundzwanzig Seiten entstand. Frau Séchard, die ganz glücklich war über den Erfolg ihrer fliegenden Blätter einer Industrie, der sich die kleinen Provinzdruckereien mit Vorliebe widmen, unternahm jetzt die Herausgabe des Schäferalmanachs in großem Maßstabe und opferte diesem Geschäft ihre Gewinne. Das Papier des Schäferalmanachs, von dem in jedem Jahr in Frankreich ein paar Millionen Exemplare verkauft werden, ist gröber als das des Lütticher Boten und kostet vier Franken das Ries. Ist es bedruckt, so bringt dieses Ries also, das fünfhundert Bogen hat, der Bogen zu einem Sou, fünfundzwanzig Franken. Frau Séchard entschloß sich, hundert Ries zu einer ersten Auflage zu nehmen, was fünfzigtausend Almanache und zweitausend Franken Gewinn bedeutete. Obwohl David, wie es ein geistig beständig so beschäftigter Mann sein mußte, zerstreut war, überraschte es ihn doch, wenn er einen Blick in seine Werkstatt warf, eine Presse knirschen hörte und den unermüdlich tätigen Cérizet unter der Leitung von Frau Séchard setzen sah. Als er einmal hineinging, um zu sehen, was Eva da vornahm, war das Lob ihres Mannes, der die Sache mit dem Almanach vortrefflich fand, ein schöner Triumph für sie. Auch versprach David ihr seine Ratschläge für die Anwendung der verschiedenen Farben, die für Bilderwerke dieses Almanachs, in dem alles zum Auge spricht, notwendig sind. Schließlich wollte er selbst in seiner geheimnisvollen Werkstatt die Walzen gießen, um seine Frau, soviel er konnte, in diesem wichtigen kleinen Unternehmen zu unterstützen.

In den Beginn dieser eifrigen Tätigkeit fielen die trostlosen Briefe, in denen Lucien seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Schwager Mitteilung von seinem Mißerfolg und seiner elenden Lage in Paris machte. Man wird jetzt verstehen, daß Eva, Frau Chardon und David, als sie dem verwöhnten Knaben dreihundert Franken schickten, dem Dichter damit ein sehr großes Opfer brachten. Eva war von diesen Nachrichten niedergedrückt und ganz verzweifelt, daß sie aus so tapferer Arbeit so wenig Gewinn zog, und so sah sie nicht ohne Bangen dem Ereignis entgegen, das sonst ein junges Paar auf den Gipfel der Freude erhebt. Als sie fühlte, daß sie Mutter werden sollte, sagte sie sich: »Wenn mein lieber David zur Zeit meiner Niederkunft das Ziel seiner Forschungen nicht erreicht hat, was soll aus mir werden? ... Und wer wird die jungen Geschäfte unserer armen Druckerei leiten?«

Der Schäferalmanach mußte lange vor dem ersten Januar fertig werden, aber Cérizet, dem der ganze Satz überlassen war, arbeitete mit einer Langsamkeit daran, die Frau Séchard insbesondere darum in Verzweiflung bringen mußte, weil sie nicht genug von der Druckerei verstand, um ihn tadeln zu können, sich vielmehr damit begnügen mußte, den jungen Pariser im Auge zu behalten. Cérizet war ein Findelkind, war im großen Findelhaus in Paris aufgezogen und dann zur Firma Didot als Lehrling gebracht worden. Zwischen seinem vierzehnten und siebzehnten Lebensjahr war er der getreue Knappe Séchards, der ihn der Obhut eines seiner geschicktesten Arbeiter anvertraute; denn David interessierte sich natürlich für Cérizet, als er ihn intelligent fand, und er gewann seine Zuneigung, als er ihm einige Vergnügen verschaffte und Süßigkeiten zukommen ließ, die seine Armut ihm sonst versagt hatte. Cérizet, der ein hübsches, schlaues Gesicht, rote Haare und etwas verschwommene blaue Augen hatte, hatte die Sitten des Pariser Gassenjungen nach der Hauptstadt des Angoumois mitgebracht. Sein lebhafter und spöttischer Geist, seine boshafte Verschlagenheit machten ihn hier gefürchtet. Cérizet, der in Angoulême von David weniger überwacht wurde, sei es weil er älter war und seinem Mentor mehr Zutrauen einflößte, oder weil der Drucker auf den Einfluß der Provinz baute, war, ohne daß sein Herr eine Ahnung davon hatte, der Don Juan von drei oder vier jungen Arbeiterinnen geworden und schon völlig verdorben. Seine in den Pariser Kneipen ausgebildete Moral nahm das persönliche Interesse als einziges Gesetz. Überdies sah Cérizet, der sich im nächsten Jahr stellen mußte, keine Aussichten vor sich; daher machte er Schulden und dachte, in einem halben Jahre würde er Soldat, und dann könnten ihm seine Gläubiger nachlaufen. David behielt über den Burschen einige Autorität, nicht weil er sein Meister hieß und nicht weil er sich für ihn interessierte, sondern weil der frühere Pariser Gassenjunge in ihm eine hohe Intelligenz erkannte. Cérizet freundete sich bald mit den Arbeitern der Firma Cointet an, zu denen ihn der Korpsgeist trieb, der vielleicht in den unteren Klassen noch mächtiger ist als in den oberen. In diesem Verkehr büßte Cérizet die paar guten Lehren, die David ihm eingeprägt hatte, noch vollends ein; trotzdem aber nahm er, wenn man ihn wegen des Holzplunders in seiner Werkstatt verspottete, womit die Bären die alten Pressen der Séchards meinten, und ihm die zwölf prachtvollen eisernen Pressen zeigte, die in der riesigen Werkstatt der Firma Cointet im Gange waren, wo man eine Holzpresse nur noch für Korrekturabzüge in Benutzung hatte, noch Davids Partei und schleuderte den Prahlhänsen stolz die Worte ins Gesicht: »Mit seinem Holzplunder wird mein Gimpel weiterkommen als eure mit ihren eisernen Allerweltspressen, die nur Andachtsbücher von sich geben! Er sucht ein Geheimnis, das allen Druckereien in Frankreich und Navarra ein Ende macht!«

»Inzwischen aber bist du ein elender Faktor mit vierzig Sous Lohn und hast eine Plätterin zum Herrn«, antwortete man ihm.

»Na, na, sie ist hübsch,« erwiderte Cérizet, »und ich sehe sie lieber als die Dickköpfe eurer Herren.«

»Wirst du von dem Anblick deiner Meisterin satt?«

Diese freundschaftlichen Auseinandersetzungen, die in der Kneipe oder vor der Tür der Druckerei sich abspielten, mußten auch zu den Ohren der Brüder Cointet dringen und sie über die Lage der Druckerei Séchard aufklären, sie erfuhren also von der Spekulation, mit der es Eva versuchte, und hielten es für nötig, ein Unternehmen im Keime zu ersticken, das der armen Frau den Weg zum Wohlstand eröffnen konnte.

»Wir müssen ihr eins auf die Finger geben, um ihr den Geschmack an dem Geschäft zu verderben«, sagten sich die beiden Brüder.

Der eine der Brüder, der die Druckerei leitete, begegnete Cérizet und trug ihm an, er sollte für sie Korrekturen lesen, vorläufig zur Probe, um ihren Korrektor zu entlasten, der mit dem Lesen ihrer Werke nicht fertig werden konnte. Cérizet verdiente durch ein paar Stunden Nachtarbeit bei den Brüdern Cointet mehr als tagsüber bei David Séchard. Es kam zu innigen Beziehungen zwischen den Cointet und Cérizet, dessen große Gaben man erkannte und den man beklagte, daß er in einer Stellung war, die seinen Interessen so schlecht entsprach.

»Sie könnten«, sagte eines Tages der eine Herr Cointet zu ihm, »Faktor einer großen Druckerei werden und sechs Franken täglich verdienen, und mit Ihrer Intelligenz brächten Sie es dazu, einmal am Geschäft beteiligt zu werden.«

»Wozu soll mir das helfen, daß ich ein guter Faktor bin?« antwortete Cérizet; »ich bin Waise, muß im nächsten Jahr zur Stellung, und wer soll mir, wenn das Los mich trifft, einen Ersatzmann stellen?«

»Wenn Sie sich nützlich machen,« erwiderte der reiche Drucker, »warum sollte man Ihnen die Summe, die nötig ist, damit Sie frei werden, nicht vorstrecken?«

»Mein Meister tut es ganz gewiß nicht«, erwiderte Cérizet.

»Wer weiß! Vielleicht findet er das Geheimnis, das er sucht ...«

Dieser Satz war auf eine Art gesagt, die bei dem, der ihn hörte, die schlimmsten Gedanken wecken mußte; und so warf Cérizet dem Papierfabrikanten einen Blick zu, der eine scharfe Frage bedeutete.

»Ich weiß nicht, womit er sich beschäftigt,« antwortete er dann klug, als der Herr stumm blieb, »aber er ist nicht der Mann, der in seinem Setzkasten Kapitalien sucht!«

»Hören Sie, Freundchen!« sagte der Drucker und überreichte Cérizet sechs Bogen des Gebetbuches der Diözese, »wenn Sie uns das bis morgen korrigiert haben, bekommen Sie morgen achtzehn Franken. Wir sind nicht schlimm, wir lassen den Faktor unseres Konkurrenten Geld verdienen! Wir könnten ja schließlich auch Frau Séchard sich in das Geschäft mit dem Schäferalmanach stürzen lassen und sie ruinieren, aber wir sind nicht so: sagen Sie ihr, bitte, daß wir einen Schäferalmanach herausgeben, und geben Sie ihr zu verstehen, daß sie auf dem Markt damit nicht die Erste sein wird.«

Man wird jetzt verstehen, warum Cérizet mit dem Setzen des Almanachs so langsam von der Stelle kam.

Als Eva erfuhr, daß die Cointet ihrer armseligen kleinen Spekulation in den Weg traten, wurde sie von Angst ergriffen und wollte in der Mitteilung, die Cérizet ihr recht heuchlerisch über die Konkurrenz machte, die sie zu erwarten hatte, einen Beweis seiner Anhänglichkeit sehen; aber bald bemerkte sie bei ihrem einzigen Setzer Spuren einer zu lebhaften Neugier, die sie seiner Jugend zuschreiben wollte.

»Cérizet,« sagte sie eines Morgens zu ihm, »Sie stellen sich in die Tür und warten, bis Herr Séchard durchkommt, um zu sehen, was er verbirgt; Sie sehen in den Hof, wenn er aus der Werkstatt geht, um die Walzen zu gießen, anstatt den Satz unseres Almanachs fertig zu machen. All das ist nicht gut, besonders wo Sie sehen, daß ich, seine Frau, sein Geheimnis respektiere und mich so abmühe, um ihm die Zeit zu lassen, sich seinen Arbeiten zu widmen. Wenn Sie nicht die Zeit vertrödelt hätten, wäre der Almanach fertig, Kolb würde ihn schon verkaufen, und die Cointet könnten uns keinen Schaden zufügen.«

»Ja, glauben Sie, Meisterin,« antwortete Cérizet, »es sei nicht genug für die vierzig Sous, die ich hier täglich verdiene, daß ich Ihnen für hundert Sous Satz mache? Wenn ich nicht abends für die Brüder Cointet Korrekturen läse, könnte ich wahrhaftig Kleie essen.«

»Sie sind schon früh undankbar, Sie werden Ihren Weg machen«, erwiderte Eva, die im Herzen getroffen war, weniger durch die Vorwürfe Cérizets, als durch seinen groben Ton, seine drohende Haltung und durch seine frechen Blicke.

»Aber nicht, wenn ich eine Frau zum Meister habe, denn bei der hat der Monat nicht oft dreißig Tage.«

Eva fühlte sich in ihrer Frauenwürde gekränkt, warf Cérizet einen verächtlichen Blick zu und stieg in die Wohnung hinauf. Als David zum Essen kam, sagte sie zu ihm: »Mein Freund, traust du diesem Burschen, diesem Cérizet?«

»Cérizet!« sagte er. »Aber das ist ja mein Page, ich habe ihn ausgebildet, er hat das Manuskript vorgelesen, wenn ich Korrekturen las, ich habe ihn an den Setzkasten gestellt, er verdankt mir ja alles, was er ist! Man könnte ebensogut einen Vater fragen, ob er seinem Kinde traut.«

Eva teilte ihrem Manne mit, daß Cérizet auf Rechnung der Cointet Korrekturen las.

»Der arme Kerl, er muß schon sehen, daß er leben kann«, erwiderte David in dem demütigen Ton eines Meisters, der sich schuldig fühlt.

»Jawohl; aber, mein Lieber, zwischen Kolb und Cérizet ist folgender Unterschied: Kolb macht alle Tage zwanzig Meilen, gibt fünfzehn oder zwanzig Sous aus, bringt uns sieben, acht, manchmal neun Franken für verkaufte Blätter und verlangt, wenn er seine Auslagen bekommen hat, nie mehr als seine zwanzig Sous. Kolb würde sich lieber die Hand abschneiden, als daß er bei den Cointet den Schwengel einer Presse anrührte, und er würde die Sachen nicht ansehen, die du in den Hof wirfst, und wenn man ihm tausend Taler gäbe; während Cérizet sie aufliest und untersucht.«

Die schönen Seelen bringen sich schwer dazu, an die Undankbarkeit zu glauben, sie brauchen harte Lehren, ehe sie merken, wie weit die Verderbtheit des Menschen geht; und dann, wenn ihre Erziehung auf diesem Gebiete vollendet ist, erreichen sie die Höhe einer Nachsicht, die die höchste Stufe der Verachtung ist.

»Ach was, das ist bloße Neugier eines Pariser Straßenjungen!« rief also David.

»Schön, mein Lieber, aber tu mir den Gefallen und geh in die Werkstatt, sieh nach, was dein Junge in einem Monat gesetzt hat, und sage mir, ob er in diesem Monat nicht mit unserm Almanach hätte fertig werden müssen ...«

Nach dem Mittagessen überzeugte sich David, daß der Almanach in acht Tagen hätte gesetzt sein müssen; als er dann erfuhr, daß die Cointet auch einen vorbereiteten, kam er seiner Frau zu Hilfe: er ordnete an, daß Kolb den Verkauf der Bilderbogen einstellte und er brachte alles in der Werkstatt in Ordnung; er setzte selbst eine Form zusammen, von der Kolb und Marion zusammen die Abzüge machen mußten, während er mit Cérizet die andere druckte, wobei er den Druck in verschiedenen Farben überwachte. Jede Farbe erfordert einen besonderen Druck. Ein Bogen mit vier verschiedenen Farben muß also viermal durch die Presse gehen. Der Schäferalmanach muß also viermal statt einmal gedruckt werden, und seine Herstellung kostet daher so viel, daß er ausschließlich in den Provinzdruckereien gedruckt wird, wo die Arbeit und die Zinsen des Kapitals, das in der Druckerei steckt, fast keinen Wert repräsentieren. Dieses Werk, so plump es auch nach dem äußern Anschein ist, kann also in den Druckereien, aus denen schöne Werke hervorgehen, nicht hergestellt werden. Zum erstenmal seit dem Rücktritt des alten Séchard sah man jetzt wieder in der alten Werkstatt zwei Pressen im Gange. Obgleich der Almanach in seiner Art ein Meisterwerk wurde, mußte Eva ihn für einen halben Sou abgeben, denn die Brüder Cointet lieferten ihren den Kolporteuren für drei Centimes; sie kam auf ihre Kosten durch die Kolportage, sie verdiente an dem Verkauf, den Kolb direkt bewerkstelligte; aber ihre Spekulation ging fehl. Als Cérizet sah, daß seine schöne Meisterin ihm mißtraute, lehnte er sich innerlich gegen sie auf und sagte sich: »Du hast Verdacht gegen mich, ich werde mich rächen!« Das ist der Charakter des Pariser Gassenjungen. Cérizet nahm also von der Firma Gebrüder Cointet Nebeneinkünfte an, die ohne Frage für das Lesen der Korrekturen, die er jeden Abend in ihrem Kontor holte und morgens wiederbrachte, zu hoch waren. Er plauderte täglich mehr mit ihnen, freundete sich an, sah zuletzt die Möglichkeit, vom Militärdienst freizukommen, die man ihm als Köder vorhielt; und die Cointet hatten es gar nicht nötig, ihn zu bestechen, sie bekamen vielmehr von ihm die erste Auskunft bezüglich der Ausspionierung und Nutzbarmachung des Geheimnisses, das David suchte.

Eva, die mit Sorge sah, wie wenig man Cérizet trauen konnte, und wie unmöglich es war, einen zweiten Kolb zu finden, beschloß, ihren einzigen Setzer, in dem sie mit der Hellsichtigkeit des liebenden Weibes den Verräter erkannte, zu entlassen; aber da das den Tod ihrer Druckerei bedeutete, faßte sie einen männlichen Entschluß: sie schrieb an Herrn Métivier, den Pariser Geschäftsfreund von David Séchard, ebenso wie von den Cointet und fast allen Papierfabrikanten des Departements, einen Brief und bat ihn, in die Buchhändlerzeitung in Paris die folgende Anzeige einzurücken:

»Zu verkaufen eine Buchdruckerei in vollem Betrieb
mit Einrichtung und Patent in Angoulême.
Wegen der Bedingungen wende man sich an
Herrn Métivier, Rue Serpente.«

Nachdem die Cointet die Nummer des Blattes, in dem diese Anzeige stand, gelesen hatten, sagten sie sich: »Diese kleine Frau ist nicht dumm. Es ist Zeit, uns zum Herrn ihrer Druckerei zu machen und ihr so viel zu tun zu geben, daß sie davon leben kann; sonst könnte der Nachfolger Davids ein ernsthafter Konkurrent werden, und es ist unser Interesse, immer zu sehen, was in der Werkstatt vorgeht.«

Auf Grund dieser Erwägungen suchten die Brüder Cointet David Séchard auf. Eva, an die die beiden Brüder sich wandten, empfand die lebhafteste Freude, als sie die schnelle Wirkung ihrer List sah, denn sie verhehlten ihr nicht ihren Plan, Herrn Séchard vorzuschlagen, er sollte auf ihre Rechnung drucken: sie wären mit Aufträgen überlastet, ihre Pressen könnten die Arbeit nicht leisten, sie hätten Arbeiter in Bordeaux gesucht und machten sich anheischig, die drei Pressen Davids zu beschäftigen.

»Meine Herren,« sagte sie zu den beiden Brüdern Cointet, während Cérizet ging, um David den Besuch seiner Kollegen zu melden, »mein Mann hat bei der Firma Didot vortreffliche Gehilfen kennen gelernt, die redlich und unternehmend sind, er wird sich ohne Frage seinen Nachfolger unter den Besten aussuchen ... Ist es nicht mehr wert, sein Geschäft für zwanzigtausend Franken zu verkaufen, die uns tausend Franken Rente geben, als tausend Franken jährlich bei dem Geschäft zu verlieren, das Sie uns machen lassen? Warum haben Sie uns die armselige kleine Spekulation mit unserm Almanach stören müssen, der noch dazu unserer Druckerei gehörte?«

»Aber, Frau Séchard, warum haben Sie uns keine Mitteilung davon gemacht? Wir wären Ihnen nicht in den Weg getreten«, sagte liebenswürdig der eine der beiden Brüder, den man den »großen Cointet« nannte.

»Gehen Sie doch, meine Herren! Sie haben Ihren Almanach erst angefangen, nachdem Sie von Cérizet gehört hatten, daß ich meinen in Arbeit hatte.«

Während sie diese Worte lebhaft hervorstieß, sah sie den großen Cointet an und brachte ihn dazu, die Augen niederzuschlagen. Sie erlangte so die Gewißheit von Cérizets Verrat.

Dieser Cointet, der der Papierfabrikation und den Geldgeschäften vorstand, war ein viel geschickterer Kaufmann als sein Bruder Jean, der zwar die Buchdruckerei mit großer Umsicht leitete, aber dessen Fähigkeiten sich der eines Obersten vergleichen ließen, während Boniface ein General war, dem Jean das oberste Kommando überließ. Boniface, ein dürrer, hagerer Mann mit einem rotgefleckten Gesicht, das gelb wie eine Wachskerze war, mit gekniffenem Mund, und Augen, die denen einer Katze glichen, ließ sich niemals zum Zorn hinreißen: er hörte mit scheinheiliger Ruhe die größten Beschimpfungen an und antwortete mit sanfter Stimme. Er ging zur Messe, zur Beichte und zum Abendmahl. Unter duckmäuserischen Manieren und einem fast schlaffen Äußeren verbarg er die Zähigkeit und den Ehrgeiz des Priesters und die Gier des Handelsmannes, der von dem Durst nach Reichtümern und Ehren verzehrt wird. Schon 1820 wollte der große Cointet alles, was die Bourgeoisie schließlich in der Revolution von 1830 erlangt hat. Von Haß gegen die Aristokratie erfüllt und in religiösen Angelegenheiten gleichgültig, war er ungefähr in der Weise fromm, wie Napoleon ein Anhänger der Bergpartei gewesen war. Sein Rückgrat beugte sich mit bewunderungswürdiger Geschmeidigkeit vor dem Adel und der Verwaltungsbehörde, vor der er sich klein, demütig und zuvorkommend machte.

Für jeden, der sich auf die Geschäfte versteht, war ein Zug dieses Mannes auf der Stelle kennzeichnend: unter dem Vorwand, seine Augen vor der starken Lichtstrahlung in dieser Stadt zu schützen, deren Erdboden und Gebäude weiß sind, und wo die Intensität des Tageslichts noch durch die hohe Lage über dem Meer gesteigert wird, verbarg er seinen Blick hinter einer blauen Brille. Obwohl nur von mittlerer Figur, erschien er doch groß durch seine Magerkeit, die auf eine mit Arbeit überhäufte Natur und ein in beständiger Tätigkeit begriffenes Hirn schließen ließ. Seine jesuitische Physiognomie wurde vervollständigt durch eine platte, graue, lange, nach priesterlicher Art zugestutzte Frisur und seine Kleidung, die seit sieben Jahren aus einer schwarzen Hose, schwarzen Strümpfen, einer schwarzen Weste und einem langen Gehrock aus kastanienfarbenem Tuch bestand. Man nannte ihn den großen Cointet, um ihn von seinem Bruder zu unterscheiden, den man den dicken Cointet hieß, und um den Gegensatz zum Ausdruck zu bringen, der sowohl zwischen den Figuren als auch den Fähigkeiten der beiden Brüder bestand, die übrigens beide in gleicher Weise zu fürchten waren. In der Tat stach der Eindruck, den Jean Cointet machte, der wie ein gutmütiger dicker Bursche aussah, auffallend von dem seines älteren Bruders ab. Er hatte ein flämisches, von der Sonne des Angoumois gebräuntes Gesicht, war kurz und stämmig, dickwanstig wie Sancho und lächelte unaufhörlich. Er war nicht nur in Physiognomie und Verstandsanlagen seinem Bruder unähnlich, sondern auch in den Anschauungen, die nahezu liberal waren. Er war linkes Zentrum, ging nur des Sonntags zur Messe und stand auf bestem Fuße mit den liberalen Kaufleuten. Einige Kaufleute in Houmeau behaupteten, daß diese Verschiedenheit der Ansichten zwischen den beiden Brüdern ein abgekartetes Spiel sei. Der große Cointet wußte sich der anscheinenden Derbheit seines Bruders sehr geschickt zu bedienen, den er gebrauchte wie eine Keule. Jean hatte die Obliegenheit der harten Worte und aller der Betätigungen, die der Sanftmut seines Bruders widerstrebten. Er übernahm die Zornausbrüche, machte unannehmbare Vorschläge, die die seines Bruders noch milder erscheinen ließen, und so gelangten sie, früher oder später, zu ihrem Ziel.

Mit dem Takt, der den Frauen eigentümlich ist, hatte Eva den Charakter der beiden Brüder bald erraten. Sie war demgemäß in Gegenwart so gefährlicher Gegner auf ihrer Hut. David, der von seiner Frau schon eingeweiht worden war, hörte die Vorschläge seiner Feinde mit tiefer Zerstreutheit an: »Verständigen Sie sich mit meiner Frau,« sagte er zu den Cointet und öffnete die Glastür des kleinen Nebenzimmers, um in sein Laboratorium zurückzukehren, »sie weiß mit meiner Druckerei besser Bescheid als ich. Ich bin mit einem Unternehmen beschäftigt, das einträglicher sein wird als dieses armselige Geschäft und das mir die Summen wieder einbringen wird, die ich mit Ihrer Hilfe verloren habe ...«

»Und auf welche Art?« sagte der dicke Cointet lachend.

Eva warf ihrem Manne einen Blick zu, der ihm Klugheit empfehlen sollte.

»Sie werden mir tributpflichtig sein, Sie und alle, die Papier verbrauchen«, antwortete David.

»Und wonach suchen Sie denn?« fragte Benoit-Boniface Cointet.

Als Boniface mit sanftem Ton und einschmeichelnder Miene seine Frage losgelassen hatte, blickte Eva ihren Mann von neuem an, um ihn dazu zu bringen, nichts oder so gut wie nichts zu antworten.

»Ich bin dabei, das Papier fünfzig Prozent unter dem bisherigen Herstellungspreis zu fabrizieren ...«

Und er verließ das Zimmer, ohne den Blick zu beachten, den die Brüder Cointet austauschten und mit dem sie einander sagten: Dieser Mann mußte ein Erfinder sein; mit so mächtigen Schultern kann er nicht untätig bleiben! Nutzen wir ihn aus! sagte Boniface. Und wie? fragte Jean.

»David macht es mit Ihnen wie mit mir«, sagte Frau Séchard. »Wenn ich die Neugierige spiele, ist er wahrscheinlich vor meinem Namen auf der Hut und wirft mir diesen Satz zu, der schließlich doch nur ein Programm ist.«

»Wenn Ihr Mann dieses Programm ausführt, wird er sicherlich schneller zu Geld kommen als mit der Druckerei, und ich wundere mich nicht mehr, daß er sie vernachlässigt,« versetzte Boniface und wandte sich der verödeten Werkstatt zu, wo Kolb auf einem Holzbock saß und sein Brot mit einer Knoblauchzehe einrieb; »aber wir würden es nicht gerne sehen, wenn diese Druckerei in die Hände eines tätigen, betriebsamen und ehrgeizigen Konkurrenten käme, und daher würden wir uns gern mit Ihnen verständigen. Wenn Sie zum Beispiel damit einverstanden sind, Ihre Einrichtung für eine bestimmte Summe einem unserer Gehilfen zu vermieten, der unter Ihrer Firma für uns arbeiten würde, wie das in Paris geschieht, dann würden wir den Mann so gut beschäftigen, daß er Ihnen eine anständige Miete bezahlen und kleine Gewinne erzielen könnte.«

»Das kommt auf die Summe an«, erwiderte Eva Séchard. »Was wollen Sie geben?« fügte sie hinzu und blickte Boniface auf eine Weise an, die ihm zu verstehen geben sollte, daß sie seinen Plan völlig verstand.

»Was würden Sie denn verlangen?« fragte Jean Cointet lebhaft.

»Dreitausend Franken für ein halbes Jahr«, erwiderte sie.

»Aber liebe, kleine Frau, Sie sprachen doch davon, Ihre Druckerei für zwanzigtausend Franken zu verkaufen«, versetzte Boniface ganz sanft. »Die Zinsen von zwanzigtausend Franken betragen zu sechs Prozent nur zwölfhundert Franken.«

Eva war einen Augenblick ganz benommen; sie merkte jetzt, wie wichtig es in Geschäften sei, schweigen zu können.

»Sie bedienen sich unserer Pressen und unserer Schriften, mit denen ich, wie ich Ihnen gezeigt habe, noch allerlei kleine Geschäfte machen kann,« erwiderte sie, »und wir haben dem alten Herrn Séchard, der uns nicht gerade was schenkt, Miete zu zahlen.«

Nach einem zweistündigen Kampf setzte Eva zweitausend Franken für ein halbes Jahr durch, von denen tausend im voraus bezahlt werden sollten. Als alles abgemacht war, teilten ihr die beiden Brüder mit, es wäre ihre Absicht, die Pacht der Buchdruckerei Cérizet zu übertragen. Eva konnte eine Bewegung der Überraschung nicht zurückhalten.

»Ist es nicht besser, jemanden zu nehmen, der die Werkstatt kennt?« sagte der dicke Cointet.

Eva grüßte die beiden Brüder, ohne zu antworten, und nahm sich vor, Cérizet persönlich zu überwachen.

»So, jetzt sind also unsere Feinde an Ort und Stelle!« sagte David lachend zu seiner Frau, als sie ihm vor dem Mittagessen die Schriftstücke zeigte, die zu unterzeichnen waren.

»Bah!« sagte sie, »ich bürge für die Anhänglichkeit von Kolb und Marion; die beiden werden alles überwachen. Überdies lösen wir viertausend Franken aus einer Einrichtung, die uns bisher nur Geld gekostet hat, und du hast ein Jahr vor dir, um deine Hoffnungen zu verwirklichen!«

»Du mußtest, wie du es mir am Flusse gesagt hast, die Frau eines Erfinders werden!« sagte Séchard und drückte seiner Frau zärtlich die Hand.

Der Hausstand Davids hatte jetzt eine hinreichende Summe, um über den Winter hinwegzukommen, aber er stand unter der Überwachung von Cérizet und, ohne daß David es wußte, in Abhängigkeit vom großen Cointet.

»Wir haben sie!« sagte beim Fortgehen der Direktor der Papierfabrik zu seinem Bruder, dem Drucker. »Die armen Teufel werden sich daran gewöhnen, die Miete für ihre Druckerei zu erhalten; sie werden darauf rechnen und werden Schulden machen. In einem halben Jahr erneuern wir die Pacht nicht, und dann wollen wir sehen, was das Genie in seinem Sack hat, denn wir werden ihm vorschlagen, ihm aus der Verlegenheit zu helfen und uns an der Ausbeutung seiner Entdeckung zu beteiligen.«

Wenn ein gewitzigter Kaufmann den großen Cointet hätte sehen können, wie er das Wort beteiligen aussprach, hätte er begriffen, daß vor dem Handelsgericht noch gefährlichere Verbindungen geschlossen werden können als vor dem Standesamt. War es nicht schon zuviel, daß diese wilden Jäger ihrer Beute auf der Spur waren? Waren David und seine Frau mit Hilfe von Kolb und Marion imstande, sich der Ränke eines Boniface Cointet zu erwehren?

Als die Niederkunft der Frau Séchard herannahte, erlaubte es die Fünfhundertfrankennote, die Lucien schickte, zusammen mit Cérizets zweiter Zahlung, alle Ausgaben zu bestreiten. Eva, ihre Mutter und David, die sich von Lucien vergessen geglaubt hatten, empfanden jetzt eine Freude, die ebenso groß war wie die, die sie über die ersten Erfolge des Dichters hatten: seine glänzenden journalistischen Leistungen machten in Angoulême noch mehr Aufsehen als in Paris.

Aber David, der auf solche Weise in eine trügerische Sicherheit gewiegt gewesen war, wollte fast umsinken, als er von seinem Schwager die folgenden grausamen Zeilen erhielt:

»Lieber David! Ich habe bei Métivier drei von Dir unterzeichnete Wechsel auf meine Order mit einem, zwei und drei Monaten Ziel zu Geld gemacht. Ich hatte nur zwischen diesem Entschluß und dem Selbstmord zu wählen, und so habe ich etwas getan, was Dir ohne Zweifel sehr lästig fallen wird. Ich werde Dir erklären, in welcher Notlage ich bin, und werde überdies versuchen, Dir die Mittel zur Einlösung zu schicken.

Verbrenne diesen Brief, sage meiner Schwester und meiner Mutter nichts, denn ich gestehe, ich habe auf Deinen Heroismus gezählt, den so gut kennt

Dein verzweifelter Bruder

Lucien von Rubempré.«

»Dein armer Bruder«, sagte David zu seiner Frau, die eben aus dem Wochenbett aufgestanden war, »ist in schrecklicher Verlegenheit, ich habe ihm drei Wechsel über je tausend Franken auf einen, zwei und drei Monate geschickt; notiere es.«

Dann begab er sich, um den Erklärungen auszuweichen, die seine Frau verlangen würde, ins Freie. Als aber Eva mit ihrer Mutter sich über diese unheilkündende Rede beriet, bekam sie, die schon über das Schweigen ihres Bruders seit einem halben Jahre sehr beunruhigt war, so schlimme Ahnungen, daß sie sich, um sie zu verscheuchen, entschloß, einen Schritt zu tun, wie ihn die Verzweiflung rät. Der junge Herr von Rastignac war für ein paar Tage zum Besuch seiner Familie eingetroffen, und er hatte über Lucien so schlecht gesprochen, daß diese Nachrichten aus Paris mit den Kommentaren aller der Zungen, die sie verbreitet hatten, auch zur Schwester und Mutter des Journalisten gedrungen waren. Eva begab sich zur Frau von Rastignac und bat dort, den Sohn sprechen zu können. Sie sprach von allen ihren Befürchtungen und bat ihn, ihr über Luciens Lage in Paris die Wahrheit mitzuteilen. Eva erfuhr nun in einem Augenblick die Nachrichten von der Liebschaft ihres Bruders mit Coralie, von seinem Duell mit Michel Chrestien auf Grund seines Verrats gegen d'Arthez, kurz, sie erfuhr alle Einzelheiten von Luciens Leben in der giftigen Darstellung eines witzigen Stutzers, der seinem Haß und seinem Neid den Mantel des Mitleids, die freundschaftliche Form des Lokalpatriotismus, der über die Zukunft eines großen Mannes in Sorge ist, und die Farbe einer aufrichtigen Bewunderung für das Talent eines Landsmannes gab, der sich so grausam kompromittiert hatte. Er sprach von den Fehlern, die Lucien begangen hatte, die ihn um die Protektion der höchsten Persönlichkeiten gebracht hatten und die daran schuld wären, daß eine Ordonnanz, die ihm das Wappen und den Namen »von Rubempré« übertrug, zerrissen worden wäre.

»Wenn Ihr Bruder gut beraten gewesen wäre, wäre er heute auf dem Wege zu den größten Ehren und wäre Gatte der Frau von Bargeton. Aber was soll man sagen! Er hat sie verlassen und beschimpft. Sie ist zu ihrem großen Bedauern Gräfin du Châtelet geworden, denn sie liebte Lucien.«

»Ist es möglich?« rief Frau Séchard.

»Ihr Bruder ist ein Adler, den die ersten Strahlen des Luxus und des Ruhmes geblendet haben. Wer kann sagen, wenn ein Adler fällt, in welchen Abgrund er stürzen wird? Der Sturz eines großen Mannes steht immer im Verhältnis zu der Höhe, zu der er gelangt war.«

Voller Schrecken über diesen letzten Satz, der ihr wie ein Pfeil ins Herz gedrungen war, ging Eva nach Hause. Sie war an der empfindlichsten Stelle ihrer Seele getroffen und bewahrte das tiefste Schweigen über alles, was sie gehört hatte; aber mehr als eine Träne fiel auf die Wangen und die Stirn des Kindes, das sie stillte. Es ist so schwer, auf die Illusionen zu verzichten, die der Familiensinn erzeugt und die mit dem Leben geboren werden, daß Eva Eugen von Rastignac nicht glauben wollte; sie wollte die Stimme eines wahrhaften Freundes hören. So schrieb sie also an d'Arthez, dessen Adresse ihr Lucien in der Zeit gegeben hatte, wo er für den Zirkel begeistert gewesen war, einen rührenden Brief und erhielt die folgende Antwort:

»Verehrte Frau!

Sie bitten mich um die Wahrheit über das Leben, das Ihr Herr Bruder in Paris führt. Sie wollen über seine Zukunft klarsehen, und um mich zu zwingen, Ihnen offen zu antworten, wiederholen Sie mir, was Ihnen Herr von Rastignac darüber gesagt hat, und fragen mich, ob die und die Tatsachen auf Wahrheit beruhen. Was mich betrifft, muß ich die Mitteilungen des Herrn von Rastignac zu Luciens Vorteil richtigstellen. Ihr Bruder hat Gewissensbisse gezeigt, er ist mit der Kritik meines Buches zu mir gekommen und hat mir gesagt, er könne sich nicht entschließen, sie zu veröffentlichen, obwohl der Ungehorsam gegen die Befehle seiner Partei einer geliebten Person große Gefahr gebracht hätte. Ach! es ist die Aufgabe eines Schriftstellers, die Leidenschaften zu verstehen, er setzt ja seinen Ruhm darein, sie zum Ausdruck zu bringen: ich habe also begriffen, daß bei der Wahl zwischen einer Geliebten und einem Freund der Freund geopfert werden mußte. Ich habe Ihrem Bruder sein Verbrechen erleichtert, ich habe selbst diesen Artikel, der mein Buch zu vernichten ausging, verbessert und habe ihn völlig genehmigt. Sie fragen mich, ob Lucien meine Achtung und meine Freundschaft behalten hat. Hier ist die Antwort schwierig. Ihr Bruder ist auf einem Weg, auf dem er zugrunde gehen wird. In diesem Augenblick bedaure ich ihn noch; bald werde ich ihn gern vergessen haben, nicht um deswillen, was er schon getan hat, sondern wegen dessen, was er noch zu tun genötigt sein wird. Ihr Lucien ist ein poetischer Mensch, aber kein Poet; er träumt, aber er denkt nicht; er ist leidenschaftlich, aber nicht schöpferisch. Kurz, er ist, gestatten Sie mir das Wort, ein Weibchen, das den Schein liebt, und das ist der Hauptfehler des Franzosen. So wird Lucien immer dem Vergnügen, seinen Geist glänzen zu lassen, seinen besten Freund opfern. Er würde gern morgen einen Pakt mit dem Bösen abschließen, wenn dieser Pakt ihm für einige Jahre ein glänzendes und üppiges Leben sicherte. Hat er nicht schon Schlimmeres getan, indem er seine Zukunft gegen die flüchtigen Wonnen des Lebens vertauschte, das er ganz öffentlich mit einer Schauspielerin führt? In diesem Augenblick verbergen ihm die Jugend, die Schönheit, die Hingebung dieses Weibes, das ihn anbetet, die Gefahren einer Situation, die die Welt nie billigen wird, selbst wenn er noch so viel Ruhm, Erfolg und Vermögen geerntet hätte. Jeder neuen Verführung gegenüber wird Ihr Bruder wie jetzt nur den Genuß des Augenblicks sehen. Sie mögen beruhigt sein, Lucien wird nie bis zum Verbrechen gehen, er hat nicht die Kraft dazu; aber er würde ein vollendetes Verbrechen akzeptieren, würde seine Vorteile teilen, ohne seine Gefahren geteilt zu haben; und das scheint jedermann schrecklich, selbst den Frevlern. Er wird sich selbst verachten, er wird bereuen; aber wenn wieder Not an Mann geht, wird ers von neuem anfangen; denn er hat keinen Willen, er ist ohne Kraft gegen die Verführungen der Wollust, gegen die Verlockung jeder ersten besten seiner ehrgeizigen Regungen. Er ist faul wie alle poetischen Naturen und hält sich für gewandt, wenn er den Schwierigkeiten ausweicht, anstatt sie zu überwinden. Zu mancher Stunde wird er Mut haben, aber zu einer andern wird er feig sein. Und man darf ihm seinen Mut nicht hoch anrechnen und seine Feigheit nicht vorwerfen. Lucien ist eine Harfe, deren Saiten je nach den Schwankungen der Atmosphäre straff oder schlaff werden. Er wird imstande sein, in einer Stimmung der Wut oder des Glücks ein schönes Buch zu schreiben, und wird sich dann nichts aus dem Erfolg machen, den er vorher heiß ersehnt hatte. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Paris kam er in die Abhängigkeit von einem sittenlosen jungen Mann, dessen Gewandtheit und Erfahrung auf den Irrwegen des literarischen Lebens ihn geblendet haben. Dieser Gaukler hat Lucien völlig verführt, er hat ihn in ein würdeloses Leben gerissen, über das zu seinem Unglück die Liebe ihren täuschenden Schleier geworfen hat. Wenn die Bewunderung zu leicht gewährt wird, ist sie ein Zeichen von Schwäche: man darf einen Seiltänzer und einen Dichter nicht mit gleicher Münze bezahlen. Es hat uns allen weh getan, daß die Intrige und das literarische Strauchrittertum den Sieg über den Mut und die Ehre derer davongetragen haben, die Lucien rieten, den Kampf aufzunehmen, anstatt den Erfolg zu stehlen, sich in die Arena zu werfen, anstatt ein Trompeter im Orchester zu werden. Die Gesellschaft, verehrte Frau, ist seltsamerweise voller Nachsicht für junge Menschen dieser Art; sie liebt sie, sie läßt sich von dem schönen Schein ihrer äußern Gaben einnehmen; sie stellt keine Forderungen an sie, sie entschuldigt alle ihre Fehler, sie gewährt ihnen alle Vorteile der vollkommnen Naturen und will nur ihre Vorzüge sehen, kurz, sie macht aus ihnen ihre verzogenen Kinder. Im Gegensatz dazu ist sie von einer grenzenlosen Strenge gegen die starken und vollkommnen Naturen. Dieses Verhalten der Gesellschaft, das so überaus ungerecht zu sein scheint, ist vielleicht ganz vortrefflich. Sie amüsiert sich über die Spaßmacher, verlangt nichts anderes von ihnen als Vergnügen und vergißt sie schnell, während sie von der Größe, vor der sie das Knie beugen soll, fast göttliche Herrlichkeit verlangt. Alles hat sein eigenes Gesetz: der ewige Diamant muß fleckenlos sein, das Augenblickskind der Mode hat das Recht, leicht, bizarr und ohne Bestand zu sein. Daher wird Lucien trotz seiner Irrtümer vielleicht wunderbares Glück haben; es braucht dazu nur, daß ihm irgendein glücklicher Umstand zu Hilfe kommt, oder daß er in gute Gesellschaft gerät; aber wenn er einen bösen Engel trifft, wird er bis zum Grund der Hölle hinabsinken. Man denke sich eine glänzende Vereinigung schöner Dinge, die auf einen zu leichten Grund gestickt sind; das Alter nimmt die Blumen weg, es bleibt eines Tages nur das Gewebe; und wenn es schlecht ist, ist es nur ein elender Lumpen. Solange Lucien jung ist, gefällt er; aber was wird sein, wenn er dreißig Jahre alt ist? Das ist die Frage, die sich die stellen müssen, die ihn aufrichtig lieb haben. Wenn ich allein so über Lucien dächte, hätte ich mich vielleicht nicht entschlossen, Ihnen mit meiner Aufrichtigkeit so viel Kummer zu machen; aber abgesehen davon, daß es mir Ihrer, deren Brief ein Angstschrei ist, und meiner, dem Sie so viel Vertrauen erweisen, nicht würdig erschiene, den Fragen, die Ihre Besorgnis stellt, mit nichtssagenden Redensarten auszuweichen, sind meine Freunde, die Lucien kennen, in diesem Urteil alle einmütig: ich habe also geglaubt, eine Pflicht zu erfüllen, wenn ich die Wahrheit sage, so schrecklich sie auch ist. Man kann von Lucien im Guten und im Schlimmen alles erwarten. Das ist in einem Wort unsere Meinung und der kurze Sinn dieses Briefes. Wenn die Zufälle seines Lebens, das jetzt voller Not und Gefahren ist, diesen Dichter wieder zu Ihnen zurückführen sollten, so benutzen Sie all Ihren Einfluß, um ihn im Schoß seiner Familie zu behalten; denn solange sein Charakter keine Festigkeit gewonnen hat, wird Paris immer gefährlich für ihn sein. Er hat Sie und Ihren Mann seine guten Engel genannt und hat Sie ohne Frage vergessen; aber er wird in dem Augenblick, wo der Sturm ihn zu Boden reißt und er als Zufluchtsstätte nur noch seine Familie hat, an Sie denken; bewahren Sie ihm also Ihre Liebe, er wird sie brauchen.

Gestatten Sie, verehrte Frau, die aufrichtig ergebenen Grüße eines Mannes, dem Ihre schönen Eigenschaften bekannt sind und der Ihre mütterliche Besorgnis zu hoch schätzt, als daß er Ihrem Wunsche nicht hätte gehorsam sein müssen.

Ihr sehr ergebener

d'Arthez.«

Zwei Tage später, nachdem Eva diese Antwort gelesen hatte, mußte sie eine Amme nehmen, ihre Milch versiegte. Sie hatte aus ihrem Bruder einen Gott gemacht und sah ihn jetzt durch die Ausübung seiner schönsten Gaben verderbt; für sie war er in den Schmutz gesunken. Diese edle Frau kannte bezüglich der Redlichkeit, der Herzensreinheit und all der häuslichen Tugenden, die am Herd der Familie gepflegt werden, der in der Provinz noch so makellos ist, keine Zugeständnisse. David hatte also mit seinen Befürchtungen recht behalten. Als Eva in einem der ernsten Gespräche, in denen zwei Liebende sich alles sagen können, ihrem Manne den Kummer anvertraute, der ihrer weißen Stirn eine bleierne Farbe gegeben hatte, sprach David tröstliche Worte. Obwohl ihm die Tränen in den Augen standen, als er merkte, daß die schöne Brust seiner Frau infolge ihres Leides vertrocknet war, und als er sie in Verzweiflung darüber sah, daß sie ihre Mutterpflichten nicht mehr erfüllen konnte, beruhigte er Eva, indem er ihr einige Hoffnung zeigte.

»Siehst du, Liebste, dein Bruder hat mit der Phantasie gesündigt. Es ist für einen Dichter so natürlich, daß er sein Gewand aus Purpur und Himmelsblau will, daß er so stürmisch nach Festen begehrt! Dieser Vogel liebt den Glanz und den Luxus und mag bei alledem ein gutes Gewissen haben. Und Gott verzeiht vielleicht gern, was die Gesellschaft verdammt.«

»Aber er ruiniert uns!« rief die arme Frau.

»Er ruiniert uns heute, wie er uns vor einigen Monaten rettete, als er uns an dem Ersten, was er verdiente, teilnehmen ließ«, erwiderte der gutmütige David, der wohl merkte, daß die Verzweiflung seine Frau maßlos machte und daß sie bald wieder zu ihrer Liebe zu Lucien zurückgelangen würde.

»Mercier sagte vor ungefähr fünfzig Jahren in seinem Gemälde von Paris, die Literatur, die Poesie, die schönen Künste und Wissenschaften, die Erzeugnisse des Gehirns könnten niemals einen Menschen ernähren; und Lucien, der ein Dichter ist, hat der Erfahrung von fünf Jahrhunderten nicht geglaubt. Die Ernte der Schriftstellerarbeit kann erst zehn oder zwölf Jahre nach der Aussaat erfolgen, und oft kommt es gar nicht dazu; Lucien aber hat das Unkraut für die Frucht gehalten. Er hat jetzt wenigstens das Leben kennen gelernt. Erst ist er auf eine Frau hereingefallen, dann auf die vornehme Welt und die falschen Freunde. Er hat seine Erfahrung teuer bezahlt, das ist alles. Unsere Vorfahren sagten: Wenn ein Sohn nur seine Ohren und seine Ehre heil nach Hause bringt, ist alles gut ...«

»Seine Ehre!« rief die arme Eva. »Ach, gegen wie viele Tugenden hat Lucien sich vergangen! Gegen sein Gewissen schreiben! Seinen besten Freund angreifen! ... Das Geld einer Schauspielerin annehmen! ... Sich mit ihr zeigen! ... Uns an den Bettelstab bringen! ...«

»Oh, das ist noch gar nichts!« rief David und brach dann schnell ab.

Fast hätte er das Geheimnis der Fälschung, die sein Schwager begangen hatte, verraten, und zum Unglück merkte Eva, daß er mit etwas zurückhielt, und blieb in angstvoller Ungewißheit.

»Wie, nichts?« fragte sie. »Und wo nehmen wir das Geld her, um dreitausend Franken zu bezahlen?«

»Zunächst«, versetzte David, »werden wir die Pacht für die Ausbeutung unserer Druckerei durch Cérizet erneuern. Seit einem halben Jahre haben ihm die fünfzehn Prozent, die ihm die Cointet auf die Arbeiten, die er für sie macht, bewilligen, sechshundert Franken eingebracht, und er hat fünfhundert Franken mit Akzidenzaufträgen verdient.«

»Wenn die Cointet das erfahren,« sagte Eva, »erneuern sie vielleicht das Pachtverhältnis nicht; sie werden ihn fürchten, denn Cérizet ist ein gefährlicher Mensch.«

»Ach, weißt du, das kümmert mich nicht,« rief Séchard; »in ein paar Tagen sind wir reiche Leute! Wenn Lucien erst reich ist, mein Engel, hat er nur noch Tugenden ...«

»Ach, David, Liebster, Bester, was sagst du da? Du meinst also, in der Not hätte Lucien keine Kraft gegen das Böse! Du denkst gerade so von ihm wie Herr d'Arthez! Es gibt keinen großen Geist ohne Kraft, und Lucien ist schwach ... Was ist ein Engel, der nicht in Versuchung geführt werden darf!«

»Nun, ich denke, das ist ein Wesen, das nur in seiner Umgebung, in seiner Sphäre, in seinem Himmel schön ist. Lucien ist nicht zum Kämpfen geschaffen, ich werde ihm den Kampf ersparen. Hier sieh! Ich bin so nahe am Ziel, daß ich dich in die Mittel einweihen darf.«

Er nahm mehrere Stücke weißes Papier von der Größe eines Oktavblattes aus der Tasche, schwang sie triumphierend in der Luft und legte sie seiner Frau in den Schoß.

»Ein Ries von diesem Papier im Format des großen Traubenpapiers wird nicht mehr als fünf Franken kosten«, sagte er und gab die Muster Eva zur Prüfung. Sie sah ihn mit kindlicher Überraschung an.

»Und wie hast du diese Proben gemacht?« fragte sie.

»Mit einem alten Haarsieb, das ich bei Marion gefunden habe«, antwortete er.

»Aber du bist noch nicht zufrieden?« fragte sie.

»Die Frage, um die es sich handelt, ist nicht die der Herstellung, sondern die des Einkaufspreises des Zeuges. Ach, liebes Kind, ich bin nur einer der Letzten, die auf diesem schweren Weg vorwärts gehen. Frau Masson versuchte schon 1794, bedrucktes Papier in weißes zu verwandeln; es ist ihr gelungen, aber zu welchem Preis! In England versuchte um 1800 der Marquis von Salisbury und zur selben Zeit, 1801, in Frankreich Seguin, das Stroh für die Papierfabrikation zu verwenden. Unser gemeines Schilfrohr ( arundo phragmitis) hat das Material zu den Papierblättern geliefert, die du in der Hand hältst. Aber ich will die Brennesseln und die Disteln benutzen; denn will man die Rohstoffe billig haben, muß man sich an pflanzliche Stoffe halten, die auf den Mooren und auf schlechtem Boden fortkommen, dann werden sie sehr billig sein. Das Geheimnis liegt völlig in der Art und Weise, wie man diese Fasern weiterbehandelt. Jetzt ist mein Verfahren noch nicht einfach genug. Aber trotz dieser Schwierigkeit bin ich sicher, daß ich der französischen Regierung das Vorrecht verschaffe, das unsere Literatur genießt, aus ihr nämlich ein Monopol für unser Land zu machen, wie die Engländer das Monopol des Eisens, der Steinkohle oder der gewöhnlichen Töpfereien haben. Ich will der Jaquart der Papierfabrikation sein.«

Eva erhob sich, die Schlichtheit Davids versetzte sie in Begeisterung und Bewunderung; sie öffnete ihre Arme, schloß ihn an ihr Herz und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Du belohnst mich, wie wenn ich schon fertig wäre«, sagte er zu ihr. Statt jeder Antwort hob Eva ihr schönes, ganz von Tränen überströmtes Gesicht und verharrte einen Augenblick so, ohne sprechen zu können.

»Ich umarme nicht das Genie,« sagte sie, »sondern den Tröster! Einem Ruhm, der gesunken ist, stellst du einen Ruhm entgegen, der aufsteigt. Dem Kummer, den mir die Erniedrigung eines Bruders verursacht, stellst du die Größe des Gatten gegenüber ... Ja, du wirst groß sein wie die Graindorge, van Robais, wie der Perser, der uns den Krapp zur Färberröte gegeben hat, wie alle die Männer, von denen du mir gesprochen hast, deren Namen im Dunkel bleiben, weil sie zwar eine Industrie vervollkommnet, es aber getan haben, ohne viel Wesen davon zu machen.«

»Was mögen sie jetzt tun?« fragte Boniface. Der große Cointet ging mit Cérizet auf der Place du Mûrier hin und her und sah nach den Schatten der Frau und des Mannes, die auf den Musselinvorhängen sich abzeichneten; denn er kam jede Nacht um zwölf Uhr, um mit Cérizet zu sprechen, der den Auftrag hatte, jeden Schritt seines früheren Herrn zu überwachen.

»Er zeigt ihr ohne Zweifel die Papiere, die er heute morgen gemacht hat«, antwortete Cérizet.

»Was für Stoffe hat er benutzt?« fragte der Papierfabrikant.

»Es ist nicht möglich, es herauszubekommen,« erwiderte Cérizet; »ich habe ein Loch in das Dach gemacht, bin hinaufgeklettert und habe gesehen, wie mein Meister in dem Kupferkessel seinen Brei gekocht hat; wie sehr ich auch nach den Vorräten blickte, die in einer Ecke aufgehäuft waren, so konnte ich weiter nichts bemerken, als daß die Rohstoffe aussahen wie Haufen Hanf ...«

»Gehen Sie nicht weiter,« sagte Boniface Cointet mit schmeichlerischer Stimme zu seinem Spion, »das wäre nicht ehrlich! ... Frau Séchard wird Ihnen den Antrag machen, Sie sollten Ihre Pacht zwecks Ausbeutung der Druckerei erneuern; sagen Sie, Sie wollten Buchdrucker werden, bieten Sie die Hälfte dessen, was das Patent und die Einrichtung wert sind, und wenn man zustimmen sollte, kommen Sie zu mir. In jedem Fall ziehen Sie die Sache in die Länge ... Die Leutchen haben kein Geld?«

»Keinen Heller!« antwortete Cérizet.

»Keinen Heller!« wiederholte der große Cointet. Sie gehören mir! sagte er bei sich.

Das Haus Métivier und das Haus Gebrüder Cointet verbanden mit ihrem Beruf als Papierhändler und Drucker die Tätigkeit von Bankiers, wofür sie sich aber wohl hüteten ein Patent zu bezahlen. Der Fiskus hatte noch nicht das Mittel gefunden, die kaufmännischen Geschäfte so gut zu kontrollieren, daß er alle die, die heimlich Bankgeschäfte machen, zwingen kann, das Bankierpatent zu nehmen, das in Paris zum Beispiel fünfhundert Franken kostet. Aber die Brüder Cointet und Métivier, wenn sie auch bloß Winkelbankiers waren, setzten deswegen doch im Vierteljahr auf den Plätzen von Paris, Bordeaux und Angoulême etliche hunderttausend Franken untereinander um. An diesem nämlichen Abend nun hatte das Haus Gebrüder Cointet von Paris die von Lucien hergestellten falschen Wechsel über dreitausend Franken erhalten. Der große Cointet hatte sofort auf die Schuld einen Plan gebaut, der sich, wie man sehen wird, mit furchtbarer Gewalt gegen den armen und geduldigen Erfinder richtete.

Am nächsten Tage um sieben Uhr morgens ging Boniface Cointet an dem Wasserlauf entlang, der seine große Papiermühle trieb und dessen donnerndes Getöse das gesprochene Wort fast übertönte. Er wartete dort auf einen jungen Mann im Alter von neunundzwanzig Jahren, der seit sechs Wochen Advokat am Gericht erster Instanz in Angoulême war und Pierre Petit-Claud hieß.

»Sie waren zusammen mit David Séchard auf dem Lyzeum in Angoulême?« fragte der große Cointet, nachdem er den jungen Advokaten begrüßt, der natürlich nicht verfehlt hatte, der Aufforderung des reichen Fabrikanten Folge zu leisten.

»Jawohl«, erwiderte Petit-Claud und schloß sich dem weitergehenden großen Cointet an.

»Haben Sie die Bekanntschaft erneuert?«

»Wir sind uns höchstens zweimal seit seiner Rückkehr begegnet. Es konnte auch nicht wohl anders sein: ich steckte an den Werktagen in meinem Bureau oder im Gerichtsgebäude; und an den Sonn- und Feiertagen arbeitete ich daran, meine Kenntnisse zu vervollständigen, denn ich erwartete alles von mir selbst ...«

Der große Cointet hatte zum Zeichen der Billigung ein Kopfnicken.

»Als David und ich uns wiedersahen, fragte er mich, was aus mir geworden sei. Ich sagte ihm, daß ich, nach Vollendung meiner juristischen Studien in Poitiers, Bureauvorsteher beim Advokaten Olivet geworden sei und daß ich hoffte, eines Tages dessen Praxis zu übernehmen ... Lucien Chardon, der sich jetzt von Rubempré nennen läßt, den Geliebten der Frau von Bargeton, unsern großen Dichter, kurz, den Schwager von David Séchard habe ich viel besser gekannt.«

»Sie können dann also David Mitteilung von Ihrer Ernennung machen und ihm Ihre Dienste anbieten.«

»Das wird nicht gehen«, meinte der junge Advokat.

»Er hat nie einen Prozeß gehabt, er hat keinen Advokaten, aber es kann dazu kommen«, erwiderte Cointet und sah den kleinen Advokaten hinter seiner Brille von oben bis unten an.

Pierre Petit-Claud war der Sohn eines Schneiders von Houmeau, war von seinen Kameraden im Lyzeum verachtet worden und schien einen ansehnlichen Teil übergetretener Galle in seinem Blut zu haben. Sein Gesicht hatte eine schmutzige, schmierige Färbung und sah aus wie die Gesichter, die frühere Krankheiten, die Nachtwachen des Elends und fast immer bösartige Triebe verraten. Die gewöhnliche Umgangssprache hat einen Ausdruck, der diesen Menschen mit einem Wort bezeichnet: er war ein Giftnickel. Seine heisere Stimme paßte zu der Schärfe seiner Mienen, seinem bösen Ausdruck und zu der unbestimmten Farbe seines Elsterauges. Das Elsterauge ist nach einer Bemerkung Napoleons ein Zeichen der Unredlichkeit. »Sehen Sie den an,« sagte er auf Sankt-Helena zu Las Cases über einen seiner Vertrauten, den er wegen Veruntreuungen entlassen mußte; »ich weiß nicht, wie ich mich so lange in ihm täuschen konnte, er hat das Auge einer Elster.« Als daher der große Cointet diesen magern kleinen Advokaten mit seinem Gesicht voller Blatternarben, mit den spärlichen Haaren, dessen Stirn und Schädel schon ineinander übergingen, betrachtet hatte, als er beobachtete, wie er schon dabei war, sein Gewissen zur Ruhe zu bringen, sagte er sich: Das ist mein Mann.

In der Tat hatte Petit-Claud, dem die Verachtung, der er überall begegnete, das Leben verbitterte, an dem die brennende Gier zehrte, in die Höhe zu kommen, die Kühnheit gehabt, obwohl er kein Vermögen besaß, die Praxis seines Chefs für dreißigtausend Franken zu kaufen, wobei er auf eine Heirat rechnete, um die Schuld bezahlen zu können; und wie es üblich ist, rechnete er auf seinen Chef, daß der eine Frau für ihn fände, denn der Vorgänger hat immer ein Interesse daran, seinen Nachfolger zu verheiraten, um zu seinem Gelde zu kommen. Petit-Claud rechnete noch mehr auf sich selbst, denn es fehlte ihm nicht an einer gewissen geistigen Überlegenheit, die in der Provinz selten ist und die in seinem Haß wurzelte. »Großer Haß bringt es zu was.«

Es ist ein großer Unterschied zwischen den Advokaten von Paris und denen der Provinz, und der große Cointet war schlau genug, sich die kleinen Regungen, denen diese Provinzadvokaten gehorchen, zunutze zu machen. In Paris hat ein bedeutender Advokat, und dort gibt es deren viele, Eigenschaften nötig, die den Diplomaten auszeichnen: die große Zahl der Geschäfte, der Umfang der Interessen, die im Spiel sind, das weite Gebiet der Fragen, mit denen er sich abgeben muß, all das wirkt zusammen, daß er im Prozeßverfahren selbst nicht ein Mittel sehen muß, um zu Vermögen zu kommen. Gleichviel, ob er den Kläger oder Beklagten vertritt, ist das Prozeßverfahren für ihn nicht mehr wie früher ein Mittel zu seiner Bereicherung. In der Provinz dagegen kultivieren die Advokaten, was man wohl den Kleinkram nennt: diese Unzahl kleiner Urkunden, Protokolle und Aktenstücke, die die Kostenrechnungen in die Höhe treiben und Stempelpapier verbrauchen. Diese kleinen Geschäftchen beschäftigen den Provinzadvokaten, er muß darauf halten, da Gebühren zu erheben, wo der Pariser Advokat sich nur um Honorare kümmert. Honorare sind das, was der Klient über die Kosten hinaus seinem Advokaten für die mehr oder weniger geschickte Führung seiner Sache zahlen muß. Der Fiskus bekommt die Hälfte der Kosten, während die Honorare ganz und gar dem Advokaten gehören. Sagen wir es frei heraus: die Honorare, die wirklich bezahlt werden, stehen selten im rechten Verhältnis zu den Honoraren, die für die Dienste, die ein guter Advokat leistet, formell verlangt und berechnet werden. Die Advokaten und die Ärzte von Paris sind, wie die Prostituierten gegen ihre Gelegenheitsliebhaber, außerordentlich mißtrauisch gegen die Erkenntlichkeit ihrer Klienten. Der Klient vor und nach dem Prozeß, das könnte zwei treffliche, eines Meissonier würdige Genrebilder abgeben, um die sich ohne Frage die honorierten Advokaten reißen würden. Es gibt zwischen dem Advokaten von Paris und dem der Provinz noch einen anderen Unterschied. Hier muß zum Verständnis des deutschen Lesers bemerkt werden, daß es in Frankreich zwei Arten von Advokaten gibt: der eine, der avoué, vertritt die Interessen des Klienten in seinem Bureau durch Aufnahme von Aktenstücken, Protokollen, gute Ratschläge usw.; der andere, der avocat, plädiert vor Gericht. Herr Petit-Claud war ein avoué, und alles, was bisher gesagt wurde, bezog sich auf die avoués in der Provinz und in Paris. Der Bureauadvokat von Paris plädiert selten vor Gericht, er spricht nur manchmal, wenn es sich um Anträge zu vorläufiger Entscheidung handelt; aber im Jahre 1822 waren in den meisten Departements seitdem haben sich die Gerichtsadvokaten stark vermehrt die Bureauadvokaten zugleich Gerichtsadvokaten und vertraten ihre Sache selbst in den Terminen. Aus diesem Doppelleben ergibt sich eine doppelte Arbeit, die dem Bureauadvokaten der Provinz die geistigen Laster des Gerichtsadvokaten gibt, ohne ihm die drückenden Geschäfte des Bureauadvokaten abzunehmen. Der Bureauadvokat der Provinz wird ein Schwätzer und verliert die Klarheit des Urteils, die für die Führung der Prozesse so nötig ist. Ein geistig überlegener Mensch, der sich so verdoppelt, findet oft zwei Durchschnittsmenschen in sich. In Paris kann sich der Bureauadvokat, der sich nicht in Worten vor dem Gerichtshof ausgeben muß, der nicht oft das Für und das Gegen herüber und hinüber beschwatzt, die Geradheit seiner Gedanken bewahren. Wenn er die Ballistik des Rechts beherrscht, wenn er das Arsenal der Mittel durchwühlt, die ihm die Widersprüche der Jurisprudenz zur Verfügung stellen, behält er seine Überzeugung über die Sache, der zum Sieg zu verhelfen er bemüht ist. Kurz gesagt, das Denken benebelt viel weniger als das Wort. Wenn er nur redet, glaubt jemand schließlich an das, was er sagt, während man gegen sein Denken handeln kann, ohne es zu verderben, und eine schlechte Sache gewinnen kann, ohne zu behaupten, sie sei gut, wie es der plädierende Advokat tun muß. Daher kann der alte Bureauadvokat von Paris viel eher als ein alter Gerichtsadvokat einen guten Richter abgeben. Aus mehr als einem Grunde wird daher ein Provinzadvokat ein mittelmäßiger Mensch: er muß in seinem Innern kleinlich sein, er führt kleine Sachen, er lebt von der Gebührenüberhebung, er mißbraucht die Strafprozeßordnung, und er plädiert! Mit einem Wort, er hat viele Gebrechen. Wenn sich daher unter diesen Provinzadvokaten ein bemerkenswerter Mann findet, ist es gleich ein sehr überlegener.

»Ich glaubte, Herr Cointet, Sie hätten mich wegen Ihrer Geschäfte bestellt«, entgegnete Petit-Claud und machte durch den Blick, den er auf die undurchdringlichen Brillengläser des großen Cointet richtete, aus dieser Bemerkung eine kleine Bosheit.

»Keine Umschweife«, gab Boniface zurück. »Hören Sie mich ...«

Nach diesem Wort, das vertrauliche Eröffnungen erwarten ließ, setzte sich Cointet auf eine Bank und forderte Petit-Claud auf, seinem Beispiel zu folgen.

»Als Herr du Hautoy im Jahre 1804 durch Angoulême kam, um als Konsul nach Valencia zu gehen, lernte er hier Frau von Senonches, die damals Fräulein Zéphirine war, kennen, und sie bekam von ihm ein Mädchen«, flüsterte Cointet sehr leise seinem Partner ins Ohr. »Ja,« wiederholte er, als er sah, wie Petit-Claud eine erstaunte Bewegung machte, »die Verheiratung Fräulein Zéphirinens mit Herrn von Senonches ist dieser heimlichen Niederkunft schnell gefolgt. Dieses Mädchen, das auf dem Lande bei meiner Mutter aufgezogen wurde, ist Fräulein Françoise de la Haye und steht in der Obhut von Frau von Senonches, die, wie es üblich ist, ihre Patin ist. Da meine Mutter, die die Pächterin der alten Frau von Cardanet, der Großmutter von Fräulein Zéphirine, war, das Geheimnis der einzigen Erbin der Cardanet und der Senonches der älteren Linie kannte, hat man mir die kleine Summe, die Herr Francis du Hautoy seinerzeit seiner Tochter aussetzte, übergeben, damit ich sie anlegte. Ich bin mit Hilfe dieser zehntausend Franken, die heute zu dreißigtausend Franken geworden sind, zu meinem Vermögen gekommen. Frau von Senonches wird ihrem Mündel die Ausstattung, das Silberzeug und einiges Mobiliar geben; und ich kann Ihnen das Mädchen zur Frau verschaffen, mein Junge«, sagte Cointet und klopfte Petit-Claud vertraulich aufs Knie. »Wenn Sie Françoise de la Haye heiraten, bekommen Sie die Klientel eines großen Teils der Aristokratie von Angoulême. Diese Verbindung zur linken Hand eröffnet Ihnen eine glänzende Zukunft ... Die Position eines Advokaten wird gut genug erscheinen: man will nicht höher hinaus, ich weiß es.«

»Was muß ich tun?« sagte Petit-Claud gierig, »Sie haben doch Herrn Cachan als Advokaten ...«

»Und so werde ich Herrn Cachan nicht plötzlich Ihnen zuliebe aufgeben, Sie werden mich erst später zum Klienten bekommen«, sagte der große Cointet pfiffig. »Was Sie tun müssen, mein Freund? Nun eben, die Geschäfte David Séchards müssen Sie besorgen. Dieser arme Teufel hat uns für tausend Taler Wechsel zu zahlen, er wird sie nicht zahlen, und Sie sollen seine Sache gegen unsere Klage führen, und zwar so, daß riesige Kosten entstehen ... Sie können unbesorgt sein, immer weiter gehen und dafür sorgen, daß immer neue Schwierigkeiten und Zwischenfälle entstehen. Doublon, mein Gerichtsvollzieher, der es übernehmen wird, ihn unter der Leitung Cachans gerichtlich zu belangen, wird ihn nicht mit Samthänden anfassen ... Übrigens, ich weiß, wer gut zuhört, braucht nicht viel Worte. Jetzt, junger Mann ...«

Es entstand eine beredte Pause, während deren die beiden Männer sich ansahen.

»Wir haben uns niemals gesehen,« fuhr dann Cointet fort, »ich habe Ihnen nichts gesagt, Sie wissen nichts von Herrn du Hautoy, von Frau von Senonches und von Fräulein de la Haye; nur daß Sie, wenn es so weit ist, in zwei Monaten, um die Hand der jungen Dame anhalten. Wenn wir uns sehen müssen, kommen Sie abends hierher.«

»Sie wollen also Séchard zugrunde richten?« fragte Petit-Claud.

»Nicht ganz und gar, aber er muß eine Zeitlang im Gefängnis bleiben ...«

»Und zu welchem Zweck?«

»Glauben Sie, ich sei so dumm, Ihnen das zu sagen? Wenn Sie gescheit genug sind, es zu erraten, werden Sie auch gescheit genug sein, zu schweigen.«

»Der alte Séchard ist reich«, meinte Petit-Claud. Er lebte schon in der Gedankenwelt von Boniface und faßte einen Umstand ins Auge, der störend sein konnte. »Solange der Alte lebt, gibt er seinem Sohn keinen Heller, und dieser alte Buchdrucker hat noch keine Lust abzukratzen.«

»Also abgemacht!« sagte Petit-Claud, der sich schnell entschloß. »Ich fordere keine Bürgschaften von Ihnen, ich bin Advokat; verliere ich das Spiel, dann werden wir beide zu zahlen haben.«

›Der Kerl wirds weit bringen‹, dachte Cointet und verabschiedete sich von Petit-Claud.

Am Tage nach dieser Konferenz, am dreißigsten April, ließen die Gebrüder Cointet den ersten der drei Wechsel, die Lucien hergestellt hatte, präsentieren. Zum Unglück wurde der Wechsel der armen Frau Séchard überreicht, die sofort merkte, daß Lucien die Unterschrift ihres Mannes nachgeahmt hatte, David herbeirief und ihm auf den Kopf zusagte: »Du hast diesen Wechsel nicht unterschrieben.«

»Nein«, antwortete er. »Dein Bruder hatte es so eilig, daß er für mich unterzeichnet hat ...«

Eva gab dem Kassenboten des Hauses Gebrüder Cointet den Wechsel zurück und sagte: »Wir sind nicht in der Lage ...«

Dann stieg sie, da sie fühlte, daß ihre Kräfte sie verließen, in ihr Zimmer hinauf, und David folgte ihr.

»Lieber,« sagte Eva mit gebrochener Stimme zu Séchard, »eile zu den Herren Cointet, sie werden Rücksicht auf dich nehmen; bitte sie, zu warten, und überdies gib ihnen zu verstehen, daß sie dir bei der Erneuerung des Pachtvertrags mit Cérizet tausend Franken schuldig sind.«

David ging sofort zu seinen Feinden. Ein Faktor kann immer Buchdrucker werden, aber ein tüchtiger Buchdrucker ist nicht immer ein Kaufmann: und so stand David, der von Geschäften nicht viel verstand, in großer Verlegenheit vor dem großen Cointet, als er von diesem, nachdem er mit erstickter Stimme und mit klopfendem Herzen schlecht und recht seine Entschuldigungen gestammelt und seine Bitte vorgebracht hatte, die folgende Antwort erhielt: »Das ist eine Sache, die uns gar nichts angeht; wir haben den Wechsel von Métivier, Métivier wird uns zahlen. Wenden Sie sich an Herrn Métivier.«

»Oh!« rief Eva, als sie diese Antwort vernahm, »wenn der Wechsel an Herrn Métivier zurückgeht, können wir ruhig sein.«

Am nächsten Tage, um zwei Uhr, zu einer Stunde, wo die Place du Mûrier voller Menschen ist, protestierte Victor-Ange-Herménégilde Doublon, der Gerichtsvollzieher der Firma Cointet, den Wechsel; und trotz der Mühe, die er sich gab, an der Haustür mit Marion und Kolb zu plaudern, war der Protest am Abend in der ganzen kaufmännischen Welt von Angoulême bekannt. Konnten überdies die heuchlerischen Manieren von Doublon, dem der große Cointet die größte Rücksicht anempfohlen hatte, Eva und David vor der kaufmännischen Schande retten, die einer Zahlungsstockung auf dem Fuße folgt? Man urteile selbst! Die Längen der Darstellung werden hier zu kurz erscheinen. Neunzig Leser von hundert werden von den Einzelheiten, die jetzt folgen, gepackt werden wie von der pikantesten Neuigkeit. Und so wird wieder einmal die Wahrheit des Grundsatzes bewiesen: Es gibt nichts Unbekannteres, als was jeder kennen müßte: das Gesetz!

Gewiß müßte für die ungeheure Mehrheit der Franzosen der Mechanismus eines der Räderwerke der Bank in guter Schilderung so interessant sein wie ein Kapitel aus einer Reisebeschreibung. Wenn ein Kaufmann aus der Stadt, in der er sein Geschäft hat, einen Wechsel an jemanden schickt, der in einer andern Stadt wohnt, wie man annehmen mußte, daß es David, um Lucien zu dienen, getan hatte, dann handelt es sich nicht mehr um die einfache Sache eines Wechsels, der in derselben Stadt zur Erledigung eines kaufmännischen Geschäfts von einem Geschäftsmann dem anderen gegeben wird, sondern um etwas, was wie der Wechselbrief aussieht, der von einem Platz auf den anderen gezogen wird. So war Métivier, als er Lucien die drei Wechsel abgenommen hatte, um den Betrag zu erhalten, genötigt, sie der Firma Gebrüder Cointet, seinen Geschäftsfreunden, zu schicken. Daraus ergab sich für Lucien ein erster Verlust, der mit dem Namen Kommission für die Versendung des Wechsels bezeichnet wurde und der sich in soundso viel Prozent, die außer dem Diskont von jedem Wechsel abgezogen wurden, ausdrückte. Die Wechsel von Séchard waren also in die Kategorie der Bankgeschäfte übergegangen. Man sollte nicht glauben, in welchem Maße der Umstand, daß zu dem erhabenen Titel des Gläubigers noch die Eigenschaft des Bankiers kommt, die Lage des Schuldners ändert. So sind im Bankverkehr die Bankiers einander schuldig, sowie ein Wechsel, der von dem Platz von Paris nach dem Platz von Angoulême gegangen ist, nicht bezahlt wird, sich das zu senden, was man eine Rikambio-Note nennt. Niemals haben Romanschreiber etwas Unwahrscheinlicheres erfunden, als was hier erzählt wird; denn man höre, zu was für wunderbaren Späßen ein Paragraph des Handelsgesetzbuches die Möglichkeit gibt; diese Auseinandersetzung mag zeigen, wieviel Entsetzliches unter dem schrecklichen Wort Gesetzlichkeit verborgen ist.

Sowie Doublon seinen Protest zu Protokoll genommen hatte, überbrachte er ihn persönlich dem Hause Cointet. Der Gerichtsvollzieher hatte ein Konto für diese Wucherer von Angoulême und gewährte ihnen einen Kredit von sechs Monaten, den der große Cointet, durch die Art, wie er bezahlte, auf ein Jahr hinauszog, wobei er aber von Monat zu Monat seinen Wucherergehilfen fragte: »Doublon, brauchen Sie Geld?« Und das ist noch nicht alles. Doublon gewährte diesem mächtigen Hause einen Rabatt, so daß es an jedem Akt etwas verdiente, ein winziges Bißchen, etwa einen Frank fünfzig Centimes auf einen Protest! ... Der große Cointet setzte sich ruhig an seinen Schreibtisch, nahm ein kleines Blatt Papier, das eine Stempelmarke über fünfunddreißig Centimes trug, und holte dabei aus Doublon Nachrichten über den Stand der Geschäfte der verschiedenen Kaufleute heraus.

»Nun, sind Sie mit dem kleinen Gannerac zufrieden?«

»Es geht nicht schlecht. Ein Speditionsgeschäft ...«

»Ah! er wird große Schwierigkeiten haben! Man hat mir gesagt, seine Frau verursache ihm große Ausgaben ...«

»Ihm? ...« rief Doublon und grinste.

Während dieses Gespräches hatte der Wucherer sein Papier in Ordnung gebracht und schrieb nun in Rundschrift die unheilverkündende Überschrift und darunter die folgende Rechnung:

Rikambio-Note und Kosten

Für einen Wechsel über tausend Franken, datiert Angoulême den zehnten Februar eintausendachthundertzweiundzwanzig, ausgestellt von Séchardjr. auf die Order von Lucien Chardon, genannt von Rubempré, übergegangen an die Order von Métivier und auf unsere Order, fällig gewesen am dreißigsten April dieses Jahres, protestiert vom Gerichtsvollzieher Doublon am ersten Mai eintausendachthundertzweiundzwanzig.

Wechselsumme 1000 fr. c.
Protest 12 " 35 "
Kommission zu ½% 5 " "
Maklergebühr zu ¼% 2 " 50 "
Stempel für unsern Rückwechsel und für Gegenwärtiges 1 " 35 "
Zinsen und Briefporto 3 " "

1024 fr. 20 c.
Platzkurs zu 1¼ % auf 1024.20 13 " 25 "

In Summa   1037 fr. 45 c.

Eintausendsiebenunddreißig Franken fünfundvierzig Centimes, für welche Summe wir uns befriedigen durch unsern Sichtwechsel auf Herrn Métivier, Rue Serpente in Paris, an die Order des Herrn Gannerac in Houmeau.

Angoulême, den zweiten Mai eintausendachthundertzweiundzwanzig.

Gebrüder Cointet.

Unter diese kleine Rechnung, die mit all der Gewohnheit eines Geübten geschrieben wurde, denn der große Cointet plauderte dabei ununterbrochen mit Doublon, schrieb er die folgende Erklärung:

Wir Unterzeichneten, Postel, Apotheker in Houmeau, und Gannerac, Speditionskommissionär, beide Kaufleute dieser Stadt, bescheinigen, daß der Kurs unseres Platzes auf Paris 1¼ % beträgt.

Angoulême, den 3. Mai 1822.

»Hier, Doublon, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie zu Postel und Gannerac, bitten Sie, diese Erklärung zu unterschreiben, und bringen Sie sie mir morgen früh wieder.«

Und Doublon, dem diese Folterinstrumente geläufig waren, ging, wie wenn es sich um die einfachste Sache von der Welt handelte. Offenbar hätte, auch wenn der Protest, wie in Paris, in verschlossenem Umschlag übergeben worden wäre, ganz Angoulême jetzt von dem unglücklichen Stand der Geschäfte des armen Séchard Kenntnis erhalten müssen. Und Gegenstand wie vieler Anklagen waren seine Geschäftsuntüchtigkeit! Die einen sagten, er habe sich durch die ausschweifende Liebe zu seiner Frau ruiniert; die anderen beschuldigten ihn, er bezeige seinem Schwager zu viel Freundschaft. Und was für grausame Schlüsse zogen sie alle aus diesen Vorsätzen! Man dürfte sich niemals der Interessen seiner Nächsten annehmen! Man billigte die Härte des alten Séchard gegen seinen Sohn, man bewunderte ihn!

Ihr alle, die ihr aus irgendwelchen Gründen unterlasset, euren Verpflichtungen nachzukommen, prüfet jetzt das völlig gesetzliche Verfahren, durch das man in zehn Minuten im Bankverkehr ein Kapital von tausend Franken achtundzwanzig Franken Zinsen bringen läßt.

Der erste Punkt dieser Rechnung ist der einzige, der unbestreitbar ist.

Der zweite Punkt enthält den Anteil des Fiskus und des Gerichtsvollziehers. Die sechs Franken, die der Staat einstreicht, indem er die Not des Schuldners zu Protokoll nimmt und das Stempelpapier liefert, werden den Mißbrauch noch lange leben lassen. Man erinnert sich überdies, daß dieser Punkt dem Bankier infolge des von Doublon bewilligten Rabatts einen Gewinn von einem Frank fünfzig Centimes einbringt.

Die Kommission von ½%, die den dritten Punkt bildet, wird unter dem schlauen Vorwand angerechnet, daß im Bankverkehr seine Zahlung nicht erhalten dasselbe ist, wie einen Wechsel diskontieren. Obwohl das völlig entgegengesetzte Dinge sind, wird doch behauptet, es gebe keine größere Ähnlichkeit, als tausend Franken zu geben oder aber sie nicht einzukassieren. Jeder, der Wechsel zum Diskontieren präsentiert hat, weiß, daß der Diskontierer außer den gesetzlichen sechs Prozent soundso viel Prozent unter dem schlichten Namen Kommission erhebt, die die Zinsen vorstellen, die ihm über die gesetzliche Gebühr hinaus das Talent einbringt, mit dem er seine Kapitalien wuchern läßt. Je mehr er Geld verdienen kann, um so mehr verlangt er von einem. Man muß daher bei den Dummen diskontieren, da ist es billiger. Aber gibt es im Bankverkehr Dumme?

Das Gesetz verpflichtet den Bankier, die Höhe des Kurses von einem Wechselmakler bestätigen zu lassen. In den Plätzen, die so unglücklich sind, keine Börse zu haben, wird der Wechselmakler von zwei Kaufleuten ersetzt. Die sogenannte Maklergebühr ist auf ¼% der in dem protestierten Wechsel genannten Summe festgesetzt. Es hat sich der Brauch eingebürgert, diese Kommissionsgebühr anzurechnen, als ob sie den Kaufleuten, die den Makler ersetzen, gegeben worden sei, und der Bankier steckt sie ganz einfach in seine Kasse. So erklärt sich der vierte Punkt dieser lieblichen Rechnung.

Der fünfte Punkt umfaßt die Kosten des Stempelpapiers, auf dem diese Rückrechnung abgefaßt ist, und des Stempels dessen, was man so erfinderisch den Rückwechsel nennt, das heißt des neuen Wechsels, den der Bankier auf seinen Kollegen zieht, um sich bezahlt zu machen.

Der sechste Punkt handelt von der Frankatur der Briefe und den gesetzlichen Zinsen der Summe in der ganzen Zeit, während deren sie in der Kasse des Bankiers fehlen kann.

Der Platzkurs endlich, die große Hauptsache im Bankverkehr, ist der Betrag, den man zahlen muß, um von einem Platz zum andern sich bezahlt zu machen.

Man prüfe nunmehr diese Rechnung genau, in der, ganz wie Policinello in dem neapolitanischen Lied rechnet, das Lablache so entzückend vortrug, fünfzehn und fünf zweiundzwanzig machen! Offenbar war die Unterschrift der Herren Postel und Gannerac eine Gefälligkeit: die Cointet bestätigten im entsprechenden Fall für Gannerac, was Gannerac für die Cointet bestätigte. Es war die praktische Anwendung des Sprichworts: Haust du meinen Juden, hau ich deinen Juden. Die Gebrüder Cointet, die mit Métivier in laufender Rechnung standen, hatten nicht nötig, einen Wechsel auf sie abzugeben. Bei ihrem Verkehr bedeutete ein zurückgegangener Wechsel nichts weiter als eine neue Zeile im Soll und Haben.

Diese Phantasierechnung hätte also in Wirklichkeit nicht mehr ausmachen dürfen als die tausend Franken, den Protest von dreizehn Franken und ½% Zinsen für einen Monat Rückstand, im ganzen vielleicht eintausendundachtzehn Franken.

Wenn ein großes Bankhaus durchschnittlich alle Tage eine solche Rückrechnung über einen Wechsel von tausend Franken hat, dann verdient es täglich achtundzwanzig Franken durch die Gnade Gottes und die Einrichtungen der Bank, dieser furchtbaren Monarchie, die die Juden im zwölften Jahrhundert erfunden haben und die heute über die Throne und die Völker herrscht. Mit andern Worten bringen also tausend Franken diesem Hause achtundzwanzig Franken täglich oder zehntausendzweihundertzwanzig Franken jährlich. Man verdreifache den Durchschnitt dieser Rückrechnungen, und man kommt auf eine Einnahme von dreißigtausend Franken, die diese fiktiven Kapitalien bringen. Es wird daher nichts liebevoller betrieben als das System dieser Rückrechnungen. Wäre David Séchard am dritten Mai gekommen, um seinen Wechsel zu bezahlen, oder auch gleich am Tage nach dem Protest, dann hätten die Gebrüder Cointet ihm gesagt: »Wir haben Ihren Wechsel Herrn Métivier zurückgeschickt!« auch wenn der Wechsel noch auf ihrem Pulte gelegen hätte. Die Rückrechnung ist schon am Abend nach dem Protest in Kraft. In der Sprache der Provinzbankiers nennt man das die Taler schwitzen lassen. Das Briefporto allein bringt dem Hause Keller, das mit der ganzen Welt korrespondiert, etliche zwanzigtausend Franken ein, und die Rückrechnungen bezahlen der Baronin von Nucingen die Loge in der Italienischen Oper, den Wagen und die Toilette. Das Briefporto ist ein um so furchtbarerer Mißbrauch, als die Bankiers in zehn Zeilen eines einzigen Briefes zehn Angelegenheiten erledigen. Seltsam! Der Fiskus hat an dieser Steuer, die dem Unglück auferlegt wird, seinen Anteil, und der Staatsschatz wird also durch geschäftliches Mißgeschick bereichert. Und die Bank schleudert dem Schuldner von ihrem Kontor aus die begründete Frage zu: »Warum sind Sie nicht imstande zu zahlen?« worauf man zum Unglück nichts zu antworten weiß. So ist diese Rückrechnung ein Märchen voll schrecklicher Erfindungen, und die Schuldner, die über diese lehrreiche Seite nachdenken, werden künftig eine heilsame Scheu vor ihr haben.

Am vierten Mai erhielt Métivier von Gebrüder Cointet die Rückrechnung mit dem Auftrag, Herrn Lucien Chardon, genannt von Rubempré, in Paris aufs äußerste zu verfolgen.

Einige Tage später bekam Eva in Beantwortung des Briefes, den sie an Herrn Métivier geschrieben hatte, die folgenden Zeilen, die sie völlig beruhigten.

»Herrn Séchard jr., Drucker in Angoulême

Ich erhielt Ihr Geehrtes vom 5. dieses. Ich entnahm Ihren Erklärungen über den nichtbezahlten Wechsel vom 30.April, daß Sie Ihrem Schwager, Herrn von Rubempré, eine Gefälligkeit erwiesen haben; aber dieser macht so viele Ausgaben, daß man Ihnen einen Dienst damit erweist, wenn man ihn zur Zahlung zwingt: in seiner Lage wird er sich nicht lange verfolgen lassen. Sollte Ihr geehrter Herr Schwager nicht zahlen, so würde ich mich auf die Loyalität Ihres alten Hauses verlassen und zeichne wie immer

Hochachtungsvoll ergebenst

Métivier.«

»Ganz gut«, sagte Eva zu David. »Mein Bruder wird aus diesem Verfahren entnehmen, daß wir nicht zahlen konnten.«

Von welcher Wandlung in Eva sprach dieser Satz! Die wachsende Liebe, die ihr Davids Charakter, den sie immer besser kennenlernte, einflößte, nahm in ihrem Herzen die Stelle der Liebe zu ihrem Bruder ein. Aber von wie viel Illusionen nahm sie damit Abschied!

Verfolgen wir nunmehr den ganzen Weg, den die Rückrechnung auf dem Platz von Paris machte. Ein dritter Inhaber, das heißt, wer den Wechsel durch Übertragung in Besitz hat, hat auf Grund des Gesetzes das Recht, von den verschiedenen Giranten dieses Wechsels lediglich gegen den vorzugehen, der ihm die Aussicht bietet, am schnellsten zu zahlen. Auf Grund dieser Gesetzesbestimmung ging der Gerichtsvollzieher des Herrn Métivier gegen Lucien vor. Man höre nur die einzelnen Phasen dieses übrigens völlig unnützen Vorgehens. Métivier, hinter dem die Cointet steckten, kannte die Zahlungsunfähigkeit Luciens; aber nach dem Geist des Gesetzes existiert die tatsächliche Zahlungsunfähigkeit rechtlich erst, nachdem sie festgestellt worden ist.

Man stellte also die Unmöglichkeit, von Lucien die Bezahlung des Wechsels zu erlangen, auf folgende Weise fest. Der Gerichtsvollzieher von Métivier zeigte am fünften Mai Lucien die Rückrechnung und den Protest von Angoulême an und lud ihn vor das Handelsgericht von Paris, damit er eine Menge Dinge anhören sollte, unter anderen, er sollte als Kaufmann erklärt und als solcher zu Schuldhaft verurteilt werden. Als Lucien, der, wie wir wissen, in dieser Zeit das Leben eines gehetzten Hirsches führte, dieses unverständliche Zeug las, bekam er schon die Ausfertigung eines Versäumnisurteils, das gegen ihn vom Handelsgericht erlassen worden war. Coralie, seine Geliebte, die keine Ahnung hatte, um was es sich handelte, und glaubte, Lucien hätte seinem Schwager einen Gefallen erwiesen, hatte ihm alle die Aktenstücke zusammen gegeben, als es zu spät war. Eine Schauspielerin sieht in den Vaudevillestücken zu viele Schauspieler in der Rolle von Gerichtsvollziehern, als daß sie sich aus Stempelpapier etwas machte.

Lucien hatte Tränen im Auge, Séchard tat ihm furchtbar leid, er schämte sich seiner Fälschung, und er wollte zahlen. Natürlich beriet er sich mit seinen Freunden, was er tun müßte, um Zeit zu gewinnen. Aber bis Lousteau, Blondet, Bixiou und Nathan Lucien darüber belehrt hatten, daß ein Dichter sich gar nicht um das Handelsgericht zu kümmern hätte, das eine Einrichtung für die Krämer wäre, war gegen den Dichter schon die Exekution vollzogen worden. Er sah an seiner Tür den kleinen gelben Zettel, der gewöhnlich auch die Portiersfrauen gelb vor Wut macht, der auf den Kredit die einschnürendste Wirkung ausübt, in das Herz der kleinsten Lieferanten den Schrecken jagt, und der vor allem das Blut in den Adern der Dichter zum Stocken bringt, die so gefühlvoll sind, daß sie Anhänglichkeit für die Holzstücke, Seidenlappen, Haufen farbiger Wolle und all das Brimborium haben, das man Möbel nennt.

Als die Leute kamen, um Coralies Möbel abzuholen, suchte der Dichter der Margueriten einen Freund Bixious, einen Advokaten namens Desroches, auf, der zu lachen anfing, als er sah, daß Lucien wegen einer solchen Kleinigkeit so aufgeregt war.

»Das ist ja nichts, mein Lieber ... Sie wollen Zeit gewinnen?«

»So viel wie möglich.«

»Widersprechen Sie also der Vollstreckung des Urteils. Gehen Sie zu einem meiner Bekannten, Herrn Masson, der vor dem Handelsgericht plädiert, überbringen Sie ihm die Papiere, er wird den Einspruch erneuern, zu Ihrer Vertretung an Gerichtsstelle erscheinen und das Handelsgericht als inkompetent ablehnen. Das macht nicht die geringste Schwierigkeit, Sie sind ja genügend als Journalist bekannt. Wenn Sie vor das Zivilgericht geladen werden, kommen Sie zu mir, da bin ich zugelassen: ich nehme es auf mich, die Leute gründlich abzuführen, die die schöne Coralie kränken wollen.«

Zum achtundzwanzigsten Mai war Lucien vor das Zivilgericht geladen und dort schneller verurteilt, als Desroches geglaubt hatte, denn man ging mit großer Entschiedenheit gegen Lucien vor. Als eine neue Beschlagnahme ins Werk gesetzt wurde, als von neuem der gelbe Zettel an der Flurtür Coralies prangte und man die Möbel wegnehmen wollte, legte Desroches, der sich ein wenig ärgerte, daß er sich von seinem Kollegen, wie er sich ausdrückte, hatte übers Ohr hauen lassen, dagegen Widerspruch ein, behauptete, übrigens mit Recht, daß die Möbel Fräulein Coralie gehörten, und beantragte vorläufige Entscheidung. Der Gerichtspräsident lud daraufhin die Parteien zu einer Verhandlung über den Antrag auf vorläufige Entscheidung, und in dieser wurde das Eigentum der Möbel der Schauspielerin zugesprochen. Métivier legte gegen dieses Urteil Berufung ein, die durch Urteil vom dreißigsten Juli verworfen wurde.

Am siebenten August erhielt der Advokat Cachan mit der Post ein riesiges Aktenbündel, auf dem geschrieben stand: »Métivier gegen Séchard und Lucien Chardon.«

Das erste Stück war die folgende liebliche kleine Rechnung, deren Genauigkeit wir verbürgen. Sie ist Wort für Wort abgeschrieben worden:

Wechsel vom dreißigsten April ds. Js., ausgestellt von Séchard jr. auf die Order von Lucien von Rubempré. (2.Mai.) Rechnung für die Rücksendung 1037 fr. 45 c.
(5. Mai.) Anzeige der Rückrechnung und des Protestes nebst Ladung vor das Handelsgericht von Paris zum 7.Mai 8 " 75 "
(7. Mai.) Termin, Versäumnisurteil, mit der Befugnis zur Verhängung der Schuldhaft 35 " "
(10. Mai.) Ausfertigung des Urteils ... . . 8 " 50 "
(12. Mai.) Gerichtliche Zahlungsaufforderung 5 " 50 "
(14. Mai.) Beschlagnahmeprotokoll 16 " "
(18. Mai.) Protokoll der Anbringung des Beschlagnahmesiegels 15 " 25 "
(19. Mai.) Anzeige in der Zeitung 4 " "
(24. Mai.) Protokoll der Inventarvergleichung vor der Wegnahme der Möbel, ferner enthaltend den Widerspruch gegen die Vollstreckung des Urteils von seiten des Herrn Lucien von Rubempré 12 " "
(27. Mai.) Gerichtsurteil, das dem Gesuch Folge gibt und die Parteien auf Grund des gehörig wiederholten Einspruchs vor das Zivilgericht verweist 35 " "
(28. Mai.) Ladung Métiviers an Rubempré, unverzüglich vor dem Zivilgericht zu erscheinen, unter Bestellung eines Sachwalters 6 " "
(2. Juni.) Nach Anhörung der Parteien Urteil, das Lucien Chardon verurteilt, die Summe der Rückrechnung zu bezahlen, und die vor dem Handelsgericht entstandenen Kosten dem Kläger auferlegt 150 " "
(6. Juni.) Ausfertigung dieses Urteils 10 " "
(15. Juni.) Gerichtliche Zahlungsaufforderung 5 " 50 "
(19. Juni.) Protokoll zum Zweck der Beschlagnahme, ferner enthaltend den Einspruch des Fräulein Coralie hiergegen, die behauptet, daß die Möbel ihr gehören, und sofortige vorläufige Entscheidung für den Fall verlangt, daß man zur Pfändung schreiten wolle 20 " "
Verfügung des Präsidenten, die die Parteien zur mündlichen Verhandlung über den Antrag auf vorläufige Entscheidung lädt 40 " "
(19. Juni.) Urteil, das das Eigentum der Möbel dem genannten Fräulein Coralie zuspricht 250 " "
(20. Juni.) Berufung Métiviers 17 " "
(30. Juni.) Bestätigung des Urteils 250 " "

In Summa   1926 fr. 45 c.
Wechsel vom 31. Mai, Rückrechnung 1037 fr. 45 c.
Anzeige an Lucien 8 " 75 "

In Summa   1046 fr. 20 c.
Wechsel vom 30. Juni, Rückrechnung 1037 fr. 45 c.
Anzeige an Lucien 8 " 75 "

In Summa   1046 fr. 20 c.

Diese Aktenstücke waren von einem Brief begleitet, in dem Métivier dem Sachwalter Cachan in Angoulême den Auftrag gab, gegen David Séchard mit allen rechtlich zulässigen Mitteln vorzugehen. Victor-Ange-Herménégilde Doublon lud also David Séchard am 3.Juli vor das Handelsgericht von Angoulême wegen Zahlung der Gesamtsumme von 4018Franken und 85Centimes, das heißt den Betrag der drei Wechsel und der bereits aufgelaufenen Kosten. An dem Tag, an dem Doublon Eva selbst die gerichtliche Aufforderung, diese Summe zu zahlen, überbrachte, die für sie unerschwinglich war, hatte sie morgens den folgenden niederschmetternden Brief von Métivier erhalten:

»Herrn Séchard jr., Drucker in Angoulême

Ihr Schwager, Herr Chardon, ist ein Mann, der nicht das geringste Vertrauen verdient; er hat seine Möbel auf den Namen einer Schauspielerin, mit der er zusammenlebt, genommen, und es wäre Ihre Schuldigkeit gewesen, mich von diesem Sachverhalt zu unterrichten, damit ich nicht einen unnützen Prozeß anstrenge. Sie haben aber meinen Brief vom 10.Maid.J. nicht beantwortet. Sie können es mir daher nicht verdenken, wenn ich die unverzügliche Bezahlung der drei Wechsel und aller meiner Unkosten verlange. Hochachtungsvoll

Métivier.«

Eva, die nicht viel vom Handelsrecht verstand, hatte, da sie nichts mehr von der Sache hörte, geglaubt, ihr Bruder hätte sein Verbrechen wieder gutgemacht und die gefälschten Wechsel bezahlt.

»Lieber,« sagte sie zu ihrem Mann, »geh schnell zu Petit-Claud, erkläre ihm unsere Lage und bitte ihn um seinen Rat.«

»Lieber Freund,« sagte der arme Drucker, als er in dem Bureau seines Schulkameraden stand, zu dem er sofort geeilt war, »als du mir sagtest, du hättest dich als Anwalt niedergelassen, und mir deine Dienste anbotest, hätte ich nicht gedacht, daß ich sie so bald brauchen könnte.«

Petit-Claud betrachtete das schöne Gesicht des Denkers, der da auf dem Stuhl vor ihm saß, denn er hörte nicht allzusehr auf die Einzelheiten der Geschäfte, von denen er mehr wußte als der Mann, der sie ihm erklärte. Als er Séchard mit sorgenvoller Miene hatte eintreten sehen, hatte er sich gesagt: Der Streich ist gelungen.

Diese Szene spielt sich oft genug in den Anwaltsbureaus ab. ›Warum verfolgen ihn die Cointet?‹ fragte sich Petit-Claud. Der Geist der Anwälte ist so beschaffen, daß sie ebensowohl in die Seele ihrer Klienten wie in die der Gegner eindringen müssen: sie müssen die Rückseite des juridischen Gewebes ebensowohl kennen wie die Vorderseite.

»Du willst Zeit gewinnen«, antwortete Petit-Claud endlich Séchard, als dieser fertig war. »Wie lange brauchst du? Etwa drei oder vier Monate?«

»Oh! vier Monate! Ich bin gerettet!« rief David, dem Petit-Claud ein Engel zu sein schien.

»Also gut. Man wird keins deiner Möbel anrühren und wird dich nicht vor drei oder vier Monaten festsetzen können ... Aber das wird dich viel Geld kosten«, sagte Petit-Claud.

»Ach! was kann mir daran liegen«, rief Séchard.

»Du erwartest Eingänge; bist du sicher, daß sie nicht ausbleiben?« fragte der Anwalt. Er war über die Leichtigkeit, mit der sein Klient in dem Netz gefangen wurde, fast überrascht.

»In drei Monaten bin ich ein reicher Mann«, erwiderte David mit der Zuversicht des Erfinders.

»Dein Vater liegt noch nicht unterm Rasen,« entgegnete Petit-Claud, »er trinkt noch gern sein Gläschen.«

»Rechne ich denn auf den Tod meines Vaters?« fragte David. »Ich bin einem industriellen Geheimnis auf der Spur, das es mir möglich machen wird, ohne ein Fäserchen Baumwolle ein Papier herzustellen, das so fest ist wie das holländische und fünfzig Prozent billiger als der gegenwärtige Einkaufspreis des Baumwollzeugs.«

»Das ist ein Vermögen!« rief Petit-Claud, der jetzt den Plan des großen Cointet verstand. »Ein großes Vermögen, lieber Freund, denn man wird binnen zehn Jahren zehnmal mehr Papier brauchen als heute. Der Journalismus ist der Wahnsinn unserer Zeit. Niemand kennt dein Geheimnis?«

»Niemand außer meiner Frau.«

»Du hast deinen Plan, dein Programm nicht etwa jemandem gesagt, zum Beispiel den Cointet?«

»Ich habe ihnen, glaube ich, ganz unbestimmt davon gesprochen.«

Ein Schimmer von Edelmut tauchte jetzt in der galligen Seele von Petit-Claud auf, der alles, das Interesse der Cointet, sein eigenes und das Séchards, miteinander in Einklang zu bringen versuchte.

»Höre, David, wir sind Schulkameraden, ich werde deine Sache führen; aber beachte wohl: dieser Prozeß gegen die Gesetze kostet dir fünf- bis sechstausend Franken! ... Setz dein Vermögen nicht aufs Spiel. Ich glaube, du wirst die Gewinne deiner Erfindung mit einem unserer Fabrikanten teilen müssen. Sieh mal, du wirst es dir doch zweimal überlegen, ehe du eine Papiermühle kaufst oder bauen läßt ... Du wirst überdies ein Patent zur Ausbeutung der Erfindung nehmen müssen, all das kostet Zeit und kostet Geld. Die Gerichtsvollzieher überfallen dich vielleicht zu früh, trotz all den Umwegen, die wir machen werden, um ihnen zu entgehen.«

»Ich behalte mein Geheimnis«, erwiderte David mit der Unerfahrenheit des Gelehrten.

»Gut also. Dein Geheimnis soll dir die Rettung bringen,« fuhr Petit-Claud fort, der sich in seinem ersten ehrlichen Versuch, einen Prozeß zu vermeiden und einen Vergleich zu schließen, zurückgestoßen sah, »ich will es nicht wissen; aber höre wohl, was ich sage: Arbeite im Innern der Erde, damit dich niemand sieht und niemand den Mitteln, die du anwendest, auf die Spur kommt, denn das Brett, das deine Rettung sein soll, wird dir unter den Füßen gestohlen werden ... Unter der Haut eines Erfinders sitzt oft der Gimpel! Ihr denkt zuviel an eure Geheimnisse, als daß ihr an alles denken könnt. Man wird schließlich dem Gegenstand deiner Forschungen auf den Grund kommen, du bist von Fabrikanten umringt! So viele Fabrikanten, so viele Feinde! Du bist wie ein gejagtes Tier inmitten der Jäger, laß ihnen nicht dein Fell ...«

»Danke, lieber Kamerad, ich habe mir das alles gesagt,« rief Séchard; »aber ich bin dir dankbar, daß du mir so viel Vorsicht und Eifer zeigst! Es handelt sich in diesem Unternehmen nicht um mich. Mir würden zwölfhundert Franken jährlich genügen, und mein Vater muß mir eines Tages mindestens dreimal soviel hinterlassen ... Ich lebe von der Liebe und von meinem Denken ... ein himmlisches Leben! ... Es handelt sich um Lucien und meine Frau, für sie arbeite ich ...«

»Schön also, unterzeichne diese Vollmacht und kümmere dich nur noch um deine Entdeckung. Kommt es so weit, daß du dich wegen der Schuldhaft verborgen halten mußt, dann gebe ich dir am Tage vorher Nachricht; man muß an alles denken. Und vergiß nicht: laß niemand zu dir, dessen du dir nicht so gewiß bist wie deiner selbst.«

»Cérizet hat den Pachtvertrag zur Benutzung meiner Druckerei nicht erneuern wollen, und daher stammen unsere kleinen Geldsorgen. Ich habe also nur noch Marion bei mir und Kolb, einen Elsässer, der treu wie ein Pudel ist, meine Frau und meine Schwiegermutter.«

»Höre,« sagte Petit-Claud, »mißtraue dem Pudel ...«

»Du kennst ihn nicht« rief David; »Kolb ist mein zweites Ich.«

»Darf ich ihn auf die Probe stellen?«

»Ja«, antwortete Séchard.

»Dann leb wohl; aber schick mir die schöne Frau Séchard, wir brauchen auch eine Vollmacht deiner Frau. Und vergiß nicht, lieber Freund, daß du in gefährlicher Lage bist«, sagte Petit-Claud zu seinem Kameraden und warnte ihn damit vor allen juridischen Schlägen, die ihn treffen sollten.

»Jetzt sitze ich also vorläufig zwischen zwei Stühlen«, sagte Petit-Claud zu sich selbst, nachdem er seinem Freund David Séchard bis zur Tür des Bureaus das Geleite gegeben hatte.

David, dem die Geldsorgen keine Ruhe ließen, den der Zustand seiner Frau, die wegen Luciens Ruchlosigkeit schwere Qualen ausstand, sehr bekümmerte, beschäftigte sich fortwährend mit seinem Problem; und so hatte er, während er von seinem Heim zu Petit-Claud ging, in der Zerstreuung an einem Brennesselstiel gekaut, den er mit andern Stielen ins Wasser gelegt hatte, um dadurch eine Verrottung der Pflanzenfasern zu erreichen, die den Grundstoff seines Papierbreies bilden sollten. Er wollte die mannigfachen Zermürbungen, wie das Entschlichten auf der Bleiche, das Weben und den Gebrauch all dessen, was aus Garn und Leinwand gemacht und schließlich zu Lumpen wird, durch entsprechende Prozeduren ersetzen. Als er, ziemlich zufrieden mit der Besprechung mit seinem Freund Petit-Claud, durch die Straßen ging, spürte er etwas zwischen den Zähnen: es war wie Teig, er nahm es heraus und legte es auf die Hand, strich es in die Breite und sah einen Papierbrei, der besser war als all die Zusammensetzungen, die ihm bisher gelungen waren; denn die Hauptfehler der Breie, die man aus pflanzlichen Stoffen gewinnt, ist der Mangel an Weichheit. So gibt das Stroh ein sprödes, fast metallisches und hartklingendes Papier. Solche Zufälle begegnen nur den kühnen Erforschern der natürlichen Ursachen.

»Ich werde«, sagte er sich, »das Verfahren, das ich eben mechanisch und unwillkürlich eingeschlagen habe, durch eine Maschine und einen chemischen Stoff ersetzen.«

Und er erschien vor seiner Frau in der Freude seines Glaubens an den Sieg.

»Oh, mein Engel, sei unbesorgt!« sagte David, der sah, daß seine Frau geweint hatte. »Petit-Claud bürgt uns für einige Monate Ruhe. Das wird Kosten machen; aber er hat mir, als er mich hinausbegleitete, gesagt: Jeder Franzose hat das Recht, seine Gläubiger warten zu lassen, wenn er ihnen nur schließlich Kapital, Zinsen und Unkosten bezahlt. Schön also! wir werden zahlen.«

»Und wovon leben?« fragte die arme Eva, die an alles dachte.

»Ach, das ist wahr!« erwiderte David und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Mutter kann unsern kleinen Lucien nehmen, und ich kann wieder an die Arbeit gehen«, sagte sie.

»Eva! O meine Eva!« rief David und preßte seine Frau an sein Herz. »Eva, ganz hier in der Nähe, in Saintes, lebte im sechzehnten Jahrhundert einer der größten Männer, die Frankreich gehabt hat, denn er war nicht nur der Erfinder der Schmelzglasur, er war auch der glorreiche Vorgänger von Buffon und Cuvier, er fand vor ihnen die Wissenschaft der Geologie, dieses prächtige Genie! Bernard Palissy machte die Leiden der Erfinder durch, aber er sah auch seine Frau, seine Kinder und seinen ganzen Flecken gegen sich. Seine Frau verkaufte ihm seine Werkzeuge ... Er irrte im Lande umher, niemand verstand ihn! ... Er war gehetzt, und man zeigte auf ihn mit dem Finger! ... Aber ich werde geliebt ...«

»Geliebter!« antwortete Eva und legte in das Wort all die Ruhe der Liebe, die ihrer selbst sicher ist.

»Da kann man alles ausstehen, was der arme Bernard Palissy durchgemacht hat, der die Fayencen von Ecouen gemacht hat, den KarlIX. von der Bartholomäusnacht ausgenommen hat, der endlich im Alter reich und geehrt wurde und im Angesicht von Europa öffentliche Vorträge über seine Wissenschaft der Erdschichten hielt, wie er es nannte.«

»Solange meine Finger die Kraft haben, ein Bügeleisen zu halten, soll es dir an nichts fehlen!« rief die arme Frau mit dem Ausdruck der innigsten Opferwilligkeit. »Als ich bei Frau Prieur erste Arbeiterin war, hatte ich ein sehr kluges junges Mädchen zur Freundin, eine Cousine von Postel, Basine Clerget; eben hat mir nun Basine, als sie mir meine Wäsche brachte, mitgeteilt, daß sie das Geschäft von Frau Prieur übernimmt; ich werde bei ihr arbeiten ...«

»Oh, du wirft nicht lange dort arbeiten!« versetzte Séchard, »ich habe etwas gefunden ...«

Zum erstenmal wurde der erhabene Glaube an den Erfolg, der die Erfinder aufrecht hält und ihnen den Mut gibt, in den Urwäldern im Land der Entdeckungen weiterzuwandern, von Eva mit einem fast traurigen Lächeln aufgenommen, und David senkte düster den Kopf.

»Oh, mein Freund! ich spotte nicht, ich lächle nicht, ich zweifle nicht!« rief die schöne Eva und warf sich vor ihrem Manne auf die Knie. »Aber ich sehe, wie sehr du recht hattest, über deine Versuche, über deine Hoffnungen das tiefste Schweigen zu bewahren. Ja, mein Freund, die Erfinder müssen die schweren Geburtswehen ihres Ruhmes vor allen Menschen verbergen, selbst vor ihren Frauen! Eine Frau ist immer eine Frau. Deine Eva hat sich des Lächelns nicht erwehren können, als sie dich zum siebzehnten Male in einem Monat sagen hörte: Ich habe etwas gefunden!«

David lachte so herzlich über sich selbst, daß Eva nach seiner Hand griff und sie innig küßte. Es war ein köstlicher Augenblick, eine der Blüten der Liebe und der Zärtlichkeit, die am Rande der ödesten Wege, der Not und manchmal am Rande des Abgrundes blühen.

Evas Mut verdoppelte sich, als sie sah, wie die Wut des Mißgeschicks sich verdoppelte. Die Größe ihres Mannes, seine Reinheit und Unschuld, die Tränen, die diesem Mann von Gemüt und Poesie manchmal in den Augen standen, alles brachte eine ungewöhnliche Widerstandskraft in ihr zur Entfaltung. Sie nahm noch einmal zu dem Mittel ihre Zuflucht, das ihr schon früher so gut geglückt war. Sie schrieb an Herrn Métivier, er sollte die Druckerei zum Verkauf ausschreiben, sagte ihm, er sollte von dem Preis, den man erzielte, bezahlt werden, und bat ihn, David nicht mit unnützen Kosten zugrunde zu richten. Angesichts dieses prächtigen Briefes stellte sich Métivier tot; sein erster Gehilfe antwortete, in Abwesenheit des Herrn Métivier könnte er es nicht auf sich nehmen, in das Verfahren einzugreifen, denn das wäre nicht die Gewohnheit seines Chefs in geschäftlichen Dingen. Eva schlug vor, die Wechsel sollten prolongiert werden, und David Séchard sollte alle Kosten tragen; damit war der Gehilfe einverstanden, wenn der Vater David Séchards die Wechselbürgschaft übernähme. Eva begab sich nunmehr in Begleitung ihrer Mutter und Kolbs zu Fuß nach Marsac. Sie trat dem alten Winzer unerschrocken entgegen, sie war reizend, und sie brachte es zustande, dieses alte Gesicht aufzuheitern; aber als sie mit zitterndem Herzen von der Wechselbürgschaft sprach, nahm das weingerötete Gesicht des alten Trinkers mit einem Schlag einen völlig andern Ausdruck an.

»Wenn ich meinem Sohn erlaubte, meine Lippen zu berühren und mit den Fingern über meine Kasse zu streichen, steckte er mir die Hand bis in die Eingeweide und holte alles heraus«, schrie er. »Die Kinder wollen alle das Geld des Vaters aufessen. He! wie hab ich es aber gemacht? Ich habe meinen Eltern nie einen Heller gekostet. Eure Druckerei ist leer. Die einzigen Spuren von Tätigkeit darin stammen von den Mäusen und Ratten ... Sie sind sehr hübsch, ich mag Sie gern leiden; Sie sind eine arbeitsame und fleißige Frau; aber mein Sohn! ... Wissen Sie, was David ist? Was? Ein gelehrter Faulenzer ist er. Hätte ich ihn aufwachsen lassen, wie ich aufgewachsen bin, ohne etwas von Bildung zu wissen, und hätte ich einen Bären aus ihm gemacht, wie sein Vater einer war, dann hätte er Einkünfte ... Oh, das ist ein Kreuz, der Junge, glauben Sie mir das! Und leider steht er ganz einzig da. So ein Exemplar wird nicht wieder aufgelegt werden! Der Mensch macht Sie unglücklich ...«

Eva protestierte mit einer sehr entschiedenen Handbewegung.

»Jawohl,« antwortete er auf diese Geste, »Sie mußten eine Amme nehmen, vor Kummer ist Ihnen die Milch ausgeblieben, ich weiß alles, sehen Sie! Man schleppt euch vors Gericht und hat eure Schande in der ganzen Stadt ausgetrommelt. Ich war nur ein Bär, ich bin kein Gelehrter, ich war nicht Faktor bei der Firma Didot, dem Ruhm der Buchdruckerkunst; aber nie ist ein Stempelpapier in mein Haus gekommen! Wissen Sie, was ich zu mir sage, wenn ich zwischen meinen Reben herumgehe, sie besorge und ernte und all die kleine Arbeit tue? Ich sage mir: Armer, alter Kerl, du plagst dich ab, legst Taler auf Taler, hinterläßt ein schönes Anwesen, das wird alles für die Gerichtsvollzieher und für die Advokaten sein ... oder für Hirngespinste ... Sehen Sie, liebes Kind, Sie sind die Mutter des kleinen Burschen, der mir, als ich ihn mit Frau Chardon über die Taufe hielt, so aussah, als hätte er den Zinken seines Großvaters mitten im Gesicht, sehen Sie, denken Sie weniger an Séchard und mehr an das kleine Kerlchen ... Ich habe nur zu Ihnen Vertrauen ... Sie könnten verhüten, daß meine Güter unter den Hammer kommen ... meine schönen, lieben Güter!«

»Aber, lieber Papa Séchard, Ihr Sohn wird Ihr Ruhm werden, und Sie werden eines Tages sehen, wie er durch sich selbst reich wird und das Kreuz der Ehrenlegion im Knopfloch trägt.«

»Wie soll denn das geschehen?« fragte der Winzer.

»Sie werden schon sehen! Aber würden inzwischen tausend Taler Sie zugrunde richten? Mit tausend Talern könnten Sie dem Zwangsverfahren ein Ende machen ... Nun schön, wenn Sie zu ihm kein Vertrauen haben, borgen Sie sie mir, ich werde sie Ihnen zurücklegen, legen Sie sie auf meine Mitgift, auf meine Arbeit an ...«

»David Séchard wird also exekutiert!« rief der Winzer, der mit Erstaunen erfuhr, daß, was er für eine Verleumdung gehalten hatte, auf Wahrheit beruhte. »Das kommt davon, wenn man seinen Namen schreiben kann! ... Und meine Miete! Oh, mein Töchterchen, es tut not, daß ich nach Angoulême gehe, meine Schuldigkeit tue und meinen Advokaten Cachan zu Rate ziehe ... Sie haben sehr recht daran getan, daß Sie gekommen sind ... Wer gewarnt ist, läßt sein Haus nicht abbrennen!«

Nach zweistündigem Kampf mußte Eva abziehen. Das unbesiegliche Argument hatte sie geschlagen: »Die Frauen verstehen nichts von Geschäften.« Sie war mit einer unbestimmten Hoffnung auf Erfolg gekommen und ging jetzt in größter Niedergeschlagenheit von Marsac nach Angoulême zurück. Sie langte gerade zur rechten Zeit zu Hause an, um die Ausfertigung des Urteils, das Séchard verurteilte, Métivier alles zu zahlen, in Empfang zu nehmen. In der Provinz ist ein Gerichtsvollzieher vor einer Haustür ein Ereignis; und Doublon kam seit einiger Zeit viel zu oft, als daß die Nachbarschaft nicht darüber geredet hätte. So wagte es Eva kaum mehr, auszugehen, sie hatte Furcht, Gezischel zu hören.

»Oh, mein Bruder, mein Bruder!« rief die arme Frau, als sie durch den Flur ging und die Treppe hinaufstieg, »ich kann dir nur verzeihen, wenn es sich um deinen ...«

»Ach,« sagte Séchard zu ihr, der ihr entgegenging, »es handelte sich darum, seinen Selbstmord zu verhüten.«

»Sprechen wir also nicht mehr davon«, antwortete sie sanft. »Die Frau, die ihn in diesen Schlund von Paris geführt hat, ist sehr strafwürdig! ... Und dein Vater, lieber David, ist sehr unbarmherzig! Wir müssen nun alles über uns ergehen lassen.«

Ehe noch David das zärtliche Wort sprechen konnte, das ihm auf den Lippen schwebte, klopfte es leise an die Tür, und es zeigte sich Marion, die den großen, schweren Kolb durch das Zimmer hinter sich herzog.

»Frau Séchard,« sagte sie, »Kolb und ich wissen, daß der Herr und die Frau viel durchzumachen haben; und da wir zusammen elfhundert Franken Ersparnisse haben, haben wir gedacht, wir könnten sie nicht besser anlegen als in den Händen unserer Frau ...«

»Unserer Frau«, wiederholte der Elsässer begeistert.

»Kolb,« rief David Séchard, »wir verlassen uns nie! Trage tausend Franken auf Rechnung zum Advokaten Cachan, aber verlange eine Quittung; das übrige behalten wir. Kolb, keine menschliche Macht darf dir ein Wort über das entreißen, was ich tue, über die Stunden meiner Abwesenheit, über das, was ich nach Hause bringe, und wenn ich dich zum Pflanzenholen schicke, du weißt schon, darf kein menschliches Auge dich sehen! Guter Kolb, man wird versuchen, dich zu verführen, man wird dir vielleicht tausend, zehntausend Franken bieten, damit du sprichst ...«

»Und wenn man mir Millionen anbietet, sage ich kein Wort! Ich bin doch Soldat gewesen.«

»Du weißt jetzt, was zu tun ist, geh und bitte Herrn Petit-Claud, bei der Übergabe dieses Betrags an Herrn Cachan anwesend zu sein.«

»Ja,« sagte der Elsässer, »ich hoffe eines Tages reich genug zu sein, um diesem Justizmenschen heimzahlen zu können. Mir gefällt sein Gesicht nicht.«

»Ein guter Mann,« sagte die dicke Marion, »er ist stark wie ein Türke und sanft wie ein Hammel. Mit dem wird eine Frau glücklich! Er allein hat den Gedanken gehabt, unsere Ersparnisse so anzulegen. Der Gute hat die Idee, bei den andern zu arbeiten, damit er uns nichts kostet.«

»Man müßte schon allein darum reich werden, um diese wackern Menschen belohnen zu können«, sagte Séchard zu seiner Frau.

Eva fand das alles ganz in Ordnung, sie war nicht verwundert, Menschen zu treffen, die ebenso hochherzig waren wie sie. Ihre Haltung hätte den stumpfesten Geschöpfen und selbst einem Gleichgültigen die ganze Schönheit ihres Charakters zeigen müssen.

»Sie werden reich werden, lieber Herr, Sie haben schöne Aussichten. Ihr Vater hat eben wieder ein Gut gekauft, es wird Ihnen schon einmal etwas bringen ...«

Diese Worte Marions, die sie sprach, um das Verdienstliche ihrer Tat zu verringern, verrieten mehr als alles andere die Güte und Feinheit ihres Herzens.

Wie alle menschlichen Dinge hat das französische Prozeßverfahren seine Fehler, trotzdem dient es wie eine zweischneidige Waffe zur Verteidigung ebensowohl wie zum Angriff. Außerdem hat es das Gefällige an sich, daß ein Prozeß, wenn zwei Advokaten sich verständigen und sie können sich verständigen, ohne zwei Worte miteinander sprechen zu müssen, sie verstehen sich schon durch die Prozeßmittel, die sie anwenden, alsdann einem Krieg gleicht, wie ihn der erste Marschall von Biron führte, dem sein Sohn bei der Belagerung von Rouen ein Mittel vorgeschlagen hatte, wie man die Stadt in zwei Tagen nehmen könnte: »Du hast es wohl sehr eilig,« sagte er zu ihm, »dich aufs Land zurückzuziehen?« Zwei Generale können nach der Methode der österreichischen Generale, die der Hofrat niemals tadelt, daß sie eine gute Gelegenheit außer acht gelassen haben, weil sie ihre Soldaten schonen wollten, den Krieg verewigen und jede Entscheidung vermeiden. Cachan, Petit-Claud und Doublon benahmen sich noch besser als österreichische Generale, sie nahmen sich einen Österreicher des Altertums, Fabius Cunctator, zum Muster.

Petit-Claud, der boshaft wie ein Maulesel war, hatte bald alle Vorteile seiner Stellung herausgebracht. Sowie der große Cointet dafür gebürgt hatte, daß alle Kosten bezahlt wurden, nahm er sich vor, alle Listen anzuwenden und seinen Geist in den Augen des Papierfabrikanten glänzen zu lassen, indem er Zwischenfälle schuf, die Métivier Kosten verursachten. Aber zum Unglück für den Ruhm dieses jungen Figaro der Justiz muß der Historiker über das Gebiet seiner Taten eilig hinweggehen. Eine einzige Kostenrechnung wie die von Paris genügt ohne Zweifel für die Geschichte der Sitten unserer Zeit. Ahmen wir also den Stil der Bulletins der großen Armee nach; denn je kürzer der Bericht über die Taten Petit-Clauds ist, um so besser für das Verständnis der Erzählung wird diese ausschließlich juristische Seite ausfallen.

Zum dritten Juli war David vor das Handelsgericht in Angoulême geladen, es erging Versäumnisurteil; das Urteil wurde ihm am achten Juli zugestellt. Am zehnten teilte Doublon den gerichtlichen Zahlungsbefehl mit und versuchte am zwölften eine Pfändung, gegen die Petit-Claud Einspruch erhob, indem er Métivier nach vierzehn Tagen nochmals vorlud. Métivier seinerseits fand diese Zeit zu lang, lud die Gegenpartei unverzüglich zum nächsten Tag und erlangte am neunzehnten ein Urteil, das Séchard mit seinem Einspruch abwies. Dieses Urteil wurde sehr schnell am einundzwanzigsten zugestellt, am zweiundzwanzigsten erfolgte der Zahlungsbefehl, die Mitteilung des gewaltsamen Vorgehens am dreiundzwanzigsten und ein Pfändungsprotokoll am vierundzwanzigsten. Diese Pfändungswut wurde von Petit-Claud gezügelt, der Einspruch erhob und Berufung bei der höheren Instanz einlegte. Diese Berufung wurde am fünfzehnten Juli wiederholt, und Métivier wurde nach Poitiers geschleppt.

»So!« sagte Petit-Claud, »da bleiben wir nun eine Weile.«

Nachdem das Gewitter einmal nach Poitiers zu einem Advokaten des Appellationsgerichts, dem Petit-Claud seine Instruktionen gab, abgelenkt war, ließ dieser Verteidiger mit zwei Gesichtern David Séchard durch Frau Séchard auf Gütertrennung verklagen. Er setzte es durch, daß er das Urteil auf Gütertrennung schon am achtundzwanzigsten Juli erlangte, er rückte es in den Courrier de la Charente ein, gab es vorschriftsmäßig bekannt, und am ersten August wurde von einem Notar eine Aufstellung des eingebrachten Vermögens der Frau Séchard gemacht, auf Grund deren ihr Mann ihr nur die kleine Summe von zehntausend Franken schuldig war, die der verliebte David ihr im Ehevertrag als Mitgift vorbehalten hatte und für deren Zahlung er ihr die Einrichtung seiner Druckerei und der gemeinsamen Wohnung abtrat. Während Petit-Claud die Habe des Haushalts so in Sicherheit brachte, verhalf er in Poitiers der Behauptung, auf die er seine Berufung gegründet hatte, zum Siege. Danach konnte David um so weniger für die Kosten haftbar sein, die in Paris in dem Verfahren gegen Lucien von Rubempré entstanden waren, als das Zivilgericht der Seine sie in seinem Urteil Métivier auferlegt hatte. Dieser Auffassung schloß sich der Gerichtshof an, und es erging ein Urteil, das die Verurteilung von Séchardjr. vor dem Handelsgericht von Angoulême bestätigte, aber eine Summe von sechshundert Franken von den Pariser Kosten abzog, die Métivier tragen mußte, und mit Rücksicht auf den Grund, der die Berufung Séchards motivierte, einen Teil der Kosten die Parteien zu gleichen Teilen tragen ließ. Dieses Urteil wurde Séchardjr. am siebzehnten August zugestellt, verwandelte sich am achtzehnten in eine gerichtliche Aufforderung, das Kapital, die Zinsen und die ihm auferlegten Kosten zu zahlen, und es folgte am zwanzigsten das Pfändungsprotokoll. Hier erhob Petit-Claud im Namen von Frau Séchard Einspruch und erklärte, daß das Mobiliar der Ehefrau gehörte, die ordnungsmäßig die Gütertrennung bewerkstelligt hätte. Überdies ließ jetzt Petit-Claud Séchardsen. auftauchen, der sein Klient geworden war. Man höre wieso. Am Tage nach dem Besuch, den seine Schwiegertochter ihm gemacht hatte, war der Winzer zu seinem Anwalt in Angoulême, Cachan, gekommen und hatte ihn zu Rate gezogen, wie er zu seinen Mieten kommen könnte, die in der Klemme, in der sein Sohn steckte, gefährdet wären.

»Ich kann nicht die Interessen des Vaters vertreten, wenn ich gegen den Sohn vorgehe,« entgegnete ihm Cachan; »aber gehen Sie zu Petit-Claud, er ist sehr geschickt, und er wird Ihnen vielleicht noch mehr nützen können als ich.«

Im Gerichtsgebäude sagte Cachan zu Petit-Claud: »Ich habe den alten Séchard zu dir geschickt, übernimm die Sache für mich und gib mir einmal etwas anderes.«

Unter Anwälten ist diese Art gegenseitiger Dienstleistung in der Provinz wie in Paris sehr häufig.

Einen Tag, nachdem der alte Séchard Petit-Claud seine Sache übertragen hatte, suchte der große Cointet seinen Helfershelfer auf und sagte zu ihm: »Wir wollen einmal dem alten Séchard eine Lektion geben! Er ist ein Mann, der es seinem Sohne nie verzeiht, wenn er ihm tausend Franken kostet; und dieser Ausfall wird in seinem Herzen jede edelmütige Anwandlung, wenn sie je möglich wäre, austilgen!«

»Gehen Sie ruhig wieder in Ihren Weinberg,« sagte Petit-Claud zu seinem neuen Klienten, »es geht Ihrem Sohne nicht gut, Sie dürfen ihm jetzt nicht zur Last fallen. Ich werde Sie rufen, wenn es an der Zeit ist.«

So behauptete also Petit-Claud im Namen von Séchard, daß die Pressen, die versiegelt waren, um so mehr von Haus aus zu den Immobilien gehörten, als das Haus seit der Regierung LudwigsXIV. eine Druckerei wäre. Cachan entrüstete sich im Namen Métiviers, der erst in Paris Luciens Möbel im Besitz von Coralie und jetzt in Angoulême Davids Einrichtung im Besitz der Frau und des Vaters fände hübsche Sachen wurden über diesen Punkt im Termin gesprochen, und lud den Vater und den Sohn vor, damit diese Behauptungen zu Fall kämen. »Wir wollen«, rief er, »die Ränke dieser Menschen entlarven, die die schrecklichsten Verteidigungsmittel der Unredlichkeit anwenden; die aus den unschuldigsten und klarsten Gesetzesparagraphen spanische Reiter zu ihrer Verteidigung machen! Und wogegen verteidigen sie sich? Gegen die Zahlung von dreitausend Franken, die woher stammen? Aus der Kasse des armen Métivier. Und man wagt es, Beschuldigungen gegen die Diskontierer auszusprechen! In welchen Zeiten leben wir! Wahrhaftig, wir sind schon so weit, daß jeder das Geld seines Nächsten nehmen kann! Der hohe Gerichtshof wird nicht einen Einspruch anerkennen, der die Unmoral in die Justiz einführte!« Das Gericht von Angoulême ließ sich von dieser schönen Rede Cachans rühren und fällte nach Anhörung der Parteien das Urteil, wonach das Eigentum der eigentlichen Möbel Frau Séchard zustand, die Ansprüche von Séchardsen. aber abgewiesen wurden und er zur Zahlung von vierhundertvierunddreißig Franken fünfundsechzig Centimes Kosten verurteilt wurde.

»Der alte Séchard ist gut,« sagten die Anwälte lachend zueinander, »er hat aus der Schüssel mitessen wollen, er soll zahlen!«

Am sechsundzwanzigsten August wurde dieses Urteil zugestellt, so daß die Pressen und die übrigen Einrichtungsgegenstände der Druckerei am achtundzwanzigsten August gepfändet werden konnten. Man brachte die gelben Zettel an! Auf Gesuch erlangte man ein Urteil, daß an Ort und Stelle versteigert werden durfte. Die Versteigerungsanzeige wurde in den Zeitungen eingerückt, und Doublon schmeichelte sich, er könnte am zweiten September zur Inventarvergleichung und zur Versteigerung schreiten. In diesem Augenblick schuldete David Séchard durch regelrechtes Urteil und durch vollstreckbare Titel Métivier die Gesamtsumme von fünftausendzweihundertfünfundsechzig Franken fünfundzwanzig Centimes, ohne die Zinsen. Er schuldete Petit-Claud zwölfhundert Franken und das Honorar, dessen Höhe mit dem edelmütigen Vertrauen, wie es die Kutscher bezeigen, die einen in der Stadt herumfahren, seiner Großmut überlassen war. Frau Séchard schuldete Petit-Claud ungefähr dreihundertfünfzig Franken und das Honorar. Der alte Séchard schuldete seine vierhundertvierunddreißig Franken fünfundsechzig Centimes, und Petit-Claud verlangte von ihm hundert Taler Honorar. So konnte die Gesamtsumme etwa zehntausend Franken erreichen. Abgesehen von der Nützlichkeit dieser Dokumente für die fremden Völker, die daraus ersehen können, wie die juristische Artillerie in Frankreich beschaffen ist, ist es notwendig, daß der Gesetzgeber, wenn er überhaupt Zeit zu lesen hat, erfahre, wie weit der Mißbrauch der Prozeßordnung gehen kann. Müßte man nicht schleunigst ein kleines Gesetz machen, durch das in gewissen Fällen den Anwälten verboten würde, höhere Kosten zu machen, als die Summe des Streitobjekts beträgt? Liegt nicht etwas Lächerliches darin, dieselben Formalitäten für einen Quadratmeter Land anzuwenden wie für ein ausgedehntes Landgebiet? Man ersieht aus dieser sehr trockenen Darstellung aller Phasen, durch die der Streit hindurchging, was die Worte: die Form, die Justiz, die Kosten bedeuten, von denen die übergroße Mehrheit der Franzosen keine Ahnung hat. Das nennt man in der Sprache, die in den Gerichtsgebäuden gesprochen wird: die Geschäfte eines Mannes in Grund und Boden prozessieren. Das Letternmaterial der Druckerei, das fünfzig Zentner wog, war neu nicht mehr als zweitausend Franken wert. Die drei Pressen hatten einen Wert von sechshundert Franken. Die übrige Einrichtung wäre als altes Eisen und altes Holz verkauft worden. Die Wohnungseinrichtung hätte höchstens tausend Franken gebracht. So hatten Cachan und Petit-Claud Werte, die Séchardjr. gehörten und eine Summe von ungefähr viertausend Franken repräsentierten, zum Anlaß genommen, siebentausend Franken Kosten entstehen zu lassen, ohne von der Zukunft zu reden, deren Blüte noch schöne Früchte versprach, wie man sehen wird. Gewiß werden die Anwälte von Frankreich und Navarra, sogar von der Normandie, Petit-Claud ihre Achtung und ihre Bewunderung zollen; aber wird nicht, wer ein Herz hat, für Kolb und Marion eine Träne des Mitgefühls haben?

Während dieses Krieges saß Kolb, wenn David ihn nicht brauchte, vor der Haustür auf einem Stuhl und erfüllte die Pflichten eines Zerberus. Er nahm die juristischen Aktenstücke in Empfang, wobei er übrigens immer von einem Schreiber Petit-Clauds überwacht wurde. Als die Plakate die Versteigerung einer Druckereieinrichtung ankündigten, riß Kolb sie ab, sowie der Zettelanschläger sie angebracht hatte, lief durch die Stadt, um sie überall abzureißen, und rief dabei: »Die Spitzbuben! Einen braven Mann so zu quälen! Und das nennen sie Justiz!«

Marion verdiente am Vormittag mit dem Drehen einer Maschine in einer Papierfabrik ein Zehnsousstück und verwandte es zu den täglichen Ausgaben. Frau Chardon hatte, ohne zu murren, ihre ermüdende Tätigkeit als Krankenpflegerin wieder aufgenommen und brachte ihrer Tochter am Ende jeder Woche ihren Verdienst. Sie hatte schon zwei neuntägige Andachten gemacht und wunderte sich, daß Gott für ihre Gebete taub und für den Glanz der Kerzen, die sie ihm anzündete, blind blieb.

Am zweiten September erhielt Eva den einzigen Brief, den Lucien nach jenem Brief geschrieben hatte, in dem er seinem Schwager von den drei Wechseln, die er in Umlauf gesetzt hatte, Mitteilung gemacht und den David vor seiner Frau verborgen hatte.

»Das ist nun der dritte Brief, den ich von ihm seit seiner Abreise bekomme«, sagte sich die arme Schwester und zögerte, das verhängnisvolle Schreiben zu öffnen.

Sie gab gerade ihrem Kinde zu trinken, sie ernährte es mit der Flasche; denn sie war gezwungen gewesen, um der Ersparnis willen, die Amme zu entlassen. Man kann sich denken, in welchen Zustand sie und ebenso David, den sie weckte, der folgende Brief versetzte. Der Erfinder hatte sich, nachdem er die ganze Nacht mit der Herstellung seines Papiers beschäftigt gewesen war, gegen Morgen hingelegt gehabt.

»Paris, 29. August.

Liebe Schwester!

Vor zwei Tagen gegen fünf Uhr früh hat eins der schönsten Geschöpfe Gottes das Leben ausgehaucht. Sie war vielleicht das einzige weibliche Wesen, das mir gut sein konnte, wie Du, wie David und meine Mutter mir gut sind, und sie fügte diesen uneigennützigen Gefühlen noch hinzu, was Mutter und Schwester nicht geben können: alle Wonnen der Liebe! Die arme Coralie hat mir alles geopfert und ist jetzt vielleicht für mich gestorben! Für mich, der ich in diesem Augenblick nicht einmal die Mittel habe, sie beerdigen zu lassen. Sie hätte mich über das Leben getröstet; Ihr allein, geliebte Menschen, könnt mich über ihren Tod trösten. Diesem reinen Geschöpf ist, glaube ich, von Gott verziehen worden, denn sie ist christlich gestorben. OParis! ... Liebe Eva, Paris ist der ganze Ruhm und die ganze Schmach Frankreichs. Ich habe hier schon viele Illusionen verloren, und ich werde jetzt noch weitere verlieren, wenn ich das bißchen Geld zusammenbettle, das ich brauche, um den Leib eines Engels in geweihter Erde zu bestatten.

Dein unglücklicher Bruder

Lucien.

P.S. Ich habe Dir mit meinem Leichtsinn gewiß viel Sorgen gemacht, Du wirst einmal alles erfahren und wirst mir verzeihen. Überdies darfst Du ruhig sein: ein wackerer Kaufmann, dem ich grausamen Schmerz zugefügt hatte, Herr Camusot, hat es, als er Coralie und mich so verfolgt sah, auf sich genommen, die Sache in Ordnung zu bringen.«

»Der Brief ist noch naß von seinen Tränen«, sagte sie zu David und sah ihn mit so viel Mitgefühl an, daß in ihren Augen etwas von ihrer alten Liebe zu Lucien zu lesen war.

»Armer Junge! Er hat viel leiden müssen, wenn er so geliebt worden ist, wie er sagt«, rief Evas glücklicher Gatte.

Der Mann wie die Frau vergaßen all ihre Leiden vor diesem Aufschrei des höchsten Schmerzes. In diesem Augenblick stürzte Marion herein: »Frau, sie sind da, sie sind da!«

»Wer?«

»Doublon und seine Leute, zum Teufel! Kolb haut sich mit ihnen. Es soll versteigert werden.«

»Nein, nein, es soll nicht versteigert werden, beruhigen Sie sich!« rief Petit-Claud, dessen Stimme aus dem Vorzimmer in das Schlafzimmer hereintönte, »ich habe eben meinen Namen unter die Berufung gesetzt. Wir dürfen uns nicht unter ein Urteil beugen, das uns Unredlichkeit zutraut. Es ist mir nicht eingefallen, mich hier zu verteidigen. Damit Sie Zeit gewinnen, habe ich Cachan schwätzen lassen, ich bin sicher, zum zweitenmal in Poitiers zu siegen ...«

»Aber wieviel wird dieser Sieg kosten?« fragte Frau Séchard.

»Mein Honorar, wenn Sie siegen, und tausend Franken, wenn wir verlieren.«

»Guter Gott,« rief die arme Eva, »ist da nicht das Heilmittel schlimmer als das Übel?«

Als Petit-Claud diesen Ruf der Unschuld hörte, die an der Justiz erleuchtet worden war, konnte er kein Wort antworten, so schön erschien ihm Eva. Inzwischen trat der alte Séchard, den Petit-Claud bestellt hatte, ein. Die Anwesenheit des alten Mannes im Schlafzimmer seiner Kinder, in dem sein Enkel in der Wiege zu all dem Elend lächelte, vervollständigte diese Szene.

»Papa Séchard,« sagte der junge Anwalt, »Sie schulden mir siebenhundert Franken für meinen Einspruch; aber Sie werden sie von Ihrem Sohn zurückverlangen zusammen mit der Summe der Mieten, die man Ihnen schuldet.«

Der alte Winzer verstand die beißende Ironie, die Petit-Claud in seine Mienen und in den Ton seiner Worte legte.

»Es hätte Sie weniger gekostet, für Ihren Sohn zu bürgen!« sagte Eva zu dem Alten und verließ die Wiege, um ihn zu begrüßen.

David, der von dem Anblick der Menschenansammlung vor seinem Hause, die dem Kampf zwischen Kolb und Doublons Leuten zusahen, bedrückt war, streckte seinem Vater die Hand hin, ohne ihm Guten Tag zu sagen.

»Und wie kann ich Ihnen siebenhundert Franken schuldig sein?« fragte der Alte Petit-Claud.

»Ganz einfach, weil ich Ihre Interessen gewahrt habe. Da es sich um Ihre Mieten handelt, kann ich mich ebensowohl an Sie wie an Ihren Schuldner halten. Wenn Ihr Sohn mir diese Kosten nicht zahlt, dann zahlen Sie mir sie. Aber lassen wir das jetzt: in wenig Stunden wird man Ihren David ins Gefängnis stecken wollen, werden Sie das zugeben?«

»Wieviel ist er schuldig?«

»So etwa fünf- bis sechstausend Franken, ohne zu rechnen, was er Ihnen und seiner Frau schuldig ist.«

Der alte Mann, der ganz Mißtrauen geworden war, besah sich das rührende Bild, das sich in diesem blau und weißen Zimmer seinen Augen darbot: eine weinende schöne Frau neben einer Wiege, David, der endlich unter der Last seines Kummers zusammenbrach, der Advokat, der ihn vielleicht wie in eine Falle hierhergelockt hatte; der Bär glaubte jetzt, man hätte seine väterlichen Gefühle ausnützen wollen, er hatte Angst, ausgebeutet zu werden. Er ging zu der Wiege und streichelte das Kind, das ihm seine Händchen entgegenstreckte. Das Kind, das trotz all dieser Sorgen gepflegt wurde wie das eines Pairs von England, hatte ein kleines, rosagefüttertes, gesticktes Häubchen auf dem Kopf.

»Ach was! David soll sich retten, wie er kann; ich denke nur an das Kind!« rief der alte Großvater, »und seine Mutter wird mir recht geben. David ist so gelehrt, daß er wissen muß, wie man seine Schulden zahlt.«

»Ich will Ihnen Ihre Gefühle etwas deutlicher machen«, sagte der Anwalt mit spöttischer Miene. »Hören Sie, Papa Séchard, Sie sind eifersüchtig auf Ihren Sohn. Hören Sie die Wahrheit! Sie haben David in die Lage gebracht, in der er ist, indem Sie ihm Ihre Druckerei dreimal so teuer verkauft haben, als sie wert ist, und indem Sie ihn zugrunde richteten, damit Sie diesen wucherischen Preis bekamen. Jawohl, wackeln Sie nur mit dem Kopf! Die Zeitung, die Sie den Cointet verkauften und deren Kaufpreis Sie ganz in die Tasche steckten, war der ganze Wert Ihrer Druckerei ... Sie hassen Ihren Sohn, nicht nur weil Sie ihn übervorteilt haben, sondern auch, weil Sie aus ihm einen Mann gemacht haben, der über Ihnen steht. Sie geben sich das Ansehen, als ob Sie eine großartige Liebe zu Ihrem Enkel hätten, um den Bankrott Ihrer Gefühle zu Ihrem Sohn und Ihrer Schwiegertochter zu maskieren, die Sie hic et nunc Geld kosten würden, während Ihr Enkel Ihre Liebe nur in extremis braucht. Sie lieben das kleine Kerlchen da, um sich die Miene zu geben, überhaupt jemanden aus Ihrer Familie zu lieben, und nicht für gefühllos zu gelten. So sieht der Boden Ihres Sackes aus, Vater Séchard ...«

»Haben Sie mich kommen lassen, damit ich das anhören soll?« fragte der alte Mann in drohendem Tone und blickte der Reihe nach seinen Anwalt, seine Schwiegertochter und seinen Sohn an.

»Aber, Herr Petit-Claud,« rief die arme Eva, »wollen Sie uns denn ganz und gar zugrunde richten? Niemals hat sich mein Mann über seinen Vater beklagt ...«

Der Winzer sah seine Schwiegertochter tückisch an.

»Er hat mir hundertmal gesagt, daß Sie ihn auf Ihre Weise lieben«, sagte sie zu dem alten Manne, dessen Mißtrauen sie verstehen konnte.

Nach den Instruktionen des großen Cointet war jetzt Petit-Claud dabei, den Vater und den Sohn völlig miteinander zu verfeinden, damit der Vater David nicht aus seiner grausamen Lage befreien konnte.

»An dem Tage, an dem wir David im Gefängnis haben,« hatte der große Cointet am Tage vorher zu Petit-Claud gesagt, »werden Sie Frau von Senonches vorgestellt.«

Das helle Verstehen, das die Liebe mit sich bringt, hatte Frau Séchard ein Licht aufgesteckt. Sie erriet diese Feindschaft auf Kommando, wie sie schon hinter den Verrat Cérizets gekommen war. Man kann sich Davids erstauntes Gesicht leicht denken, da er nicht verstehen konnte, woher Petit-Claud seinen Vater und seine Angelegenheiten so gut kannte. Der ehrliche Drucker wußte nichts von der Verbindung seines Anwalts mit den Cointet, und ebensowenig ahnte er, daß die Cointet hinter Métivier steckten. Davids Schweigen war für den alten Winzer kränkend; und so benutzte der Anwalt die Verwunderung seines Klienten, um den Schauplatz zu verlassen.

»Leben Sie wohl, lieber David, Sie sind gewarnt; gegen die Schuldhaft ist keine Berufung zulässig; es steht Ihren Gläubigern nur noch dieser Weg offen, sie werden ihn einschlagen. Bringen Sie sich also in Sicherheit! ... Oder noch besser, wenn Sie mir folgen wollen, sehen Sie einmal zu und suchen Sie die Brüder Cointet auf; sie haben Kapital, und wenn Ihre Entdeckung so weit ist, wenn sie hält, was sie verspricht, assoziieren Sie sich mit ihnen, es sind doch schließlich treffliche Menschen ...«

»Was ist das für ein Geheimnis?« fragte der alte Séchard.

»Aber halten Sie denn Ihren Sohn für so töricht, daß er seine Druckerei im Stiche läßt, ohne an etwas anderes zu denken!« rief der Anwalt, »er ist im Begriff, hat er mir gesagt, ein Mittel zu finden, durch das man das Ries Papier, das jetzt zehn Franken kostet, für drei Franken herstellen kann.«

»Also noch ein Versuch, mich zu fangen!« rief der alte Séchard. »Ihr seid alle miteinander im Bunde, wie die Spitzbuben auf dem Jahrmarkt. Wenn David das gefunden hat, braucht er mich nicht mehr, dann ist er Millionär! Adieu, Freunde, guten Abend!«

Damit ging der Alte die Treppe hinunter.

»Denken Sie daran, sich zu verstecken«, sagte Petit-Claud zu David und lief hinter dem alten Séchard her, um ihn noch mehr zu reizen.

Der kleine Advokat traf den mürrisch vor sich hinbrummenden Winzer auf der Place du Mûrier, begleitete ihn bis nach Houmeau und verließ ihn mit der Drohung, er werde wegen der Kosten, die er zu beanspruchen habe, einen Vollstreckungsbefehl erwirken, wenn er nicht noch in dieser Woche bezahlt werde.

»Ich bezahle Sie, wenn Sie mir die Mittel angeben, meinen Sohn zu enterben, ohne meinen Enkel und meine Schwiegertochter zu schädigen!« sagte der alte Séchard und ließ den Anwalt stehen.

»Wie der große Cointet seine Leute kennt! Ah! er hatte es mir gesagt: diese siebenhundert Franken werden den Vater verhindern, die siebentausend Franken seines Sohnes zu bezahlen«, rief der kleine Advokat, als er wieder nach Angoulême hinaufstieg. »Trotzdem lassen wir uns von dem alten verschmitzten Papierfabrikanten nicht übern Löffel barbieren, es ist Zeit, von ihm etwas anderes als Worte zu verlangen.«

»Nun, mein lieber David, was gedenkst du zu tun?« fragte Eva ihren Mann, nachdem der alte Séchard und der Anwalt sie verlassen hatten.

»Kind, setze deinen größten Topf aufs Feuer«, sagte David zu Marion, »ich gehe an mein Geschäft!«

Als Eva diese Worte hörte, griff sie mit fieberhafter Eile zu ihrem Hut, ihrem Schal und ihren Schuhen.

»Ziehen Sie sich an, lieber Kolb,« sagte sie, »Sie sollen mich begleiten, ich muß wissen, ob es ein Mittel gibt, diesem Elend zu entrinnen.«

»Herr,« rief Marion, nachdem Eva gegangen war, »seien Sie doch vernünftig, die Frau stirbt uns sonst vor Kummer; verdienen Sie Geld, um Ihre Schulden zu bezahlen; nachher können Sie in aller Ruhe Ihre Schätze suchen.«

»Sei still, Marion,« erwiderte David, »die letzte Schwierigkeit wird jetzt überwunden. Ich werde zugleich das Patent für die Erfindung und das Patent für die Verbesserung bekommen.«

Das Kreuz der Erfinder in Frankreich ist das Patent für die Verbesserung. Es verbringt jemand zehn Jahre seines Lebens damit, das Geheimnis einer Industrie, einer Maschine oder irgendeine Entdeckung zu suchen, er nimmt ein Patent und glaubt, die Sache gehöre ihm, ihm folgt ein Konkurrent, der, wenn jener nicht alles vorausgesehen hat, seine Erfindung mit irgendeiner Schraube verbessert und sie ihm so aus den Händen windet. Und so war damit, daß einer ein billiges Zeug zur Papierfabrikation erfand, noch nicht alles getan. Andere konnten das Verfahren verbessern. David Séchard wollte alles voraussehen, damit ihm nicht ein Vermögen entrissen werden konnte, an dessen Begründung er unter so viel Widerwärtigkeiten arbeitete. Das holländische Papier dieser Name verbleibt dem Papier, das ganz aus Hadern hergestellt wird, obwohl Holland keins mehr fabriziert ist leicht geleimt, aber es muß Bogen für Bogen mit der Hand geleimt werden, und das verteuert das Papier. Wenn es möglich wäre, den Papierbrei in der Bütte zu leimen, und zwar mit einem Klebemittel, das nicht kostspielig ist was übrigens heutzutage geschieht, wennschon noch unvollkommen, dann bliebe keine Verbesserung mehr zu erfinden. Seit einem Monat also suchte David den Brei seines Papiers in der Bütte zu leimen. Er hatte zwei Erfindungen zugleich ins Auge gefaßt.

Eva ging zu ihrer Mutter. Durch einen glücklichen Zufall pflegte Frau Chardon die Frau des ersten Substituten, die dem Geschlecht der Milaud von Nevers einen Erben geschenkt hatte. Eva, die allen Beamten mißtraute, war auf den Gedanken gekommen, den gesetzlich bestellten Verteidiger der Witwen und Waisen in ihrer Lage anzurufen und ihn zu fragen, ob sie David dadurch befreien könnte, daß sie sich verbürgte und ihre Ansprüche verkaufte; aber sie hoffte auch, die Wahrheit über das zweideutige Verhalten von Petit-Claud zu erfahren. Der Beamte, der von der Schönheit der Frau Séchard überrascht war, behandelte sie nicht nur mit der Rücksicht, die man einer Frau schuldig ist, sondern sogar mit einer Art Liebenswürdigkeit, an die Eva nicht gewöhnt war. Die arme Frau sah in den Augen dieses Beamten den Ausdruck, den sie seit ihrer Verheiratung nur noch bei Kolb gefunden hatte und der für schöne Frauen wie Eva das Kennzeichen ist, nach dem sie die Männer beurteilen können. Wenn eine Leidenschaft, wenn das Interesse oder das Alter in den Augen eines Mannes das Funkeln des unbedingten Gehorsams, das in ihnen in jungen Jahren leuchtet, ausgelöscht hat, dann mißtraut eine Frau einem solchen Manne und fängt an, ihn zu beobachten. Die Cointet, Petit-Claud, Cérizet, all die Leute, in denen Eva Feinde geahnt hatte, hatten sie mit trockenen und kalten Blicken angesehen, sie fühlte sich daher bei dem Substituten wohl aufgehoben, dieser aber, so freundlich er sie aufnahm, zerstörte mit ein paar Worten all ihre Hoffnungen.

»Es ist nicht sicher, Frau Séchard,« sagte er zu ihr, »daß das Appellationsgericht das Urteil ändert, welches die Eigentumsübertragung, die Ihr Mann mit allem, was er besaß, zu Ihren Gunsten, um Ihr eingebrachtes Gut zu sichern, vorgenommen hat, auf die Wohnungseinrichtung beschränkte. Ihr Vorrecht darf nicht dazu dienen, einen Betrug zu decken. Aber da Sie in Ihrer Eigenschaft als Gläubigerin bei der Teilung des Erlöses für die gepfändeten Gegenstände zugelassen werden; da ferner Ihr Schwiegervater in gleicher Weise sein Vorrecht für die Mieten, die man ihm schuldet, üben darf, wird, nachdem das Urteil des Gerichts einmal gefällt ist, anläßlich dessen, was wir in der juristischen Sprache die Ausschüttung nennen, Gelegenheit zu weiteren Rechtsstreitigkeiten sein.«

»Herr Petit-Claud richtet uns also zugrunde?« rief sie.

»Das Verhalten des Anwalts«, erwiderte der Beamte, »entspricht dem Mandat, das ihm Ihr Gatte gegeben hat, der, wie sein Advokat sagt, Zeit gewinnen will. Nach meiner Meinung wäre es vielleicht besser, von der Berufung abzustehen und dafür zu sorgen, daß Sie und Ihr Schwiegervater bei der Versteigerung in den Besitz der für Ihren Betrieb notwendigsten Maschinen und Werkzeuge kommen: Sie in den Grenzen dessen, worauf Sie Anspruch haben, er für den Betrag seiner Mieten. Aber damit käme man zu schnell ans Ziel. Die Advokaten bringen Sie um Hab und Gut!«

»Ich wäre dann in den Händen des Herrn Séchard senior, dem ich die Miete für die Pressen und für das Haus schuldete, mein Mann bliebe nichtsdestoweniger den Verfolgungen des Herrn Métivier, der fast nichts bekommen hätte, ausgesetzt.«

»Sie verstehen ganz recht, Frau Séchard.«

»Aber dann wäre unsere Lage ja schlimmer als jetzt.«

»Die Kraft des Gesetzes, Frau Séchard, steht am letzten Ende auf der Seite des Gläubigers. Sie haben dreitausend Franken bekommen, es kann nicht anders sein, als daß Sie sie zurückgeben.«

»Oh! Sie trauen uns doch nicht zu, daß wir ...«

Eva hielt inne; sie merkte, in welche Gefahr ihre Rechtfertigung ihren Bruder bringen konnte.

»Oh, ich weiß wohl,« versetzte der Beamte, »daß diese Sache sowohl auf der Seite der Schuldner, die redliche, edelmütige, sogar große Menschen sind, wie auf der Seite des Gläubigers, der nur ein Aushängeschild ist, dunkel ist.«

Eva erschrak und sah den Beamten ängstlich an.

»Sie können sich denken,« fuhr er fort und warf ihr einen sehr klugen Blick zu, »daß wir, während wir dasitzen und den Reden der Herren Advokaten zuhören müssen, Zeit genug haben, über das nachzudenken, was vor unsern Augen vorgeht.«

Eva kam in Verzweiflung, daß sie nicht helfen konnte, nach Hause.

Abends um sieben Uhr brachte Doublon den Zahlungsbefehl, in dem die bevorstehende Verhängung der Schuldhaft angekündigt war. Jetzt war also das Verfahren auf seinem höchsten Punkt angelangt.

»Von morgen an«, sagte David, »kann ich nur noch nachts ausgehen.«

Eva und Frau Chardon brachen in Tränen aus. In ihren Augen war es eine Schande, sich verborgen zu halten. Als Kolb und Marion erfuhren, daß die Freiheit ihres Herrn bedroht war, beunruhigten sie sich um so mehr, als sie ihm seit langem nicht die geringste Schlauheit zutrauten; und sie zitterten dermaßen für ihn, daß sie unter dem Vorwand, sie wollten hören, was sie Nützliches tun könnten, zu Frau Chardon, Eva und David ins Zimmer gingen. Sie traten in dem Augenblick ein, als diese drei Menschen, deren Leben bisher ein so einfaches gewesen war, hinsichtlich der Notwendigkeit, David zu verbergen, in Tränen ausbrachen. Aber wie sollte man den unsichtbaren Spionen entgehen, die von jetzt an die geringsten Schritte dieses Mannes, der zum Unglück so zerstreut war, beobachten würden?

»Wenn die Frau ein kleines Viertelstündchen warten will,« sagte Kolb, »werde ich im feindlichen Lager rekognoszieren. Und Sie sollen sehen, daß ich das Geschäft verstehe, wenn ich schon wie ein Deutscher aussehe; so wahr ich ein Franzose bin, ich bin nicht dumm.«

»Oh, Frau Séchard,« sagte Marion, »lassen Sie ihn gehen, er denkt an nichts anderes, als den Herrn zu beschützen. Kolb ist kein Elsässer, er ist ein wahrer Neufundländer.«

»Gehen Sie, guter Kolb,« sagte David, »wir haben noch Zeit genug, einen Entschluß zu fassen.«

Kolb eilte zu dem Gerichtsvollzieher, bei dem Davids Feinde Kriegsrat hielten und über das Mittel berieten, wie man sich seiner bemächtigen konnte.

Die Verhaftung der Schuldner ist in der Provinz, wenn er überhaupt je vorkommt, ein ganz außergewöhnlicher Fall. Zunächst kennen sich alle untereinander zu gut, als daß jemand ein so gehässiges Mittel anwendete. Gläubiger und Schuldner stehen einander das ganze Leben hindurch persönlich gegenüber. Und ferner, wenn ein Kaufmann, ein Bankrottierer, um die Sprache der Provinz, die in dieser Art gesetzlichen Diebstahls keine Milde kennt, anzuwenden, einen großen Konkurs vorhat, dann dient ihm Paris als Zuflucht. Paris ist in gewisser Art das Belgien der Provinz: man findet dort Verstecke, die fast unauffindbar sind, und das Mandat des Gerichtsvollziehers, der die Exekution zu machen hat, erlischt an den Grenzen seiner Zuständigkeit, überdies gibt es noch andere entscheidende Hindernisse. So gilt das Gesetz, das die Unverletzlichkeit der Wohnung verbürgt, in der Provinz ohne Ausnahme; der Gerichtsvollzieher hat dort nicht, wie in Paris, das Recht, in ein drittes Haus einzudringen, um den Schuldner herauszuholen. Der Gesetzgeber hat geglaubt, Paris ausnehmen zu müssen, weil hier dauernd mehrere Familien im selben Hause beisammen wohnen. Aber in der Provinz muß der Gerichtsvollzieher, wenn er in die Wohnung des Schuldners selbst eindringen will, sich vom Friedensrichter begleiten lassen. Der Friedensrichter nun, dem die Gerichtsvollzieher unterstellt sind, hat es fast ganz in der Hand, ob er seine Mitwirkung bewilligen oder verweigern will. Zum Lob der Friedensrichter muß gesagt werden, daß diese Verpflichtung sie drückt, sie wollen nicht blinder Leidenschaft oder Rachsucht dienen. Es gibt noch andere, nicht weniger ernste Schwierigkeiten, die ebenso dazu dienen, die völlig unnütze Grausamkeit des Gesetzes über die Schuldhaft durch die Wirksamkeit der Sitten, die oft die Gesetze bis zu dem Grade umwandeln, daß sie hinfällig werden, zu mildern. In den großen Städten gibt es genug Elende, Verkommene, Leute ohne Treu und Glauben, die man zu Spionen brauchen kann; aber in den kleinen Städten kennen sich alle zu gut untereinander, als daß so leicht einer in den Sold eines Gerichtsvollziehers träte. Jeder, der in der unteren Klasse bis zu dem Grade gesunken wäre, wäre genötigt, die Stadt zu verlassen. Da also die Verhaftung eines Schuldners nicht, wie in Paris oder den großen Industrie- und Handelsstädten, Gegenstand des privilegierten Gewerbes der Häscher des Handelsgerichts geworden ist, wird sie zu einem überaus schwierigen Vorgehen, zu einem Kampf der Schlauheit zwischen dem Schuldner und dem Gerichtsvollzieher; und es ist dabei schon zu sehr erfinderischen Listen gekommen, von denen in den Zeitungen manchmal hübsche Berichte zu lesen waren. Der ältere Cointet hatte sich nicht zeigen wollen, aber der dicke Cointet, der jetzt sagte, Métivier habe ihm diesen Auftrag gegeben, war mit Cérizet, der sein Faktor geworden war und der gegen das Versprechen eines Tausendfrankenscheins seine Mitwirkung zugesagt hatte, zu Doublon gekommen. Doublon konnte auf zwei seiner Gehilfen rechnen. So verfügten die Cointet schon über drei Spürhunde zur Überwachung ihrer Beute. Im Augenblick der Verhaftung konnte Doublon überdies die Gendarmerie verwenden, die nach dem Wortlaut der Urteile dem Gerichtsvollzieher, der sie dazu auffordert, Beistand leisten muß. Diese fünf Personen waren also in diesem Augenblick in dem Zimmer des Gerichtsvollziehers Doublon, das im Erdgeschoß des Hauses neben dem Bureau lag, versammelt.

Man betrat dieses Bureau, nachdem man einen ziemlich langen, mit Fliesen belegten Korridor durchschritten hatte. Das Haus hatte ein einfaches, nicht allzu großes Tor, auf dessen beiden Seiten die vergoldeten amtlichen Schilder angebracht waren, in deren Mitte in schwarzen Buchstaben zu lesen war: Gerichtsvollzieher. Die beiden Fenster des Bureaus, die auf die Straße gingen, waren mit starken Eisenstangen vergittert. Das Arbeitszimmer, in dem die fünf saßen, gestattete den Blick auf einen Garten hinaus, in dem der Gerichtsvollzieher, ein Liebhaber von Pomona, mit großem Erfolg Spalierobst züchtete. Die Küche lag dem Arbeitszimmer gegenüber, und hinter der Küche befand sich die Treppe, auf der man in das obere Stockwerk gelangte. Das Haus war in einer kleinen Straße hinter dem neuen Justizpalast gelegen, der damals im Bau stand und erst nach 1830 fertig geworden ist. Diese Einzelheiten sind für das Verständnis dessen, was Kolb erlebte, nicht unnütz. Der Elsässer hatte sich ausgedacht, dem Gerichtsvollzieher gegenüber den Vorwand zu brauchen, er wollte ihm seinen Herrn verraten, um so zu erfahren, welche Fallen man ihm stellte, und ihn vor ihnen zu schützen. Die Köchin öffnete ihm. Kolb sprach den Wunsch aus, Herrn Doublon in Geschäftssachen zu sprechen. Die Köchin war ärgerlich, daß sie, während sie ihr Geschirr abwusch, gestört wurde, öffnete die Tür zum Bureau und sagte zu Kolb, den sie nicht kannte, er sollte da auf den Herrn warten, der im Augenblick in seinem Arbeitszimmer eine Besprechung hätte; dann teilte sie ihrem Herrn mit, ein Mann wollte ihn sprechen. Man war so sehr gewohnt, diesen Ausdruck »ein Mann« für einen Bauern anzuwenden, daß Doublon sagte: »Er soll warten!«

Kolb setzte sich an die Tür, die zum Arbeitszimmer führte.

»Also, wie wollen Sie vorgehen? Denn wenn wir ihn morgen früh erwischen können, wäre Zeit gewonnen«, sagte der dicke Cointet.

»Er hat seinen Namen Gimpel nicht gestohlen, nichts ist leichter«, rief Cérizet.

Als Kolb die Stimme des dicken Cointet erkannte, hauptsächlich aber, als er die beiden Sätze hörte, erriet er sofort, daß es sich um seinen Herrn handelte, und sein Staunen wuchs, als er die Stimme Cérizets hörte.

»Der Bursche hat sein Brot gegessen!« rief er entsetzt.

»Liebe Kinder,« sagte Doublon, »hört, was wir tun müssen. Wir stellen unsere Leute in großen Abständen zwischen der Rue de Beaulieu und der Place du Mûrier in allen Himmelsrichtungen auf, so daß sie dem Gimpel, dieser Spitzname gefällt mir, folgen können, ohne daß er es merken kann. Wir verlassen ihn nicht, bis er in das Haus getreten ist, wo er sich geborgen glaubt; wir lassen ihm einige Tage Sicherheit, dann treffen wir ihn dort eines schönen Tages vor Sonnenaufgang oder nach Sonnenuntergang.«

»Aber was tut er in diesem Augenblick? Er kann uns entkommen«, sagte der dicke Cointet.

»Er ist zu Hause,« sagte Doublon; »wenn er ausginge, würde ich es erfahren. Einer meiner Gehilfen steht auf der Place du Mûrier auf seinem Posten, ein anderer an der Ecke des Justizpalastes und ein dritter dreißig Schritte von meinem Hause. Wenn unser Mann fortginge, würden sie pfeifen; und er hätte noch keine drei Schritte gemacht, ohne daß ich es auf diesem telegraphischen Wege erfahren hätte.«

Die Gerichtsvollzieher gaben ihren Bütteln den ehrbaren Namen Gehilfen.

Kolb hatte auf einen so günstigen Zufall nicht gerechnet; er verließ leise das Bureau und sagte zu dem Mädchen: »Herr Doublon ist lange beschäftigt, ich werde morgen früh wiederkommen.«

Der Elsässer, der früher bei der Kavallerie gedient hatte, war auf einen Gedanken gekommen, den er sofort ausführte. Er eilte zu einem Pferdevermieter, den er kannte, suchte sich bei ihm ein Pferd aus, ließ es satteln und lief in größter Eile zu seinem Herrn zurück. Er fand Frau Eva in der tiefsten Niedergeschlagenheit.

»Was gibt es, Kolb?« fragte der Drucker, als er an dem Elsässer eine zugleich freudige und erschreckte Miene bemerkte.

»Sie sind von Spitzbuben umstellt. Das Sicherste ist, den Herrn zu verbergen. Hat die Frau daran gedacht, ihn irgendwo hinzubringen?«

Der wackere Kolb gab Aufschluß über den Verrat Cérizets, über die Überwachungsposten in der Nähe des Hauses, über den Anteil, den der dicke Cointet an der Sache nahm, und so konnte kein Zweifel sein, daß Menschen dieser Art jede List gegen David anwenden würden. Sie sahen ein, daß seine Lage schlimm war.

»Die Cointet sind es, die gegen dich vorgehen,« rief die arme Eva in Verzweiflung, »und deswegen hat Métivier sich so hart gezeigt. Sie sind Papierfabrikanten, sie wollen dein Geheimnis.«

»Aber was tun, um ihnen zu entkommen?« rief Frau Chardon.

»Wenn die Frau einen guten Ort weiß, wo man den Herrn hinbringen kann,« sagte Kolb, »verspreche ich, ihn hinzubringen, ohne daß es je einer erfährt.«

»Geht zu Basine Clerget, aber nur bei Nacht,« erwiderte Eva, »ich werde alles mit ihr besprechen. In dieser Lage kann ich mich ganz auf Basine verlassen.«

»Die Spione werden dir folgen,« sagte endlich David, der wieder etwas Geistesgegenwart bekam; »es handelt sich darum, ein Mittel zu finden, Basine zu benachrichtigen, ohne daß einer von uns hingeht.«

»Die Frau kann hingehen«, sagte Kolb. »Ich hab mir das so gedacht: ich gehe mit dem Herrn aus, und wir führen die Pfeifspione hinter uns her. Während dieser Zeit kann die Frau zu Fräulein Clerget gehen, man wird ihr nicht folgen. Ich habe ein Pferd, der Herr kann hinten aufsitzen, und das müßte verteufelt sein, wenn man uns erwischte.«

»Lebewohl denn, Liebster,« rief die arme Frau und warf sich ihrem Manne in die Arme; »keiner von uns wird dich besuchen, denn wir könnten sie auf deine Spur bringen. Wir müssen uns für die ganze Zeit verabschieden, die diese freiwillige Gefangenschaft dauert. Wir schreiben uns durch die Post. Basine wird deine Briefe besorgen, und ich schreibe dir unter ihrem Namen.«

Bei ihrem Fortgehen hörten David und Kolb das Pfeifen und führten die Spione bis zum Palet-Tor hinunter, wo der Pferdeverleiher wohnte. Dort nahm Kolb seinen Herrn hinter sich aufs Pferd und empfahl ihm, sich gut an ihm festzuhalten.

»Pfeift, pfeift, ihr guten Freunde! Ich pfeife auf euch alle!« rief Kolb; »ihr werdet einen alten Kavalleristen nicht erwischen.«

Und der alte Kavallerist gab dem Pferde die Sporen und ritt so spornstreichs ins Land hinaus, daß die Spione ihnen unmöglich folgen konnten und nicht wußten, wo sie hingekommen waren.

Eva begab sich unter dem nicht übel erdachten Vorwand, seinen Rat einzuholen, zu Postel. Nachdem sie die Schmach eines Mitleids, das nur mit Worten verschwenderisch ist, hatte über sich ergehen lassen, verließ sie das Ehepaar Postel und konnte nun, ohne gesehen zu werden, das Haus Basinens erreichen, der sie ihren Kummer anvertraute und die sie um Beistand und Schutz bat. Basine, die Eva, damit sie ganz ungestört reden konnten, in ihr Zimmer geführt hatte, öffnete die Tür zu einer anstoßenden kleinen Kammer, die ihr Licht nur von einem kleinen Fledermausfenster erhielt, so daß das Auge keines Menschen hineinsehen konnte. Die beiden Freundinnen brachten einen kleinen Kamin in Ordnung, dessen Rohr in den Kamin der Arbeitsstube ging, in dem die Arbeiterinnen Feuer für ihre Bügeleisen hatten. Eva und Basine legten Decken auf den Fußboden, um den Schall zu dämpfen, wenn David aus Versehen Geräusch machte, sie stellten ein Gurtbett zum Schlafen auf, einen Ofen für seine Experimente, einen Tisch und einen Stuhl zum Sitzen und Schreiben. Basine versprach, ihm nachts zu essen zu geben, und da niemals jemand in ihr Zimmer kam, konnte David allen seinen Feinden und selbst der Polizei trotzen.

»Endlich«, sagte Eva und umarmte ihre Freundin, »ist er in Sicherheit.«

Eva begab sich noch einmal zu Postel, um, sagte sie, noch einen Zweifel aufklären, über den ihr ein so kluger Handelsrichter Auskunft geben könnte, und sie ließ sich von ihm zurückbegleiten und hörte seine Klagen an. »Wenn Sie mich geheiratet hätten, stünde es dann auch so schlimm mit Ihnen?« Dieses Gefühl lag allem, was der kleine Apotheker sprach, zugrunde.

Als Postel wieder nach Hause kam, zeigte sich seine Frau sehr eifersüchtig auf die wunderbare Schönheit der Frau Séchard; und die über die Freundlichkeit ihres Mannes erboste Leonie ließ sich nur durch die Behauptung des Apothekers beruhigen, die kleinen, blonden und rothaarigen Frauen taugten mehr als die großen, brünetten, die, wie er sagte, den schönen Pferden glichen, die nie aus dem Stalle kämen. Er gab ihr wohl einige Beweise für die Aufrichtigkeit dieser Worte, denn am nächsten Tag war Frau Postel sehr zärtlich zu ihm.

»Wir können beruhigt sein«, sagte Eva zu ihrer Mutter und Marion, die, wie Marion sich ausdrückte, noch ganz arretiert waren.

»Oh, sie sind weg«, sagte Marion, als Eva sich mechanisch im Zimmer umsah.

*

»Wohin geht die Reise?« fragte Kolb, als er auf der Landstraße nach Paris eine Meile geritten war.

»Nach Marsac«, antwortete David. »Da du mich auf diesen Weg gebracht hast, will ich einen letzten Versuch machen, das Herz meines Vaters zu rühren.«

»Ich würde lieber eine Batterie Kanonen erstürmen; denn der Herr Vater hat kein Herz.«

Der alte Drucker glaubte nicht an seinen Sohn; er beurteilte ihn, wie das Volk urteilt: nach den Ergebnissen. Zunächst glaubte er David nicht übervorteilt zu haben; dann sagte er sich, ohne an den Unterschied der Zeiten zu denken: »Ich habe ihm eine Druckerei gegeben, wie ich sie selbst bekommen habe; und er, der tausendmal mehr davon verstand als ich, ist nicht vorwärts gekommen!« Er war nicht imstande, seinen Sohn zu verstehen, er verurteilte ihn und fühlte eine Art Überlegenheit über diesen hohen Geist, indem er sich sagte: »Von mir bekommt er einmal sein Brot.«

Niemals werden die Moralisten den ganzen Einfluß, den die Gefühle auf die Interessen haben, klarlegen können. Dieser Einfluß ist ebenso mächtig, wie der der Interessen auf die Gefühle. Alle Naturgesetze haben eine doppelte Wirkung in zwei entgegengesetzten Richtungen. David seinerseits verstand seinen Vater und war mild genug, ihn zu entschuldigen.

Kolb und David langten um acht Uhr in Marsac an und überraschten den Alten beim Abschluß seiner Mahlzeit, die er heute notgedrungen kurz vor dem Schlafengehen einnehmen mußte.

»Dich schickt die Justiz zu mir«, sagte der Vater mit bitterem Lächeln zu seinem Sohne.

»Wie können Sie dem Herrn und dem Sohn so begegnen? Er reist im Himmel, und Sie sind immer benebelt!« rief Kolb entrüstet. »Zahlen Sie, zahlen Sie! Das ist Ihr Beruf als Vater.«

»Schon gut, Kolb, geh, bring das Pferd zu Frau Courtois, wir wollen meinem Vater nicht lästig damit fallen, und merk dir, daß die Väter immer recht haben.«

Kolb ging, er brummte, wie ein Hund, den der Herr wegen seiner Wachsamkeit gescholten hat, noch im Gehorchen protestiert. David schlug jetzt seinem Vater vor, ohne sein Geheimnis zu verraten, er wolle ihm den sichersten Beweis von seiner Entdeckung geben und wolle ihn an diesem Geschäft für die Höhe der Summen, die er brauchte sowohl um sofort frei zu werden, wie auch um sein Geheimnis auszubeuten beteiligen.

»So? Und wie willst du mir beweisen, daß du aus Nichts schönes Papier machen kannst, das nichts kostet?« fragte der alte Buchdrucker und warf seinem Sohn einen Blick zu, aus dem zu merken war, daß er nicht mehr ganz nüchtern war, und der trotzdem Schlauheit und Gier verriet. Es nahm sich aus, wie wenn ein Blitz aus einer vollen Regenwolke schießt, denn der alte Bär ging nie schlafen, ohne sich zur Nacht einen Haarbeutel anzuknüpfen. Der bestand aus zwei Flaschen trefflichen alten Weines, die er, nach seinem Ausdruck, schlürfte.

»Nichts einfacher als das«, erwiderte David. »Ich habe kein Papier bei mir. Ich bin auf der Flucht vor Doublon auf den Weg hierher gekommen, und als ich sah, daß ich auf dem Wege nach Marsac sei, dachte ich, ich könnte ebensogut mit dir verhandeln wie mit einem Wucherer. Ich habe nichts auf dem Leib als meine Kleider. Bring mich in einen wohlverschlossenen Raum, in den niemand Zugang hat, in dem mich niemand sehen kann, und ...«

»Wie!« sagte der Alte und warf seinem Sohn einen schrecklichen Blick zu, »du willst mich nicht sehen lassen, was du machst?«

»Lieber Vater,« antwortete David, »du hast mir gezeigt, daß es in Geschäften keinen Vater gibt.«

»Ah, du mißtraust dem, der dir das Leben geschenkt hat!«

»Nein, nur dem, der mir die Mittel zum Leben genommen hat.«

»Jeder für sich, du hast recht!« sagte der Alte. »Schön, ich werde dich in meine Vorratskammer bringen.«

»Ich gehe mit Kolb hinein; du schaffst mir einen Kessel, in dem ich meinen Brei koche,« versetzte David, ohne auf den Blick zu achten, den ihm sein Vater zuwarf; »dann bringst du mir Artischockenstengel, Spargelkraut, Brennesseln und Schilfrohr, das du am Ufer eures Baches abschneidest. Morgen früh komme ich aus deiner Vorratskammer, und da sollst du ein prächtiges Papier sehen.«

»Wenn das möglich ist ...« rief der Alte zwischen etlichen Rülpsern, »gebe ich dir vielleicht ... will ich sehen, ob ich dir geben kann ... Ja, dann gebe ich dir wahrscheinlich fünfundzwanzigtausend Franken unter der Bedingung, daß ich jedes Jahr so viel daran verdiene.«

»Stelle mich auf die Probe, ich willige ein«, rief David. »Kolb, steig aufs Pferd, sprenge nach Mansle, kauf dort bei einem Schäffler ein großes Haarsieb und bei einem Spezereihändler Leim, und komm schleunigst zurück.«

»Da trink!« sagte der Vater und stellte vor seinen Sohn eine Flasche Wein, Brot und einen Teller mit kaltem Fleisch hin, der noch auf dem Tische stand. »Sammle Kräfte, ich gehe und hole dir die grünen Lumpen, die du brauchst; denn grün sind sie, deine Lumpen! Ich fürchte sogar, sie sind ein bißchen zu grün.«

Zwei Stunden später, gegen elf Uhr nachts, schloß der Alte seinen Sohn und Kolb in einen kleinen Raum ein, der an seine Vorratskammer angebaut und mit Hohlziegeln bedeckt war. Es befanden sich darin die Utensilien, die man zum Brennen der Weine des Angoumois braucht, die, wie man weiß, alle die Branntweine liefern, die angeblich aus Cognac kommen.

»Oh! aber hier bin ich ja wie in einer Fabrik, Holz und Kessel sind da«! rief David.

»Also, auf morgen,« sagte der alte Séchard; »ich schließe euch jetzt ein und lasse meine beiden Hunde los; ich bin sicher, daß euch niemand Papier bringt. Zeig mir morgen deinen Bogen, so erkläre ich, daß ich dann dein Teilhaber werde; das Geschäft wird dann klar und in Ordnung sein.«

Kolb und David ließen sich einschließen und verbrachten etwa zwei Stunden damit, die Zweige zu zerbrechen und vorzubereiten, wobei sie sich zweier eichener Bohlen bedienten. Das Feuer sprühte, das Wasser kochte. Gegen zwei Uhr morgens hörte Kolb, der weniger beschäftigt war als David, ein Geräusch, das weniger wie ein Seufzen als wie das Rülpsen eines Trunkenen klang. Er nahm eine der beiden Kerzen und sah sich überall um; endlich gewahrte er das violette Gesicht des alten Séchard in einer kleinen viereckigen Öffnung, die sich über der Tür befand, durch die man aus dem Vorratsraum in die Brennkammer gelangte und die durch leere Fässer verstellt war. Der boshafte Alte hatte seinen Sohn und Kolb durch die äußere Tür, durch die die Fässer zur Ablieferung hinausgerollt wurden, in die Brennkammer geführt. Diese zweite, innere Tür war dazu da, die Fässer aus dem Vorratsraum in die Brennkammer zu rollen, ohne den Umweg über den Hof zu machen.

»Oh, Papa,« rief Kolb, »so haben wir nicht gewettet, Sie wollen Ihren Sohn begaunern ... Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie eine Flasche Wein trinken? Sie geben einem Spitzbuben zu saufen!«

»Oh, Vater!« sagte David.

»Ich wollte hören, ob Ihr etwas braucht«, brachte der Winzer kleinlaut und beinahe ernüchtert heraus.

»Und aus Interesse für uns haben Sie eine kleine Leiter genommen?« fragte Kolb und öffnete die Tür, nachdem er den Eingang freigemacht hatte. Er sah den Alten im Hemd auf einer kleinen Leiter stehen.

»Du wirst dich erkälten«, rief David.

»Ich glaube, ich bin ein Nachtwandler«, sagte der Alte, der sich sehr schämte und herunterstieg. »Weil du deinem Vater nicht getraut hast, hatte ich schlechte Träume. Ich träumte, du wärest mit dem Teufel im Bunde, um das Unmögliche möglich zu machen.«

»Der Teufel, das ist Ihre Leidenschaft für die kleinen Goldfüchse«, rief Kolb.

»Leg dich wieder hin, Vater«, sagte David, »schließ uns ein, wenn du willst, aber spar dir die Mühe, wiederzukommen: Kolb wird Posten stehen.«

Am nächsten Tage um vier Uhr verließ David die Brennkammer, nachdem er alle Spuren seiner Arbeit entfernt hatte, und brachte seinem Vater dreißig Bogen Papier, deren Feinheit, Weiße, Festigkeit und Stärke nichts zu wünschen übrigließen und die als Wasserzeichen die ungleich starken Striche von den Fäden des Haarsiebes zeigten. Der Alte nahm diese Proben und prüfte sie als alter Bär, der seit jungen Jahren gewohnt war, die Papiere auf diese Weise zu untersuchen, mit der Zunge, er fuhr mit der Hand darüber, zerknüllte sie, faltete sie, unterwarf sie all den Proben, die die Typographen anwenden, um die Qualität des Papiers festzustellen; und obwohl er nichts zu tadeln wußte, wollte er sich doch nicht besiegt geben.

»Man müßte sehen, was unter der Presse daraus wird«, sagte er, um seinen Sohn nicht loben zu müssen.

»Komischer Mensch!« rief Kolb.

Der Alte, der kaltblütig geworden war, verbarg die Unentschlossenheit, die er nur spielte, unter der väterlichen Würde.

»Ich will dich nicht täuschen, Vater; dieses Papier, scheint mir, stellt sich noch zu teuer, ich will noch das Problem lösen, es in der Bütte zu leimen. Nur diesen Vorteil muß ich noch erobern ...«

»Ah, du wolltest mich fangen!«

»Würde ich es dir dann sagen? Ich leime wohl schon in der Bütte; aber bis jetzt verbindet sich der Leim nicht gleichmäßig mit meinem Brei, das Papier wird rauh wie eine Bürste.«

»Schön. Vervollkommne das mit dem Leimen in der Bütte, und dann bekommst du mein Geld.«

»Mein Herr wird Ihr Geld nie zu sehen bekommen!«

Offenbar wollte der Alte David für die Schande, die er in dieser Nacht erlebt hatte, strafen, und so behandelte er ihn mehr als kalt.

»Vater,« sagte David, der Kolb hinausgeschickt hatte, »lch bin dir nie böse gewesen, daß du deine Druckerei zu einem unmäßigen Preis eingeschätzt hast und daß du sie mir lediglich nach deiner Schätzung verkauft hast; ich habe immer den Vater in dir gesehen. Ich habe mir gesagt: mag der alte Mann, der sich viel geplagt hat, der mich sicher auf einen höheren Platz gehoben hat, als es meiner Herkunft entsprach, in Frieden und auf seine Weise die Frucht seiner Arbeit genießen. Ich habe dir sogar das eingebrachte Gut meiner Mutter gelassen und habe mich, ohne zu murren, in das mit Schulden belastete Leben gefügt, das du mir bereitet hast. Ich habe mir vorgenommen, ein schönes Vermögen zu verdienen, ohne dich zu belästigen. Dieses Geheimnis nun habe ich inmitten des größten Elends gefunden. Ich hatte kaum Brot im Hause und wurde wegen Schulden verfolgt, die nicht meine sind ... Ja, ich habe gekämpft und bin nicht müde geworden, bis meine Kräfte erschöpft waren. Vielleicht bist du mir Hilfe schuldig! ... Aber denk nicht an mich, denk an die Frau und das kleine Kind ...« (hier konnte David seine Tränen nicht zurückhalten) »und gewähre ihnen Beistand und Schutz. Solltest du tiefer als Marion und Kolb stehen, die mir ihre Ersparnisse gegeben haben?« rief der Sohn, als er seinen Vater kalt wie eine marmorne Preßplatte sah.

»Und das hat dir nicht genügt?« rief der Alte, ohne die geringste Scham zu verspüren. »Aber du könntest ja ganz Frankreich aufzehren! Gute Nacht! Ich für mein Teil bin zu dumm, mich in die Ausbeutung eines Unternehmens einzulassen, wo nur ich der Ausgebeutete wäre. Der Affe soll den Bären nicht auffressen«, sagte er und spielte dabei auf ihre Gehilfenspitznamen an. »Ich bin Winzer, ich bin kein Bankier. Und dann, weißt du, Geschäfte zwischen Vater und Sohn, das tut nicht gut. Wir wollen essen; siehst du, du sollst nicht sagen, daß ich dir nichts gebe!«

David war einer der Menschen mit tiefem Herzen, die ihre Leiden so verbergen können, daß sie denen, die sie liebhaben, nicht sichtbar werden. Wenn daher bei ihnen der Schmerz überströmt, ist der höchste Punkt ihrer Qual erreicht. Eva verstand diesen schönen, männlichen Charakter. Aber der Vater sah in diesem Schmerz, der jetzt aus der Tiefe an die Oberfläche stürzte, den gewöhnlichen Jammer der Kinder, die ihren Vater herumbekommen wollen, und er nahm die außerordentliche Niedergeschlagenheit seines Sohnes für das Schamgefühl über den Mißerfolg. Vater und Sohn trennten sich in Unfrieden.

David und Kolb kamen ungefähr um Mitternacht nach Angoulême, und sie gingen zu Fuß und so vorsichtig durch die Stadt, als wären sie Diebe auf einem Raubzug. Um ein Uhr morgens betrat David die Wohnung von Fräulein Basine Clerget, ohne daß ihn jemand bemerken konnte, und wurde in dem unzugänglichen Asyl untergebracht, das seine Frau für ihn bereitet hatte. Dort sollte David nun von dem erfinderischsten Mitgefühl, das es gibt, von dem einer Wäscherin, bewacht werden. Am nächsten Morgen rühmte sich Kolb, er habe seinen Herrn zu Pferde gerettet und habe ihn erst verlassen, nachdem er ihn auf ein Schiff gebracht hätte, das ihn in die Nähe von Limoges fahren sollte. Eine genügende Menge Rohmaterialien waren bei Basine untergebracht, so daß Kolb, Marion, Frau Séchard und ihre Mutter keinerlei Beziehung mit Fräulein Clerget zu haben brauchten.

Zwei Tage nach dem Auftritt mit seinem Sohne kam der alte Séchard, der noch zwanzig Tage Zeit hatte, bevor er mit der Weinlese beginnen mußte, zu seiner Schwiegertochter. Es war die Habgier, die ihn herführte. Er schlief nicht mehr, er wollte wissen, ob die Entdeckung Aussicht auf Vermögen gäbe, und wollte, wie er sich ausdrückte, sehen, dabei seinen Schnitt zu machen. Er bezog über der Wohnung seiner Schwiegertochter eine der beiden Dachkammern, die er sich vorbehalten hatte, und tat so, als ob er von der Geldnot im Haushalte seines Sohnes nichts bemerkte. Man schuldete ihm die Mieten, man konnte ihm wohl zu essen geben! Er stieß sich nicht daran, daß die Bestecke von verzinntem Eisen waren.

»Ich habe auch so angefangen«, erwiderte er seiner Schwiegertochter, als sie sich entschuldigte, daß sie ihm keine silbernen Bestecke gab.

Marion mußte sich bei den Kaufleuten für alles verbürgen, was im Hausstande verbraucht wurde. Kolb war Handlanger bei Maurerarbeiten und verdiente täglich zwanzig Sous. Die arme Eva, die im Interesse ihres Kindes und Davids ihr Letztes hergab, um den Winzer gut zu bewirten, hatte bald nur noch zehn Franken. Sie hoffte immer, ihre Schmeicheleien und ihre respektvolle Freundlichkeit oder wenigstens ihr entsagungsvolles Leben würden den Geizhals rühren; aber er blieb unzugänglich. Schließlich wollte sie, da sie den kalten Blick der Cointet, Petit-Clauds und Cérizets an ihm wahrnahm, seinen Charakter studieren und seine Absichten erraten; aber das war vergebliche Mühe! Vater Séchard blieb immer zwischen zwei kleinen Räuschen und hatte sich dahinter verschanzt. Die Trunkenheit ist ein doppelter Schleier. Unter ihrem Schutz sie war ebensooft vorgetäuscht wie wirklich versuchte der Alte, Eva Davids Geheimnis zu entlocken. Bald schmeichelte er seiner Schwiegertochter, bald drohte er ihr. Als Eva ihm antwortete, sie wüßte nichts, sagte er zu ihr: »Ich werde mein ganzes Vermögen vertrinken, ich werde es auf Leibrenten geben.«

Diese schmählichen Kämpfe ermatteten das arme Opfer, und sie hatte, um ihrem Schwiegervater nicht respektlos zu begegnen, sich schließlich aufs Schweigen verlegt. Als sie eines Tages zum Äußersten getrieben war, sagte sie zu ihm: »Aber, Vater, es gibt eine sehr einfache Art, alles zu erfahren: bezahlen Sie Davids Schulden, dann kommt er wieder, und Sie können sich miteinander verständigen.«

»Ah, das ist alles, was ihr von mir wollt! Gut, daß ich das weiß.«

Der alte Séchard, der nicht an seinen Sohn glaubte, glaubte an die Cointet. Die Cointet, an die er sich wendete, blendeten ihn absichtlich und sagten ihm, es handelte sich bei den Forschungen seines Sohnes um Millionen.

»Wenn David beweisen kann, daß ihm seine Versuche gelungen sind, werde ich nicht zögern, meine Papierfabrik in eine Gesellschaft umzuwandeln und Ihrem Sohne seine Entdeckung in entsprechendem Werte anzurechnen«, sagte der große Cointet zu ihm.

Der mißtrauische Alte zog, indem er mit den Arbeitern immer wieder ein Gläschen trank, viele Erkundigungen ein; er fragte, indem er sich dumm stellte, Petit-Claud so gut aus, daß er schließlich auf den Verdacht kam, die Cointet steckten hinter Métivier; er vermutete, sie hätten den Plan, die Druckerei Séchard zu ruinieren und sich von ihm zahlen zu lassen, indem sie ihn mit der Entdeckung köderten; denn der alte Mann aus dem Volke konnte nicht ahnen, daß Petit-Claud mit in der Verschwörung war, und kam nicht auf den Gedanken, daß all die Netze nur ausgestellt waren, um sich früher oder später dieses schönen industriellen Geheimnisses zu bemächtigen. Eines Tages endlich beschloß der Alte, der außer sich war, daß er das Schweigen seiner Schwiegertochter nicht brechen konnte und daß er nicht einmal von ihr zu erfahren vermochte, wo David verborgen war, die Tür zu der Werkstatt, die zum Gießen der Walzen bestimmt war, zu erbrechen; er hatte schließlich erfahren, daß sein Sohn dort seine Versuche angestellt hatte. Am frühen Morgen stieg er in den Hof hinab und fing an, an dem Schloß zu arbeiten.

»Was machen Sie denn da, Papa Séchard?« rief ihm Marion zu, die frühmorgens aufstand, um in ihre Fabrik zu gehen, und nun mit einem Satz an der Feuchtkammer war.

»Bin ich nicht hier zu Hause, Marion?« antwortete der Alte, der sich schämte, ertappt zu sein.

»So! Werden Sie nun auf Ihre alten Tage zum Diebe? Und dabei sind Sie doch nüchtern ... Ich werde alles brühwarm der Frau erzählen.«

»Schweig, Marion«, bat der alte Mann und zog ein Sechsfrankenstück aus der Tasche. »Da, nimm ...«

»Ich werde schweigen, aber versuchen Sie es nicht noch einmal,« erwiderte Marion und drohte ihm mit dem Finger, »sonst erzähle ich es ganz Angoulême.«

Sowie der Greis gegangen war, stieg Marion zu ihrer Herrin hinauf.

»Denken Sie, Frau Séchard, ich habe Ihrem Schwiegervater sechs Franken abgeluchst da sind sie.«

»Und wie hast du das gemacht?«

»Er wollte wahrhaftig die Kessel und die Vorräte des Herrn sehen, als ob er damit hinter das Geheimnis gekommen wäre. Ich wußte wohl, daß in der kleinen Küche nichts mehr war, aber ich habe ihm angst gemacht, als hätte er seinen Sohn bestehlen wollen, und er hat mir einen Doppeltaler gegeben, damit ich schweige.«

In diesem Augenblick brachte Basine ihrer Freundin freudig einen Brief Davids, den sie ihr heimlich übergab. Er war auf herrlichem Papier geschrieben und lautete:

»Geliebte Eva! Du bist die erste, der ich auf dem ersten Bogen Papier, das mir auf Grund meines Verfahrens gelungen ist, schreibe. Die Aufgabe, den Brei in der Bütte zu leimen, ist mir gelungen! Das Pfund Zeug, selbst wenn ich annehme, daß für die Pflanzen, die ich brauche, guter Boden in Kultur genommen wird, kommt auf fünf Sous. Also wird für das Ries von zwölf Pfund für drei Franken geleimtes Zeug gebraucht. Ich bin sicher, das Gewicht der Bücher um die Hälfte zu vermindern. Der Umschlag, der Brief, die Proben sind verschiedene Fabrikate. Ich umarme Dich, wir werden glücklich sein, nichts hat uns gefehlt als Vermögen.«

»Hier,« sagte Eva zu ihrem Schwiegervater und reichte ihm die Proben, »geben Sie Ihrem Sohn den Preis Ihrer Ernte und lassen Sie ihn sein Glück machen, er gibt Ihnen zehnmal wieder, was Sie ihm geben, denn die Erfindung ist gelungen!«

Der alte Séchard eilte spornstreichs zu den Cointet. Dort wurde jede Probe untersucht und peinlich geprüft: die einen waren geleimt, die andern ohne Leim; ihr Preis war mit drei Franken bis zu zehn Franken fürs Ries bezeichnet; die einen waren von metallischer Härte, die anderen weich wie Chinapapier; alle möglichen Schattierungen des Weiß waren vertreten. Juden, die Diamanten prüfen, hätten nicht gierigere Augen machen können, als die der Cointet und des alten Séchard waren.

»Ihr Sohn ist auf gutem Wege«, sagte der dicke Cointet.

»Schön, dann bezahlen Sie seine Schulden«, versetzte der alte Drucker.

»Sehr gern, wenn er uns zu Teilhabern nehmen will«, erwiderte der große Cointet.

»Sie sind Räuber,« rief der alte Bär, »Sie verfolgen meinen Sohn unter dem Namen Métivier und wollen, daß ich Sie bezahle, weiter nichts. Bin nicht so dumm, ihr Herren!«

Die beiden Brüder sahen sich an, aber es gelang ihnen, ihre Überraschung über den Scharfsinn des Geizhalses zu unterdrücken.

»Wir sind keine solchen Millionäre, um das Diskontgeschäft zum Vergnügen zu betreiben,« erwiderte der dicke Cointet; »wir wären glücklich genug, wenn wir unsere Lumpen bar bezahlen könnten, und wir geben unserm Händler immer noch Wechsel.«

»Man muß einen Versuch im großen machen,« fügte der große Cointet kühl hinzu, »denn was in einem Suppentopf gelingt, mißglückt vielleicht, wenn es im großen hergestellt werden soll. Machen Sie Ihren Sohn frei.«

»Ja, aber wird mein Sohn, wenn er in Freiheit ist, mich zum Teilhaber nehmen?« fragte der alte Séchard.

»Das ist nicht unsere Sache«, sagte der dicke Cointet. »Glauben Sie, guter Mann, daß es genügt, wenn Sie Ihrem Sohne zehntausend Franken geben? Ein Erfinderpatent kostet zweitausend Franken. Man muß Reisen nach Paris machen; dann ist es, bevor man sich auf das Unternehmen einläßt, wie mein Bruder gesagt hat, klug, tausend Ries zu fabrizieren und ganze Bütten zu riskieren, damit kein Zweifel bleibt. Sehen Sie, gegen nichts muß man mißtrauischer sein als gegen Erfinder. Ich für mein Teil«, sagte der große Cointet, »liebe das Brot, wenn es ausgebacken ist.«

Der Alte überlegte die ganze Nacht das Dilemma hin und her. »Bezahle ich Davids Schulden, so ist er frei; und wenn er frei ist, braucht er mich nicht als Teilhaber. Er weiß wohl, daß ich ihn mit unserer ersten Teilhaberschaft hineingelegt habe, er wird sich nicht zum zweitenmal darauf einlassen wollen. Mein Interesse wäre also, daß der Unglücksmensch ins Gefängnis kommt ...«

Die Cointet kannten den alten Séchard gut genug, um zu wissen, daß sie das Geschäft zusammen machen würden. Also sagten diese drei Männer: »Um eine Gesellschaft zu bilden, die auf dem Geheimnis begründet ist, bedarf es der Versuche; und um diese Versuche zu machen, muß David Séchard freigemacht werden. Ist David frei, so entkommt er uns.«

Jeder hatte überdies einen kleinen Hintergedanken. Petit-Claud sagte sich: »Nach meiner Verheiratung werde ich von der Verbindung mit den Cointet frei sein; aber bis dahin halte ich sie fest.«

Der große Cointet sagte sich: »Ich hätte David lieber hinter Schloß und Riegel, dann wäre ich der Herr.«

Der alte Séchard sagte sich: »Wenn ich seine Schulden bezahle, sagt mein Sohn danke schön, und damit fertig.«

Eva, die von dem Winzer bestürmt wurde und der er drohte, sie würde aus dem Hause gejagt, wollte weder das Asyl ihres Mannes verraten noch auch nur ihm vorschlagen, freies Geleite anzunehmen. Sie war nicht sicher, ob sie David ein zweites Mal ebenso gut verborgen halten könnte, und antwortete daher ihrem Schwiegervater: »Machen Sie Ihren Sohn frei, dann werden Sie alles erfahren.«

Die vier Interessenten standen also vor einem gedeckten Tisch, und keiner wagte es, sich zum Mahl zu setzen, weil jeder fürchtete, es könnte ihm einer zuvorkommen; alle beobachteten und mißtrauten einander.

Einige Tage nach der Einschließung Séchards hatte Petit-Claud den großen Cointet in seiner Papiermühle aufgesucht.

»Ich habe mein Bestes getan,« sagte er zu ihm; »David hat sich freiwillig in ein Gefängnis begeben, das uns unbekannt ist, und sucht dort in Ruhe seine Erfindung zu verbessern. Wenn Sie Ihr Ziel nicht erreicht haben, ist es nicht meine Schuld; werden Sie Ihr Versprechen halten?«

»Ja, wenn wir ans Ziel kommen«, erwiderte der große Cointet. »Der alte Séchard ist seit einigen Tagen hier, er hat uns Fragen über die Herstellung des Papiers vorgelegt; der alte Geizhals ist hinter die Erfindung seines Sohnes gekommen, er will Nutzen davon haben; es besteht also einige Hoffnung, die Gründung einer Gesellschaft durchzusetzen. Sie sind der Anwalt des Vaters und Sohnes ...«

»Und soll der heilige Geist sein, der sie euch verrät«, fügte Petit-Claud lachend hinzu.

»Ganz recht!« erwiderte Cointet. »Wenn es Ihnen gelingt, David entweder ins Gefängnis oder durch einen Gesellschaftsvertrag in unsere Hände zu bringen, sollen Sie Fräulein de la Haye heiraten.«

»Ist das Ihr Ultimatum?« fragte Petit-Claud.

» Yes,« versetzte Cointet, »da wir schon in fremden Sprachen reden.«

»Hören Sie meines in einer Sprache, die Sie verstehen«, erwiderte Petit-Claud trocken.

»Nun, so reden Sie«, versetzte Cointet mit neugieriger Miene.

»Stellen Sie mich morgen Frau von Senonches vor, sorgen Sie dafür, daß ich etwas Positives habe, kurz, halten Sie Ihr Versprechen, oder ich bezahle Séchards Schulden und werde sein Teilhaber, indem ich meine Praxis wieder verkaufe. Ich will mich nicht foppen lassen. Sie haben geradeheraus zu mir gesprochen, ich rede in der nämlichen Sprache. Ich habe getan, was ich sollte, tun Sie jetzt das Ihrige. Sie haben alles, ich habe nichts. Wenn ich nicht ein Unterpfand Ihrer Aufrichtigkeit habe, spiele ich dasselbe Spiel wie Sie.«

Der große Cointet nahm seinen Hut, seinen Schirm und dazu sein Jesuitengesicht, brach auf und sagte zu Petit-Claud, er solle ihm folgen.

»Sie sollen sehen, lieber Freund, ob ich Ihnen den Boden nicht vorbereitet habe«, sagte der Kaufmann zu dem Advokaten.

In einem Augenblick hatte der schlaue und geriebene Papierhändler die Gefahr, in der er schwebte, erkannt. Er sah, Petit-Claud war ein Mann, den man ehrlich bedienen mußte. Er hatte schon, um sich auf alles vorzubereiten und um sein Gewissen zu beruhigen, unter dem Vorwand, dem früheren Generalkonsul Rechenschaft über die Finanzlage Fräulein de la Hayes zu geben, einige Worte fallen lassen.

»Das ist so eine Sache mit Françoise,« hatte er gesagt, »mit dreißigtausend Franken Mitgift kann ein Mädchen heutzutage keine großen Ansprüche stellen.«

»Wir können ja darauf zurückkommen«, hatte Francis du Hautoy geantwortet. »Mit der Abreise von Frau von Bargeton ist die Stellung von Frau von Senonches eine ganz andere geworden: wir können Françoise mit irgendeinem braven Landedelmann verheiraten.«

»Da kommt nichts Gutes dabei heraus«, hatte der Papierhändler geantwortet und seine frostige Miene angenommen. »Nein, verheiraten Sie sie doch mit einem ehrgeizigen, fähigen jungen Mann, den Sie protegieren können und der seiner Frau eine angenehme Stellung schafft.«

»Wir werden sehen,« hatte Francis wiederholt, »vor allem muß die Patin befragt werden.«

Nach dem Tode des Herrn von Bargeton hatte Louise von Nègrepelisse das Haus in der Rue du Minage verkaufen lassen. Frau von Senonches, die sich zu eng in ihrer Wohnung fühlte, bestimmte ihren Mann, dieses Haus, das die Wiege der ehrgeizigen Wünsche Luciens war und in dem die Szene aus dem Provinzleben begonnen hat, zu kaufen. Zéphirine von Senonches hatte den Plan gefaßt, das Erbe des königlichen Regiments, das Frau von Bargeton geführt hatte, anzutreten, einen Salon zu haben, kurz, die große Dame zu sein. In der vornehmen Gesellschaft von Angoulême war seit dem Duell des Herrn von Bargeton mit Herrn von Chandour eine Spaltung eingetreten. Auf der einen Seite standen die, die die Unschuld Louisens von Nègrepelisse behaupteten, auf der andern Seite die, die zu den Verleumdungen Stanislaus von Chandours hielten. Frau von Senonches erklärte sich für die Bargeton und gewann zunächst alle Anhänger dieser Partei. Als sie dann in das Haus Bargeton übergesiedelt war, machte sie sich die Gewohnheiten vieler zunutze, die seit so vielen Jahren dorthin zum Spielen gegangen waren. Sie empfing jeden Abend und lief entschieden Amélie von Chandour, die sich zu ihrer Rivalin aufgeworfen hatte, den Rang ab. Die Hoffnungen von Francis de Hautoy, der sich im Mittelpunkt der Aristokratie von Angoulême sah, verstiegen sich so weit, daß er Françoise mit dem alten Herrn von Séverac verheiraten wollte, den Frau du Brossard nicht für ihre Tochter hatte fangen können. Die Rückkehr von Frau von Bargeton, die Präfektin von Angoulême geworden war, erhöhte noch die Ansprüche Zéphirinens für ihr geliebtes Patenkind. Sie sagte sich, die Gräfin Sixtus du Châtelet würde ihren Einfluß für die verwenden, die sich zu ihrer Vorkämpferin gemacht hatte. Der Papierhändler, der sein Angoulême in- und auswendig kannte, gewahrte sofort all diese Schwierigkeiten. Aber er beschloß, sich mit einer Kühnheit, wie sie nur Tartuffe sich erlaubt hätte, aus der Schwierigkeit, die sich aufgetan hatte, zu befreien. Der kleine Anwalt, der über die Loyalität seines Partners in diesem Ränkespiel höchst überrascht war, überließ ihn, während sie von der Papiermühle nach der Rue du Minage wanderten, seinem Nachdenken. An der Treppe wurden die beiden Eindringlinge mit den Worten aufgehalten: »Die Herrschaften frühstücken.«

»Melden Sie uns trotzdem«, erwiderte der große Cointet.

Der fromme Kaufmann wurde, sobald sein Name gemeldet war, hereingeführt und stellte den Advokaten der preziösen Zéphirine vor, die traulich mit Herrn Francis du Hautoy und Fräulein de la Haye beim Frühstück saß. Herr von Senonches war wie immer zu Herrn von Pimentel gefahren, um dort die Jagd zu eröffnen.

»Hier, gnädige Frau, bringe ich Ihnen den jungen Advokaten, von dem ich Ihnen gesprochen habe und der es auf sich nehmen will, Ihrem schönen Mündel zur Mündigkeit zu verhelfen.«

Der Diplomat sah Petit-Claud prüfend an, und dieser seinerseits betrachtete von der Seite das »schöne Mündel«. Zéphirinens Überraschung, da ihr weder Cointet noch Francis je ein Wort gesagt hatten, war derart, daß ihr die Gabel aus der Hand fiel. Fräulein de la Haye, die wie ein zänkisches, sauertöpfisches Mädchen aussah, hatte eine recht wenig anmutige Gestalt, war mager und mit ihren verblichenen blonden Haaren nichts weniger als hübsch. Trotz der aristokratischen Miene, die sie aufsetzte, war sie überaus schwer zu verheiraten. Die Worte: »Vater und Mutter unbekannt« in ihrer Geburtsurkunde schlossen sie in der Tat aus der Sphäre aus, in die die Zuneigung ihrer Patin und Francis' sie hineinbringen wollte. Fräulein de la Haye, die ihre Lage nicht kannte, war schwierig: sie hätte den reichsten Kaufmann von Houmeau zurückgewiesen. Cointet sah um die Lippen des kleinen Petit-Claud denselben recht deutlichen Ausdruck, der im Gesicht von Fräulein de la Haye beim Anblick des schmächtigen Advokaten zu lesen war. Frau von Senonches und Francis schienen sich darüber zu beraten, wie man Cointet und seinen Schutzbefohlenen loswerden könnte. Cointet, der alles sah, bat Herrn du Hautoy, ihm einen Augenblick Gehör zu schenken, und begab sich mit dem Diplomaten in den Salon.

»Herr du Hautoy,« sagte er ohne weiteres zu ihm, »die Vaterschaft macht Sie blind. Sie werden Ihre Tochter sehr schwer verheiraten; und in Ihrer aller Interesse habe ich Ihnen den Rückzug unmöglich gemacht; denn Françoise liegt mir am Herzen wie ein Pflegekind. Petit-Claud weiß alles! ... Sein überaus großer Ehrgeiz verbürgt Ihnen das Glück Ihrer lieben Kleinen. Zunächst wird Françoise alles aus ihrem Mann machen, was sie will. Sie aber werden mit Hilfe der Präfektin, die wir bekommen, einen königlichen Prokurator aus ihm machen. Es ist sicher, daß Herr Milaud nach Revers versetzt wird. Petit-Claud wird seine Praxis verkaufen, Sie bekommen leicht für ihn die Stelle des zweiten Substituten, und er wird bald königlicher Prokurator, dann Gerichtspräsident, Deputierter ...«

Nachdem sie wieder in das Speisezimmer zurückgekehrt waren, war Francis gegen den Erkorenen seiner Tochter bestrickend liebenswürdig. Er sah Frau von Senonches auf eine gewisse Art an und machte dieser Antrittsvisite ein Ende, indem er Petit-Claud für den nächsten Tag zum Diner einlud, wo man über Geschäfte sprechen könnte. Dann geleitete er den Kaufmann und den Anwalt bis in den Hof, indem er zu Petit-Claud sagte, er wäre ebenso wie Frau von Senonches geneigt, alles zu bestätigen, was der Vermögensverwalter des Fräuleins de la Haye für das Glück des kleinen Engels vorgesorgt hätte.

»Oh, wie sie häßlich ist!« rief Petit-Claud. »Ich bin überrumpelt!«

»Sie sieht sehr vornehm aus,« erwiderte Cointet; »aber würde man sie Ihnen geben, wenn sie schön wäre? Oh, mein Lieber, es gibt mehr als einen kleinen Grundbesitzer, dem dreißigtausend Franken, die Protektion von Frau von Senonches und der Gräfin du Châtelet trefflich paßten; um so mehr, als Herr Francis du Hautoy sich nie verheiraten wird und diese Tochter seine Erbin ist ... Ihre Verehelichung ist fix und fertig.«

»Und wie ist das zugegangen?«

»Folgendes habe ich ihm gesagt«, versetzte der große Cointet und erzählte dem Anwalt seinen kühnen Streich. »Mein Lieber, man sagt, Herr Milaud sei zum königlichen Prokurator in Revers ernannt; Sie müssen Ihre Praxis verkaufen, und in zehn Jahren sind Sie Justizminister. Sie sind gerade kühn genug, um vor keinem der Schritte, die der Hof verlangen kann, zurückzuweichen.«

»Also gut, finden Sie sich morgen um halb fünf Uhr auf der Place du Mûrier ein«, erwiderte der Advokat, den die Möglichkeiten dieser Zukunft begeisterten; »bis dahin habe ich mit dem alten Séchard gesprochen, und wir machen einen Gesellschaftsvertrag, in dem Vater und Sohn dem heiligen Geist der Cointet gehören sollen.«

In dem Augenblick, in dem der alte Pfarrer von Marsac die Stufen von Angoulême hinaufstieg, um Eva Mitteilung von dem Zustand zu machen, in dem sich ihr Bruder befand, war David seit elf Tagen zwei Häuser weit von dem versteckt, das der würdige Pfarrer eben verlassen hatte.

Als der Abbé Marron die Place du Mûrier betrat, fand er dort drei Männer, von denen jeder in seiner Art bemerkenswert war und die mit all ihrem Gewicht auf die Zukunft und die Gegenwart des armen freiwilligen Gefangenen drückten: den alten Séchard, den großen Cointet und den kleinen, schmächtigen Anwalt. Drei Menschen, dreierlei Habgier! Aber drei Arten Habgier, die unter sich ebenso verschieden waren wie die Menschen. Der eine war daraufgekommen, seinen Sohn, der andere, seinen Klienten zu verschachern, und der große Cointet wollte all diese Niederträchtigkeiten kaufen und schmeichelte sich, nichts dafür zu zahlen. Es war gegen fünf Uhr, und die meisten Leute, die zum Mittagessen nach Hause gingen, blieben einen Augenblick stehen, um die drei Männer zu betrachten.

»Was zum Teufel haben der alte Séchard und der große Cointet miteinander zu verhandeln?« dachten die Neugierigsten.

»Es handelt sich jedenfalls um den armen Unglücklichen, der seine Frau, seine Schwiegermutter und sein Kind ohne Brot läßt«, antwortete man.

»Da soll man seine Kinder nach Paris schicken, damit sie etwas lernen!« meinte ein starker Geist der Provinz.

»He, was wollen Sie denn hier, Herr Pfarrer?« rief der Winzer, der den Abbé Marron gewahrte, sowie er auf den Platz einschwenkte.

»Ich will zu Ihren Angehörigen«, erwiderte der alte Mann.

»Wieder eine neue Idee meines Sohnes«, sagte der alte Séchard.

»Es würde Ihnen wenig kosten, alle glücklich zu machen«, erwiderte der Priester und wies nach dem Fenster, an dem der schöne Kopf der Frau Séchard zwischen den Vorhängen zu sehen war.

Eva beruhigte gerade ihr schreiendes Kind, sie hob es in die Höhe und sang ihm ein Lied vor.

»Bringen Sie Nachrichten von meinem Sohn?« fragte der Vater, »oder noch besser Geld?«

»Nein,« antwortete Herr Marron, »ich bringe der Schwester Nachrichten vom Bruder.«

»Von Lucien?« rief Petit-Claud.

»Ja. Der arme junge Mann ist zu Fuß von Paris gekommen. Ich fand ihn bei Courtois, wo er vor Ermattung und Elend zusammengebrochen war«, erwiderte der Priester. »Oh, er ist sehr unglücklich!«

Petit-Claud grüßte den Priester, faßte den großen Cointet untern Arm und sagte mit lauter Stimme: »Wir müssen zum Diner bei Frau von Senonches, es ist Zeit, uns anzuziehen!« Und als sie zwei Schritte weg waren, sagte er ihm ins Ohr: »Sie wissen: hat man das Kind, hat man bald auch die Mutter. Wir haben David ...«

»Ich habe Sie verheiratet, verheiraten Sie jetzt mich«, erwiderte der große Cointet mit einem häßlichen, kurzen Lachen. »Lucien ist mein Schulkamerad, wir waren gute Freunde! In acht Tagen werde ich viel von ihm herausbekommen. Sorgen Sie dafür, daß das Aufgebot erlassen wird, und ich bürge Ihnen dafür, David ins Gefängnis zu bringen. Meine Mission ist mit seiner Verhaftung zu Ende.«

»Ach!« sagte der große Cointet leise, »das Schönste wäre, wenn wir das Patent auf unsern Namen bekämen!«

Der kleine, schmächtige Advokat schauderte, als er diese Worte hörte.

In diesem Augenblick traten bei Eva der Abbé Marron, der eben mit einem einzigen Wort das Justizdrama zur Entscheidung gebracht hatte, und ihr Schwiegervater ein.

»Hier, Frau Séchard,« sagte der alte Bär zu seiner Schwiegertochter, »ist unser Pfarrer, der uns schöne Dinge von Ihrem Bruder erzählen wird.«

»Oh!« rief die arme Eva voller Schrecken, »was kann ihm denn zugestoßen sein!«

Dieser Ausruf sprach von so viel vergangenem Leid, von so viel Befürchtungen und so viel Kummer aller Art, daß der Abbé Marron sich beeilte zu sagen: »Beruhigen Sie sich, Frau Séchard, er lebt!«

»Wären Sie so gut, Vater,« sagte Eva zu dem alten Winzer, »meine Mutter zu holen: sie soll auch hören, was der Herr uns von Lucien zu sagen hat.«

Der alte Mann holte Frau Chardon, zu der er sagte: »Sie werden mit dem Abbé Marron nicht so schnell fertig sein; er ist übrigens ein guter Kerl, obwohl er ein Priester ist. Es wird jedenfalls zu spät gegessen werden, ich komme in einer Stunde wieder.«

Und der alte Mann, der gegen alles stumpf war, was nicht wie Gold klang oder glänzte, verließ die alte Frau, ohne die Wirkung des Schlages zu bemerken, den er ihr versetzt hatte. Das Unglück, das auf ihren beiden Kindern lastete, das Scheitern der Hoffnungen, die man auf Lucien gesetzt hatte, die ganz unerwartete Wandlung eines Charakters, den man so lange für energisch und redlich gehalten hatte, all die Ereignisse dieser anderthalb Jahre hatten es schon zustande gebracht, daß Frau Chardon nicht mehr zu erkennen war. Sie war nicht nur von edler Abkunft, sie besaß auch ein edles Herz und betete ihre Kinder an: so hatte sie in den letzten sechs Monaten mehr Schmerzen gelitten als seit dem Tode ihres Mannes. Lucien hatte Aussicht gehabt, durch Ordonnanz des Königs ein Rubempré zu werden, diese Familie wieder zu beginnen, ihren Titel und ihr Wappen wieder zu beleben, groß zu werden. Und er war in den Schmutz gesunken! Denn sie war strenger gegen ihn als die Schwester und hatte Lucien an dem Tag für verloren angesehen, wo sie die Sache mit der Wechselfälschung erfahren hatte. Die Mütter wollen sich manchmal täuschen; aber sie kennen die Kinder, die sie genährt und nie von ihren Herzen gelassen haben, immer gut, und bei den Gesprächen, die David und seine Frau über Luciens Pariser Aussichten geführt hatten, hatte es zwar immer geschienen, als ob Frau Chardon Evas Illusionen über ihren Bruder teilte, aber im Innern hatte sie gezittert, David könnte recht haben, denn er sprach, wie sie das Gewissen der Mutter sprechen hörte. Sie kannte die schmerzliche Zartheit im Empfinden ihrer Tochter und konnte ihr daher ihren Kummer nicht ausdrücken, und so mußte sie ihn schweigend in sich verzehren, wie es nur die liebenden Mütter können. Eva ihrerseits gewahrte mit Schrecken die Verheerungen, die der Kummer bei ihrer Mutter anrichtete, sie sah, wie sie immer mehr hinfällig und altersschwach wurde. Mutter und Tochter belogen sich also gegenseitig in der edlen Weise, die niemanden täuscht. Im Leben dieser Mutter waren die Worte des grausamen Winzers der Tropfen, der den Leidenskelch füllte, und Frau Chardon fühlte sich ins Herz getroffen.

Als daher Eva zu dem Priester gesagt hatte: »Da kommt meine Mutter«, als der Abbé dieses eingefallene Gesicht sah, das in der Umrahmung der völlig weißen Haare und mit dem schönen, sanften und ruhigen Ausdruck, wie ihn Frauen haben, die sich fromm ergeben und in den Willen des Herrn, wie man sagt, gefügt haben, wie das Antlitz einer alten Nonne aussah, verstand er völlig, welches Leben die beiden armen Frauen geführt hatten. Der Priester empfand kein Mitleid mehr für den Schuldigen, für Lucien, er schauderte, wenn er an all die Leiden dachte, die die Opfer durchgemacht haben mußten.

»Mutter,« sagte Eva und trocknete sich die Augen, »der arme Bruder ist sehr nah bei uns, er ist in Marsac.«

»Und warum nicht hier?« fragte Frau Chardon.

Der Abbé Marron erzählte alles, was Lucien ihm über die Leiden seiner Reise und das Unglück seiner letzten Tage in Paris gesagt hatte; er schilderte die Qual, die den Dichter erfaßt hatte, als er erfuhr, was für Wirkungen seine Torheiten über seine Familie gebracht hatten, und sprach von seinen Befürchtungen bezüglich des Empfanges, der ihn in Angoulême vielleicht erwartete.

»Ist es so weit mit ihm gekommen, daß er an uns zweifelt?« fragte Frau Chardon.

»Der Unglückliche ist zu Fuß zu Ihnen gegangen, und er hat die schrecklichsten Entbehrungen durchgemacht, er hat sich vorgesetzt, demütig die bescheidensten Wege des Lebens zu wandeln und seine Fehler wieder gutzumachen.«

»Herr Abbé,« erwiderte die Schwester, »trotz dem Elend, das er über uns gebracht hat, liebe ich meinen Bruder, wie man den Leib eines Menschen liebt, der nicht mehr am Leben ist; und wenn ich ihn so liebe, liebe ich ihn immer noch mehr, als viele Schwestern ihren Brüdern zugetan sind. Er hat uns sehr arm gemacht; aber er mag kommen, er kann den Bissen Brot, den wir noch haben, den er uns gelassen hat, mit uns teilen. Oh, wenn er uns nicht verlassen hätte, hätten wir unsere teuersten Güter nicht verloren.«

»Und die Frau, die ihn uns geraubt hat, hat ihn in ihrem Wagen wieder zurückgefahren. In der Kalesche der Frau von Bargeton; neben ihr ist er fortgereist, und hinten auf ihrem Wagen ist er wieder zurückgekommen!«

»Worin kann ich Ihnen in Ihrer Lage nützlich sein?« fragte der brave Pfarrer, der eine Abgangsphrase suchte.

»Herr Abbé,« erwiderte Frau Chardon, »Geldmangel ist keine Krankheit, an der man stirbt, sagt man wohl; aber es ist eine Krankheit, in der kein Arzt außer dem Kranken selbst helfen kann.«

»Wenn Sie so viel Einfluß hätten, meinen Schwiegervater dahin zu bringen, seinem Sohn zu helfen, würden Sie eine ganze Familie retten«, sagte Frau Séchard.

»Er hat kein Vertrauen zu Ihnen, und schien mir sehr aufgebracht gegen Ihren Mann«, versetzte der alte Pfarrer, der aus den Redensarten des Winzers den Eindruck bekommen hatte, Séchards Geschäfte seien ein Wespennest, in das er nicht stechen wollte.

Seine Mission war zu Ende, und der Priester begab sich zum Essen zu seinem Großneffen Postel, der den geringen guten Willen seines alten Onkels noch vollends wankend machte, indem er, wie ganz Angoulême, dem Vater gegen den Sohn recht gab.

»Verschwendern kann man noch helfen,« sagte der kleine Postel zum Schluß; »aber mit denen, die Experimente machen, könnte man sich zugrunde richten.«

Die Neugier des Pfarrers von Marsac war völlig befriedigt, und sie ist in allen Provinzen Frankreichs der Hauptgrund eines außergewöhnlichen Interesses, das man aneinander nimmt. Abends unterrichtete er den Dichter über alles, was sich bei den Séchards zugetragen hatte, wobei er von seiner kleinen Reise wie von einer Mission sprach, zu der ihn die reinste Barmherzigkeit gebracht hätte.

»Sie haben über Ihre Schwester und Ihren Schwager zehn- bis zwölftausend Franken Schulden gebracht,« sagte er zum Schluß; »und, lieber Herr, niemand kann das seinen Nachbarn leihen, wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist. Wir hier im Angoumois sind nicht reich. Ich glaubte, als Sie mir von Ihren Wechseln sprachen, es handelte sich um viel weniger.«

Der Dichter dankte dem alten Pfarrer für seine Freundlichkeit und sagte: »Das Wort der Verzeihung, das Sie mir bringen, ist für mich wertvoll genug.«

Am nächsten Morgen brach Lucien sehr frühzeitig von Marsac auf und kam gegen neun Uhr nach Angoulême. Er hatte einen Stock in der Hand, trug ein kurzes Röckchen, das von der Wanderschaft ziemlich mitgenommen war, und recht abgescheuerte schwarze Hosen. Seine heruntergetretenen Stiefel sagten überdies deutlich genug, daß er zur armseligen Klasse der Fußwanderer gehörte. Er verhehlte sich auch nicht, welche Wirkung der Gegensatz seiner Abreise und seiner Rückkehr auf seine Landsleute machen mußte. Aber das Herz schlug ihm noch von den Gewissensbissen, in die ihn der Bericht des alten Priesters versetzt hatte, und so nahm er für den Augenblick diese Strafe auf sich und war entschlossen, den Blicken seiner Bekannten zu trotzen. Er sagte bei sich selbst: »Ich bin ein Held!«

All diese Dichternaturen fangen damit an, sich selbst zu betrügen. Mit jedem Schritt, den er in Houmeau tat, schwankte seine Seele mehr zwischen der Schande dieser Rückkehr und der Poesie seiner Erinnerungen. Sein Herz klopfte, als er vor Postels Tür vorbeikam, aber zu seinem Glück war Léonie Marron mit ihrem Kinde allein im Laden. Er sah mit Vergnügen so sehr hatte seine Eitelkeit ihre alte Stärke bewahrt, daß der Name seines Vaters nicht mehr dastand. Bald nach seiner Verheiratung hatte Postel das Haus neu streichen und über dem Laden, wie es in Paris üblich ist, das Wort Apotheke anbringen lassen. Als Lucien die Treppe am Palet-Tor hinaufging, spürte er Heimatsluft wehen, er empfand den Druck seines Unglücks nicht mehr und sagte sich mit Wonne: »Ich soll sie also wiedersehen.«

Er erreichte die Place du Mûrier, ohne einem Menschen begegnet zu sein. Er hatte dieses Glück kaum erhofft; er, der früher als Triumphator in seiner Stadt gewandelt war! Marion und Kolb, die an der Tür Wache standen, stürzten mit dem Ruf: »Da ist er!« die Treppe hinauf.

Lucien sah die alte Werkstatt und den alten Hof wieder, und auf der Treppe kamen ihm Mutter und Schwester entgegen. Sie umarmten einander und vergaßen dabei für einen Augenblick all ihr Elend. In der Familie schließt man fast immer mit dem Unglück einen Vergleich; man macht sich in ihm ein Lager zurecht, und die Hoffnung macht seine Härte erträglich. Wenn Lucien ein Bild der Verzweiflung darbot, so sah er auch wieder wie die Poesie aus: die Sonne auf der Landstraße hatte ihm die Haut gebräunt; die tiefe Melancholie, die sich seinen Zügen aufgeprägt hatte, warf ihre Schatten auf seine Dichterstirn. Diese Verwandlung sprach von so vielen Leiden, daß beim Anblick der Spuren, die das Elend auf seinen Zügen gelassen hatte, kein anderes Gefühl möglich war als Mitleid. Der Dichter fand bei der Rückkehr in den Schoß seiner Familie eine trübselige Wirklichkeit. Eva hatte in ihrer Freude ein Lächeln, wie es die Heiligen in ihrem Martyrium haben. Der Kummer verklärt das Gesicht einer sehr schönen jungen Frau. Der Ernst, der in dem Gesicht seiner Schwester an Stelle der mädchenhaften Unschuld getreten war, die sich bei seiner Abreise nach Paris darin ausgeprägt hatte, sprach zu beredt zu Lucien, als daß er nicht einen schmerzlichen Eindruck davon empfangen hätte. So folgte denn dem ersten starken Ausbruch der Gefühle, der so natürlich war, auf beiden Seiten ein Rückschlag: jeder fürchtete sich zu sprechen. Indessen konnte sich Lucien nicht enthalten, mit einem suchenden Blick sich nach dem umzusehen, der bei diesem Zusammensein fehlte. Eva verstand diesen Blick und brach in Tränen aus, und Lucien kam ebenfalls lautes Weinen an. Frau Chardon aber blieb leichenblaß und war anscheinend starr und unbeweglich. Eva stand auf, ging, um ihrem Bruder ein hartes Wort zu ersparen, hinunter und sagte zu Marion: »Lucien liebt die Erdbeeren so sehr, wir müßten welche haben!«

»Oh, ich dachte mir schon, daß Sie Herrn Luciens Ankunft feiern wollten. Seien Sie ruhig, Sie werden ein hübsches Frühstück und auch ein gutes Mittagessen bekommen.«

»Lucien,« sagte Frau Chardon zu ihrem Sohn, »du hast hier viel wieder gutzumachen. Du bist fortgegangen, um der Stolz deiner Familie zu werden, und hast das Elend über uns gebracht. Du hast das Werkzeug zum Glück in den Händen deines Bruders zerbrochen, zu dem Glück, auf das er nur für seine neue Familie bedacht war. Du hast nicht nur das zerbrochen ...«

Es entstand eine schreckliche Pause. Lucien nahm diese mütterlichen Vorwürfe schweigend hin.

»Schlage den Weg der Arbeit ein«, fuhr Frau Chardon sanft fort. »Ich tadle dich nicht, daß du versucht hast, die edle Familie, von der ich stamme, wiederaufleben zu lassen,« aber zu solchem Unternehmen bedarf es vor allem des Vermögens und des inneren Stolzes: du hast von alledem nichts besessen. Du bist schuld, daß dem Glauben an dich jetzt das Mißtrauen gefolgt ist. Du hast den Frieden dieser arbeitsamen und bescheidenen Familie, die hier auf schweren Wegen vorwärtskommen wollte, zerstört ... Den ersten Fehlern ist man ein erstes Verzeihen schuldig. Fang nicht wieder an. Wir sind hier in schwieriger Lage, sei vorsichtig, höre auf deine Schwester. Das Unglück ist ein Lehrmeister, und sein harter Unterricht hat bei ihr gut angeschlagen: sie ist ernst geworden, sie ist Mutter, sie trägt um unseres lieben Davids willen die ganze Last des Hausstandes; sie ist durch deine Schuld mein einziger Trost geworden.«

»Du hättest noch strenger sein können«, sagte Lucien und küßte seine Mutter. »Ich nehme deine Verzeihung an, sie soll die einzige sein, die ich jemals brauche.«

Eva kam zurück, und an der demütigen Haltung ihres Bruders sah sie, daß Frau Chardon gesprochen hatte. Sie war gütig genug, daß sie ihm zulächelte, und Lucien antwortete mit unterdrückten Tränen. Die Gegenwart hat etwas wie einen Zauber an sich, sie verwandelt die feindlichsten Stimmungen zwischen Liebenden wie zwischen Familienangehörigen, so stark auch die Gründe zur Unzufriedenheit sein mögen. Hinterläßt die Liebe Bahnen im Herzen, die man gerne wieder geht? Gehört diese Erscheinung in das Gebiet des animalischen Magnetismus? Gebietet die Vernunft, daß man sich entweder niemals wiedersieht oder sich verzeiht? Mag diese Wirkung der Überlegung, einer physischen Ursache oder der Seele angehören, jeder muß erfahren haben, daß die Blicke, die Gebärden, die Bewegungen eines geliebten Menschen bei denen, die er noch so sehr gekränkt, bekümmert oder mißhandelt hat, auf Spuren von Zuneigung stoßen. Der Geist vergißt schwer; das Interesse leidet noch, aber das Herz hat sich trotz allem schon wieder in die Knechtschaft gefunden. So war denn die arme Schwester, als sie bis zur Stunde des Frühstücks die Bekenntnisse ihres Bruders anhörte, nicht Herrin ihrer Augen, wenn sie ihn ansah, und nicht ihres Tones, wenn sie ihr Herz sprechen ließ. Sie lernte nun die Elemente des literarischen Lebens in Paris kennen und verstand, wie Lucien in dem Kampf hatte unterliegen können. Die Freude des Dichters, als er mit dem Kind seiner Schwester spielte, seine kindlich frohen Einfälle, das Glück, seine Heimat und die Seinen wiederzusehen, dazu der tiefe Kummer, daß David sich versteckt halten mußte, die melancholischen Worte, die Lucien entfielen, seine Rührung, als er sah, daß seine Schwester sich in all ihren Nöten seiner Liebhaberei erinnert und Erdbeeren besorgt hatte: all das bis zu der Verpflichtung, den verlorenen Sohn unterzubringen und sich um ihn zu kümmern, machte aus diesem Tage ein Fest. Es war wie eine Rast im Elend. Selbst der alte Séchard brachte die Gefühle der beiden Frauen nicht zur Umkehr, als er sagte: »Sie feiern ihn, als ob er Tausende mit nach Hause brächte.«

»Aber was hat denn mein Bruder getan, daß wir ihn nicht feiern sollten!« rief Frau Séchard, die ängstlich darauf bedacht war, Luciens Schande zu verbergen.

Trotzdem drangen, nachdem die ersten Zärtlichkeiten vorbei waren, die wahren Farben durch. Lucien bemerkte bald, wie anders Eva ihn jetzt liebte als früher. David war aufs tiefste verehrt, während Lucien nur trotz alledem geliebt wurde, wie man eine Geliebte trotz allem Unheil, das sie bringt, liebhat. Die Achtung, die Grundlage, deren all unsere Gefühle bedürfen, ist der feste Stoff, der ihnen eine gewisse Sicherheit, der ihnen die Zuverlässigkeit gibt, die das Leben braucht. Sie fehlte zwischen Frau Chardon und ihrem Sohn und auch zwischen Bruder und Schwester. Lucien fühlte, daß er nicht mehr das ganze Vertrauen besaß, das man in ihn gesetzt hätte, wenn seine Ehre fleckenlos geblieben wäre. Die Auffassung, die d'Arthez' Brief ausgesprochen hatte, war die seiner Schwester geworden, und sie verriet sich in den Gebärden, in den Blicken, im Tonfall. Lucien wurde bedauert, aber er hatte einmal der Ruhm, der Stolz der Familie, der Held des heimischen Herdes werden wollen, und all diese schönen Hoffnungen waren rettungslos dahin. Man fürchtete seinen Leichtsinn so sehr, daß man ihm das Asyl verbarg, in dem David lebte. Eva war gegen die Zärtlichkeiten, mit denen Lucien die Äußerungen seiner Neugier begleitete, unerschütterlich; er wollte gern seinen Bruder sehen, aber sie war nicht mehr die Eva von Houmeau, für die einst ein einziger Blick Luciens einen unwiderstehlichen Befehl bedeutet hatte. Lucien sprach davon, er wolle sein Unrecht wieder gutmachen, und vermaß sich, David zu retten. Eva antwortete ihm: »Mische dich nicht ein; unsere Gegner sind die perfidesten und schlauesten Menschen.«

Lucien warf den Kopf zurück, wie wenn er sagen wollte: Ich habe mit Parisern gekämpft, aber seine Schwester antwortete mit einem Blick, der bedeutete: Du bist besiegt worden.

›Man liebt mich nicht mehr‹, dachte Lucien. ›In der Familie ist also wie in der Welt der Erfolg alles.‹

Schon am zweiten Tag wurde der Dichter, als er versuchte, sich das geringe Vertrauen seiner Mutter und seiner Schwester zu erklären, von Gedanken erfüllt, in denen zwar kein Haß lag, aber hochmütiger Kummer. Er legte den Maßstab des Pariser Lebens an dieses zurückgezogene Provinzleben an und vergaß, daß die geduldige Enge dieses entsagungsvollen Heimes sein eigenes Werk war.

»Sie sind kleinbürgerlich, sie können mich nicht verstehen«, sagte er sich und schied sich so von der Schwester, der Mutter und Séchard ab, die er nicht mehr über seinen Charakter und über seine Zukunft täuschen konnte.

Eva und Frau Chardon, deren Ahnungssinn durch so viele Schläge und Mißgeschicke eine große Schärfung erfahren hatte, errieten Luciens geheimste Gedanken, fühlten sich falsch beurteilt und sahen, wie er sich von ihnen entfernte.

»Paris hat ihn uns sehr verändert«, sagten sie sich. Sie pflückten jetzt die Frucht des Egoismus, den sie selbst großgezogen hatten. Auf beiden Seiten mußte dieser leichte Keim des Unfriedens weitergären, und er tat es. Aber hauptsächlich bei Lucien, der fühlte, wie sehr er die Vorwürfe verdiente. Eva war eine von den Schwestern, die einem Bruder, der gefehlt hat, sagen können: »Vergib mir dein Unrecht!« Wenn das Band der Seelen vollkommen gewesen ist, wie im Anfang des Lebens, das Eva und Lucien miteinander geführt hatten, wird jede Verletzung dieses schönen Bundes zu einer tödlichen Wunde. Wo Ruchlose sich nach Dolchstichen wieder vertragen, da brechen Liebende um eines Blickes, um eines Wortes willen unwiderruflich. In dieser Erinnerung an die vermeintliche Vollkommenheit eines Herzensbundes liegt das Geheimnis von Trennungen, die oft unerklärlich aussehen. Man kann mit einer Enttäuschung im Herzen leben, wenn die Vergangenheit nicht das Bild einer reinen und ungetrübten Gemeinschaft bietet; aber für zwei Wesen, die einmal völlig eines waren, wird das Leben unerträglich, wenn bei jedem Blick und bei jedem Wort Vorsicht nötig ist. So lassen denn auch die großen Dichter ihre Paul und Virginie jung sterben. Könnte man sich Paul und Virginie vorstellen, wie sie miteinander böse wären? Zum Lobe Evas und Luciens muß gesagt werden, daß die Interessen, die so stark verletzt waren, diese Wunden keineswegs schlimmer machten: bei der tadellosen Schwester wie beim Dichter, der sich verfehlt hatte, war alles Gefühl; daher konnte das geringste Mißverständnis, der kleinste Streit, ein neuer Fehler Luciens sie auseinanderbringen oder einen Streit hervorrufen, der genügte, die Familie unwiderruflich zu spalten. Geldangelegenheiten lassen sich wieder in Ordnung bringen, aber die Gefühle sind unbarmherzig.

Am nächsten Tage erhielt Lucien eine Nummer der Angoulêmer Zeitung und wurde vor Vergnügen blaß, als er sah, daß er Gegenstand einer der ersten Nachrichten aus Angoulême in diesem achtbaren Blatte war, das, wie die Akademien der Provinz, als wohlerzogene Tochter nach Voltaires Wort nie von sich reden machte: »Mag die Franche-Comté stolz darauf sein, Victor Hugo, Charles Nodier und Cuvier geboren zu haben; die Bretagne auf Chateaubriand und Lamenais; die Normandie auf Casimir Delavigne; die Touraine auf den Verfasser der Eloa: heute braucht das Angoumois, wo schon unter LudwigXIII. der berühmte Guez, der unter dem Namen von Balzac bekannt war, unser Landsmann gewesen ist, diese Provinzen nicht mehr zu beneiden; und ebensowenig das Limousin, das Dupuytren hervorgebracht hat, oder die Auvergne, die Heimat von Montlosier, noch Bordeaux, das das Glück gehabt hat, so viele große Männer hervorzubringen; auch wir haben einen Dichter! Der Verfasser der schönen Sonette, die den Titel Margueriten führen, genießt zugleich den Ruhm des Lyrikers und den des Romanschriftstellers, denn wir verdanken ihm auch den prächtigen Roman Der Bogenschütze KarlsIX.. Eines Tages werden unsere Nachkommen stolz darauf sein, daß sie Lucien Chardon, einen Rivalen Petrarcas, zum Landsmann haben! ...«

In den Provinzzeitungen dieser Zeit glichen die Huldigungen den Hurrarufen, mit denen man in England die Speeches der Meetings begrüßt.

»Ungeachtet seiner hervorragenden Erfolge in Paris hat sich unser junger Dichter erinnert, daß das Hotel Bargeton die Wiege seiner Triumphe gewesen ist, daß die Aristokratie des Angoumois zuerst seinen Dichtungen zugejubelt hat; daß die Gattin des Herrn Grafen du Châtelet, des Präfekten unseres Departements, seine ersten Schritte auf der Laufbahn der Musen ermutigt hatte: und er ist zu uns zurückgekehrt! ... Unser ganzes Houmeau war freudig erregt, als man gestern unsern Lucien von Rubempré wiedersah. Die Nachricht von seiner Rückkehr hat überall das lebhafteste Aufsehen erregt. Es ist sicher, daß die Stadt Angoulême sich nicht in den Ehren überflügeln lassen will, mit denen man, wie man sagt, den Mann zu begrüßen gedenkt, der in der Presse wie in der Literatur unsere Stadt in Paris so glorreich vertreten hat. Lucien, der zugleich religiöser Dichter und Royalist ist, hat der Wut der Parteien getrotzt; er ist, wie man sagt, zu uns gekommen, um sich von den Anstrengungen eines Kampfes auszuruhen, der noch stärkere Helden ermatten könnte, als es Menschen der Poesie und der Träumerei sind.

»Mit einem überaus politischen Gedanken, dem wir unsern Beifall zollen und den, wie man sagt, die Frau Gräfin du Châtelet zuerst gehabt hat, ist man darauf gekommen, unserm großen Dichter den Titel und Namen der berühmten Familie von Rubempré verleihen zu wollen, deren einzige Erbin Frau Chardon, seine Mutter, ist. So durch Talente und neuen Ruhm die alten Familien zu verjüngen, die nahe am Verlöschen sind, ist von seiten des unsterblichen Begründers der Charte ein neuer Beweis für seinen unaufhörlichen Wunsch, der in den Worten ausgedrückt ist: Einigkeit und Vergessen.«

»Unser Dichter ist bei seiner Schwester, Frau Séchard, abgestiegen.«

In der Rubrik der Lokalnachrichten aus Angoulême fanden sich noch die folgenden Nachrichten:

»Unser Präfekt, der Herr Graf du Châtelet, der schon zum ordentlichen Kammerherrn Seiner Majestät ernannt worden ist, ist soeben wirklicher Staatsrat geworden.

Gestern haben alle hohen Beamten dem Herrn Präfekten ihre Aufwartung gemacht.

Die Frau Gräfin Sixtus du Châtelet empfängt alle Donnerstage.

Der Maire von Escarbas, Herr von Nègrepelisse, der Repräsentant des jüngeren Zweiges der d'Espard, der Vater der Frau du Châtelet, der jüngst zum Grafen, zum Pair von Frankreich und zum Kommandeur des Königlichen Ordens vom heiligen Ludwig ernannt worden ist, soll dazu ausersehen sein, bei den nächsten Wahlen dem großen Wahlkollegium von Angoulême zu präsidieren.«

»Hier, lies!« sagte Lucien zu seiner Schwester und reichte ihr das Zeitungsblatt.

Eva las den Artikel aufmerksam und gab dann das Blatt Lucien mit nachdenklichem Gesicht zurück.

»Was sagst du dazu?« fragte Lucien, der über ihre Zurückhaltung, die fast wie Kälte aussah, erstaunt war.

»Mein Lieber,« antwortete sie, »diese Zeitung gehört den Cointet. Sie haben es völlig in der Hand, was für Artikel darin erscheinen, und nur von der Präfektur oder von der bischöflichen Kanzlei kann ein Druck auf sie ausgeübt werden. Hältst du deinen früheren Nebenbuhler, unsern jetzigen Präfekten, für so edelmütig, daß er dermaßen dein Lob singt? Vergißt du, daß die Cointet uns unter dem Namen Métivier den Prozeß machen und ohne Zweifel David dazu bringen wollen, sie an seinen Entdeckungen zu beteiligen? Von welcher Seite auch dieser Artikel kommen mag, er beunruhigt mich. Du hast hier nur Haß und Eifersucht erregt; man hat dich verleumdet, und man konnte das Sprichwort anwenden: Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland, und nun soll alles in einem Augenblick anders sein.«

»Du kennst die Eitelkeit der Provinzstädte nicht,« erwiderte Lucien, »in einer kleinen Stadt des Südens hat man einen jungen Mann, der bei der alljährlichen Preisverteilung den Ehrenpreis bekommen hatte, an den Toren im Triumph begrüßt, weil man in ihm den künftigen großen Mann sah.«

»Höre mich, lieber Lucien, ich will dir keine Predigt halten, ich sage dir alles in einem Wort: Hier mußt du im Kleinsten Mißtrauen haben.«

»Du hast Recht«, sagte Lucien, war aber überrascht, seine Schwester so wenig begeistert zu finden.

Der Dichter war vor Freude außer sich, daß sich seine klägliche und schmähliche Rückkehr nach Angoulême in einen Triumph verwandelt hatte.

»Ihr glaubt nicht an das bißchen Ruhm, das uns so teuer zu stehen kommt!« rief Lucien, nachdem er eine Stunde geschwiegen hatte. Inzwischen hatte es sich wie ein Gewitter in seinem Herzen zusammengeballt.

Statt jeder Antwort sah Eva Lucien an, und dieser Blick genügte, daß er sich seiner Beschuldigung schämte.

Kurz nach dem Essen brachte ein Schreiberlehrling der Präfektur einen Brief, der an Herrn Lucien Chardon adressiert war und der die Sache zugunsten der Eitelkeit des Dichters zu entscheiden schien; die vornehme Welt schien ihn der Familie abspenstig machen zu wollen.

Der Brief enthielt die folgende Einladung:

»Graf Sixus du Châtelet und Gräfin du Châtelet bitten Herrn Lucien Chardon, am 15.September ihnen die Ehre zu geben, bei ihnen zu speisen.

U. A. w. g.«

Diesem Brief lag folgende Visitenkarte bei:

Graf Sixtus du Châtelet

Ordentlicher Kammerherr des Königs

Präfekt der Charente, Staatsrat.

»Sie stehen in Gunst«, sagte der alte Séchard. »Man spricht von Ihnen in der Stadt wie von einem großen Tier. Angoulême und Houmeau streiten sich untereinander, wer Ihnen Kränze flechten soll.«

»Liebe Eva,« sagte Lucien der Schwester ins Ohr, »ich befinde mich wieder völlig in der Lage wie in Houmeau an dem Tage, wo ich zu Frau von Bargeton gehen sollte: ich habe für das Diner des Präfekten keinen Anzug.«

»Du willst also diese Einladung annehmen?« rief Frau Séchard erschreckt.

Es entstand über die Frage, ob er zur Präfektur gehen sollte oder nicht, ein Streit zwischen Bruder und Schwester. Der klare Verstand der Frau aus der Provinz sagte Eva, man dürfte sich in der großen Welt nur mit lachendem Gesicht, in tadellosem Kostüm und Auftreten zeigen; aber sie wollte ihren wahren Gedanken verbergen: Wohin würde das Diner des Präfekten Lucien führen? Was kann die große Welt von Angoulême für ihn sein? Ist nicht irgend etwas gegen ihn im Werke? Lucien sagte schließlich, bevor er schlafen ging, zu seiner Schwester: »Du kennst meinen Einfluß nicht! Die Frau des Präfekten fürchtet den Journalisten; und überdies steckt in der Gräfin du Châtelet immer noch Louise von Nègrepelisse! Eine Frau, die so viel Gunst erlangt hat, kann David retten! Ich werde ihr von der Entdeckung, die mein Bruder gemacht hat, sprechen, und es wird eine Kleinigkeit für sie sein, im Ministerium eine Beihilfe von zehntausend Franken zu erlangen.«

Um elf Uhr nachts wurden Lucien, seine Schwester, seine Mutter, der alte Séchard, Marion und Kolb von der Stadtmusik geweckt, der sich die Regimentskapelle angeschlossen hatte. Die Place du Mûrier stand voller Menschen. Die jungen Leute von Angoulême brachten Lucien Chardon von Rubempré ein Ständchen. Lucien stand am Fenster seiner Schwester und sprach nach dem letzten Stück unter tiefem Schweigen der Menge die folgenden Worte: »Ich danke meinen Landsleuten für die Ehre, die sie mir erweisen, ich will versuchen, sie zu verdienen; verzeihen Sie mir, daß ich nichts weiter sage, ich bin so bewegt, daß ich nicht fortfahren kann.«

»Es lebe der Dichter des Bogenschützen KarlsIX.!«

»Es lebe der Dichter der Margueriten!«

»Es lebe Lucien von Rubempré!«

Nach diesen drei Salven, die von etlichen Stimmen abgegeben wurden, wurden drei Kränze und Sträuße geschickt zum Fenster hineingeworfen. Zehn Minuten später war die Place du Mûrier leer und lag in tiefem Schweigen.

»Zehntausend Franken wären mir lieber«, sagte der alte Séchard und drehte die Kränze und die Sträuße mit grinsendem Gesicht hin und her. »Aber Sie haben ihnen Margueriten gegeben, und man gibt Ihnen Sträuße dafür: es ist ein richtiges Blumengeschäft.«

»Also das ist die Achtung, die Sie vor den Huldigungen haben, die mir meine Mitbürger darbringen!« rief Lucien, auf dessen Mienen nichts mehr von Melancholie zu sehen war; er strahlte vor Genugtuung. »Wenn Sie die Menschen kennten, Papa Séchard, wüßten Sie, daß es im Leben keine zwei solche Augenblicke gibt. Nur einer wahrhaften Begeisterung verdankt man solche Triumphe! Dies, liebe Mutter, gute Schwester, tilgt vielen Kummer.«

Lucien umarmte Mutter und Schwester, wie man sich in den Augenblicken umarmt, wo die Freude so überströmend groß wird, daß man sie in das Herz eines geliebten Menschen ausströmen lassen muß. »Wenn ein Schriftsteller, den der Erfolg berauscht,« hatte eines Tages Bixiou gesagt, »gerade keinen Freund zur Hand hat, umarmt er seinen Portier.«

»Nun, liebes Kind,« sagte er zu Eva, »warum weinst du? Oh, es ist vor Freude ...«

»Ach,« sagte Eva, bevor sie wieder schlafen gingen, zu ihrer Mutter, als sie allein waren, »in so einem Dichter steckt, glaube ich, etwas von einem hübschen Weibe zweifelhafter Sorte.«

»Du hast Recht«, antwortete die Mutter und nickte mit dem Kopf. »Lucien hat schon alles vergessen; nicht nur sein Unglück, sondern auch unseres.«

Mutter und Tochter trennten sich, ohne daß sie wagten, einander alles zu sagen, was sie dachten.

In den Ländern, die von der sozialen Insubordination, die sich unter dem Wort Gleichheit versteckt, verzehrt werden, ist jeder Triumph eines der Wunder, die nicht, wie manche Wunder früherer Zeiten, ohne Mithilfe geschickter Maschinisten zustande kommen. Von zehn Huldigungen, die zehn lebenden Männern dargebracht und vom Vaterlande vergeben werden, kennen in neun Fällen die ruhmreich Gekrönten die Ursachen nicht. War nicht der Triumph Voltaires auf den Brettern des Théâtre Français der Triumph der Philosophie seines Jahrhunderts? In Frankreich bekommt man nur einen Triumph, wenn die ganze Welt sich auf dem Haupte des Triumphators mitkrönt. Und so hatten die beiden Frauen mit ihren Ahnungen recht. Der Erfolg des großen Mannes der Provinz stand zu sehr in Widerspruch mit den starren Sitten von Angoulême, als daß er nicht von Interessen oder von einem begeisterten Maschinisten in Szene gesetzt sein mußte, und eins davon ist so nichtswürdig wie das andere. Eva war, wie übrigens die meisten Frauen, aus dem Gefühl heraus und ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, mißtrauisch. Sie fragte sich vor dem Einschlafen: »Wer liebt denn hier meinen Bruder so, daß er die Leute für ihn in Aufregung gebracht hat? Und überdies sind die Margueriten noch gar nicht veröffentlicht. Wie kann man ihn wegen eines Erfolgs bejubeln, der erst kommen soll? ...«

Dieser Triumph war in der Tat das Werk des kleinen Petit-Claud. An dem Tage, an dem der Pfarrer von Marsac ihm Luciens Rückkehr mitgeteilt hatte, war der Advokat zum erstenmal zum Diner bei Frau von Senonches, bei der er offiziell um die Hand ihres Mündels anhalten mußte. Es war eins der Familiendiners, deren Feierlichkeit sich mehr durch die Toiletten als die Zahl der Gäste verrät. Man ist zwar im Familienkreis, aber man weiß, daß etwas Bedeutungsvolles vorgeht, und die Absichten sehen hinter aller würdevollen Haltung hervor. Françoise war angezogen, als ob sie zur Schau gestellt werden sollte. Frau von Senonches hatte die Fahnen ihrer ausgesuchtesten Toilette aufgepflanzt. Herr du Hautoy war im schwarzen Rock. Herr von Senonches, dem seine Frau die Ankunft der Frau du Châtelet, die sich zum erstenmal bei ihr zeigen sollte, und den Antrittsbesuch eines Erkorenen für Françoise gemeldet hatte, war von dem Schloß der Pimentel zurückgekehrt. Cointet, der seinen schönsten kastanienbraunen Rock mit geistlichem Schnitt trug, stellte auf seiner Brust einen Diamanten im Wert von sechstausend Franken zur Schau, der die Rache des reichen Kaufmanns und der armen Aristokratie bedeutete. Petit-Claud hatte sich zwar rasiert, die Haare gefärbt und sich mit Seife gewaschen, aber seine kleine, vertrocknete Miene hatte er nicht abwaschen können. Unwillkürlich mußte man diesen schmächtigen, in seine Kleider eingezwängten Advokaten einer kalten Schlange vergleichen; aber die Hoffnung erhöhte die Lebhaftigkeit seiner Elsternaugen so sehr, es prägte sich in seinem Gesicht so viel hochmütige Kälte und so viel Steifheit in seinem Wesen aus, daß er es gerade noch zu der würdevollen Art eines ehrgeizigen kleinen Prokurators brachte. Frau von Senonches hatte ihre Getreuen gebeten, von dem ersten Besuch eines Freiwerbers um die Hand ihres Mündels und von dem Erscheinen der Präfektin doch ja nirgends ein Wort zu sagen, und sie konnte sich daher darauf verlassen, ihre Salons gefüllt zu sehen. In der Tat hatten der Herr Präfekt und seine Frau ihre offiziellen Antrittsbesuche durch Karten erledigt und hatten sich die Ehre ihres persönlichen Besuchs als ein Mittel von besonderer Wirkung aufgespart. So war denn die Aristokratie von Angoulême von einer so starken Neugier besessen, daß mehrere Personen aus dem Lager der Chandour sich vornahmen, ins Hotel Bargeton zu kommen denn man sträubte sich hartnäckig dagegen, dieses Haus Hotel Senonches zu nennen. Die Proben von dem Einfluß der Gräfin du Châtelet hatten mancherlei Ehrgeiz wachgerufen; und überdies, hieß es, wäre sie dermaßen zu ihrem Vorteil verändert, daß jeder sich selbst davon überzeugen wollte. Als Petit-Claud unterwegs die große Nachricht von der Gunst hörte, die Zephirine von der Präfektin erlangt hatte, ihr den Künftigen der lieben Francoise vorstellen zu dürfen, kam ihm der Gedanke, er könnte aus der schiefen Lage, in die Luciens Rückkehr Louise von Nègrepelisse brachte, Vorteil ziehen.

Herr und Frau von Senonches hatten, als sie ihr Haus kauften, so drückende Verpflichtungen auf sich genommen, daß es ihnen als echten Provinzmenschen nicht eingefallen war, die geringste Veränderung vorzunehmen. Daher war das erste Wort Zéphirinens zu Louise, als sie ihr, um sie zu empfangen, entgegenging:

»Liebe Louise, sehen Sie, Sie sind hier noch zu Hause!« Dabei wies sie auf den kleinen Kronleuchter mit den Kristallgehängen, auf das Holzgetäfel und die Möbel, die Lucien einst so entzückt hatten.

»Liebe, daran will ich mich am wenigsten erinnern«, sagte die Frau Präfektin mit anmutiger Liebenswürdigkeit und sah sich prüfend in der Versammlung um.

Alle mußten sich gestehen, daß Louise von Nègrepelisse sich selbst nicht mehr gleich sah. Die Pariser Welt, in der sie anderthalb Jahre zugebracht hatte, das erste Glück der Ehe, das die Frau ebenso verwandelt, wie Paris die Provinzialin umgestaltet hatte, die besondere Art Würde, die die Macht verleiht, all das machte die Gräfin du Châtelet zu einer Frau, die der Frau von Bargeton nicht mehr glich, als ein zwanzigjähriges Mädchen seiner Mutter ähnlich sieht. Sie trug ein entzückendes Häubchen aus Spitzen und Blumen, das graziös mit einer Diamantnadel befestigt war. Ihre à l'anglaise gescheitelten Haare standen ihr gut zu Gesicht und verjüngten sie, indem sie die scharfen Linien verbargen. Sie trug ein Kleid aus Foulardseide mit einer Spitzentaille und entzückenden Fransen, dessen Schnitt von der berühmten Victorine stammte und ihre Figur bestens zur Geltung brachte. Ihre Schultern waren von einem Spitzentuch bedeckt und unter einer Gazebinde kaum zu sehen, die sehr geschickt an ihrem zu langen Halse angebracht war. Sie spielte mit den reizenden Sächelchen, mit denen die Provinzfrauen nie umzugehen verstehen: ein Riechdöschen pendelte an einer Kette von ihrem Armreif herunter; in der Hand hielt sie ihren Fächer und ihr zerknittertes Taschentuch, ohne irgendwie sich dadurch gestört zu zeigen. Der erlesene Geschmack der geringsten Kleinigkeiten, die Haltung und die Manieren, die sie der Marquise d'Espard abgeguckt hatte, alles zeigte, daß Louise eine gelehrige Schülerin des Faubourg Saint-Germain gewesen war. Den alten Empiregeck hatte die Ehe so heruntergebracht, daß er den Melonen zu vergleichen war, die gestern noch grün waren und in einer einzigen Nacht gelb geworden sind. Als man auf dem blühenden Gesicht seiner Frau die Frische sah, die er verloren hatte, flüsterte man sich die üblichen Provinzspäße ins Ohr und tat das mit um so größerem Vergnügen, als alle Frauen über die neue Überlegenheit der früheren Königin von Angoulême rasend waren: der zähe Eindringling mußte für seine Frau büßen. Ausgenommen Herrn von Chandour und seine Frau, den seligen Bargeton, Herrn von Pimentel und die Rastignac, war in dem Salon ungefähr dieselbe Gesellschaft versammelt wie damals, als Lucien seine Vorlesung darin gehalten hatte, denn auch der Herr Bischof kam mit seinen Generalvikaren. Petit-Claud, der von dem Schauspiel der Aristokratie des Angoumois, in die hineinzukommen er noch vor vier Monaten nicht hatte hoffen können, gepackt war, fühlte, wie sein Haß gegen die oberen Klassen sich legte. Er fand die Gräfin du Châtelet entzückend und sagte sich: »Das ist die Frau, die mich zum Substituten machen kann.«

Louise plauderte mit jeder der anwesenden Frauen, wobei sie den Ton ihrer Unterhaltung je nach der Bedeutung der Person und nach der Art, wie sie sich bei ihrer Flucht mit Lucien verhalten hatte, abstufte, und zog sich dann mit dem Bischof in das Boudoir zurück. Zéphirine nahm jetzt Petit-Claud, dem das Herz schlug, beim Arm und führte ihn in das Boudoir, in dem das Unglück Luciens begonnen hatte und in dem es sich vollenden sollte.

»Dies ist Herr Petit-Claud, meine Liebe; ich empfehle ihn dir um so lebhafter, als alles, was du für ihn tust, ohne Frage meinem Mündel nützen wird.«

»Sie sind Anwalt, Herr Petit-Claud?« fragte die erhabene Tochter der Nègrepelisse und maß Petit-Claud mit den Augen.

»Ach ja, Frau Gräfin.«

Niemals in seinem ganzen Leben hatte der Schneiderssohn aus Houmeau Gelegenheit gehabt, diese beiden Worte auszusprechen; es schien aber auch, als ob ihm der Mund ganz voll davon wäre.

»Jedoch«, fuhr er fort, »hängt es von der Frau Gräfin ab, mich zur Staatsanwaltschaft zu bringen. Es heißt, daß Herr Milaud nach Nevers gehe ...«

»Aber«, erwiderte die Gräfin, »ist man nicht zuerst zweiter und dann erster Substitut? ... Ich möchte gern, daß Sie gleich erster Substitut werden ... Damit ich mich für Sie interessiere und Ihnen diese Gunst verschaffe, brauche ich einige Gewißheit über Ihre Treue gegen die Legitimität, die Religion und hauptsächlich Herrn von Villèle.«

»Oh, Frau Gräfin,« versetzte Petit-Claud und näherte sich ihrem Ohre, »ich bin einer, der dem König absoluten Gehorsam leistet.«

»Das eben brauchen wir jetzt,« erwiderte sie und trat zurück, um ihm nahezulegen, daß sie nichts mehr ins Ohr gesagt haben wollte. »Wenn Sie Frau von Senonches immer zusagen, können Sie auf mich rechnen«, fügte sie hinzu und machte mit ihrem Fächer eine königliche Bewegung.

»Frau Gräfin,« sagte Petit-Claud, der Cointet an der Tür des Boudoirs auftauchen sah, »Lucien ist hier.«

»Nun, und , mein Herr?« antwortete die Gräfin in einem Ton, der jedes weitere Wort in der Kehle eines gewöhnlichen Menschen erstickt hätte.

»Die Frau Gräfin versteht mich nicht,« erwiderte Petit-Claud im respektvollsten Tone, »ich will ihr einen Beweis meines Gehorsams geben. Wie wünscht die Frau Gräfin, daß der große Mann, den sie gemacht hat, in Angoulême aufgenommen wird? Es gibt kein Mittelding. Er muß hier entweder ein Gegenstand der Verachtung oder des Ruhmes sein.«

Louise von Nègrepelisse hatte an dieses Dilemma nicht gedacht, an dem sie offenbar mehr wegen der Vergangenheit als wegen der Gegenwart interessiert war. Von der Stimmung nun, die die Gräfin zurzeit Lucien gegenüber hatte, hing das Gelingen des Planes ab, den der Advokat geschmiedet hatte, um Séchard verhaften zu können.

»Herr Petit-Claud,« sagte sie und nahm eine hochmütige und würdevolle Haltung an, »Sie wollen es erreichen, zur Regierung zu kommen; beachten Sie, daß das erste Regierungsprinzip sein muß, nie unrecht gehabt zu haben, und daß die Frauen noch besser als die Regierungen den Instinkt der Macht und das Gefühl ihrer Würde haben.«

»Das ist genau, was ich dachte, Frau Gräfin«, antwortete er lebhaft, wobei er die Gräfin, ohne daß sie es sehen sollte, sehr aufmerksam beobachtete. »Lucien ist hier im größten Elend angekommen. Aber wenn er hier eine Huldigung empfangen soll, so kann ich ihn ebenso, gerade auf Grund der Huldigung, zwingen, Angoulême, wo seine Schwester und sein Schwager David Séchard den heftigsten gerichtlichen Verfolgungen ausgesetzt sind, zu verlassen.«

Louise von Nègrepelisse ließ auf ihrem Gesicht eine leichte Regung erkennen, die gerade dadurch hervorgebracht wurde, daß sie das Vergnügen, das ihr diese Worte bereiteten, unterdrücken wollte. Sie war überrascht, daß sie so gut verstanden wurde, und sah Petit-Claud über ihren Fächer hinweg an, denn eben trat Françoise de la Haye ein, und sie hatte somit Zeit, sich auf eine Antwort zu besinnen.

»Herr Petit-Claud,« sagte sie mit bezeichnendem Lächeln, »Sie werden bald königlicher Prokurator sein ...«

War damit nicht alles gesagt, ohne daß sie sich kompromittierte?

»Oh, Frau Gräfin,« rief Françoise und trat näher, um der Präfektin zu danken, »ich verdanke Ihnen also das Glück meines Lebens.«

Sie sagte ihrer Gönnerin, während sie sich mit der Bewegung eines halbwüchsigen Mädchens zu ihr neigte, ins Ohr: »Als Frau eines Provinzadvokaten wäre ich zu Tode gemartert worden.«

Wenn Zéphirine sich so Louise an den Hals warf, so war es Francis gewesen, der sie dazu gebracht hatte. Es fehlte ihm nicht an einer gewissen Kenntnis der bureaukratischen Welt.

»In den ersten Tagen jedes Regierungsantrittes, mag es sich um einen Präfekten, um eine Dynastie oder um einen industriellen Betrieb handeln,« hatte der frühere Generalkonsul zu seiner Freundin gesagt, »findet man die Leute immer Feuer und Flamme, einem dienstfertig zu sein; aber sie merken bald die Unbequemlichkeiten der Protektion und erstarren zu Eis. Heute tut Louise für Petit-Claud Schritte, die sie in einem Vierteljahr nicht einmal mehr für ihren Mann tun möchte.«

»Denkt die Frau Gräfin«, sagte Petit-Claud, »an alle Verpflichtungen, die mit dem Triumph unseres Dichters zusammenhängen? Sie wird Lucien im Lauf der zehn Tage, die unsere Narrheit dauert, empfangen müssen.«

Die Präfektin nickte zur Verabschiedung Petit-Clauds mit dem Kopf und erhob sich, um mit Frau von Pimentel zu plaudern, die ihren Kopf an der Boudoirtür zeigte. Die Marquise war von der Nachricht über die Erhebung des kleinen, alten Nègrepelisse zur Pairswürde überrascht worden, und sie hielt es für nötig, einer Frau zu schmeicheln, die geschickt genug war, durch Begehung eines scheinbaren Fehlers ihren Einfluß zu erhöhen.

»Sagen Sie mir doch, meine Liebe, warum Sie sich die Mühe gegeben haben, Ihren Vater in die Pairskammer zu bringen«, fragte die Marquise in einem vertraulichen Gespräch, in dem sie vor der Überlegenheit »ihrer lieben« Louise das Knie beugte.

»Meine Liebe, man hat mir diese Gunst um so lieber bewilligt, als mein Vater keine Söhne hat und immer für die Krone stimmen wird; aber wenn ich Jungen bekomme, denke ich wohl, daß mein Ältester den Titel, das Wappen und die Pairswürde seines Großvaters übernehmen wird.«

Frau von Pimentel sah mit Kummer, daß ihr zur Verwirklichung ihres Wunsches, ihrem Gemahl die Pairswürde zu verschaffen, eine Frau, deren Ehrgeiz sich schon auf ihre künftigen Kinder erstreckte, nicht beistehen würde.

»Ich habe die Präfektin!« sagte Petit-Claud beim Fortgehen zu Cointet, »und ich verspreche Ihnen Ihren Gesellschaftsvertrag. In einem Monat bin ich erster Substitut, und Sie bekommen Séchard in die Hand. Helfen Sie mir jetzt einen Nachfolger für meine Praxis suchen, ich habe sie in fünf Monaten zur ersten von Angoulême gemacht.«

»Man brauchte Sie nur aufs Pferd zu setzen«, sagte Cointet, der fast neidisch auf sein Werk war.

Jeder kann jetzt merken, wie der Triumph Luciens in seiner Vaterstadt zustande gekommen war. Nach der Art jenes Königs von Frankreich, der für das, was dem Herzog von Orleans geschehen war, keine Rache nehmen wollte, wollte Louise sich nicht an die Beleidigungen erinnern, denen in Paris Frau von Bargeton ausgesetzt gewesen war. Sie wollte die Gönnerin Luciens sein, ihn mit ihrer Protektion erdrücken und ihn auf anständige Weise loswerden. Petit-Claud, der von der ganzen Intrige, die in Paris gespielt, durch den Klatsch Kenntnis bekommen hatte, hatte den lebhaften Haß richtig erraten, den die Frauen gegen den Mann hegen müssen, der es nicht verstanden hat, sie in dem Augenblick zu lieben, wo sie Lust hatten, sich lieben zu lassen.

Am Tage nach der Huldigung, die die Vergangenheit Louisens von Nègrepelisse rechtfertigen sollte, fand sich Petit-Claud, um Lucien vollends zu benebeln und ihn in die Hand zu bekommen, an der Spitze von sechs jungen Leuten der Stadt, lauter früheren Schulkameraden Luciens, bei Frau Séchard ein.

Diese Deputation war an den Verfasser der ›Margueriten‹ und des ›Bogenschützen KarlsIX. von seinen Mitschülern abgesandt worden, um ihn zu bitten, dem Bankett beizuwohnen, das sie dem großen Manne, der aus ihren Reihen hervorgegangen war, geben wollten.

»Bist du's, Petit-Claud!« rief Lucien.

»Deine Rückkehr«, sagte Petit-Claud zu ihm, »hat unsere Selbstliebe angeregt, unser Ehrgeiz fühlte sich angestachelt, wir haben uns zusammengetan und bereiten einen großartigen Schmaus für dich vor. Unser Direktor und unsere Professoren werden da sein, und wie die Dinge stehen, werden sicher auch die Behörden nicht fehlen.«

»Und für welchen Tag?« fragte Lucien.

»Kommenden Sonntag.«

»Das wäre mir unmöglich«, erwiderte der Dichter. »Ich kann nur annehmen, wenn es heute in zehn Tagen ist ... aber dann gerne.«

»Gut, ganz wie du wünschest,« versetzte Petit-Claud, »also in zehn Tagen.«

Lucien war reizend mit seinen alten Kameraden, die ihm eine fast respektvolle Bewunderung bezeigten. Er plauderte ungefähr eine halbe Stunde lang mit vielem Geist, denn er stand auf einem Piedestal und wollte die Meinung seiner Vaterstadt rechtfertigen: er hatte die Hände in den Hosentaschen und sprach ganz und gar als Mann, der die Dinge von der Höhe ansieht, auf die seine Mitbürger ihn gestellt haben. Er war bescheiden und gutmütig wie ein Genie im Negligé! Es waren die Klagen eines Helden, den die Kämpfe in Paris ermattet, besonders aber enttäuscht hatten; er gratulierte seinen Kameraden, daß sie in ihrer braven Provinz geblieben waren usw. Als sie gingen, waren sie ganz entzückt von ihm. Er nahm dann Petit-Claud beiseite und erkundigte sich nach der Wahrheit von Davids Geschäftsangelegenheiten, wobei er ihm über die tatsächliche Einsperrung, in der sich sein Schwager befand, Vorwürfe machte. Lucien wollte gegen Petit-Claud recht schlau sein. Petit-Claud gab sich Mühe, seinem alten Kameraden die Meinung beizubringen, er, Petit-Claud, sei ein armseliger, kleiner Provinzanwalt ohne die geringste Schlauheit. Die gegenwärtige Verfassung der Gesellschaft, deren Räderwerk unendlich komplizierter ist als das der antiken Gesellschaften, hat zur Wirkung gehabt, daß in den Gaben der Menschen eine viel weiter gehende Teilung eingetreten ist. Früher mußten die hervorragenden Menschen universell sein, und daher traten sie in den antiken Völkern in kleiner Zahl und wie leuchtende Fackeln hervor. Als später die Fähigkeiten sich spezialisierten, mußte die Begabung sich noch immer in Beziehung zur Gesamtheit der Dinge halten. So konnte ein Mann, der's »hintern Ohren hatte«, wie man es LudwigXI. nachsagte, seine List auf alles erstrecken, aber heutzutage hat sich auch diese Eigenschaft in verschiedene Teile gespalten. Und so gibt es so viele verschiedene Listen, als es Berufe gibt. Ein listiger Diplomat wird in einer Geschäftssache, die in der Provinz spielt, von einem mäßigen Advokaten oder von einem Bauern überlistet werden. Der schlaueste Journalist kann in geschäftlichen Angelegenheiten sehr dumm sein. Und so mußte Lucien der Spielball Petit-Clauds werden. Der kluge Advokat hatte natürlich selbst den Artikel geschrieben, durch den die Stadt Angoulême infolge der beständigen Eifersucht auf ihre Vorstadt Houmeau genötigt wurde, Lucien zu feiern. Die Mitbürger Luciens, die auf die Place du Mûrier gezogen waren, waren die Arbeiter der Druckerei und der Papiermühle der Cointet gemeinschaftlich mit den Schreibern von Petit-Claud und Cachan und einigen Schulkameraden gewesen. Der Advokat, der für den Dichter wieder der Schulfreund geworden war, dachte nicht mit Unrecht, sein Kamerad werde gelegentlich das Geheimnis von Davids Versteck verraten. Und wenn David durch die Schuld Luciens ins Gefängnis kam, konnte der Dichter sich nicht mehr in Angoulême behaupten. Daher spielte der Anwalt, um desto mehr zu erreichen, Lucien gegenüber den Dummen.

»Wie hätte ich nicht mein Bestes tun sollen?« sagte Petit-Claud zu Lucien. »Es handelt sich doch um die Schwester meines Schulkameraden; aber vor Gericht gibt es Lagen, wo man verlieren muß. David hat mich am 1.Juni gebeten, ihm drei Monate lang seine Ruhe zu gewährleisten; und nun ist er erst im September in Gefahr, außerdem habe ich seinen Gläubigern seine ganze Habe zu entziehen verstanden; denn ich werde den Prozeß in der zweiten Instanz gewinnen; ich werde ein Urteil bekommen, das besagt, daß das Vorrecht der Frau ein unbedingtes ist und daß es im vorliegenden Fall keinerlei Betrug deckt ... Du, mein Freund, kommst zwar im Unglück zurück, aber du bist ein genialer Mensch ...«

Lucien machte eine Bewegung wie ein Mann, dem der Weihrauch zu dicht unter die Nase kommt.

»Ja, mein Lieber,« fuhr Petit-Claud fort, »ich habe den Bogenschützen KarlsIX. gelesen, und er ist mehr als ein Werk, er ist ein Buch! Die Vorrede konnten nur zwei Männer schreiben: Chateaubriand oder du!«

Lucien nahm dieses Lob an, ohne zu sagen, daß diese Vorrede von d'Arthez stammte. Von hundert französischen Schriftstellern hätten es neunundneunzig ebenso gemacht.

»Ja, und hier tat kein Mensch so, als ob er dich kennte«, fuhr Petit-Claud fort und tat entrüstet. »Als ich die allgemeine Gleichgültigkeit sah, setzte ich es mir in den Kopf, all diese Menschen in Bewegung zu bringen. Ich schrieb den Artikel, den du gelesen hast ...«

»Wie, der ist von dir!« rief Lucien.

»Von mir! Angoulême und Houmeau waren an ihrer Rivalität gepackt, ich habe die jungen Leute, deine alten Schulkameraden, zusammengetrommelt und habe das Ständchen von gestern abend organisiert; und dann, nachdem wir einmal in der Begeisterung waren, brachten wir die Sammlung für das Diner zustande. Wenn David sich versteckt hält, soll wenigstens Lucien Kränze bekommen, sagte ich mir. Ich bin noch weitergegangen, ich habe die Gräfin du Châtelet gesehen und habe ihr begreiflich gemacht, daß sie es sich selbst schuldig ist, David aus seiner Lage zu erretten; sie kann es und soll es. Wenn David wirklich das Geheimnis gefunden hat, von dem er mir sprach, wird es die Regierung nicht umbringen, wenn sie ihn unterstützt. Und wie groß steht ein Präfekt da, wenn es aussieht, als hätte er durch die glückliche Protektion, die er dem Erfinder gewährt, das halbe Verdienst an einer so großen Entdeckung! Auf die Weise bringt er es dahin, daß man von ihm als von einem aufgeklärten Verwaltungsbeamten spricht ... Deine Schwester ist durch das Hin und Her unserer juristlschen Salven ängstlich geworden! Sie hat Angst vor dem Rauch ... Der Krieg im Justizpalast ist ebenso teuer wie auf den Schlachtfeldern; aber David hat seine Stellung behauptet, er ist Herr seines Geheimnisses; man kann ihn nicht verhaften, man wird ihn nicht verhaften!«

»Ich danke dir, mein Lieber; ich sehe, ich kann dir meinen Plan anvertrauen, du wirst mir helfen, ihn zu verwirklichen.«

Petit-Claud sah Lucien an und gab dabei seiner pfropfenzieherförmigen Nase das Aussehen eines Fragezeichens.

»Ich will Séchard retten«, sagte Lucien sehr wichtig. »Ich bin die Ursache seines Unglücks, ich werde alles wieder in Ordnung bringen ... Ich habe mehr Macht über Louise ...«

»Louise! Wer ist das?«

»Die Gräfin du Châtelet!«

Petit-Claud machte eine Bewegung.

»Ich habe über sie mehr Macht, als sie selbst glaubt,« fuhr Lucien fort; »nur, mein Lieber, Macht über die Menschen, die euch regieren, habe ich zwar, aber ich habe keinen Anzug ...«

Petit-Claud machte eine zweite Bewegung, wie wenn er ihm seine Börse zur Verfügung stellen wollte.

»Danke«, sagte Lucien und drückte die Hand des Advokaten. »Heut in zehn Tagen werde ich der Frau Präfektin einen Besuch machen und auch deinen Besuch erwidern.«

Und sie trennten sich, indem sie sich freundschaftlich die Hand drückten.

»Er muß ein Dichter sein,« sagte Petit-Claud bei sich selbst, »denn er ist ein Narr.«

»Man kann sagen, was man will,« dachte Lucien, als er zu seiner Schwester ging, »die Schulkameraden sind doch die besten Freunde.«

»Lucien,« sagte Eva zu ihm, »was hat dir denn Petit-Claud versprochen, daß du so freundschaftlich zu ihm warst? Hüte dich vor ihm!«

»Vor ihm?« rief Lucien. »Höre, Eva,« fuhr er fort und schien nachdenklich zu sein, »du glaubst nicht mehr an mich, du mißtraust mir, du kannst auch Petit-Claud mißtrauen; aber in zwölf bis vierzehn Tagen wirst du eine andere Meinung haben.«

Er setzte eine hochmütige Miene auf, begab sich in sein Zimmer und schrieb dort den folgenden Brief an Lousteau:

»Lieber Freund!

Von uns beiden kann ich allein mich an die tausend Franken erinnern, die ich Dir geliehen habe: aber leider kenne ich die Lage, in der Du beim Öffnen dieses Briefes sein wirst, zu gut, um nicht sofort hinzuzufügen, daß ich sie nicht in Gold- oder Silberstücken von Dir verlange; nein, ich erbitte sie in Kredit, wie man sie von Florine in Vergnügen erbäte. Wir haben denselben Schneider, Du kannst mir also in kürzester Frist einen vollständigen Anzug machen lassen. Ich bin zwar nicht geradezu im Adamskostüm, aber ich kann mich nicht sehen lassen. Hier erwarteten mich zu meinem großen Staunen die Ehren, die die Provinz den Pariser Berühmtheiten zukommen läßt. Ich bin der Held eines Banketts, nicht mehr und nicht weniger als ein Deputierter der Linken: verstehst Du jetzt die Notwendigkeit eines schwarzen Rockes? Versprich die Zahlung; nimm sie auf Dich, laß die Reklame spielen; verfasse oder finde in Molières Nachlaß eine neue Szene Don Juans mit Herrn Dimanche, denn ich brauche um jeden Preis einen Sonntagsstaat. Ich habe nur noch Lumpen: danach richte Dich! Wir stehen im August, es ist prächtiges Wetter; sorge also dafür, daß ich zu Ende dieser Woche im Besitz eines famosen Straßenanzuges bin. Ich brauche einen kurzen Rock in dunklem Orangegrün, drei Westen, die eine schwefelgelb, die zweite eine schottische Phantasieweste, die dritte ganz weiß; dann drei Paar Hosen, die das Entzücken der Frauen sein müssen, die eine aus weißem englischen Stoff, die zweite aus Nanking, die dritte aus schwarzem Kasimir; endlich einen schwarzen Rock und eine schwarze Atlasweste für den Abend. Hast Du irgendeine neue Florine gefunden, dann empfehle ich mich ihr für zwei Phantasiehalsbinden. Das ist eine Kleinigkeit; ich rechne auf Dich, auf Deine Geschicklichkeit: der Schneider macht mir weiter keine Sorge. Lieber Freund, wir haben es so oft beklagt: die Intelligenz des Elends, das sicher das stärkste Gift ist, von dem der Mensch par excellence, der Pariser, gepeinigt wird, diese Intelligenz, deren Stärke und Energie selbst Satan überraschen müßte, hat noch nicht das Mittel gefunden, einen Hut auf Kredit zu bekommen! Wenn wir erst einmal Hüte in Mode gebracht haben, die tausend Franken kosten, werden die Hüte erschwinglich sein; aber bis dahin müssen wir immer so viel Geld in der Tasche haben, um einen Hut bezahlen zu können. Oh! was hat uns die Comédie Française für einen Schaden getan mit diesem Lafleur, du mußt Geld in meine Taschen tun! Ich habe also das tiefe Gefühl für all die Schwierigkeiten, die sich der Ausführung der folgenden Bitte entgegenstellen: füge der Sendung des Schneiders ein Paar Stiefel, ein Paar Schuhe, einen Hut und sechs Paar Handschuhe hinzu! Ich weiß, ich verlange Unmögliches. Aber ist nicht das literarische Leben die zur Regel, nämlich zum regelrechten Geldabknöpfen gemachte Unmöglichkeit? ... Ich gebe Dir nur einen Wink: vollziehe das Wunder, indem Du einen großen Artikel oder eine kleine Niedertracht schreibst, und dann bist Du Deiner Schuld gegen mich quitt und ledig. Und es ist eine Ehrenschuld, mein Lieber, die schon zwölf Monate ansteht: Du müßtest darüber rot werden, wenn Du erröten könntest. Mein lieber Lousteau, Scherz beiseite, ich bin in sehr ernster Lage. Urteile darüber nur aus diesem kurzen Wort: der Stockfisch hat Fett angesetzt, ist die Frau des Reihers geworden, und der Reiher ist Präfekt von Angoulême. Dieses schreckliche Paar kann viel für meinen Schwager tun, den ich in eine furchtbare Lage gebracht habe: er soll wegen des Wechsels in Schuldhaft kommen und lebt in einem Versteck! Ich muß mich vor der Frau Präfektin sehen lassen können und um jeden Preis Einfluß auf sie bekommen. Ist es nicht grauenhaft, zu denken, daß das Schicksal David Séchards von einem hübschen paar Stiefel, grauseidenen, durchbrochenen Strümpfen vergiß sie nicht! und von einem neuen Hute abhängt? Ich werde mich für krank und leidend ausgeben, mich ins Bett legen wie Duvicquet, um dem Eifer meiner Mitbürger auszuweichen. Meine Mitbürger haben mir ein sehr hübsches Ständchen gebracht. Ich frage mich, wie viele Dumme dazu gehören, um dieses Wort meine Mitbürger zu bilden, seit ich weiß, daß die Anführer dieser Begeisterung der Hauptstadt des Angoumois einige meiner Schulkameraden gewesen sind.

Wenn Du einige Zeilen über meinen Empfang unter den Pariser Neuigkeiten bringen wolltest, würdest Du meinen Ruhm hier noch um einige Zoll erhöhen. Ich könnte dann wenigstens dem Stockfisch zeigen, daß, wenn ich auch keine Freunde, so doch ein gewisses Ansehen in der Pariser Presse habe. Da ich noch auf keine meiner Hoffnungen verzichtet habe, werde ich Dir das vergelten. Wenn Du für irgendein Unternehmen einen schönen, tiefgründigen Artikel brauchen solltest, so habe ich genügend Zeit, einen auszudenken. Ich sage Dir nur noch ein Wort, lieber Freund: ich rechne auf Dich, so wie Du jederzeit rechnen kannst auf

Lucien von R.

P.S. Adressiere alles mit Eilpost, Poste restante

Dieser Brief, in dem Lucien wieder den Ton der Überlegenheit annahm, den sein Erfolg ihm innerlich gab, rief ihm Paris wieder in die Erinnerung. Nachdem er sechs Tage in der absoluten Ruhe der Provinz hingebracht hatte, kehrten seine Gedanken zu der guten Zeit seines Pariser Elends zurück; ein vages Bedauern stieg in ihm auf, eine ganze Woche lang dachte er an nicht viel anderes als an die Gräfin du Châtelet; er legte seinem Wiedererscheinen so viel Wichtigkeit bei, daß er das ganze Bangen der Ungewißheit verspürte, als er bei einbrechender Dunkelheit nach Houmeau hinunterging, um an der Abgabestelle nach den Paketen zu fragen, die er aus Paris erwartete, wie eine Frau, die ihre letzte Hoffnung auf eine Toilette gesetzt hat und daran verzweifelt, sie zu bekommen.

»O Lousteau! ich verzeihe dir all deinen Verrat«, sagte er bei sich, als er an der Form der Pakete sah, daß sie alles enthalten mußten, was er gewünscht hatte.

In der Hutschachtel fand er den folgenden Brief:

»Bei Florine.

Liebes Kind!

Der Schneider hat sich sehr gut benommen, doch wie Dein rückwärts gewandter Scharfblick richtig erraten hat: die Krawatten, der Hut, die seidenen Strümpfe haben unsere ganze Besorgnis aufgerüttelt, denn in unserer Börse gab es nichts aufzurütteln. Wir sagten mit Blondet: Man kann reich dabei werden, wenn man ein Geschäft gründet, wo die jungen Leute für billiges Geld finden, was sie brauchen. Denn wir zahlen schließlich sehr teuer, was wir anfangs gar nicht bezahlen. Der große Napoleon, der auf seinem Marsch nach Indien aus Mangel an einem paar Stiefel aufgehalten wurde, hat gesagt: Was leicht ist, geschieht nie! Es ging also alles glatt bis auf das Schuhwerk ... Ich sah Dich in Toilette ohne Hut! mit feiner Weste ohne Schuhe! und ich war schon drauf und dran, Dir ein paar indianische Mokassins zu schicken, die ein Amerikaner der Kuriosität halber Florine geschenkt hat. Florine hat einen Grundstock von vierzig Franken gegeben, mit denen wir für Dich spielten. Nathan, Blondet und ich sind so glücklich gewesen, da wir einmal nicht für uns selbst spielten, daß wir die alte Flamme von des Lupeaulx, die Maus, mit zum Soupieren nehmen konnten. Florine hat die Einkäufe besorgt; sie legt noch drei schöne Hemden bei. Nathan schickt Dir einen Stock; Blondet, der dreihundert Franken gewonnen hat, eine goldene Kette; die Maus macht Dir eine goldene Uhr zum Geschenk, die so groß ist wie ein Vierzigfrankenstück, aber leider nicht geht; sie hat sie von irgendeinem Schafskopf. Das Zeug rührt sich nicht, wie alles, was er an sich hatte, hat sie gesagt. Bixiou, der uns in den Rocher de Cancale nachgekommen ist, wollte der Sendung, die Dir Paris macht, noch eine Flasche Eau de Portugal beilegen. Unser erster Komiker sagte: Wenn das sein Glück machen kann, sei's drum! mit der tiefen Baßstimme und den Bourgeoisallüren, die er so gut kopiert. Dies alles, liebes Kind, beweist Dir, wie sehr man seine Freunde im Unglück liebt. Florine, der zu verzeihen ich schwach genug war, bittet Dich, uns einen Artikel über das letzte Buch von Nathan zu schicken. Lebwohl, mein Sohn! Ich kann Dich nur beklagen, daß Du wieder in das Nest zurückgekehrt bist, aus dem Du geschlüpft warst, als Du der Kamerad wurdest

Deines Freundes

Etienne L.«

»Die guten Jungen! Sie haben für mich gespielt«, sagte er ganz gerührt.

Er kam aus den ungesunden Ländern, die von jenen Dünsten erfüllt sind, die den Wohlgerüchen des Paradieses gleichen. In einem einförmigen Dasein ist die Erinnerung an Leiden ein undefinierbarer Genuß. Eva war starr vor Erstaunen, als ihr Bruder in seinen neuen Kleidern herunterkam; sie erkannte ihn nicht.

»So, ich kann jetzt in Beaulieu spazieren gehen,« sagte er; »man wird nicht von mir sagen: Er ist in Lumpen zurückgekommen! Da hast du eine Uhr, sie gehört mir; außerdem gleicht sie mir: sie ist auch aus dem richtigen Gang gekommen.«

»Was für ein Kind du bist! ...« sagte Eva. »Man kann dir über nichts böse sein.«

»Glaubst du denn, mein liebes Kind, daß ich mir das alles in der lächerlichen Absicht habe kommen lassen, um in den Augen Angoulêmes zu glänzen? Daraus mache ich mir gerade so viel!« sagte er und strich mit seinem Spazierstock, der einen goldenen Griff hatte, durch die Luft. »Ich will wieder gutmachen, was ich verdorben habe, und ich habe mich unter Waffen begeben.«

Der Erfolg Luciens als Modejüngling war der einzige wirkliche Triumph, den er erlangte, aber er war vollkommen. Der Neid löst die Zungen, die die Bewunderung erstarren macht. Die Frauen vernarrten sich in ihn, die Männer machten ihn schlecht, und er konnte singen, wie es in dem Lied heißt: Omein Rock, ich danke dir! Er gab in der Präfektur zwei Karten ab und machte Petit-Claud einen Besuch, traf ihn aber nicht zu Hause. Am folgenden Tage, an dem das Bankett stattfand, standen in allen Pariser Zeitungen unter der Rubrik »Angoulême« die folgenden Zeilen: »Angoulême. Die Rückkehr eines jungen Dichters, dessen erstes Auftreten so verheißungsvoll war, des Verfassers des Bogenschützen KarlsIX., des einzigen historischen Romans in Frankreich, der keine Nachahmung von Walter Scott ist und dessen Vorrede ein literarisches Ereignis bedeutet, ist durch eine Huldigung ausgezeichnet worden, die für Herrn von Rubempré wie für die Stadt gleich schmeichelhaft ist. Die Stadt hat sich beeilt, ihm zu Ehren ein patriotisches Bankett zu geben. Der kürzlich ernannte neue Präfekt ist der öffentlichen Kundgebung beigetreten, die den Dichter der Margueriten feiern soll, dessen Talent schon bei seinen ersten Proben von der Frau Gräfin du Châtelet so beifällig aufgenommen worden ist.«

Wenn in Frankreich einmal der erste Anstoß gegeben worden ist, so kann niemand mehr den Schwung aufhalten. Der Regimentsoberst stellte das Musikkorps. Der Hotelwirt der Glocke, dessen getrüffelte Puten in kostbaren Porzellangefäßen bis nach China verschickt werden, dieser berühmte Gastwirt des Houmeau, der das Mahl übernommen hatte, hatte seinen großen Saal mit Tüchern drapiert, auf denen Kränze von Lorbeeren sich mit Sträußen zu prächtiger Wirkung vereinten. Um fünf Uhr waren vierzig Personen, alle in feierlicher Toilette, hier versammelt. Eine Menschenmenge von einigen hundert Einwohnern, die hauptsächlich von der Musik angezogen worden war, repräsentierte die Mitbürgerschaft.

»Ganz Angoulême ist da!« sagte Petit-Claud, der sich ans Fenster setzte.

»Ich weiß nicht, was los ist«, sagte Postel zu seiner Frau, die erstaunt nach der Musik hörte. »Wie! der Präfekt, der Obersteuereinnehmer, der Oberst, der Direktor der Pulverfabrik, unser Deputierter, der Bürgermeister, der Direktor des Lyzeums, der Direktor der Gießerei von Ruelle, der Präsident, der königliche Prokurator, Herr Milaud, alle Behörden sind da! ...«

Als man sich zu Tische setzte, spielte die Militärmusik Variationen über die Melodie Heil dem König, Frankreich Heil! die nicht populär geworden ist. Es war fünf Uhr. Um acht Uhr gab ein Dessert von fünfundzwanzig Platten, das sich durch einen Olymp aus Zuckerwerk auszeichnete, auf dem eine Frankreich darstellende Figur aus Schokolade thronte, das Zeichen zu den Trinksprüchen.

»Meine Herren!« sagte der Präfekt und erhob sich: »Auf den König! ... die Legitimität! Verdanken wir nicht dem Frieden, den die Bourbonen uns gebracht haben, die Generation der Dichter und Denker, die den Händen Frankreichs das Zepter der Literatur sichert?! ...«

»Es lebe der König!« riefen die Gäste, unter denen die Ministeriellen in der Überzahl waren. Der ehrwürdige Direktor des Lyzeums erhob sich.

»Dem jungen Dichter,« sagte er, »dem Helden des Tages, der mit der Anmut und der Kunst eines Petrarca auf einem Gebiet, das Boileau so schwierig nannte, das Talent des Prosaschriftstellers vereinigt!«

»Bravo, Bravo!«

Der Oberst erhob sich.

»Meine Herren, dem Royalisten! Denn der Held dieses Festes hat den Mut gehabt, die guten Prinzipien zu verteidigen.«

»Bravo!« sagte der Präfekt, der den Ton für den Beifall angab.

Petit-Claud erhob sich.

»Alle Kameraden Luciens, dem Ruhm des Lyzeums von Angoulême, dem ehrwürdigen Direktor, der uns so teuer ist und dem wir den Tribut für den Anteil zollen, den er an unsern Erfolgen hat! ...«

Der alte Schuldirektor, der diesen Trinkspruch nicht vermutet hatte, wischte sich die Augen.

Lucien erhob sich, die tiefste Stille herrschte, und der Dichter erblaßte. In diesem Augenblick setzte ihm der alte Direktor, der zu seiner Linken saß, einen Lorbeerkranz auf. Man klatschte in die Hände. Lucien kamen Tränen in die Augen und in die Stimme.

»Er ist betrunken«, sagte der künftige königliche Prokurator von Nevers zu Petit-Claud. »Aber nicht vom Wein«, erwiderte der Advokat.

»Meine teuren Mitbürger, meine teuren Kameraden,« sagte Lucien endlich, »ich möchte ganz Frankreich zum Zeugen dieser Szene haben. Das ist die Art, wie man Männer erhebt und in unserem Lande große Werke und große Taten hervorruft. Aber wenn ich das Wenige bedenke, was ich getan habe, und die großen Ehren, die ich dafür empfange, so gerate ich in Verwirrung und muß es der Zukunft vorbehalten sein lassen, die Aufnahme, die Sie mir heute bereiten, zu rechtfertigen. Die Erinnerung an diesen Augenblick wird mir in neuen Kämpfen Kräfte verleihen. Gestatten Sie mir, daß ich Ihre Huldigungen auf diejenige übertrage, die meine erste Muse und Gönnerin war, und daß ich auch auf meine Geburtsstadt mein Glas erhebe und rufe: Es lebe die schöne Gräfin Sixtus du Châtelet und die edle Stadt Angoulême!«

»Er hat sich nicht schlecht aus der Affäre gezogen,« sagte der Prokurator und nickte zum Zeichen der Zustimmung mit dem Kopfe; »denn unsere Trinksprüche waren vorbereitet, und der seine ist improvisiert.«

Um zehn Uhr entfernten sich die Gäste in Gruppen. Als David Séchard die außergewöhnliche Musik hörte, sagte er zu Basine: »Was geht denn in Houmeau vor?«

»Man gibt Ihrem Schwager Lucien ein Fest ...« antwortete sie.

»Es hat ihm sicher leid getan, daß ich nicht dabei war!« meinte er.

Um Mitternacht begleitete Petit-Claud Lucien bis auf die Place du Mûrier. Dort sagte Lucien zu dem Advokaten: »Mein Lieber, unter uns gesagt, es geht auf Leben und Tod.«

»Morgen«, sagte der Advokat, »wird bei Frau von Senonches mein Heiratsvertrag mit ihrem Mündel, Fräulein de la Haye, unterzeichnet; mach mir das Vergnügen, hinzukommen. Frau von Senonches hat mich gebeten, dich aufzufordern, und du triffst dort die Präfektin, die sich gewiß über deinen Trinkspruch, von dem man ihr doch sicher erzählt, sehr geschmeichelt fühlt.«

»Ich hatte so meine Absichten dabei«, erwiderte Lucien.

»Du wirst David bestimmt retten!«

»Ich bin dessen sicher«, sagte der Dichter.

In diesem Augenblick tauchte wie durch Hexerei David auf. Das kam so. Er befand sich in einer recht schwierigen Lage: seine Frau verwehrte ihm streng, sowohl Lucien zu empfangen wie ihm seinen Zufluchtsort mitzuteilen, während Lucien ihm die zärtlichsten Briefe schrieb und ihm versicherte, er hätte in wenigen Tagen allen Schaden wieder gutgemacht. Nun hatte Fräulein Clerget David die beiden hier folgenden Briefe zugestellt und ihm gesagt, was das Fest, dessen Musik an sein Ohr drang, zu bedeuten hätte:

»Geliebter, tu, als ob Lucien nicht hier wäre; beunruhige Dich über nichts und präge Deinem lieben Kopf den Satz ein: unsere Sicherheit beruht ganz und gar darauf, daß Deine Feinde nicht wissen können, wo Du bist. Leider kann ich zu Kolb, Marion und Basine mehr Vertrauen haben als zu meinem Bruder. Ach! mein Bruder Lucien ist nicht mehr der unschuldige und zarte Dichter, als den wir ihn früher gekannt haben! Gerade weil er sich in Deine Angelegenheiten einmischen will und sich einredet, er müsse unsere Schulden bezahlen aus Stolz, mein David, fürchte ich ihn. Er hat von Paris schöne Anzüge und fünf Goldstücke in einer schönen Börse bekommen. Er hat sie zu meiner Verfügung gestellt, und wir leben von diesem Geld. Wir haben endlich einen Feind weniger: Dein Vater hat uns verlassen, und wir verdanken seine Abreise Petit-Claud, der die Absichten Vater Séchards gemerkt und sie sofort vereitelt hat, indem er ihm gesagt hat, Du würdest nichts mehr ohne ihn tun; er, Petit-Claud, ließe Dich nichts von Deiner Entdeckung ohne vorhergehende Zahlung von dreißigtausend Franken abtreten: die ersten fünfzehntausend Franken, um Dich schuldenfrei zu machen, und weitere fünfzehntausend, die Du auf alle Fälle, ob die Sache Erfolg hätte oder nicht, bekommen solltest. Petit-Claud ist mir ein Rätsel. Ich umarme Dich, wie eine Frau ihren unglücklichen Mann umarmt. Unserem kleinen Lucien geht es gut. Es ist seltsam, zu sehen, wie diese Blume mitten in unserem häuslichen Unglück aufblüht und gedeiht! Meine Mutter betet für Dich wie immer und küßt Dich so zärtlich wie

Deine Eva.«

Petit-Claud und Cointet hatten sich, wie man sieht, da sie die Bauernschlauheit des alten Séchard fürchteten, seiner entledigt, und das war ihnen um so leichter gelungen, als die Weinlese ihn nach Marsac rief.

Der Brief Luciens, der dem Evas beigeschlossen war, lautete so:

»Lieber David!

Alles geht gut. Ich bin von Kopf bis zu Fuß gewappnet; heute beginne ich den Feldzug; in zwei Tagen werde ich viel erreicht haben. Mit welcher Freude werde ich Dich umarmen, wenn Du frei und nicht mehr wegen meiner Schulden verfolgt bist! Aber das Mißtrauen, das meine Schwester und meine Mutter mir noch immer entgegenbringen, kränkt mich tödlich. Weiß ich nicht schon, daß Du Dich bei Basine verbirgst? Jedesmal, wenn Basine ins Haus kommt, bekomme ich Nachricht von Dir und Deine Antwort auf meine Briefe. Es ist überdies klar, daß die Schwester sich auf niemand als auf ihre Arbeitskollegin verlassen konnte. Heute werde ich sehr nahe bei Dir und sehr betrübt sein, daß Du nicht an dem Fest teilnehmen kannst, das man mir gibt. Die Eitelkeit von Angoulême hat mir einen kleinen Triumph eingebracht, der in wenigen Tagen völlig vergessen sein wird: wärst Du dabei, wäre Deine Freude die einzig aufrichtige. Wie auch immer, noch wenige Tage, und Du verzeihst alles dem, der jedem Ruhm der Welt vorzieht zu sein

Dein Bruder«

Lucien.«

Davids Herz wurde von diesen beiden Kräften, so ungleich sie waren, hin und her gezogen: er betete seine Frau an, und seine Freundschaft für Lucien hatte sich um so viel verringert, als er ihn weniger achten konnte. Aber in der Einsamkeit verwandelt sich die Kraft der Gefühle. Wenn jemand allein ist und von Gefühlen und Gedanken so wie David bestürmt wird, dann gibt er Stimmungen nach, gegen die er im gewöhnlichen Gang des Lebens gefeit wäre. Als er daher den Brief Luciens las und dazu die Fanfaren dieses unerwarteten Triumphes hörte, war er tief gerührt, darin die Reue ausgedrückt zu lesen, die er erwartet hatte. Die schönen Seelen vermögen in sich keinen Widerstand gegen diese Gefühlswallungen, die sie bei anderen für ebenso mächtig halten wie bei sich selbst. Es ist schon so: wenn der Krug voll ist, läuft er über ..., und so konnte gegen zwölf Uhr nachts Basine mit allen flehentlichen Bitten David nicht abhalten, Lucien aufsuchen zu wollen.

»Niemand«, sagte er zu ihr, »ist zu dieser Stunde in den Straßen Angoulêmes zu finden, man wird mich nicht sehen, man kann mich in der Nacht nicht verhaften; und sollte ich gesehen werden, kann ich mich noch immer des Mittels bedienen, das Kolb erfunden hat, um in mein Versteck zurückzukehren. Überhaupt ist es viel zu lange her, daß ich Frau und Kind nicht umarmt habe.«

Basine gab all diesen Gründen, die recht vernünftig klangen, nach und ließ David hinaus. Und so rief er in dem Augenblick »Lucien!« wo Lucien und Petit-Claud einander guten Abend sagten. Die beiden Brüder sanken sich schluchzend in die Arme.

Es gibt im Leben nicht viele solche Augenblicke. Lucien fühlte eine Freundschaft in sich einströmen, die fest und treu war, eine von denen, auf die man nicht hoffen kann und die man sich vorwirft getäuscht zu haben. David spürte das Bedürfnis, zu verzeihen. Dieser großmütige und edle Erfinder wollte vor allem Lucien ermahnen und die Wolken verscheuchen, die zwischen Schwester und Bruder getreten waren. Vor diesen Bedürfnissen des Gefühls waren alle Gefahren, die der Geldmangel erzeugt hatte, verschwunden.

Petit-Claud sagte zu seinem Klienten: »Gehen Sie nach Hause, benutzen Sie wenigstens Ihre Unvorsichtigkeit, umarmen Sie Frau und Kind ... und lassen Sie sich nicht sehen!« Wie schade! sagte Petit-Claud für sich, als er allein auf der Place du Mûrier stand. Wenn jetzt Cérizet da wäre ...

Als der Advokat so mit sich selbst sprach und den Bretterzaun entlang ging, der um den Platz herum angebracht war, wo sich heute der stolze Justizpalast erhebt, hörte er hinter sich ein Geräusch auf einem der Bretter, wie wenn einer mit dem Finger an eine Tür klopft.

»Ich bin es«, sagte Cérizet, dessen Stimme aus der Ritze zwischen zwei Brettern, die schlecht gefugt waren, hervorkam. »Ich habe David von Houmeau herkommen sehen. Ich argwöhnte endlich, wo er versteckt war, jetzt weiß ich es sicher und weiß, wo er zu erwischen ist; aber um ihm eine Falle zu stellen, ist es nötig, daß ich etwas von Luciens Projekten erfahre, und Sie müssen dafür sorgen, daß sie bei mir vorbeikommen! Bleiben Sie wenigstens unter irgendeinem Vorwand hier in der Nähe. Wenn David und Lucien kommen, führen Sie sie so, daß sie bei mir vorbeikommen; sie werden glauben, allein zu sein, und ich höre dann die letzten Worte, mit denen sie sich verabschieden.«

»Du bist ein Teufelskerl«, sagte Petit-Claud ganz leise.

»Zum Donner!« rief Cérizet, »was täte man nicht, um zu bekommen, was Sie mir versprochen haben.«

Petit-Claud verließ den Bretterzaun und ging auf der Place du Mûrier auf und ab, sah nach den Fenstern des Zimmers, wo die Familie beisammen war, und dachte an seine Zukunft, wie um sich Mut zu machen; denn die Gewandtheit Cérizets erlaubte ihm nun, den letzten Schlag zu führen. Petit-Claud war eine der durch und durch verschlagenen und verräterisch doppelzüngigen Naturen, die sich niemals vom Köder des Gegenwärtigen und von der Lockspeise irgendeiner momentanen Verbindung gefangen nehmen lassen, da sie den Wankelmut des menschlichen Herzens und die Strategie des Interessenkampfes kennen. Daher hatte er zuerst wenig auf Cointet gerechnet. Für den Fall, daß das Unternehmen mit seiner Verheiratung gescheitert wäre, ohne daß er das Recht gehabt hätte, den großen Cointet der Verräterei zu beschuldigen, hatte er sich schon gerüstet, ihm das Spiel zu verderben; aber seit seinem Erfolg im Hotel Bargeton spielte Petit-Claud ein offenes Spiel. Sein Plan, den er im Hinterhalt gehalten hatte und der nun unnütz geworden war, wäre für die politische Rolle, die er anstrebte, verhängnisvoll gewesen. Die Grundlage, auf der er seine künftige Macht hatte aufbauen wollen, war diese: Gannerac und einige Großkaufleute hatten angefangen, in Houmeau ein liberales Komitee zu bilden, das sich auf Grund der bestehenden Handelsbeziehungen mit den Führern der Opposition in Verbindung gesetzt hatte. Die Einsetzung des Ministeriums Villèle, das LudwigXVIII. als Sterbender akzeptiert hatte, war die Veranlassung zu einem Frontwechsel der Opposition geworden, die seit dem Tode Napoleons auf das gefährliche Mittel der Verschwörungen verzichtete. Die liberale Partei organisierte in allen Provinzen ihr System des gesetzlichen Widerstandes; sie war bestrebt, sich der Wählermassen zu bemächtigen, um durch die Überzeugung der Menge zu ihrem Ziel zu gelangen. Petit-Claud war als wütender Liberaler und Sprößling des Houmeau der Förderer, die Seele und der geheime Ratgeber der Opposition der Unterstadt, die sich von der Aristokratie der Oberstadt unterdrückt fühlte. Er war der erste, der auf die Gefahr hinwies, daß die Cointet für sich allein über die Presse im Departement der Charente verfügten, wo die Opposition ebenfalls ein Organ haben müßte, um nicht hinter andern Städten zurückzubleiben.

»Jeder von uns gebe Gannerac fünfhundert Franken, wir haben dann etliche zwanzigtausend Franken, um die Druckerei Séchard zu kaufen, deren Herren wir dann sind, indem wir dem Käufer ein Darlehen geben«, hatte Petit-Claud gesagt.

Der Advokat hatte diesen Gedanken vorgebracht, um seine doppelte Stellung gegenüber Cointet und Séchard zu verstärken, und er hatte natürlich seine Augen auf so eine Sorte Mensch wie Cérizet geworfen, um aus ihm den Mann zu machen, der der ergebene Diener der Partei sein sollte.

»Wenn du deinen alten Herrn entdecken und mir in die Hände spielen kannst,« hatte er zu Séchards früherem Faktor gesagt, »wird man dir zwanzigtausend Franken leihen, um seine Druckerei zu kaufen, und wahrscheinlich wirst du der Leiter eines Blattes werden. Also los!«

Petit-Claud war sich der Energie und Schlauheit eines Menschen wie Cérizet sicherer, als der Tätigkeit aller Doublons der Welt, und hatte so dem großen Cointet versprochen, Séchard würde verhaftet werden. Aber seitdem Petit-Claud die Hoffnung hegte, die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, sah er die Notwendigkeit voraus, den Liberalen den Rücken zu kehren, und dabei hatte er schon die Geister in Houmeau so gut bearbeitet, daß das Kapital, das zur Erwerbung der Druckerei gehörte, zusammengebracht war.

»Ach was!« sagte er sich, »Cérizet wird sich irgendein Preßvergehen zuschulden kommen lassen, und ich werde es benutzen, um zu zeigen, was ich kann ...«

Er ging zur Tür der Druckerei und sagte zu Kolb, der Posten stand: »Sage David, er soll die Stunde benutzen und fortgehen, und seid recht vorsichtig; ich gehe nach Hause, es ist ein Uhr.«

Als Kolb die Tür verließ, nahm Marion seinen Platz ein. Lucien und David kamen herunter, Kolb ging ihnen hundert Schritte voraus, und Marion folgte ihnen hundert Schritte hinterher. Als die beiden Brüder den Bretterzaun entlang gingen, sprach Lucien hitzig auf David ein.

»Mein Lieber,« sagte er zu ihm, »mein Plan ist überaus einfach; aber wie sollte ich vor Eva von ihm sprechen, da sie für solche Mittel nie ein Verständnis haben kann? Ich bin sicher, daß Louise im Grunde ihres Herzens ein Verlangen birgt, ich werde es wecken, ich will sie einzig und allein haben, um mich an diesem albernen Präfekten zu rächen. Wenn wir uns lieben, und wäre es nur für eine Woche, werde ich dafür sorgen, daß im Ministerium eine Unterstützung von zwanzigtausend Franken für dich erwirkt wird. Morgen soll ich dieses Weib in dem kleinen Boudoir wiedersehen, wo unsere Liebe begonnen hat und wo sich, wie Petit-Claud sagt, nichts verändert hat. Dort werde ich die Komödie spielen. Ich werde dir also übermorgen früh durch Basine eine Zeile schicken, woraus du erfährst, wie die Sache steht ... Wer weiß, vielleicht wirst du frei! Verstehst du jetzt, warum ich einen Anzug aus Paris brauchte? In Lumpen kann man nicht die Rolle des ersten Liebhabers spielen.«

Um sechs Uhr morgens war Cérizet bei Petit-Claud.

»Morgen mittag kann Doublon seinen Schlag vorbereiten; er kann unsern Mann fassen, ich bürge dafür,« sagte der Pariser zu ihm; »ich habe mir eine der Arbeiterinnen von Fräulein Clerget gesichert, verstehen Sie?«

Petit-Claud hörte Cérizets Plan an und eilte dann zu Cointet.

»Sorgen Sie dafür, daß heute abend Herr du Hautoy sich entschlossen hat, Françoise das bloße Eigentum seiner Güter ohne den Nießbrauch zu übertragen; binnen zwei Tagen unterzeichnen Sie einen Gesellschaftsvertrag mit Séchard. Ich heirate erst acht Tage nach dem Vertrage; wir halten uns also an die Bedingungen unsrer Abmachung: Zug um Zug. Aber wir müssen heute abend herausbekommen, was bei Frau von Senonches zwischen Lucien und der Gräfin du Châtelet vorgeht, darauf kommt alles an ... Wenn Lucien die Hoffnung hat, bei der Präfektin Glück zu haben, gehört David mir.«

»Sie werden, glaube ich, Justizminister«, sagte Cointet.

»Und warum nicht? Herr von Peyronnet ist es ja auch!« sagte Petit-Claud, der die liberale Haut noch nicht ganz abgestreift hatte.

Ihrem zweifelhaften Personenstande verdankte es Fräulein de la Haye, daß bei der Unterzeichnung ihres Ehevertrags fast der ganze Adel von Angoulême vertreten war. Die Armut dieses künftigen Haushalts Françoise hatte nicht einmal den üblichen Brautkorb bekommen belebte das Interesse, das die Welt zu bezeigen liebt; denn es ist mit der Wohltätigkeit wie mit den Triumphen: man übt gern eine Barmherzigkeit, die der Eitelkeit wohltut. So hatten die Marquise von Pimentel, die Gräfin du Châtelet, Herr von Senonches und zwei oder drei Stammgäste des Hauses Françoise ein paar Geschenke gemacht, von denen man in der Stadt viel sprach. Diese hübschen Kleinigkeiten, zusammen mit der Aussteuer, die Zéphirine seit einem Jahre vorbereitet hatte, mit den Schmucksachen des Paten und den üblichen Geschenken des Bräutigams, trösteten Françoise und riefen die Neugier mehrerer Mütter hervor, die ihre Töchter mitgebracht hatten. Petit-Claud und Cointet hatten schon bemerkt, daß die Adligen von Angoulême sie beide als eine unvermeidliche Notwendigkeit auf ihrem Olymp duldeten: der eine war der Vermögensverwalter, der Gegenvormund von Françoise, der zweite war zur Unterzeichnung des Ehevertrags notwendig wie der Gehängte am Galgen; aber am Tage nach der Ehe hätte zwar Frau Petit-Claud noch das Recht, zu ihrer Patin zu kommen, doch für den Gatten könnte es schwer werden, Zutritt zu erlangen; und er nahm sich vor, sich aus dieser hochmütigen Welt nicht vertreiben zu lassen. Der Advokat schämte sich seiner armen Verwandten und hatte daher seine Mutter, die nach Mansle übersiedelt war, veranlaßt, dort zu bleiben und zu sagen, sie wäre krank, und ihre Zustimmung schriftlich zu geben. Petit-Claud, der recht gedemütigt gewesen wäre, bei dem Akt ohne Verwandte, ohne Gönner, ohne Unterschrift von seiner Seite zu bleiben, war also sehr glücklich, in dem berühmten Manne einen Freund, mit dem man sich sehen lassen konnte und den die Gräfin wiederzusehen wünschte, mitzubringen. Und so nahm er Lucien in seinen Wagen. Für diesen denkwürdigen Abend hatte der Dichter eine Toilette gemacht, die ihm eine unbestreitbare Überlegenheit über alle Männer geben mußte. Frau von Senonches hatte überdies angekündigt, daß der Held des Tages kommen würde; und die Wiederbegegnung zwischen zwei Liebenden, die in Unfrieden auseinandergegangen sind, ist eine Szene, auf die man in der Provinz besonders erpicht ist. Lucien war ein Salonlöwe geworden: man sagte, er sei so schön, so verändert, so wunderbar geworden, daß die Frauen des aristokratischen Angoulême begierig waren, ihn wiederzusehen. Nach der Mode jener Zeit, der man den Übergang von der alten Kniehose zu den häßlichen Beinkleidern unserer Tage verdankt, trug er enganliegende schwarze Hosen. Die Männer ließen zur großen Verzweiflung der Mageren oder schlecht Gebauten ihren Körperbau noch sehen; und der Luciens war der eines Apoll. Seine grauen, durchbrochenen Seidenstrümpfe, seine eleganten Schuhe, seine schwarze Atlasweste, seine Halsbinde, alles stand ihm wundervoll und machte den Eindruck, als ob es zu ihm gehörte. Seine blonden, wallenden Haare hoben sich schön von seiner weißen Stirne ab, auf die mit entzückender Anmut die Locken fielen. Seine strahlenden Augen blickten stolz und kühn. Seine kleinen Frauenhände, die unter dem Handschuh noch schön waren, brauchten sich nicht enthüllt zu zeigen. Er ahmte in seiner Haltung Herrn von Marsay nach, den berühmten Pariser Stutzer, hielt in der einen Hand Stock und Hut, die er nicht ablegte, und machte mit der andern hin und wieder eine Geste, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. Lucien hatte den Wunsch, nach dem Beispiel der berühmten Männer, die sich aus falscher Bescheidenheit unter dem Tor von Saint-Denis bücken möchten, unbemerkt in den Salon zu treten. Aber Petit-Claud, der nur den einen Freund hatte, verdarb ihm das. Fast pomphaft führte er Lucien durch die ganze Gesellschaft bis zu Frau von Senonches. Als der Dichter so hindurchschritt, hörte er Gemurmel, durch das er früher den Kopf verloren hätte, das ihn aber jetzt kalt ließ; er war sich sicher, daß er allein so viel wert war wie der ganze Olymp von Angoulême.

»Gnädige Frau,« sagte er zu Frau von Senonches, »ich habe schon meinen Freund Petit-Claud, der aus dem Holze ist, aus dem man Justizminister schnitzt, beglückwünscht, zu Ihnen zu gehören, wie schwach auch das Band zwischen einer Patin und ihrem Patenkind sein mag.« Das wurde mit einer Miene gesagt, die einen gewissen spöttischen Ausdruck hatte, was die Frauen, die zuhörten, obwohl sie so taten, als ob sie sich nicht um die Szene kümmerten, wohl bemerkten. »Aber ich für mein Teil«, fuhr er fort, »muß einen Umstand froh begrüßen, der mir erlaubt, Ihnen meine Huldigungen darzubringen.«

Dies wurde ohne Verlegenheit und mit der Haltung eines großen Herrn gesagt, der bei kleinen Leuten zu Besuch ist. Lucien warf, während er die verwirrte Antwort, die ihm Zéphirine gab, anhörte, einen Siegerblick über den Salon, um seine Wirkungen in ihm vorzubereiten. Dabei konnte er mit Grazie und fein abgestuftem Lächeln Francis du Hautoy und den Präfekten begrüßen, die ihm dankten, und schließlich ging er zu Frau du Châtelet, indem er so tat, als ob er sie jetzt erst bemerkte. Diese Begegnung war so sehr das Ereignis des Abends, daß der Ehevertrag, unter den die hervorragenden Personen ihre Unterschrift setzen sollten, zu welchem Zwecke sie bald vom Notar, bald von Françoise ins Schlafgemach geleitet wurden, darüber vergessen wurde. Lucien ging mit ein paar Schritten auf Louise von Nègrepelisse zu, und dann sagte er mit der pariserischen Anmut, nach der sie sich seit ihrer Rückkehr gesehnt hatte, ziemlich laut zu ihr: »Frau Gräfin, verdanke ich Ihnen die Einladung, die mir das Vergnügen verschafft, morgen zum Diner in der Präfektur zu sein?«

»Sie verdanken sie nur Ihrem Ruhme«, erwiderte Louise trocken; sie war etwas betroffen über die angriffslustige Fassung des Satzes, den Lucien sich ausgedacht hatte, um den Hochmut seiner früheren Freundin zu kränken.

»Oh, Frau Gräfin,« sagte Lucien und setzte dabei eine Miene auf, die zugleich fein und herablassend war, »es ist mir unmöglich, Ihnen den Mann ins Haus zu bringen, wenn er bei Ihnen in Ungnade steht.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich ab, um den Bischof, den er jetzt eben zu gewahren schien, sehr respektvoll zu grüßen.

»Euer Gnaden waren fast prophetisch,« sagte er in überaus verbindlichem Tone, »und ich will versuchen, daß Sie es ganz und gar werden mögen. Ich schätze mich glücklich, heute abend hier zu sein, da ich Sie begrüßen und Ihnen meine Verehrung aussprechen darf.«

Lucien verwickelte den Bischof in eine Unterhaltung, die zehn Minuten dauerte. Alle Frauen sahen Lucien wie eine wunderbare Erscheinung an. Seine unerwartete Dreistigkeit hatte Frau du Châtelet sprachlos gemacht. Sie sah, wie Lucien Gegenstand der Bewunderung aller Frauen war; sie folgte von Gruppe zu Gruppe dem Bericht, den jede der anderen über die Worte, die sie gewechselt, ins Ohr flüsterte, wonach Lucien sie wie auf den Mund geschlagen und eine Miene gemacht hätte, als ob er sie verachtete. Ihr Herz zog sich vor gekränkter Eigenliebe zusammen.

›Wenn er nach diesem Wort nicht in die Präfektur käme, was für ein Skandal wäre das! dachte sie. Woher kommt ihm dieser Stolz? Sollte sich Fräulein des Touches in ihn verliebt haben? ... Er ist so schön! Es heißt, daß sie nach dem Tode der Schauspielerin in Paris zu ihm geeilt sei! ... Vielleicht ist er hierher gekommen, um seinen Schwager zu retten, und befand sich in Mansle nur durch einen Zufall, wie er auf der Reise vorkommen kann, hinter unserer Kalesche. An jenem Morgen hat Lucien Sixtus und mir einen seltsamen Blick zugeworfen.

So gingen Louise tausend Gedanken durch den Kopf, und zum Unglück für sie sah sie, während sie sich ihnen hingab, immer auf Lucien, der mit dem Bischof plauderte, als wäre er der König des Salons: er grüßte niemanden und wartete, bis man zu ihm kam, sah sich mit einem mannigfach abgestuften Ausdruck und mit einer heiteren Leichtigkeit überall um, die des Herrn von Marsay, seines Vorbildes, würdig gewesen wäre. Er verließ den Bischof nicht einmal, um Herrn von Senonches zu begrüßen, der ganz in seiner Nähe stand.

Nach zehn Minuten hielt es Louise nicht mehr aus. Sie erhob sich, trat auf den Bischof zu und sagte zu ihm: »Womit unterhält man Sie, Monseigneur, daß Sie so häufig lächeln?«

Lucien trat einige Schritte zurück, um Frau du Châtelet diskret mit dem Prälaten allein zu lassen.

»Ah, Frau Gräfin, der junge Mann hat viel Geist! ... Er hat mir auseinandergesetzt, wie er Ihnen all seine Kraft verdankt ...«

»Ich bin nicht undankbar, Frau Gräfin, ich nicht!« sagte Lucien und warf der Gräfin einen vorwurfsvollen Blick zu, der sie entzückte.

»Verständigen wir uns«, sagte sie und berief Lucien mit einem Wink ihres Fächers an ihre Seite. »Kommen Sie mit Monseigneur hier herein! ... Seine Gnaden soll unser Richter sein.«

Und sie wies auf das Boudoir und führte den Bischof hinein.

»Sie läßt Monseigneur ein kurioses Handwerk treiben«, sagte eine Dame aus dem Lager der Chandour so laut, daß es gehört werden konnte.

»Unser Richter!« sagte Lucien und blickte nacheinander auf den Prälaten und die Präfektin; »gibt es denn also hier einen Schuldigen?«

Louise von Nègrepelisse setzte sich auf das Kanapee ihres früheren Boudoirs. Sie ließ Lucien und den Bischof links und rechts von ihr Platz nehmen und fing an zu sprechen. Lucien erwies seiner früheren Geliebten die Ehre, die Überraschung und das Glück, nicht zuzuhören. Er hatte die Haltung, die Gesten der Pasta im Tankred, wie sie sagt: ›O patria!‹ Seine Mienen schienen die berühmte Kavatine del Rizzo zu singen. Und schließlich machte der Schüler Coralies es möglich, daß ihm ein paar Tränen in die Augen traten.

»Ach, Louise, wie habe ich dich geliebt!« sagte er ihr in dem Augenblick, wo er sah, daß seine Tränen von der Gräfin gesehen worden waren, ins Ohr, ohne sich um den Prälaten oder das Gespräch zu kümmern.

»Trocknen Sie Ihre Tränen, oder Sie richten mich hier in diesem Boudoir noch einmal zugrunde«, sagte sie und beugte sich so nah zu ihm hinüber, daß der Bischof betreten war.

»Und es ist genug mit einem Mal«, versetzte Lucien lebhaft. »Dieses Wort der Cousine der Marquise d'Espard müßte alle Tränen einer Magdalena trocknen. Mein Gott! ich habe für einen Augenblick meine Erinnerungen, meine Illusionen, meine zwanzig Jahre wiedergefunden, und Sie wollen sie mir ...«

Der Bischof stand rasch auf und ging in den Salon zurück. Er sah ein, daß seine Würde zwischen diesem Paare gefährdet werden könnte. Alle ließen absichtlich die Präfektin und Lucien allein in dem Boudoir. Aber eine Viertelstunde später trat Sixtus, dem die Reden, das Kichern und die Art, wie die Damen sich immer wieder dem Eingang zum Boudoir näherten, mißfielen, mit einer mehr als bekümmerten Miene hinein und fand Lucien und Louise in sehr angeregtem Gespräch.

»Du kennst«, sagte Sixtus seiner Frau ins Ohr, »Angoulême besser als ich, möchtest du dich nicht auf die Frau Präfektin und auf die Regierung besinnen?«

»Mein Lieber,« sagte Louise und sah ihren verantwortlichen Redakteur mit einem solchen Hochmut von oben bis unten an, daß er zitterte, »ich spreche mit Herrn von Rubempré von Dingen, die wichtig für dich sind. Es handelt sich darum, einen Erfinder zu retten, der zum Opfer der niedrigsten Ränke ausersehen ist, und du mußt uns dabei helfen ... Was diese Damen angeht, und was sie von mir denken, so sollst du sehen, was ich tue, damit das Gift auf ihren Zungen gefriert.«

Sie ging, auf Luciens Arm gestützt, aus dem Boudoir und führte ihn zur Unterzeichnung des Ehevertrags. Mit dem ganzen Hochmut der großen Dame rauschte sie an seinem Arm durch den Salon.

»Unterschreiben wir zusammen«, sagte sie und reichte Lucien die Feder.

Lucien ließ sich von ihr die Stelle zeigen, wo sie unterschreiben würde, damit ihre Unterschriften nebeneinander zu stehen kämen.

»Herr von Senonches, hätten Sie Herrn von Rubempré noch erkannt?« sagte die Gräfin und zwang den anmaßenden Jägersmann, Lucien zu begrüßen.

Sie führte Lucien in den Salon und veranlaßte ihn, sich zwischen sie und Zéphirine auf das gefürchtete Kanapee in der Mitte des Raumes zu setzen. Dann begann sie, wie eine Königin auf ihrem Thron, zunächst mit leiser Stimme eine lebhafte Unterhaltung, an der sich einige ihrer alten Freunde und mehrere Frauen, die ihr den Hof machten, beteiligten. Bald wurde Lucien der Held eines Kreises, der sich um ihn bildete, die Gräfin brachte ihn auf das Leben von Paris zu sprechen, das er mit unglaublichem Witz satirisch darstellte. Er streute Anekdoten über die Berühmtheiten ein und verteilte wahre Leckerbissen von der Art, auf die die Provinzialen so erpicht sind. Man bewunderte den Geist, wie man vorher den Mann bewundert hatte. Die Frau Gräfin sah so beglückt drein, sie spielte so gut die Frau, die über ihr Werkzeug entzückt ist, sie replizierte ihm so geschickt, sie suchte mit so kompromittierenden Blicken Anerkennung für ihn, daß mehrere Frauen anfingen, in der gleichzeitigen Rückkehr Luciens und Louisens eine tiefe Liebe sehen zu wollen, die über irgendein doppeltes Mißverständnis den Sieg davongetragen hätte. Ein Ärger hätte vielleicht zu der unseligen Heirat mit Châtelet geführt, gegen die jetzt der Rückschlag gekommen wäre.

»Also«, sagte Louise um ein Uhr morgens leise zu Lucien, ehe sie sich erhob, »auf übermorgen. Wollen Sie recht pünktlich sein.«

Die Präfektin verabschiedete sich von Lucien, indem sie ihm überaus freundschaftlich zunickte, und sagte zum Grafen Sixtus, der ihren Hut holte, ein paar Worte.

»Wenn das, was meine Frau mir gesagt hat, wahr ist, lieber Lucien, dann zählen Sie auf mich«, sagte der Präfekt, als er später seiner Frau folgte, die, wie es in Paris üblich ist, ohne ihn weggegangen war. »Von heute abend an kann sich Ihr Schwager als frei betrachten.«

»Der Herr Graf ist mir das wohl schuldig«, erwiderte Lucien lächelnd.

»Nun haben wir verspielt«, sagte Cointet dem Petit-Claud, der Zeuge dieser Verabschiedung war, ins Ohr.

Petit-Claud war durch Luciens Erfolg wie vor den Kopf gestoßen und durch den Glanz seines Geistes und durch die Anmut, die er entwickelte, geradezu verblüfft. Er sah auf Françoise de la Haye und las auf ihren Mienen die Bewunderung für Lucien; sie schien ihrem Geliebten zu sagen: »Sei wie dein Freund.«

Ein Strahl der Freude zeigte sich auf Petit-Clauds Gesicht.

»Das Diner des Präfekten ist erst übermorgen; wir haben noch einen Tag Zeit, ich bürge für alles.«

»Nun, lieber Freund,« sagte Lucien um zwei Uhr morgens zu Petit-Claud, als sie zu Fuß nach Hause gingen, »ich kam, sah und siegte! In ein paar Stunden wird Séchard ein glücklicher Mann sein.«

›Nun weiß ich alles, was ich brauche, dachte Petit-Claud. »Ich dachte, du wärest bloß ein Dichter, und du bist auch ein Weltmann, das heißt, noch einmal ein Dichter sein«, antwortete er dann und schüttelte Lucien die Hand zum letztenmal.

»Liebe Eva,« sagte Lucien und weckte seine Schwester, »gute Nachricht! In einem Monat hat David keine Schulden mehr!«

»Wieso?«

»Nun, siehst du, Frau du Châtelet trug unter ihrem Kleide meine alte Louise; sie liebt mich mehr als je und läßt durch ihren Mann einen Bericht ans Ministerium über unsere Entdeckung machen! So haben wir also nur noch einen Monat zu leiden, die Zeit, in der ich mich an dem Präfekten rächen und ihn zum glücklichsten Ehemann machen will.«

Eva glaubte noch zu träumen, als sie ihren Bruder so reden hörte.

»Als ich den kleinen grauen Salon wiedersah, in dem ich vor zwei Jahren wie ein Kind gezittert habe, als ich diese Möbel, die Gemälde und die Gesichter sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Wie Paris einem einen andern Kopf aufsetzt!«

»Ist das ein Glück?« fragte Eva, die endlich ihren Bruder zu verstehen anfing.

»Gute Nacht, du schläfst noch; morgen beim Frühstück reden wir weiter«, antwortete Lucien.

Cérizets Plan war überaus einfach. Obwohl er zu dem Rüstzeug gehört, dessen sich die Gerichtsvollzieher in der Provinz bedienen, um ihre Schuldner zu packen, und obwohl sein Erfolg im allgemeinen zweifelhaft ist, mußte er diesmal gelingen; denn er beruhte ebensosehr auf der Kenntnis der Charaktere Luciens und Davids wie auf ihren Hoffnungen. Unter den jungen Arbeiterinnen, deren Don Juan der im Augenblick in außerordentlichen Diensten beschäftigte Faktor der Cointet war und die er beherrschte, indem er eine gegen die andere ausspielte, befand sich eine Plätterin von Basine Clerget, ein Mädchen, das fast ebenso schön war wie Frau Séchard. Sie hieß Henriette Signol, und ihre Eltern waren kleine Winzer, die auf einem Gut, zwei Meilen von Angoulême, an der Straße nach Saintes wohnten. Die Signol waren, wie alle Landleute, nicht reich genug, um ihr einziges Kind bei sich zu behalten; sie hatten sie also dazu bestimmt, in einen Dienst zu treten, das heißt Zofe zu werden. In der Provinz muß eine Zofe waschen und plätten können. Frau Prieur, deren Nachfolgerin Basine wurde, stand in so gutem Rufe, daß die Signol ihr ihre Tochter in die Lehre gaben und Kost und Logis bezahlten. Frau Prieur war eine von den alten Dienstherrinnen, die in der Provinz an ihren Schutzbefohlenen Mutterstelle vertreten. Sie lebte mit ihren Lehrmädchen, als ob sie ihre Töchter wären, führte sie zur Kirche und überwachte sie mit Sorgfalt. Henriette, eine schöne, schlanke, kräftige Brünette mit kühnem Blick und starkem, langem Haar, hatte eine lichte Gesichtsfarbe wie die Töchter des Südens, licht wie eine Magnolie. So war Henriette eins der ersten Wäschermädchen, die Cérizet ins Auge faßte; aber da sie die Tochter ehrbarer Landleute war, ergab sie sich erst, als die Eifersucht, das schlechte Beispiel und das verführerische Wort: »Ich heirate dich!« das Cérizet ihr gesagt hatte, als er zweiter Faktor bei der Firma Cointet geworden war, sie übertölpelt hatten. Als der Pariser erfuhr, daß die Signol für etliche zehn- bis zwölftausend Franken Weinberge und ein recht wohnliches Häuschen hatten, beeilte er sich, dafür zu sorgen, daß Henriette nicht die Frau eines andern werden konnte. So weit war es mit der Liebe der schönen Henriette und dem jungen Cérizet gediehen, als Petit-Claud ihm davon sprach, er sollte Besitzer der Druckerei Séchard werden, wobei er ihm eine Art stiller Teilhaberschaft mit einer Beteiligung von zwanzigtausend Franken in Aussicht stellte, die der Halfter werden sollte, an dem sie ihn hielten. Diese Zukunft blendete den Faktor und verdrehte ihm den Kopf. Fräulein Signol schien ihm für seinen Ehrgeiz ein Hindernis, und er vernachlässigte das arme Kind. Henriette klammerte sich in ihrer Verzweiflung um so enger an den jungen Faktor der Cointet, als er sie verlassen zu wollen schien. Als der Pariser entdeckte, daß David bei Fräulein Clerget versteckt war, änderte er seine Absichten mit Henriette, aber nicht sein Verhalten; denn er nahm sich vor, die Art Wahnsinn, die ein Mädchen befällt, wenn sie, um ihre Schande zu verbergen, ihren Verführer heiraten muß, sich zunutze zu machen. Am Morgen des Tages, an dem Lucien seine Louise wiedererobern sollte, teilte Cérizet Henriette das Geheimnis Basinens mit und sagte ihr, ihr Glück und ihre Verheiratung hingen von der Entdeckung des Ortes ab, wo David versteckt war. Nachdem Henriette so weit unterrichtet war, machte es ihr keine Mühe, herauszubekommen, daß der Buchdrucker nur in dem Ankleidezimmer von Fräulein Clerget sein konnte; sie glaubte, nicht im geringsten etwas Schlimmes getan zu haben, als sie sich zu dieser Spionage hergab, aber Cérizet hatte sie mit dieser ersten Beihilfe schon in seinen Verrat verwickelt.

Lucien schlief noch, als Cérizet, der das Ergebnis des Abends in Erfahrung bringen wollte, bei Petit-Claud den Bericht der wichtigen kleinen Ereignisse vernahm, die Angoulême in Aufruhr bringen mußten.

»Hat Ihnen Lucien seit seiner Rückkehr schon irgend etwas geschrieben?« fragte der Pariser, der zum Zeichen, daß er mit dem Bericht des Advokaten zufrieden war, mit dem Kopf nickte.

»Weiter habe ich nichts«, erwiderte der Anwalt und gab ihm einen Brief, in dem Lucien auf dem Briefpapier, dessen sich seine Schwester bediente, ein paar Zeilen geschrieben hatte.

»Also gut,« sagte Cérizet, »zehn Minuten vor Sonnenuntergang soll Doublon am Palet-Tor im Hinterhalt liegen, er soll seine Gendarmen verstecken und seine Leute verteilen: sie sollen unsern Mann haben.«

»Bist du der Sache, die nun dir überlassen bleibt, sicher?« fragte Petit-Claud und sah Cérizet forschend an.

»Ich verlasse mich auf den Zufall,« erwiderte Cérizet mit einem Grinsen, das an die Zeit erinnerte, wo er noch der Pariser Gassenjunge gewesen war; »aber das ist ein komischer Herr, er mag die ehrlichen Leute nicht.«

»Es muß gelingen«, sagte der Anwalt trocken.

»Ich werd es schon recht machen«, erwiderte Cérizet. »Sie haben mich in diesen Schmutzhaufen gestoßen, Sie können mir schon ein paar Scheine zum Abtrocknen geben ... Aber hören Sie,« sagte der Pariser, der auf dem Gesicht des Advokaten einen Ausdruck wahrnahm, der ihm nicht gefallen wollte, »wenn Sie mich betrogen haben, wenn Sie mir nicht binnen acht Tagen die Druckerei kaufen: wissen Sie, Sie hinterlassen dann eine junge Witwe«, sagte er leise und warf ihm einen tödlichen Blick zu.

»Wenn wir David um sechs Uhr im Gefängnis haben, dann sei um neun Uhr bei Herrn Gannerac, und da wird dein Geschäft in Ordnung gebracht«, antwortete der Advokat im Tone der Unumstößlichkeit.

»Abgemacht. Sie sollen richtig bedient werden, Meister«, sagte Cérizet.

Cérizet verstand schon die Kunst, die heute die Interessen des Fiskus in Gefahr bringt, aus dem Papier Tinte zu entfernen. Er entfernte die vier Zeilen, die Lucien geschrieben hatte, und schrieb an ihrer Stelle folgende, wobei er die Schrift mit einer Vollendung nachahmte, die ein trostloses Licht auf die Zukunft warf, die diesem Faktor bevorstand:

»Lieber David! Du kannst ohne Furcht zum Präfekten gehen, Deine Sache ist in Ordnung; und überdies kannst Du zu dieser Stunde ausgehen, ich komme Dir entgegen, um Dir zu erklären, wie Du Dich dem Präfekten gegenüber zu verhalten hast.

Dein Bruder

Lucien.«

Gegen zwölf Uhr schrieb Lucien einen Brief an David, in dem er ihm den Erfolg des Abends mitteilte, ihn der Protektion des Präfekten versicherte, der, sagte er, noch heute einen Bericht über die Entdeckung, für die er begeistert sei, ans Ministerium machte. In dem Augenblick, in dem Marion Fräulein Basine unter dem Vorwand, ihr die Hemden Luciens zum Waschen zu geben, diesen Brief brachte, holte Cérizet, dem Petit-Claud gesagt hatte, daß dieser Brief wahrscheinlich kommen würde, Fräulein Signol ab und ging mit ihr am Ufer der Charente spazieren. Es gab ohne Zweifel einen Kampf, in dem die Ehrenhaftigkeit Henriettens sich lange wehrte, denn der Spaziergang dauerte zwei Stunden. Es stand nicht nur das Interesse eines Kindes, sondern noch eine ganze glückliche Zukunft, ein Vermögen auf dem Spiel; und was Cérizet verlangte, war eine Kleinigkeit; er hütete sich übrigens wohl, ein Wort von dem verlauten zu lassen, was die Kleinigkeit zur Folge haben würde. Nur der außerordentlich hohe Preis, der für diese Kleinigkeit bezahlt werden sollte, schreckte Henriette. Trotzdem setzte es Cérizet schließlich bei seiner Geliebten durch, daß sie sich seinem Kriegsplan zur Verfügung stellte. Um fünf Uhr sollte Henriette weggehen, und bei der Rückkehr sollte sie Fräulein Clerget sagen, Frau Séchard lasse sie bitten, sofort zu ihr zu kommen. Dann sollte sie eine Viertelstunde nach Basinens Weggehen hinaufgehen, an die Kammertür pochen und David den gefälschten Brief von Lucien geben. Was weiter kommen würde, überließ Cérizet dem Zufall.

Zum erstenmal seit über einem Jahre fühlte Eva den eisernen Reif, mit dem die Not sie umklammerte, lockerer werden. Sie faßte endlich Hoffnung. Auch sie wollte nun ihres Bruders froh werden, sich am Arm des Mannes zeigen, der in seiner Vaterstadt gefeiert, von den Frauen angebetet, von der stolzen Gräfin du Châtelet geliebt wurde. Sie zog sich schön an und wollte nach dem Essen am Arm ihres Bruders in Beaulieu spazieren gehen. Um diese Stunde ergeht sich da im Monat September ganz Angoulême.

»Oh! das ist ja die schöne Frau Séchard«, sagten einige Stimmen, als man Eva sah.

»Ich hätte das nie von ihr gedacht«, sagte eine Frau.

»Der Mann versteckt sich, die Frau zeigt sich«, sagte Frau Postel so laut, daß die arme Frau es hörte.

»Oh! gehen wir nach Hause, ich hatte unrecht«, sagte Eva zu ihrem Bruder.

Einige Minuten nach Sonnenuntergang drang von der Treppe, die nach Houmeau hinabführt, ein Lärm her, wie ihn eine Menschenansammlung hervorbringt. Lucien und seine Schwester wurden neugierig und wandten sich dahin, denn sie hörten, wie einige Menschen, die von Houmeau kamen, so untereinander sprachen, als ob irgendein Verbrechen aufgedeckt worden wäre.

»Wahrscheinlich ist es ein Dieb, den man verhaftet hat ... er ist leichenblaß«, sagte ein Vorübergehender zu den Geschwistern, als sie zu der immer größer werdenden Menge hineilten.

Weder Lucien noch seine Schwester hatten die geringste Ahnung. Sie betrachteten die etlichen dreißig Kinder und alten Weiber, die Arbeiter, die von ihrer Werkstatt kamen, wie sie vor den Gendarmen hergingen, deren bunte Hüte aus der Hauptgruppe hervorglänzten. Diese Gruppe, der eine Menge von ungefähr hundert Menschen folgte, näherte sich wie eine Gewitterwolke.

»Ach!« rief Eva, »mein Mann!«

»David!« schrie Lucien.

»Seine Frau!« flüsterte die Menge und wich zurück.

»Was hat dich denn dazu gebracht, daß du ausgingst?« fragte Lucien.

»Dein Brief!« antwortete David, der leichenblaß war.

»Ich wußte es!« rief Eva und fiel ohnmächtig um.

Lucien richtete seine Schwester auf, und zwei Männer halfen ihm, sie nach Hause zu tragen, wo Marion sie zu Bett brachte. Kolb stürzte fort, um einen Arzt zu holen. Bei der Ankunft des Doktors war Eva noch nicht wieder zu sich gekommen. Lucien mußte jetzt seiner Mutter gestehen, daß er die Schuld an Davids Verhaftung trüge, denn er konnte sich das Mißverständnis, das der falsche Brief hervorgerufen hatte, nicht erklären. Lucien empfing einen flammenden Blick seiner Mutter und sah darin ihren Fluch; er stieg in sein Zimmer hinauf und schloß sich ein.

Wenn man den folgenden Brief liest, den Lucien in der Nacht schrieb, langsam, sich immer wieder unterbrechend, Satz für Satz einzeln hingeworfen, wird man sich eine Vorstellung von der seelischen Erschütterung machen, in der er sich befand.

»Meine geliebte Schwester!

Wir haben uns jetzt zum letztenmal gesehen. Mein Entschluß ist unwiderruflich. Höre: in vielen Familien gibt es einen Unheilvollen, der für seine Angehörigen wie eine Krankheit ist. So einer bin ich für Euch. Diese Bemerkung stammt nicht von mir, sondern von einem Manne, der viel von der Welt gesehen hat. Wir waren eines Abends in einem Kreis von Freunden im Rocher de Cancale zum Souper. Unter den tausend Späßen, die hin und her gingen, machte dieser Diplomat die Bemerkung, das und das junge Mädchen, von der man sich wunderte, daß sie nicht heiratete, wäre sterblich verliebt in ihren Vater. Und dann setzte er uns seine Theorie über die Familienkrankheiten auseinander. Er erklärte uns, wie ohne diese Mutter dieses Haus glücklich gewesen wäre, wie jener Sohn seinen Vater zugrunde gerichtet hätte, wie wiederum ein Vater die Zukunft und das Ansehen seiner Kinder zerstört hätte. Obwohl dieses Gesellschaftsprinzip lachend erörtert wurde, war es doch binnen zehn Minuten mit so vielen Beispielen belegt, daß ich ganz betroffen war. Diese Wahrheit entschädigte für all die verrückten, aber witzig bewiesenen Paradoxe, mit denen die Journalisten sich untereinander amüsieren, wenn sich niemand findet, der mystifiziert werden kann. Ich nun bin das Unheil unserer Familie. Mein Herz ist voller Zärtlichkeit, aber ich handle wie Euer Feind. Auf all Eure Opfer habe ich mit Schlimmem erwidert. Der letzte Streich ist, obwohl er unwillkürlich geschah, der grausamste von allen. Während ich in Paris ein würdeloses Leben voller Genuß und Elend führte, während ich die Clique für Freundschaft nahm, wahrhafte Freunde für Menschen aufgab, die mich ausbeuten wollten und mußten, während ich Euch vergaß und mich nur an Euch erinnerte, um Euch Kummer zu machen, verfolgtet Ihr den bescheidenen Weg der Arbeit und ginget mit Mühen, aber sicher, dem Glück entgegen, das ich so rasend erobern wollte. Während Ihr besser wurdet, nahm mein Leben eine unheilvolle Wendung. Ja, ich trage maßlosen Ehrgeiz, der mich hindert, mich in ein bescheidenes Leben zu fügen. Ich habe Neigungen und Gelüste, und die Erinnerung an das, was ich genossen habe, vergiftet mir die Freuden, die für mich erreichbar sind und die mich früher befriedigt hätten. Oh, geliebte Eva, ich beurteile mich strenger als irgendeiner. Denn ich verdamme mich ganz und gar ohne Gnade. Der Kampf in Paris verlangt Ausdauer, und mein Wille funktioniert nur im Übermaß, mein Hirn setzt manchmal aus. Die Zukunft schreckt mich so, daß ich keine will, und die Gegenwart ist mir unerträglich. Ich habe Euch wiedersehen wollen, ich hätte besser getan, meine Heimat für immer zu meiden. Aber die Verbannung ohne Existenzmittel wäre eine Torheit, und ich werde sie nicht zu all den andern hinzufügen. Der Tod erscheint mir besser, als ein verpfuschtes Leben; und in welcher Lage ich mich auch denke, meine maßlose Eitelkeit müßte mich immer zu Torheiten bringen. Manche Menschen sind wie Nullen, sie brauchen eine Zahl, die vor ihnen steht, und ihr Nichts erlangt dann zehnfachen Wert. Ich könnte nur durch eine Verheiratung mit einem starken, unbarmherzigen Willen Wert erlangen. Frau von Bargeton wäre meine Frau geworden und wäre die rechte gewesen; ich habe mein Leben verpfuscht, als ich Coralie nicht um ihretwillen verließ. David und Du, Ihr könntet treffliche Lotsen für mich sein; aber Ihr seid nicht stark genug, um meine Schwäche zu zwingen, die sich bis zu einem gewissen Punkte gegen die Herrschaft auflehnt. Ich liebe ein leichtes Leben ohne Sorgen; und wenn es gilt, eine Widerwärtigkeit loszuwerden, bin ich von einer Erbärmlichkeit, die mich zu Schlimmem treiben kann. Ich bin zum Prinzen geboren. Mein Geist hat mehr Gewandtheit, als man braucht, um ans Ziel zu kommen. Aber ich habe ihn immer nur für den Augenblick, und der Preis in einer Rennbahn, in der so viele Ehrgeizige laufen, gehört dem, der nur so viel Geist anwendet, wie nötig ist, und am Ende des Tages immer noch etwas übrig hat. Ich täte das Schlimme, wie ich es hier getan habe, mit den besten Absichten von der Welt. Es gibt Menschen wie Eichbäume; ich bin vielleicht nur eine elegante Staude und mache den Anspruch, eine Zeder zu sein. Hier hast Du meine Bilanz und meine Bankrotterklärung. Dieses Mißverhältnis zwischen Können und Wollen, dieser Mangel an Gleichgewicht wird immer mein Ringen vergeblich machen. Es gibt in der Klasse der Intellektuellen viele solche Charaktere: es ist ein dauerndes Mißverhältnis zwischen dem Geist und dem Charakter, dem Wollen und dem Begehren. Was wäre mein Schicksal? Ich kann es voraussehen, wenn ich mich an einige alte Pariser Berühmtheiten erinnere, die ich in völliger Vergessenheit gesehen habe. Kaum an der Schwelle des Alters, wäre ich älter als meine Jahre, ohne Glück und ohne Ansehen. Mein ganzes jetziges Sein wendet sich von einem solchen Alter mit Entsetzen ab; ich will nicht ein weggeworfener Lumpen der Gesellschaft sein. Liebe Schwester, die ich wegen Deiner Härte der letzten Zeit ebenso liebhabe wie für die früheren Zärtlichkeiten, wenn wir die Freude, die mir das Wiedersehen mit Dir gemacht hat, teuer bezahlt haben, dann werdet Ihr, Du und David, später vielleicht denken, daß kein Preis für die letzten Freuden eines armen Burschen, der Euch liebhatte, zu hoch war! ... Stellt keine Nachforschungen nach mir an, sucht nicht zu erfahren, wohin ich gekommen bin: zum mindesten soll mein Geist mir bei der Ausführung meines Willens dienen. Die Entsagung, geliebte Schwester, ist ein täglicher Selbstmord; ich aber habe nur Entsagung für einen Tag, ich will sie heute üben ...

Zwei Uhr.

Ja, ich bin fest entschlossen. Lebewohl also für immer, geliebte Eva. Ich verspüre die sanfte Freude bei dem Gedanken, von jetzt ab nur noch in Euren Herzen zu leben. Da wird mein Grab sein ... ich will kein anderes. Noch einmal: Lebewohl! es ist das letzte von Deinem Bruder

Lucien.«

Nachdem Lucien diesen Brief geschrieben hatte, stieg er geräuschlos die Treppe hinunter, legte ihn auf die Wiege seines Neffen, drückte auf die Stirn seiner schlafenden Schwester einen letzten tränenfeuchten Kuß und ging. Es dämmerte; er löschte seine Kerze, sah das alte Haus noch ein letztes Mal an und öffnete ganz leise die Haustür; aber trotz seiner Vorsicht weckte er Kolb, der auf einer Matratze auf dem Fußboden der Werkstatt schlief.

»Wer geht da?« rief Kolb.

»Ich bin es«, erwiderte Lucien. »Ich gehe fort, Kolb.«

»Sie hätten besser getan, niemals zu kommen«, sagte Kolb für sich, aber laut genug, daß Lucien es hörte.

»Ich hätte wohlgetan, nie zur Welt zu kommen«, antwortete Lucien. »Lebewohl, Kolb, ich bin dir wegen eines Gedankens nicht böse, den ich selbst hege. Sage David, meine letzte Regung sei mein Bedauern gewesen, ihn nicht umarmen zu können.«

Als der Elsässer aufgestanden war und sich angezogen hatte, hatte Lucien die Haustür geschlossen. Er stieg über die Beaulieu-Promenade zum Ufer der Charente hinab; aber als ob er zu einem Feste ginge, denn sein Leichentuch war sein Pariser Anzug und seine reizende Stutzermontur. Betroffen über Luciens Ton und seine letzten Worte wollte Kolb sich erkundigen, ob seine Herrin von der Abreise ihres Bruders Kenntnis und ob sie sich von ihm verabschiedet hätte; aber als er merkte, daß im ganzen Hause tiefes Schweigen herrschte, dachte er, diese Abreise wäre ohne Frage verabredet worden, und legte sich wieder hin.

Man hat in Anbetracht des Ernstes dieses Gegenstandes über den Selbstmord sehr wenig geschrieben, man hat ihn nicht beobachtet. Vielleicht entzieht sich diese Krankheit der Beobachtung. Der Selbstmord ist die Wirkung eines Gefühls, das man, wenn man will, die Achtung vor sich selbst nennen kann, um es nicht mit dem Wort Ehre zu verwechseln. An dem Tage, wo der Mensch sich verachtet, an dem Tage, wo er sich verachtet sieht, in dem Augenblick, wo die Wirklichkeit des Lebens nicht mehr mit seinen Hoffnungen übereinstimmt, tötet er sich und huldigt damit der Gesellschaft, in der er, seiner Tugenden oder seines Glanzes entkleidet, nicht bleiben will. Man mag darüber sagen, was man will, unter den Atheisten der Christ begeht keinen Selbstmord ertragen nur die Feiglinge ein schimpfliches Leben. Es gibt dreierlei Arten Selbstmord: zunächst den Selbstmord, der nur der letzte Anfall einer langen Krankheit ist und der sicher in den Bereich der Pathologie gehört; dann den Selbstmord aus Verzweiflung, und schließlich den Selbstmord aus Überlegung. Lucien wollte sich aus Verzweiflung und Überlegung töten, das sind die beiden Arten, von denen man zurückkommen kann; denn unwiderruflich ist nur der pathologische Selbstmord; aber oft treffen die drei Ursachen zusammen wie bei Jean Jacques Rousseau. Nachdem Lucien einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, fing er an, die Art der Ausführung zu überlegen. Der Dichter wollte ein poetisches Ende haben. Er hatte anfangs vorgehabt, sich ganz einfach in die Charente zu werfen; aber als er zum letztenmal die Stufen von Beaulieu hinabstieg, hörte er im voraus den Skandal, den sein Selbstmord machen würde, sah er das scheußliche Bild seiner entstellten Leiche, wie sie wieder aus dem Wasser in die Höhe kam und Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung wurde: er hatte, wie manche Selbstmörder, eine posthume Eitelkeit. An dem Tage, den er in der Mühle von Courtots verbracht hatte, war er den Fluß entlang gewandelt und hatte nicht weit von der Mühle eine der runden, seeartigen Wasserflächen bemerkt, wie sie sich bei kurzen Wasserläufen finden, deren ruhige Oberfläche eine außerordentliche Tiefe anzeigt. Das Wasser ist nicht mehr grün oder blau, oder licht oder gelb: es ist wie ein Spiegel aus glänzendem Stahl. An den Ufern dieser Ausbuchtung wuchsen keine Schwertlilien und blauen Blumen mehr, die breiten Blätter der Seerose waren nicht mehr auf dem Wasser zu sehen; das Gras auf der Böschung war kurz und dicht, und malerisch standen hie und da Gruppen von Trauerweiden. Man ahnte da eine furchtbar tiefe Wasserschlucht. Wer den Mut hatte, seine Taschen mit Steinen zu füllen, mußte dort unausbleiblich den Tod finden und konnte nie wieder gefunden werden.

Als der Dichter diese reizende Landschaft bewundert hatte, hatte er sich gesagt: »Das ist ein Ort, der einem Lust macht, sich zu ertränken.«

Diese Erinnerung kam ihm in dem Augenblick, als er Houmeau erreicht hatte. Er wandelte also nach Marsac, überließ sich seinen letzten düsteren Gedanken und war fest entschlossen, auf diese Weise das Geheimnis seines Todes zu schützen, nicht Gegenstand einer Untersuchung zu werden, nicht bestattet zu werden, nicht in dem furchtbaren Zustande gesehen werden zu wollen, in dem die Ertrunkenen sind, wenn sie wieder an die Oberfläche des Wassers kommen. Er gelangte bald zum Fuß eines der Hügel, die man auf den Straßen Frankreichs und besonders zwischen Angoulême und Poitiers so häufig antrifft. In schneller Fahrt näherte sich der Postwagen von Bordeaux nach Paris, ohne Frage würden die Reisenden aussteigen, um diese lange Anhöhe zu Fuß hinaufzugehen. Lucien, der nicht gesehen sein wollte, schlug einen kleinen Seitenweg ein und pflückte in einem Weinberg Blumen. Als er wieder auf die Landstraße zurückkehrte, hielt er einen großen Strauß Mauerpfeffer in der Hand, die gelbe Blume, die auf dem steinigen Grund der Weingärten wächst. Unmittelbar vor ihm ging ein Reisender, der ganz in Schwarz gekleidet war. Seine Haare waren gepudert, an den Schuhen trug er silberne Schnallen. Sein Gesicht war braun und so mit Narben bedeckt, als wenn er als Kind ins Feuer gefallen wäre. Dieser so augenfällig nach einem Geistlichen wirkende Reisende ging langsam und rauchte eine Zigarre. Als der Unbekannte hörte, wie Lucien von dem Weinberg auf die Straße herabsprang, drehte er sich um und schien von der tief melancholischen Schönheit des Dichters, seinem symbolischen Strauß und seiner eleganten Kleidung ergriffen zu sein. Dieser Reisende glich einem Jäger, der eine lange vergebens gesuchte Beute findet. Er ließ, um es seemännisch auszudrücken, Lucien zu sich heransegeln und ging langsamer, wobei er tat, als betrachte er den Abhang des Hügels. Lucien, der auch hinblickte, sah dort eine kleine, mit zwei Pferden bespannte Kalesche und einen Postillion zu Fuß.

»Sie haben den Postwagen fortfahren lassen. Sie werden Ihren Platz verlieren, wenn Sie nicht in meine Kalesche steigen wollen, um ihn einzuholen; wir fahren schneller als der Postwagen«, redete der Reisende Lucien an. Er sprach diese Worte mit einem unverkennbaren spanischen Akzent und brachte das Anerbieten mit außerordentlicher Freundlichkeit vor.

Ohne Luciens Antwort abzuwarten, zog der Spanier ein Zigarrenetui aus der Tasche und hielt es Lucien geöffnet hin, damit er sich eine Zigarre nähme.

»Ich bin kein Reisender«, erwiderte Lucien, »und bin zu nahe am Ziel meines Weges, um mir das Vergnügen des Rauchens zu gestatten.«

»Sie sind sehr streng gegen sich«, versetzte der Spanier, »obwohl ich Domherr der Kathedrale von Toledo bin, genehmige ich mir von Zeit zu Zeit eine kleine Zigarre. Gott hat uns den Tabak gegeben, damit wir unsere Leidenschaften und unsere Schmerzen einschläfern. Sie scheinen mir Kummer zu haben, wenigstens tragen Sie das Zeichen des Kummers in der Hand, wie der traurige Gott der Ehe. Nehmen Sie ... all Ihr Kummer wird mit dem Rauche verwehen.« Und der Priester streckte noch einmal sein aus Stroh geflochtenes Etui verführerisch hin, wobei er Lucien einen teilnehmenden Blick zuwarf.

»Verzeihen Sie, ehrwürdiger Vater,« versetzte Lucien hart, »Zigarren können meinen Kummer nicht verscheuchen«; und während er das sagte, traten ihm Tränen in die Augen.

»Oh! junger Mann, war es also die göttliche Vorsehung, die mir den Wunsch eingab, mit einer kleinen Fußwanderung den Schlaf abzuschütteln, der am Morgen alle Reisende befällt, damit ich Ihnen Trost bringen und so meine Aufgabe hienieden erfüllen könnte? Und was für einen großen Kummer können Sie in Ihren Jahren haben?«

»Ihr Trost, ehrwürdiger Vater, wäre sehr unnütz: Sie sind Spanier, ich bin Franzose; Sie glauben an die Gebote der Kirche, ich bin Atheist ...«

» Santa Virgen del Pilar! Sie sind Atheist!« rief der Priester und legte mit mütterlicher Zärtlichkeit seinen Arm auf den Luciens. »Wahrhaftig! das ist eine der Sehenswürdigkeiten, die ich in Paris aufsuchen wollte. Wir in Spanien glauben nicht an die Atheisten. Nur in Frankreich kann man mit neunzehn Jahren solche Anschauungen haben.«

»Oh! ich bin ein völliger Atheist; ich glaube weder an Gott noch an die Gesellschaft noch an das Glück. Sehen Sie mich wohl an; in ein paar Stunden bin ich nicht mehr ... Diese Sonne ist die letzte, die ich sehe!« sagte Lucien pathetisch und wies gen Himmel.

»Wie! was haben Sie getan, um sterben zu müssen? Wer hat Sie zum Tode verurteilt?«

»Das oberste Gericht, ich selbst!«

»Kind,« rief der Priester, »haben Sie einen Menschen getötet? Wartet das Schafott auf Sie? Überlegen wir ein bißchen. Wenn Sie, wie Sie es nennen, ins Nichts zurückkehren wollen, dann ist Ihnen wohl alles auf Erden gleichgültig?«

Lucien nickte zum Zeichen der Zustimmung.

»Dann können Sie mir also erzählen, was Sie quält? Es handelt sich gewiß um eine Liebschaft,die Ihnen Kummer macht?«

Lucien zuckte mit bezeichnender Gebärde die Achseln.

»Sie wollen sich töten, um der Schande zu entgehen, oder weil Sie am Leben verzweifeln? Schön. Sie können sich ebensogut in Poitiers töten wie in Angoulême, und in Tours ebensogut wie in Poitiers. Der Triebsand der Loire gibt seine Opfer nicht wieder her ...«

»Nein, ehrwürdiger Vater,« antwortete Lucien, »ich habe schon meinen Platz. Vor zwanzig Tagen habe ich das entzückendste Ufer gesehen, von dem aus ein Mensch, der dieser Welt überdrüssig ist, in die andere Welt fahren kann ...«

»Eine andere Welt? Sie sind kein Atheist.«

»Oh! was ich mit der andern Welt meine, ist meine künftige Verwandlung in ein tierisches oder pflanzliches Leben ...«

»Haben Sie eine unheilbare Krankheit?«

»Ja, ehrwürdiger Vater.«

»Ah, da haben wirs,« rief der Priester, »und welche?«

»Die Armut.«

Der Priester sah Lucien lächelnd an und sagte zu ihm überaus anmutig und mit einem fast ironischen Lächeln:

»Der Diamant kennt seinen Wert nicht.«

»Nur ein Priester kann einem armen Menschen, der in den Tod gehen will, noch schmeicheln!« rief Lucien.

»Sie werden nicht sterben«, sagte der Priester in entschiedenem Tone.

»Ich habe wohl sagen hören,« versetzte Lucien, »daß man die Menschen auf der Landstraße ausgeplündert hat; ich wußte nicht, daß man sie reicher machte.«

»Sie sollen es erfahren«, erwiderte der Priester, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Wagen noch weit genug weg war, daß sie noch einige Schritte allein gehen konnten. »Hören Sie mich,« sagte der Priester und kaute an seiner Zigarre, »Ihre Armut wäre kein Grund, zu sterben. Ich brauche einen Sekretär, der meine ist vor kurzem in Barcelona gestorben. Ich bin in der Lage, in der der Baron von Görtz war, der berühmte Minister KarlsXII., der, als er nach Schweden reiste, wie ich nach Paris reise, in einer kleinen Stadt ohne Sekretär ankam. Der Baron traf den Sohn eines Goldschmieds, der durch eine Schönheit sich auszeichnete, die der Ihrigen gewiß nicht gleichkam ... Der Baron findet in dem jungen Menschen Intelligenz, wie ich finde, daß Ihnen die Poesie auf der Stirn geschrieben steht; er nimmt ihn in seinen Wagen, wie ich Sie in meinen nehmen werde; und aus diesem jungen Menschen, der bisher dazu verdammt gewesen war, in einer kleinen Provinzstadt, wie Angoulême ist, Bestecke zu polieren und Schmucksachen herzustellen, macht er seinen Günstling, wie Sie der meine sein sollen. In Stockholm angelangt, setzt er seinen Sekretär an die Arbeit und gibt ihm furchtbar viel zu tun. Der junge Sekretär verbringt die Nächte mit Schreiben; und wie alle, die stark arbeiten, nimmt er eine Gewohnheit an: er fängt an, Papier zu kauen. Der verstorbene Herr von Malesherbes hatte die Gewohnheit, den Leuten brennendes Papier unter die Nase zu halten, und er tat das, nebenbei bemerkt, auch mit einer gewissen Persönlichkeit, deren Prozeß von seinem Berichte abhing. Unser schöner junger Mann fängt mit unbeschriebenem Papier an, aber er gewöhnt sich daran und geht bald zu beschriebenem Papier über, das er schmackhafter findet. Man rauchte damals noch nicht. Endlich kommt unser junger Mann immer mehr auf den Geschmack und fängt an, Pergamente zu zerkauen und sie zu essen. Man beschäftigte sich damals mit einem Friedensvertrag zwischen Rußland und Schweden, den die Stände KarlXII. auferlegen wollten, wie man 1814 Napoleon zwingen wollte, Frieden zu schließen. Die Grundlage der Verhandlungen war der Vertrag, den die beiden Mächte über Finnland abgeschlossen hatten. Görtz vertraut seinem Sekretär das Original an; aber als es so weit ist, den Plan den Ständen vorzulegen, ergibt sich die kleine Schwierigkeit, daß der Vertrag nicht zu finden ist. Die Stände kommen auf die Vermutung, der Minister habe dieses Stück, um den Leidenschaften des Königs dienstbar zu sein, verschwinden lassen wollen. Der Baron von Görtz wird angeklagt, und sein Sekretär gesteht, den Vertrag aufgegessen zu haben. Man strengt einen Prozeß an, die Tatsache wird bewiesen, der Sekretär wird zum Tode verurteilt. Aber da Sie noch nicht so weit sind, nehmen Sie eine Zigarre und rauchen Sie sie, bis unsere Kalesche kommt.«

Lucien nahm eine Zigarre und steckte sie, wie man das in Spanien tut, an der Zigarre des Priesters an. Er sagte sich: »Er hat recht, ich habe immer noch Zeit, mich zu töten.«

»Es trifft sich oft,« fuhr der Spanier fort, »daß in dem Augenblick, wo die jungen Leute am meisten an ihrer Zukunft verzweifeln, ihr Glück beginnt. Das wollte ich Ihnen sagen, ich zeigte es Ihnen lieber an einem Beispiel. Der schöne Sekretär, der zum Tode verurteilt war, war in einer um so verzweifelteren Lage, als der König von Schweden ihn nicht begnadigen konnte, weil sein Urteil von den schwedischen Ständen gesprochen worden war; aber er drückte ein Auge zu und ließ ihn entfliehen. Der hübsche junge Sekretär rettet sich mit ein paar Talern in der Tasche und kommt an den Hof von Kurland. Görtz hatte ihn dem Herzog empfohlen und ihm das Abenteuer und die Manie seines Schützlings auseinandergesetzt. Der Herzog bringt den schönen Jungen als Sekretär bei seinem Intendanten unter. Der Herzog war ein Verschwender, hatte eine hübsche Frau und einen Intendanten, das sind drei Gründe zum Ruin. Wenn Sie glauben, der hübsche Mensch, der zum Tode verurteilt worden war, weil er den finnländischen Vertrag aufgegessen hatte, habe seine perverse Neigung aufgegeben, dann wissen Sie nichts von der Herrschaft des Lasters über den Menschen; die Todesstrafe hält es nicht auf, wenn es sich um einen Genuß handelt, den es sich geschaffen hat! Woher kommt diese Herrschaft des Lasters? Ist sie eine Macht, die ihm eigen ist, oder kommt sie von der menschlichen Schwäche? Gibt es Neigungen, die an der Grenze des Wahnsinns wohnen? Ich kann mich des Lachens über die Moralisten nicht erwehren, die solche Krankheiten mit schönen Worten bekämpfen wollen! ... Es gab einen Moment, in dem der Herzog, der erschreckt darüber war, daß sein Verwalter ihm ein Ersuchen um Geld abschlägig beschieden hatte, Abrechnung verlangte, was eine Dummheit war! Es gibt nichts Leichteres, als eine Rechnung zu schreiben, das macht nie eine Schwierigkeit. Der Verwalter übergab seinem Sekretär alle Stücke, damit er eine Aufstellung über die Zivilliste von Kurland machen sollte. Mitten in der Nacht, als er dabei war, seine Arbeit fertigzumachen, merkte unser kleiner Papieresser, daß er eine Quittung des Herzogs über eine beträchtliche Summe zerkaut: die Angst packt ihn, mitten in der Unterschrift hält er inne, er läuft spät in der Nacht zur Herzogin, wirft sich ihr zu Füßen, erklärt ihr seine Manie, fleht den Schutz seiner Fürstin an und fleht und fleht mitten in der Nacht. Die Schönheit des jungen Sekretärs macht einen solchen Eindruck auf diese Frau, daß sie ihn, als sie Witwe geworden war, heiratete. So wurde im achtzehnten Jahrhundert in einem Lande, wo der Adel regierte, ein Goldschmiedssohn souveräner Fürst ... Und er ist noch Besseres geworden! Er war beim Tode der ersten Katharina Regent, er beherrschte die Kaiserin Anna und wollte der Richelieu Rußlands sein. Und nun, junger Mann, hören Sie, was ich sage: Sie sind schöner als Biron, und ich bin, obwohl ich ein einfacher Domherr bin, viel mehr wert als der Baron von Görtz. Also steigen Sie ein! Wir finden für Sie in Paris ein Herzogtum Kurland, und in Ermangelung des Herzogtums werden wir ganz sicher die Herzogin finden.«

Der Spanier unterstützte Lucien und zwang ihn buchstäblich, in seinen Wagen zu steigen, worauf der Postillion den Schlag zuwarf.

»Jetzt reden Sie, ich höre zu«, sagte der Domherr von Toledo zu dem verblüfften Lucien. »Ich bin ein alter Priester, dem Sie ohne Gefahr alles sagen können. Sie haben ohne Zweifel noch nichts aufgegessen als Ihr väterliches Erbe oder das Geld der Frau Mama. Wir sind heimlich durchgebrannt und haben Ehre bis in die Spitzen unserer reizenden kleinen Stiefelchen ... Also los, beichten Sie keck, es wird genau so sein, wie wenn Sie mit sich selbst sprechen.«

Lucien befand sich in der Lage jenes Fischers aus – ich weiß nicht mehr welchem arabischen Märchen, der sich im Meere ertränken will und in unterseeische Länder fällt und dort König wird. Der spanische Priester schien so wahrhaft liebevoll, daß der Dichter nicht zögerte, ihm sein Herz zu eröffnen: er erzählte ihm also zwischen Angoulême und Ruffec sein ganzes Leben, ließ keine seiner Verfehlungen aus und schloß mit dem letzten Unheil, an dem er schuld war. In dem Augenblick, wo er mit diesem Bericht fertig war, den er um so poetischer vorbrachte, als er ihn seit vierzehn Tagen schon zum drittenmal machte, fuhr der Wagen an der Stelle vorbei, wo sich an der Straße, in der Nähe von Ruffec, die Besitzung der Familie Rastignac befindet, bei deren Namen, als Lucien ihn zum erstenmal nannte, der Spanier eine Bewegung gemacht hatte.

»Von hier«, sagte Lucien, »ist der junge Rastignac ausgegangen, der sicher weniger taugt als ich, der aber mehr Glück gehabt hat.«

»Ah!«

»Ja, dieser armselige Edelhof ist das Haus seines Vaters. Er ist, wie ich Ihnen sagte, der Geliebte der Frau von Nucingen geworden, der Frau des berühmten Bankiers. Ich habe mich der Poesie überlassen; er war geschickter und hat sich ans Positive gehalten.«

Der Priester ließ seine Kalesche halten, er wollte aus Neugier die kleine Allee hinaufgehen, die von der Straße zu dem Hause führte, und betrachtete alles mit mehr Interesse, als Lucien von einem spanischen Priester erwartet hatte.

»Sie kennen also die Rastignac?« fragte ihn Lucien.

»Ich kenne ganz Paris«, sagte der Spanier und stieg wieder in seinen Wagen. »Also weil Ihnen zehn- oder zwölftausend Franken fehlten, wollten Sie sich töten? Sie sind ein Kind, Sie kennen weder die Menschen noch die Dinge. Ein Schicksal ist so viel wert, als der Mensch es schätzt; und Sie veranschlagen Ihre Zukunft nur auf zwölftausend Franken. Schön, ich kaufe Sie sofort. Was die Gefangensetzung Ihres Schwagers angeht, so ist das eine Lappalie. Wenn der gute Herr Séchard eine Entdeckung gemacht hat, so wird er reich werden. Wer reich ist, ist nie in Schuldhaft gewesen. Sie scheinen mir nicht stark in der Geschichte zu sein. Es gibt zweierlei Geschichte: die offizielle, verlogene Geschichte, die man lehrt, die Geschichte ad usum delphini, dann die geheime Geschichte, die die wirklichen Zusammenhänge der Geschehnisse berichtet, eine schmachvolle Geschichte. Lassen Sie mich Ihnen in Kürze ein anderes Histörchen erzählen, das Sie nicht kennen: Ein ehrgeiziger junger Priester will in den öffentlichen Dienst treten, er kriecht vor dem Günstling, dem Günstling einer Königin; der Günstling interessiert sich für den Priester und verschafft ihm den Rang eines Ministers und Sitz im Staatsrat. Eines Abends schreibt einer der Menschen, die einen Dienst zu erweisen glauben erweisen Sie nie einen Dienst, den man nicht von Ihnen begehrt!, dem jungen Ehrgeizigen, das Leben seines Wohltäters sei bedroht. Der König ist wütend geworden, daß er einen Herrn hat; morgen soll der Günstling, wenn er sich in den Palast begibt, getötet werden. Nun, junger Mann, was hätten Sie nach Empfang dieses Briefes getan?«

»Ich hätte auf der Stelle meinen Wohltäter gewarnt!« rief Lucien lebhaft.

»Sie sind noch ganz das Kind, das aus der Erzählung von Ihrem Leben spricht«, erwiderte der Priester. »Unser Mann sagte sich: Wenn der König bis zum Verbrechen geht, ist mein Wohltäter verloren; ich muß diesen Brief zu spät bekommen haben! Und er schlief bis zu der Stunde, wo man den Günstling getötet hatte ...«

»Das ist ein Ungeheuer«, sagte Lucien, der den Priester im Verdacht hatte, daß er ihn auf die Probe stellte.

»Alle großen Menschen sind Ungeheuer; dieser war der Kardinal von Richelieu,« erwiderte der Domherr, »und sein Wohltäter war der Marschall von Ancre. Sie sehen, Sie kennen Ihre französische Geschichte nicht. Hatte ich nicht recht, als ich Ihnen sagte, daß die Geschichte, welche man in den Gymnasien lehrt, eine dazu noch überaus zweifelhafte Sammlung von Daten und Tatsachen ist, aber nicht den geringsten Sinn hat? Was nützt es Ihnen, daß Sie wissen, daß es eine Jeanne d'Arc gegeben hat? Haben Sie je den Schluß daraus gezogen, daß, wenn Frankreich damals die Anjou-Linie der Plantagenet akzeptiert hätte, die beiden vereinigten Völker heute die Herrschaft über die Welt hätten und daß die beiden Inseln, wo die politischen Unruhen des Kontinents geschmiedet werden, zwei französische Provinzen wären? ... Oder haben Sie erforscht, mit welchen Mitteln die Medici, einfache Kaufleute, dazu gelangt sind, Großherzoge von Toskana zu werden?«

»Ein Dichter«, erwiderte Lucien, »ist in Frankreich nicht verpflichtet, so gelehrt wie ein Benediktiner zu sein.«

»Nun, junger Mann, sie sind Großherzoge geworden, wie Richelieu Minister wurde. Hätten Sie in der Geschichte die menschlichen Ursachen der Ereignisse gesucht, anstatt die Etiketten auswendig zu lernen, dann hätten Sie daraus Lehren für Ihre Lebensführung gezogen. Aus dem, was ich hier aus der Sammlung der wirklichen Tatsachen beliebig herausgegriffen habe, ergibt sich das Gesetz: Sehen Sie in den Menschen und insbesondere in den Frauen nur Werkzeuge; aber sorgen Sie dafür, daß sie es nicht merken. Verehren Sie den wie einen Gott, der höher gestellt ist als Sie und Ihnen nützlich sein kann, und verlassen Sie ihn erst, wenn er Ihre Demut sehr teuer bezahlt hat. Im Verkehr mit der Welt seien Sie gierig wie ein Jude und so niedrig wie er: tun Sie um der Macht willen alles, was er um des Geldes willen tut. Aber ebenso kümmern Sie sich um einen Menschen, der gefallen ist, nicht mehr; als ob er niemals existiert hätte. Wissen Sie, warum Sie sich so benehmen sollen? Sie wollen die Welt beherrschen, nicht wahr? Sie müssen damit anfangen, der Welt zu gehorchen und sie gut zu studieren. Die Gelehrten studieren die Bücher, die Politiker studieren die Menschen: ihre Interessen, die treibenden Ursachen ihrer Handlungen. Die Welt nun, die Gesellschaft, die Menschen als Ganzes genommen sind Fatalisten: sie beten die Tatsachen an. Wissen Sie, warum ich Ihnen diesen kleinen Geschichtsvortrag halte? Es geschieht darum, weil ich Sie für maßlos ehrgeizig halte.«

»Ja, ehrwürdiger Vater!«

»Ich habe es wohl gesehen«, fuhr der Domherr fort. »Aber in diesem Augenblick sagen Sie sich: Dieser spanische Domherr erfindet Anekdoten und plündert die Geschichte, um mir zu beweisen, daß ich zu tugendhaft bin ...«

Lucien lächelte, als er seine Gedanken so gut erraten sah.

»Nun also, junger Mann, nehmen wir Tatsachen, die ganz banal geworden sind«, sagte der Priester. »Eines Tages ist Frankreich von den Engländern fast erobert worden, der König hat nur noch eine Provinz. Aus der Tiefe des Volkes erheben sich zwei Gestalten: ein armes junges Mädchen, eben die Jeanne d'Arc, von der wir sprachen; und zweitens ein Bürgersmann namens Jacques Coeur. Die eine leiht ihren Arm und den Nimbus ihrer Jungfräulichkeit, der andere gibt sein Gold: das Königreich ist gerettet. Aber das Mädchen ist gefangen! Der König, der sie auslösen kann, läßt sie lebendig verbrennen. Den heldenhaften Bürger läßt der König von seinen Höflingen, die es nach seinem Reichtum gelüstet, der schwersten Verbrechen bezichtigen. Die Beute des Unglücklichen, der von der Justiz gehetzt, umstellt und niedergeworfen wird, bereichert fünf Adelshäuser ... Und der Vater des Erzbischofs von Bourges verläßt das Reich, um nie wieder zurückzukehren, nimmt von seinen Besitzungen in Frankreich keinen Heller mit und hat für sich weiter kein Geld, als was er den Arabern und Sarazenen in Ägypten anvertraut hatte. Sie können immer noch sagen: Diese Beispiele sind sehr alt, seit all diesen Undankbarkeiten hatten wir dreihundert Jahre öffentlichen Unterrichts, und die Gestalten jenes Zeitalters sind für uns Fabelwesen. Nun, junger Mann, glauben Sie an den letzten Halbgott Frankreichs, an Napoleon? Einer seiner Generale stand bei ihm in Ungnade, er hat ihn nur unwillig zum Marschall gemacht, nie hat er sich seiner gern bedient. Dieser Marschall heißt Kellermann. Wissen Sie warum? Kellermann hat Frankreich und den ersten Konsul bei Marengo durch einen kühnen Angriff, der inmitten von Blut und Feuer bejubelt wurde, gerettet. In dem Bulletin war von diesem heldenhaften Angriff nicht mit einem Wort die Rede. Die Ursache von Napoleons Kälte gegen Kellermann ist auch die Ursache der Ungnade von Foucher und dem Fürsten von Talleyrand: es ist die Undankbarkeit des Königs KarlVII., Richelieus, die Undankbarkeit ...«

»Aber, ehrwürdiger Vater, vorausgesetzt, daß Sie mir das Leben retten und daß Sie mein Glück begründen,« sagte Lucien, »machen Sie mir mit diesen Gründen die Dankbarkeit sehr leicht.«

»Kleiner Schlingel,« sagte der Abbé lächelnd und zog Lucien mit einer fast königlichen Vertraulichkeit am Ohr, »wenn Sie undankbar gegen mich wären, dann wären Sie ein starker Mann, und ich beugte mich vor Ihnen; aber Sie sind noch nicht so weit, denn Sie sind erst ein Schüler und wollten zu früh Meister werden. Das ist ein Fehler der Franzosen in unserer Zeit. Sie reichen Ihre Entlassung ein, weil Sie nicht die Epauletten bekommen können, die Sie wünschen ... Aber haben Sie all Ihr Wollen, all Ihr Handeln einer Idee gewidmet?«

»Ach nein«, sagte Lucien.

»Sie waren, was die Engländer inconsistent‹ nennen«, fuhr der Domherr lächelnd fort.

»Was liegt daran, was ich gewesen bin, wenn ich nichts mehr werden kann«, antwortete Lucien.

»Wenn hinter all Ihren schönen Eigenschaften eine Kraft steht, die semper virens ist,« sagte der Priester, der wohl gern zeigte, daß er etwas Lateinisch konnte, »dann wird Ihnen nichts in der Welt widerstehen. Ich liebe Sie jetzt schon ...«

Lucien lächelte mit einer ungläubigen Miene.

»Ja,« fuhr der Unbekannte in Erwiderung auf Luciens Lächeln fort, »Sie interessieren mich, wie wenn Sie mein Sohn wären, und ich kann zu Ihnen frei heraus reden, wie Sie zu mir gesprochen haben. Wissen Sie, was mir an Ihnen gefällt? Sie haben in sich selbst reinen Tisch gemacht, und Sie können daher jetzt einen Moralunterrlcht empfangen, wie er nirgends erteilt wird; denn wenn die Menschen in einer gewissen Anzahl beisammen sind, sind sie noch heuchlerischer, als wenn ihr Interesse sie zwingt, Komödie zu spielen. So verbringt man einen guten Teil seines Lebens damit, auszujäten, was man in der Jugend in seinem Herzen hat wachsen lassen. Diese Operation nennt man: Erfahrungen machen.«

Lucien hörte dem Priester zu und sagte sich im stillen: Das ist so ein alter Politiker, dem es Vergnügen macht, sich auf der Reise zu amüsieren. Er gefällt sich darin, einen armen Kerl, den er am Rande des Selbstmords trifft, umzustimmen, und wenn er mit seinem Spaß zu Ende ist, wird er mich laufen lassen; aber er versteht sich gut auf die Paradoxie, und er scheint mir ebenso stark wie Blondet oder Lousteau.

Trotz dieser klugen Überlegung bohrte sich die Verderbnis, mit der es der Diplomat gegen ihn versuchte, tief in Luciens Seele ein, die für sie gut vorbereitet war, und wirkte in ihr um so verheerender, als sie sich auf berühmte Beispiele stützte. Lucien war von dem Reiz dieser zynischen Unterhaltung gefesselt und klammerte sich um so williger ans Leben an, als er sich von einem starken Arm aus dem Schlunde seines Selbstmords auf die Oberfläche gehoben fühlte.

Darüber war der Priester offenbar vergnügt. Und so hatte er denn auch von Zeit zu Zeit seine historischen Sarkasmen mit einem boshaften Lächeln begleitet.

»Wenn Ihre Art, die Moral zu behandeln, Ähnlichkeit mit Ihrer Geschichtsauffassung hat,« sagte Lucien, »wäre ich neugierig, zu erfahren, was in diesem Augenblick die Triebfeder Ihrer scheinbaren Barmherzigkeit ist.«

»Dieses, junger Mann, ist der letzte Punkt meiner Predigt, und Sie müssen mir gestatten, ihn mir aufzusparen; dann verlassen wir uns heute noch nicht«, antwortete er mit der Schlauheit eines Priesters, der sieht, daß sein Plan gelingt.

»Gut also, predigen Sie mir Moral«, versetzte Lucien, der sich innerlich sagte: Ich will ihn zum besten haben.

»Die Moral, junger Mann, beginnt mit dem Gesetz«, fing der Priester an. »Wenn es überall Religion gäbe, wären die Gesetze unnötig; die religiösen Völker haben wenig Gesetze. Über dem bürgerlichen Gesetz steht das politische Gesetz. Wollen Sie nun wissen, was für jemanden, der ein Politiker ist, auf der Stirn Ihres neunzehnten Jahrhunderts geschrieben steht? Die Franzosen haben im Jahre 1793 die Souveränität des Volkes erfunden, die in einem absoluten Kaiser gegipfelt hat. Soviel für die Geschichte Ihrer Nation. Zu den Sitten: Frau Tallien und Frau von Beauharnais haben dasselbe Leben geführt, Napoleon heiratet die eine und macht sie zu Ihrer Kaiserin, die andere aber hat er nie empfangen wollen, obwohl sie eine Prinzessin war. Napoleon ist 1793 Sansculotte und setzt sich 1804 die eiserne Krone auf. Die wilden Liebhaber der Gleichheit, die 1792 Die Gleichheit oder den Tod! rufen, werden 1806 die Verbündeten einer Aristokratie, die LudwigXVIII. legitimiert hat. Im Ausland hat die Aristokratie, die heute in ihrem Faubourg Saint-Germain thront, Schlimmeres getan: sie ist Wucherer gewesen, sie war Kaufmann, sie hat kleine Pasteten gebacken, sie war Koch, Pächter und Schafhirt. In Frankreich hat also das politische Gesetz ebenso wie das Moralgesetz, hat all und jeder seinen Beginn im selben Augenblick, wo er ans Ziel gelangte, verleugnet, seine Anschauungen durch das Verhalten, oder das Verhalten durch die Anschauungen. Es gab keine Logik, weder bei der Regierung noch bei den Privatleuten. Und daher haben Sie keine Moral mehr. Heutzutage ist bei Ihnen der Erfolg die letzte Erklärung für alles, was Sie tun, was es auch sei. Die Tatsache ist also nichts mehr an sich selbst, sie existiert ausschließlich in der Idee, die die andern sich von ihr bilden. Daraus, junger Mann, ergibt sich eine zweite Regel: Habe ein schönes Äußeres! Verbirg die Kehrseite deines Lebens und zeige eine glänzende Außenseite! Die Verschwiegenheit, die Regel unseres Ordens, ist auch die Regel der Ehrgeizigen: machen Sie die Verschwiegenheit zu Ihrer Regel. Die Großen begehen fast ebenso viele Gemeinheiten wie die, denen es schlecht geht; aber sie begehen sie im Dunkel und tragen ihre Tugenden zur Schau: sie bleiben groß. Die Kleinen üben ihre Tugenden im Dunkel und lassen ihr Elend und ihre Kläglichkeit alle Welt sehen: sie werden verachtet. Sie haben Ihre Größe verborgen und haben Ihre Wunden gezeigt. Sie hatten vor aller Öffentlichkeit eine Schauspielerin zur Geliebten, Sie haben bei ihr und mit ihr gelebt; man konnte Ihnen in nichts einen Vorwurf machen, jeder fand, daß Sie beide völlige Freiheit hatten; aber Sie boten den Anschauungen der Welt Trotz, und Sie genossen nicht das Ansehen, das die Welt denen zukommen läßt, die ihren Gesetzen gehorchen. Hätten Sie Coralie diesem Herrn Camusot gelassen, hätten Sie Ihre Beziehungen zu ihr verhehlt, dann hätten Sie Frau von Bargeton geheiratet, wären Präfekt von Angoulême und Marquis von Rubempré. Sie müssen Ihre Lebensführung umkehren, Sie müssen Ihre Schönheit, Ihre Anmut, Ihren Geist, Ihre Poesie nach außen wenden. Wenn Sie sich kleine Gemeinheiten erlauben, tun Sie es zwischen den vier Wänden. Dann laden Sie nicht mehr die Schuld auf sich, Flecken auf die Dekorationen des großen Theaters zu bringen, das die Welt heißt. Napoleon nennt das: seine schmutzige Wasche im Hause waschen. Aus der zweiten Regel ergibt sich die Anmerkung: Alles liegt an der Form. Verstehen Sie recht, was ich die Form nenne! Es gibt ungebildete Leute, die, von der Not getrieben, einem andern irgendeinen Betrag gewaltsam wegnehmen; man nennt sie Verbrecher, und sie machen mit der Justiz Bekanntschaft. Ein armes Genie entdeckt ein Geheimnis, dessen Ausbeutung ein Vermögen bedeutet, Sie leihen ihm dreitausend Franken so wie die Cointet, die Ihre dreitausend Franken in die Finger bekamen und Ihren Schwager jetzt plündern werden, Sie foltern ihn auf eine Weise, daß er Ihnen sein Geheimnis ganz oder teilweise abtreten muß, Sie haben nur mit Ihrem Gewissen zu tun, und Ihr Gewissen schleppt Sie nicht vor das Kriminalgericht. Die Feinde der Gesellschaftsordnung nutzen diesen Gegensatz aus, um gegen die Justiz zu kläffen und im Namen des Volkes darüber zu toben, daß man einen, der nachts in eine geschlossene Wohnung einbricht, auf die Galeeren schickt, während man einen Menschen, der durch betrügerischen Bankrott ganze Familien zugrunde richtet, kaum für ein paar Monate ins Gefängnis steckt; aber diese Heuchler wissen ganz gut, daß die Richter, wenn sie den Dieb verurteilen, die Schranke zwischen den Armen und den Reichen schützen, die nicht umgeworfen werden darf, weil sonst das Ende der Gesellschaftsordnung gekommen wäre; während der Bankrottierer, der geschickte Erbschleicher, der Bankier, der ein Geschäft zu seinem Vorteil erledigt und dabei über Leichen geht, nur Verschiebungen der Vermögen hervorbringen. So, mein Sohn, ist die Gesellschaft gezwungen, ihrerseits zu unterscheiden, was Sie für sich ebenfalls auseinanderhalten sollen. Die große Hauptsache ist, sich der ganzen Gesellschaft gleichzustellen. Napoleon, Richelieu, die Medici haben sich ebenso hoch wie ihr Jahrhundert eingeschätzt. Sie schätzen sich auf zwölftausend Franken! ... Ihre Gesellschaft betet nicht mehr den wahrhaften Gott an, sondern das goldene Kalb. So ist die Religion Ihrer Charte beschaffen, die in der Politik nur noch das Eigentum berücksichtigt. Heißt das nicht, allen Untertanen sagen: Seht zu, daß ihr reich werdet! Wenn Sie auf gesetzlichem Wege ein Vermögen erworben haben, ein reicher Mann und Marquis von Rubempré sind, dann können Sie sich den Luxus der Ehre erlauben. Sie können dann so viel Herzensgüte an den Tag legen, daß niemand wagen wird, Sie zu beschuldigen, es hätte Ihnen je daran gefehlt wenn es Ihnen auch daran fehlen sollte, während Sie noch auf dem Wege zu Ihrem Vermögen sind, was ich Ihnen aber nicht raten möchte.« Dabei ergriff der Priester Luciens Hand und tätschelte sie. »Was müssen Sie sich also in Ihren schönen Kopf setzen? Lediglich den folgenden Vorsatz: Man setze sich ein glänzendes Ziel und verberge die Mittel, mit denen man es erreicht; verberge seinen Weg. Sie haben wie ein Kind gehandelt. Seien Sie ein Mann, seien Sie ein Jäger, stellen Sie sich auf den Anstand, wählen Sie sich in der Welt von Paris einen Hinterhalt, warten Sie auf eine Beute und einen Zufall, wahren Sie weder Ihre Person noch was man die Würde nennt; denn wir gehorchen alle irgendeiner Sache, einem Laster, einer Notwendigkeit; aber wahren Sie das höchste Gesetz: das Geheimnis.«

»Sie erschrecken mich!« rief Lucien. »Das klingt mir wie die Theorie des Straßenraubes.«

»Sie haben recht,« sagte der Domherr, »aber sie stammt nicht von mir. Nach dieser Regel haben sich alle gerichtet, die emporgekommen sind, das Haus Osterreich und das Haus Frankreich. Sie haben nichts, Sie sind in der Lage der Medici, Richelieus, Napoleons, im Beginn der Laufbahn Ihres Ehrgeizes. Diese Leute, kleiner Freund, haben ihre Zukunft auf den Preis der Undankbarkeit, des Verrats und der heftigsten Widersprüche eingeschätzt. Man muß alles wagen, um alles zu bekommen. Überlegen wir: Wenn Sie Hasard spielen, wenn Sie sich an den Bouillotte-Tisch setzen, diskutieren Sie über die Bedingungen? Die Regeln sind gegeben, Sie akzeptieren sie.«

»Sieh mal,« dachte Lucien, »er kennt die Bouillotte.«

»Wie benehmen Sie sich bei der Bouillotte?« fragte der Priester, »üben Sie da die schönste der Tugenden, die Aufrichtigkeit? Sie halten nicht nur Ihr Spiel verborgen, sondern Sie suchen auch, wenn Sie sicher sind zu gewinnen, den Glauben zu erwecken, daß Sie alles verlieren werden. Kurz, Sie heucheln, nicht wahr? Sie lügen, fünf Louisdor zu gewinnen! Was würden Sie zu einem Spieler sagen, der so großmütig wäre, dem andern mitzuteilen, er hätte drei Karten, die mit dem Umschlag gleich sind? Der Ehrgeizige aber, der den Vorschriften der Tugend gemäß in einem Wettkampf kämpfen will, während sich seine Gegner ihrer entschlagen, ist ein Kind, zu dem die alten Politiker dasselbe sagen, was die Spieler zu einem sagen, der seine Trümpfe nicht ausnutzt: Lieber Herr, spielen Sie nie Bouillotte. Haben Sie die Spielregeln des Ehrgeizes gemacht? Warum habe ich Ihnen gesagt, Sie müßten sich der Gesellschaft gleichsetzen? Weil heutzutage, junger Mann, die Gesellschaft sich unmerklich so viel Rechte über die Individuen angemaßt hat, daß das Individuum sich genötigt sieht, die Gesellschaft zu bekämpfen. Es gibt keine Gesetze mehr, es gibt nur noch Sitten, das heißt: äußeres Getue, immer die Form.«

Lucien hatte eine Geste des Erstaunens.

»Ah! mein Kind,« sagte der Priester, der fürchtete, Luciens Unschuld in Empörung gebracht zu haben, »erwarten Sie denn in einem Abbé, der alle schlimmen Streiche der Konterdiplomatie auszuführen hat ich bin der Vermittler zwischen FerdinandVII. und LudwigXVIII., zwei großen... Königen, die alle beide die Krone sehr starken ... Kombinationen verdanken, glauben Sie in mir den Erzengel Gabriel zu finden? Ich glaube an Gott, aber ich glaube noch mehr an unsern Orden, und unser Orden glaubt nur an die weltliche Macht. Um die weltliche Macht sehr stark zu machen, stützt unser Orden die apostolische katholische und römische Kirche, das heißt das Ganze der Gefühle, die das Volk im Gehorsam halten. Wir sind die Tempelherren unserer Zeit: wir haben eine Lehre. Wie der Templerorden wurde unser Orden zerstört und aus den nämlichen Gründen: er hatte seinen Wert der Welt gleichgestellt. Wollen Sie Soldat sein, so will ich Ihr Hauptmann werden. Gehorchen Sie mir, wie eine Frau ihrem Manne, ein Kind seiner Mutter gehorcht, und ich garantiere Ihnen, daß Sie in weniger als drei Jahren Marquis von Rubempré sein werden. Sie heiraten eine der vornehmsten Töchter des Faubourg Saint-Germain und sitzen eines Tages in der Pairskammer. Wenn ich Sie nicht in diesem Augenblick mit meiner Unterhaltung aufgeheitert hätte, was wären Sie? Ein Leichnam, der unauffindbar in einem tiefen Schlammbette liegt; also strengen Sie einmal Ihre Poesie an!«

Hier sah Lucien seinen Gönner neugierig an.

»Der junge Mann, der hier in dieser Kalesche neben dem Abbé Carlos Herrera sitzt, dem Ehrendomherrn des Kapitels von Toledo, dem geheimen Botschafter Seiner Majestät FerdinandsVII. an Seine Majestät den König von Frankreich, der ihm eine Depesche bringt, in der vielleicht steht: Wenn Sie mich befreit haben, lassen Sie alle, die ich in diesem Augenblick zärtlich behandle, insbesondere aber diesen Botschafter, damit er wahrhaft verschwiegen sei, aufhängen, dieser junge Mann«, sagte der Abbé, »hat nichts mehr mit dem Dichter gemein, der jetzt gestorben ist. Ich habe Sie aufgefischt, ich habe Ihnen das Leben gegeben, und Sie gehören mir wie das Geschöpf dem Schöpfer, wie in den orientalischen Märchen der Ifrit dem Geiste, wie der Itschoglan dem Sultan, wie der Körper der Seele! Ich will Sie mit mächtiger Hand auf dem Wege der Macht halten; ich verspreche Ihnen trotzdem ein Leben der Genüsse, der Ehren, der fortwährenden Feste ... Niemals wird es Ihnen an Geld fehlen ... Sie werden glänzen, Sie werden prangen, während ich, in den Schmutz der Gründungen gebückt, das glänzende Gebäude Ihres Glückes sichern werde. Ich für mein Teil liebe die Macht um der Macht willen! Ich werde mich immer über Ihre Genüsse, die mir versagt sind, freuen. Kurz, ich will mit Ihnen eins werden! Und wenn Ihnen einmal der Pakt zwischen Mensch und Dämon, zwischen Kind und Diplomat nicht mehr zusagt, können Sie immer noch ein kleines Fleckchen aufsuchen wie das, von dem Sie sprachen, und sich ins Wasser stürzen: ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger werden Sie sein, was Sie jetzt sind: unglücklich oder entehrt.«

»Für einen würdigen Geistlichen in höheren Jahren keine üble Leistung!« rief Lucien, der in einem seltsam benommenen Zustande war. Die Kalesche war an einer Poststation stehen geblieben.

»Ich weiß nicht, welchen Namen Sie diesem kurzen Unterrichte geben wollen, mein Sohn. Ich nenne Sie meinen Sohn, denn ich adoptiere Sie und mache Sie zu meinem Erben. Was ich Ihnen sagte, ist das Gesetzbuch des Ehrgeizes. Es gibt nur eine kleine Zahl auserwählter Kinder Gottes. Von zwei Dingen eines: entweder muß man in ein Kloster gehen und da finden Sie oft die große Welt im kleinen! oder man muß sich diesem Gesetzbuch fügen.«

»Vielleicht wäre es besser, nicht so klug zu sein«, sagte Lucien, der versuchte, der Seele dieses schrecklichen Priesters auf den Grund zu gehen.

»Wie!« versetzte der Domherr, »nachdem Sie gespielt haben, ohne die Spielregeln zu kennen, verlassen Sie jetzt die Partie, wo Sie stark geworden sind und sich mit einem kräftigen Geleitsmann einstellen? Und haben nicht einmal den Wunsch, Revanche zu nehmen? Wie! Sie haben keine Lust, die zu Ihren Füßen zu sehen, die schuld daran sind, daß Sie von Paris verjagt wurden?«

Lucien schauderte, wie wenn ein bronzenes Instrument, ein chinesischer Gong, seine schrecklichen Töne von sich gegeben hätte, die so auf die Nerven fallen.

»Ich bin nur ein demütiger Priester,« fuhr der Mann fort, und auf seinem Gesicht, das von der Sonne Spaniens wie kupferfarben geworden war, zeigte sich ein schrecklicher Ausdruck, »aber wenn Menschen mich gedemütigt, gefoltert, verraten, verkauft hätten, wie es Ihnen von den Menschen geschehen ist, von denen Sie mir erzählten, ich wäre wie der Araber der Wüste! Jawohl, Leib und Seele weihte ich der Rache. Ich würde mir nichts daraus machen, mein Leben am Galgen, in der Garotte, am Pfahl oder, wie bei Ihnen, unter der Guillotine zu enden, aber ich gäbe meinen Kopf nur her, nachdem ich meine Feinde zu Boden getreten hätte.«

Lucien blieb still, er verspürte keine Lust mehr, diesen Priester aufzuziehen.

»Die einen stammen von Abel ab, die andern von Kain,« fuhr der Domherr wieder fort; »ich bin von gemischtem Geblüt, Kain für meine Feinde, Abel für meine Freunde; und wehe dem, der Kain erweckt! Schließlich, Sie sind Franzose, ich bin Spanier und dazu noch Domherr!«

›Was für eine wilde Natur! sagte sich Lucien und sah den Schutzherrn an, den der Himmel ihm geschickt hatte.

Der Abbé Carlos Herrera trug keine Kennzeichen an sich, die den Jesuiten oder überhaupt den Ordensgeistlichen verraten hätten. Er war breit und kurz, hatte mächtige Hände, eine gedrungene Gestalt, eine herkulische Kraft, einen schrecklichen Blick, der nur durch eine gewisse angenommene Sanftmut gemildert war; dazu kam die bronzene Hautfarbe, die nichts aus dem Innern nach außen durchschimmern ließ. Das alles stieß mehr ab, als es anzog. Lange, schöne, gepuderte Haare in der Art, wie der Fürst von Talleyrand sie trug, gaben dem seltsamen Diplomaten das Aussehen eines Bischofs, und auch das blaue, weiß eingefaßte Band, an dem ein goldenes Kreuz hing, verkündete einen geistlichen Würdenträger. Seine schwarzseidenen Strümpfe schmiegten sich eng an wahrhaft athletische Beine. Sein peinlich sauberes Gewand sprach von der Sorgfalt, die er auf seine Person verwandte, was die einfachen Priester, insbesondere in Spanien, selten tun. Ein Dreispitz lag auf dem Vordersitz des Wagens, der das spanische Wappen trug. Trotzdem der Mann so viel Abstoßendes an sich hatte, schwächten seine Manieren, die zugleich heftig und schmeichlerisch waren, den Eindruck seiner Physiognomie ab; und für Lucien hatte sich der Priester offenbar kokett, sanft und fast katzenhaft gemacht. Lucien betrachtete die geringsten Kleinigkeiten mit sorgenvoller Miene. Er fühlte: es handelte sich in diesem Augenblick um Leben oder Tod. Sie waren schon auf der zweiten Umspannstation hinter Ruffec. Die letzten Sätze des spanischen Priesters hatten viele Saiten in seinem Herzen zum Mitklingen gebracht, und, zur Schande Luciens und des Priesters, der das schöne Gesicht des Dichters scharf im Auge behielt, sei es gesagt: diese Saiten waren die schlechtesten, waren die, die nur erzittern, wenn entartete Gefühle sie bestürmen. Lucien sollte Paris wiedersehen, er sollte die Zügel der Herrschaft, die seinen ungeschickten Händen entfallen waren, wieder ergreifen, er sollte sich rächen! Der Vergleich zwischen dem Provinzleben und dem Leben von Paris, der ihn gequält hatte, der eine der stärksten Ursachen zu seinen Selbstmordgedanken gewesen war, verschwand: er sollte wieder in sein Element kommen, aber unter dem Schutze eines Politikers, der, bis zur Ruchlosigkeit eines Cromwell, tief und stark war.

›Ich war allein, wir werden zu zweit sein‹, sagte er sich.

Je mehr der Geistliche in Luciens früherem Leben Fehler entdeckt hatte, um so mehr Interesse hatte er gezeigt. Die Teilnahme dieses Menschen hatte sich im Verhältnis des Unglücks vermehrt, und er wunderte sich über nichts. Trotzdem fragte sich Lucien, was der Beweggrund dieses Mittelsmannes königlicher Intrigen sein könnte. Er begnügte sich zunächst mit einer sehr gewöhnlichen Begründung: die Spanier sind großmütig! Der Spanier ist großmütig, wie der Italiener Giftmischer und eifersüchtig ist, wie der Franzose leichtsinnig, der Deutsche offen, der Jude gemein und der Engländer edel ist. Man kehre diese Behauptungen um, und man kommt zur Wahrheit. Die Juden haben Geld aufgehäuft, sie schreiben Robert den Teufel, sie spielen Phädra, sie singen Wilhelm Tell, sie bestellen Bilder, sie errichten Paläste, sie schreiben die Reisebilder und wundervolle Gedichte, sie sind mächtiger als je, ihre Religion ist anerkannt, und sie geben dem Papst Kredit! In Deutschland fragt man bei den geringsten Kleinigkeiten einen Fremden: Haben Sie einen Vertrag geschlossen? so vielen Schikanen ist man dort ausgesetzt. In Frankreich klatscht man seit fünfzig Jahren der Aufführung der nationalen Dummheiten Beifall, man fährt fort, unerklärliche Hüte zu tragen, und die Regierung wechselt nur unter der Bedingung, daß sie stets dieselbe bleibt! England entfaltet angesichts der ganzen Welt Perfidien, deren Greuel nur mit seiner Habgier verglichen werden können. Der Spanier, der einmal das Gold beider Indien gehabt hat, hat nichts mehr. Es gibt kein Land der Erde, in dem weniger Giftmorde vorkommen als in Italien, und in dem gefälligere und freundlichere Sitten wären. Die Spanier haben vielfach vom Ruhme der Mauren gelebt.

Als der Spanier wieder in die Kalesche stieg, sagte er dem Postillion ins Ohr: »Es muß schnell gehen, es gibt drei Franken Trinkgeld.« Lucien zögerte einzusteigen, der Priester sagte zu ihm: »Nur zu, kommen Sie!«

Und Lucien stieg ein, indem er sich einredete, er wollte gegen ihn ein argumentum ad hominem loslassen.

»Ehrwürdiger Vater,« sagte er zu ihm, »ein Mann, der mit so kaltem Blute Lehren entwickelt hat, die viele gute Bürger für äußerst unmoralisch halten würden ...«

»Und die es sind,« fiel der Priester ein; »darum wollte Jesus Christus, daß das Ärgernis sei, mein Sohn; und darum zeigt die Welt einen so großen Abscheu vor dem Ärgernis.«

»Ein Mann Ihres Charakters wird sich nicht über die Frage wundern, die ich ihm stellen will?«

»Aber, mein Sohn,« versetzte Carlos Herrera, »Sie kennen mich nicht. Glauben Sie, ich würde einen Sekretär nehmen, ehe ich wüßte, ob er Prinzipien hat, die zuverlässig genug sind, daß ich keinen Schaden erleide? Ich bin mit Ihnen zufrieden. Sie haben noch die ganze Unschuld des Jünglings, der sich mit zwanzig Jahren tötet. Ihre Frage? ...«

»Warum interessieren Sie sich für mich? Welchen Preis wollen Sie für meinen Gehorsam? Warum geben Sie mir alles? Was ist Ihr Anteil?«

Der Spanier sah Lucien an und lächelte.

»Warten wir ab, bis es bergauf geht, wir können dann aussteigen und zu Fuß gehen und im Freien sprechen. Das Innere eines Wagens ist nicht der Ort für solche Enthüllung.«

Es trat einige Zeit Schweigen zwischen die beiden Reisegefährten, und die Schnelligkeit der Fahrt trug noch zu dem moralischen Rausch Luciens bei.

»Hier ist die Steigung«, sagte Lucien, der wie aus einem Traum erwachte.

»Schön, gehen wir!« sagte der Priester und rief mit lauter Stimme dem Postillion zu, er sollte halten. Sie stiegen beide aus und gingen zu Fuß auf der Straße weiter. »Kind,« sagte der Spanier und legte seinen Arm auf den Luciens, »hast du über das Gerettete Venedig von Otway nachgedacht? Hast du die tiefe Freundschaft zwischen Mann und Mann verstanden, die Pierre und Jaffier verbindet, die für sie eine Frau zu einer unbedeutenden Kleinigkeit macht und die alle sozialen Unterschiede zwischen ihnen aufhebt? ... So viel für den Dichter.«

›Der Domherr kennt auch das Theater‹, sagte Lucien für sich selbst. »Haben Sie Voltaire gelesen?« fragte er ihn.

»Ich habe Besseres getan,« erwiderte der Domherr, »ich setze ihn in Wirklichkeit um.«

»Sie glauben nicht an Gott?«

»Sieh da, jetzt bin ich der Atheist!« sagte der Priester lächelnd. »Halten wir uns an das Positive, kleiner Freund«, fuhr er fort und legte seinen Arm um ihn. »Ich bin sechsundvierzig Jahre alt, bin der natürliche Sohn eines spanischen Granden, also sozusagen ohne Familie, und ich habe ein Herz ... Aber lerne eines, grabe es in dein Hirn, das noch so weich ist: der Mensch hat ein Grauen vor der Einsamkeit. Und von allen Einsamkeiten ist die moralische die schrecklichste. Die ersten Einsiedler lebten mit Gott, sie bewohnten die Welt, die am bevölkertsten ist, die Welt der Geister. Die Geizigen bewohnen die Welt der Phantasie und der Genüsse. Der Geizige hat alles in seinem Hirn, sogar sein Geschlecht. Der erste Gedanke des Menschen, sei er ein Aussätziger oder ein Galeerensträfling, ein Frevler oder ein Kranker, ist: einen Genossen seines Schicksals zu haben. Um diesem Trieb, der das Leben selbst ist, zu genügen, wendet er alle Kräfte, alle Macht, die ganze Energie seines Lebens an. Hätte ohne dieses beherrschende Verlangen Satan Gefährten finden können? Darüber wäre eine ganze Dichtung zu schreiben, die das Vorspiel zum Verlorenen Paradies wäre, denn dieses ist nichts als die Apologie der Empörung.«

»Und dieses neue Gedicht wäre die Iliade der Verderbnis«, meinte Lucien.

»Gut also, ich bin allein, ich lebe allein! Ich trage das Gewand, aber nicht das Herz eines Priesters. Ich liebe, mich aufzuopfern; das ist mein Laster. Ich lebe von der Aufopferung, darum bin ich Priester. Ich fürchte nicht die Undankbarkeit, und ich bin dankbar. Die Kirche ist für mich nichts; sie ist eine Idee. Ich habe mich dem König von Spanien zu eigen gemacht; aber man kann den König von Spanien nicht lieben. Er ist mein Schutzherr, er schwebt über mir. Ich will mein Geschöpf lieben, will es modeln, es zu meinem Dienst kneten, um es zu lieben, wie ein Vater sein Kind liebt. Ich werde neben dir in deinem Tilbury fahren, lieber Junge, werde mich an deinen Erfolgen bei den Weibern laben, werde sagen: Dieser schöne junge Mensch bin ich! Diesen Marquis von Rubempré habe ich geschaffen und in die Welt der Aristokratie gestellt; seine Größe ist mein Werk, er schweigt oder spricht mit meiner Stimme, er berät sich mit mir über alles. Der Abbé von Vermont war das für Marie-Antoinette.«

»Er hat sie zum Schafott geführt!«

»Er liebte nicht die Königin! ...« erwiderte der Priester, »er liebte nur den Abbé von Vermont.«

»Soll ich die Verzweiflung hinter mir lassen?«

»Ich habe Schätze, sie stehen dir zur Verfügung.«

»In diesem Augenblick täte ich viel, wenn ich Séchard freimachen könnte«, erwiderte Lucien mit einer Stimme, aus der nichts mehr von Selbstmord klang.

»Sprich ein Wort, mein Sohn, und er empfängt morgen früh die Summe, die zu seiner Befreiung notwendig ist.«

»Wie! Sie wollten mir zwölftausend Franken geben?«

»Höre, mein Kind! Du siehst, wir machen vier Meilen in der Stunde. Wir werden zum Diner in Poitiers sein. Wenn du dort den Vertrag besiegeln willst, mir einen einzigen Beweis des Gehorsams geben willst er ist groß, ich will ihn!, dann trägt die Eilpost nach Bordeaux fünfzehntausend Franken zu deiner Schwester ...«

»Wo sind sie?«

Der spanische Priester antwortete nichts, und Lucien sagte sich: ›Da habe ich ihn, er hat sich über mich lustig gemacht. Einen Augenblick später waren der Spanier und der Dichter schweigend wieder in den Wagen gestiegen. Schweigend steckte der Priester die Hand in die Wagentasche, zog den in drei Fächer geteilten ledernen Sack heraus, den alle Reisenden so gut kennen, und entnahm ihm, indem er dreimal seine breite Hand hineinsteckte, die jedesmal mit Gold gefüllt wieder auftauchte, hundert Portugalesen.

»Vater, ich gehöre Ihnen«, sagte Lucien, der von diesem Goldstrom geblendet war.

»Kind,« versetzte der Priester und küßte Lucien zärtlich auf die Stirn, »das ist nur der dritte Teil des Goldes, das in diesem Säckchen steckt. Dreißigtausend Franken, ohne das Reisegeld zu zählen.«

»Und Sie reisen allein!« rief Lucien.

»Was bedeutet das?« versetzte der Spanier, »ich habe für mehr als hunderttausend Taler Wechsel auf Paris bei mir. Ein Diplomat ohne Geld ist dasselbe wie das, was du jetzt noch eben gewesen bist: ein Dichter ohne Willen.«

*

In dem Augenblick, in dem Lucien mit dem angeblichen spanischen Diplomaten in den Wagen stieg, stand Eva auf, um ihrem Kinde zu trinken zu geben. Sie fand den verhängnisvollen Brief und las ihn. Kalter Schweiß brach ihr aus, es wurde ihr dunkel vor den Augen, sie rief Marion und Kolb.

Auf die Frage: »Ist mein Bruder fortgegangen?« antwortete Kolb: »Ja, Frau, vor Tagesanbruch!«

»Bewahrt mir das tiefste Geheimnis über das, was ich euch anvertraue,« sagte Eva zu den beiden Bediensteten, »mein Bruder ist ohne Zweifel weggegangen, um seinem Leben ein Ende zu machen. Eilt ihr beide fort, zieht vorsichtig Erkundigungen ein und seht euch am Ufer des Flusses um.«

Eva blieb in einem entsetzlichen Zustand der Erstarrung zurück. Während sie sich in dieser furchtbaren Verfassung befand, kam um sieben Uhr morgens Petit-Claud, um mit ihr von Geschäften zu sprechen. In solchen Lagen hört man all und jeden an.

»Frau Séchard,« sagte der Anwalt, »unser lieber armer David ist im Gefängnis, und es ist nun zu dem gekommen, was ich von Anfang an vermutet habe. Ich riet ihm damals, sich zur Ausbeutung der Entdeckung mit seinen Konkurrenten, den Cointet, zusammenzutun, die die Mittel in ihren Händen haben, das zur Wirklichkeit zu machen, was bei Ihrem Gatten noch im Zustand der Konzeption ist. Sowie ich also gestern abend die Nachricht von seiner Verhaftung erhielt, was tat ich da? Ich suchte die Herren Cointet in der Absicht auf, sie zu Bedingungen zu bewegen, mit denen Sie einverstanden sein könnten. Wenn Sie diese Entdeckung selbst ausnutzen wollen, wird Ihr Leben dauernd sein, was es jetzt ist: ein Leben der Schikanen, in denen Sie unterliegen müssen, oder Sie machen schließlich erschöpft und aufgerieben, vielleicht zu Ihrem Nachteil, mit einem Geldmann, was Sie nach meinem Rat gleich heute mit der Firma Gebrüder Cointet machen sollen. Sie ersparen sich so die Entbehrungen und Qualen des Kampfes, den der Erfinder gegen die Habgier der Kapitalisten und die Gleichgültigkeit der Gesellschaft führen muß. Beachten Sie ja: wenn die Herren Cointet Ihre Schulden bezahlen; wenn sie, nachdem die Schulden bezahlt sind, Ihnen noch eine Summe geben, die Ihnen sicher ist, gleichviel, welchen Wert, welche Zukunft oder Ausbeutungsmöglichkeit die Entdeckung hat; wenn sie Ihnen, wohlverstanden, außerdem einen bestimmten Anteil an den Gewinnen des Unternehmens bewilligen, wären Sie dann nicht glücklich? Sie, Frau Séchard, werden Eigentümerin der Druckereieinrichtung, und Sie werden sie ohne Frage verkaufen. Das bringt Ihnen zwanzigtausend Franken, zu diesem Preise garantiere ich Ihnen einen Käufer. Wenn Sie durch einen Gesellschaftsvertrag mit Herrn Cointet fünfzehntausend Franken bekommen, haben Sie ein Vermögen von fünfunddreißigtausend Franken, und zum gegenwärtigen Zinsfuß bringt Ihnen das zweitausend Franken Einkommen. Man kann mit zweitausend Franken in der Provinz leben. Und beachten Sie, Frau Séchard, daß Sie möglicherweise noch auf die Erträge Ihrer Assoziation mit der Firma Cointet rechnen können. Ich sage: möglicherweise, denn man muß auch mit dem Mißerfolg rechnen. Ich bin nun also in der Lage, Ihnen folgendes vorzuschlagen: Erstens Bezahlung sämtlicher Schulden Davids, zweitens fünfzehntausend Franken Entschädigung für seine Forschungen, die er bekommt, ohne daß die Herren Cointet sie in irgendeiner Weise zurückverlangen können, auch wenn die Entdeckung nichts einbringt; schließlich soll zwischen David und den Herren Cointet zur Ausbeutung des Erfinderpatents, das genommen werden soll, eine Gesellschaft gebildet werden; vorher soll gemeinsam und im geheimen ein Experiment über seine Herstellungsmethode gemacht werden. Folgendes sollen die Grundlagen des Vertrages sein: Der Anteil Davids besteht in dem Patent, das er einbringt, und er wird den vierten Teil der Gewinne bekommen. Sie sind eine einsichtige Frau, die Urteil hat, was bei so schönen Frauen nicht oft vorkommt; denken Sie über diese Vorschläge nach, und Sie werden sie sehr annehmbar finden.«

»Ach, Herr Petit-Claud,« rief die arme Eva in Verzweiflung und weinend, »warum sind Sie nicht gestern abend gekommen, um mir dieses Geschäft vorzuschlagen? Wir hätten die Schande vermieden und ... Schlimmeres ...«

»Meine Verhandlung mit den Cointet, die sich, wie Sie sich haben denken können, hinter Métivier verstecken, kam erst um zwölf Uhr nachts zu Ende. Aber was hat denn seit gestern abend geschehen können, was schlimmer ist als die Verhaftung unseres armen David?« fragte Petit-Claud.

»Diese schreckliche Botschaft fand ich bei meinem Erwachen«, antwortete sie und reichte Petit-Claud Luciens Brief hin. »Sie beweisen mir in diesem Augenblick, daß Sie sich für uns interessieren, Sie sind Davids und Luciens Freund, ich brauche Sie nicht um Verschwiegenheit zu bitten.«

»Seien Sie unbesorgt,« sagte Petit-Claud, nachdem er den Brief gelesen hatte, »Lucien tötet sich nicht. Nachdem er die Ursache zur Verhaftung seines Schwagers geworden war, brauchte er einen Vorwand, um Sie zu verlassen. Und ich betrachte das als eine Abgangsphrase im Kulissenstil.«

Die Cointet waren an ihrem Ziel angelangt. Nachdem sie den Erfinder und seine Familie lange genug gequält hatten, ergriffen sie den Augenblick, wo die Ermattung den Wunsch nach Ruhe schafft. Nicht alle Erforscher von Geheimnissen sind wie die Bulldogge, die mit der Beute zwischen den Zähnen stirbt, und die Cointet hatten den Charakter ihrer Opfer klug studiert. Für den großen Cointet war die Verhaftung Davids die letzte Szene im ersten Akt dieses Dramas. Der zweite Akt begann mit dem Vorschlag, den Petit-Claud eben gemacht hatte. Als großer Meister betrachtete der Advokat den tollen Streich Luciens als eine der unverhofften Chancen, die in einem Spiel die Entscheidung herbeiführen. Er sah, daß Eva von diesem Ereignis so niedergeschlagen war, daß er beschloß, es sich zunutze zu machen, um ihr Vertrauen zu gewinnen, denn er hatte sich gemerkt, welchen Einfluß die Frau auf den Mann hatte. Anstatt also Frau Séchard noch tiefer in die Verzweiflung zu tauchen, versuchte er, sie zu beruhigen, und er brachte sie sehr geschickt dazu, in der Geistesverfassung, in der sie war, ins Gefängnis zu gehen. Er dachte, jetzt würde sie David dazu bestimmen, den Gesellschaftsvertrag mit den Cointet zu machen.

»Frau Séchard, David hat mir gesagt, er wünschte nur für Sie und für Ihren Bruder zu Vermögen zu kommen. Es muß Ihnen doch jetzt klar sein, daß es eine Torheit wäre, Lucien reich machen zu wollen. Der Junge könnte drei Vermögen durchbringen.«

Evas Haltung sagte zur Genüge, daß die letzte Illusion über ihren Bruder verflogen war; und so machte der Anwalt eine Pause, um das Schweigen seiner Klientin in eine Art Zustimmung zu verwandeln.

»In dieser Sache also«, fuhr er dann fort, »handelt es sich nur noch um Sie und Ihr Kind. Sie müssen wissen, ob zweitausend Franken Einkommen, ohne die Erbschaft des alten Séchard zu rechnen, Ihnen zu Ihrem Glück genügen. Ihr Schwiegervater hat seit langem ein Einkommen von sieben- bis achttausend Franken, ohne die Zinsen zu rechnen, die er aus seinen Kapitalien zieht: also haben Sie schließlich eine schöne Zukunft vor sich. Warum also wollen Sie sich quälen?«

Der Advokat verließ Frau Séchard, um sie dem Nachdenken über diese Aussicht zu überlassen, die der große Cointet am Tage vorher so geschickt vorbereitet hatte.

»Zeigen Sie ihnen die Möglichkeit, irgendeine Summe in die Hand zu bekommen,« hatte der große Spekulant von Angoulême zu dem Anwalt gesagt, als dieser ihm Mitteilung von der Verhaftung gemacht hatte; und wenn sie sich an den Gedanken gewöhnt haben, eine Summe einzuheimsen, gehören sie uns: wir handeln hin und her, und allmählich bringen wir sie zu dem Preis, den wir für das Geheimnis geben wollen.«

Dieser Satz enthielt in Kürze den Inhalt des zweiten Aktes dieses Finanzdramas.

Als Frau Séchard, voller Angst über das Schicksal ihres Bruders, sich angezogen hatte und die Treppe hinabging, um sich in das Gefängnis zu begeben, quälte sie die Aufregung bei der Vorstellung, sie sollte allein durch die Straßen von Angoulême gehen. Ohne an die Ängstlichkeit seiner Klientin zu denken, kam Petit-Claud zurück, um ihr den Arm anzubieten. Ein recht machiavellistischer Gedanke hatte ihn zurückgeführt, und er bekam den Lohn für seine Aufmerksamkeit, für die Eva überaus erkenntlich war; denn er ließ sich dafür danken, ohne ihr ihren Irrtum zu benehmen. Diese kleine Aufmerksamkeit bei einem so harten und rauhen Menschen und in einem solchen Augenblick änderte die Meinung, die Frau Séchard bisher über Petit-Claud gehabt hatte.

»Ich führe Sie«, sagte er zu ihr, »auf dem längsten Wege, aber hier begegnen wir niemandem.«

»Das ist das erstemal, daß ich nicht das Recht habe, mit erhobenem Kopfe durch die Straßen zu gehen; man hat es mir gestern sehr hart beigebracht.«

»Es wird das erste- und das letztemal sein.«

»Oh, ich bleibe sicher nicht in dieser Stadt.«

»Wenn Ihr Mann in die Vorschläge, die so ziemlich zwischen den Cointet und mir vereinbart sind, willigt,« sagte der Anwalt zu Eva, als sie am Gefängnis angelangt waren, »dann lassen Sie es mich wissen, ich komme dann sofort mit einer Autorisation von Cachan, die David erlauben wird auszugehen; und wahrscheinlich wird er dann nicht ins Gefängnis zurück müssen.«

Diese Worte, die Eva so, mit dem Gefängnis vor Augen, anhörte, waren, was die Italiener eine Kombination nennen. Bei ihnen bedeutet dieses Wort den undefinierbaren Akt, in dem sich eine Mischung aus Recht und Perfidie, erlaubter Betrug im günstigen Zeitpunkt und ein wohlvorbereiteter, sozusagen gesetzlicher Schurkenstreich begegnen; nach ihrer Ausdrucksweise ist die Bartholomäusnacht eine politische Kombination.

Aus den oben angeführten Gründen kommt die Schutzhaft in der Provinz so selten vor, daß es in den meisten Städten Frankreichs kein besonderes Arresthaus für diesen Zweck gibt. In diesem Fall wird der Schuldner in das Gefängnis eingeliefert, wo man ihn mit den Verdächtigen, Beschuldigten, Angeklagten und Verurteilten zusammen einsperrt. Das sind die verschiedenen Namen, die bei uns in Frankreich auf Grund des Gesetzes hintereinander die bekommen, die das Volk ohne Unterschied Verbrecher nennt. Daher wurde David vorläufig in einer der niedrigen Zellen des Gefängnisses von Angoulême untergebracht, die vielleicht irgendein Verurteilter, der seine Zeit abgemacht hatte, eben verlassen hatte. Nachdem David eingeliefert war und die Summe erhalten hatte, die das Gesetz für die Verpflegung eines Gefangenen während eines Monats bestimmt, kam er vor einen dicken Mann, der über die Gefangenen eine unumschränktere Gewalt hatte, als ein König sie besitzt: den Gefangenwärter. In der Provinz kennt man keine mageren Gefangenwärter. Einmal ist diese Stelle fast eine Pfründe; dann ist ein Gefangenwärter in der Lage eines Gastwirts, der für sein Haus keine Miete zu zahlen hat, er ernährt sich dadurch sehr gut, daß er seine Gefangenen, denen er übrigens, wie es der Gastwirt tut, je nach ihren Mitteln Zimmer anweist, sehr schlecht ernährt. Er kannte David, hauptsächlich von seinem Vater her, mit Namen und schenkte ihm so viel Vertrauen, daß er ihn, obwohl er keinen Heller bei sich hatte, für eine Nacht gut unterbrachte. Das Gefängnis von Angoulême stammt aus dem Mittelalter und hat nicht mehr Veränderungen erlitten als die Kathedrale. Es heißt noch Justizgebäude und stößt an das frühere Landesgericht an. Die Einlaßpforte ist klassisch, es ist eine starke, abgenutzte, niedrige Tür, deren Bau um so mehr einen zyklopischen Eindruck macht, als das runde Fenster, durch das der Kerkermeister die Leute sehen kann, bevor er öffnet, aussieht wie ein einziges Auge auf der Stirn. Im Erdgeschoß zieht sich der Front entlang ein Flur, und auf diesen Flur öffnen sich mehrere Kammern, deren hohe, vergitterte Fenster auf den Gefängnishof gehen. Der Gefängniswärter hat eine Wohnung, die von diesen Gefangenen durch ein Gewölbe getrennt ist, das das Erdgeschoß in zwei Teile teilt und an dessen Ende man von der Eingangspforte aus ein Gitter sieht, das den Gefängnishof abschließt. David wurde von dem Kerkermeister in eine Kammer geführt, die neben dem Gewölbe lag und deren Tür sich seiner Wohnung gegenüber befand. Der Gefängniswärter wollte einen Mann zum Nachbar haben, der ihm in Anbetracht seiner besonderen Lage Gesellschaft leisten konnte.

»Das ist die beste Kammer«, sagte er, als er sah, daß David beim Anblick dieses Raumes starr war.

Die Wände dieser Kammer waren aus Stein und ziemlich feucht. Die Fenster lagen sehr hoch und waren mit starken Eisenstangen vergittert. Die Steinfliesen des Fußbodens atmeten eine grimmige Kälte aus. Man hörte den regelmäßigen Schritt der Schildwache, die auf dem Flur hin und her ging. Dieses Geräusch, das eintönig war wie das der Flut, bewirkt, daß einen keinen Augenblick lang der Gedanke verläßt: Man bewacht dich! Du bist nicht mehr frei! Alle diese Einzelheiten und der Gesamteindruck versetzen anständige Menschen in eine gräßliche Stimmung. David sah ein abscheuliches Bett; aber die Gefangenen sind in der ersten Nacht so aufgeregt, daß sie die Härte ihres Lagers erst in der zweiten bemerken. Der Wärter war liebenswürdig und schlug natürlich seinem Sträfling vor, bis zum Anbruch der Nacht auf dem Hof spazieren zu gehen. Davids Qual begann erst, als er schlafen ging. Es war verboten, den Gefangenen Licht zu geben, es bedurfte also einer Erlaubnis des Prokurators, um den Mann, der in Schuldhaft saß, von der Gefängnisordnung, die ohne Zweifel nur für die eines Verbrechens Überführten gemacht war, auszunehmen. Der Kerkermeister nahm zwar David mit in seine Wohnung; aber schließlich mußte er zur Schlafenszeit eingeschlossen werden. Evas armer Mann lernte jetzt die Schrecknisse des Gefängnisses und die Roheit seiner Einrichtungen, die ihn empörten, kennen. Aber es trat die Gegenwirkung ein, die den Denkern vertraut ist: er zog sich in diese Einsamkeit zurück und rettete sich aus ihr in einen der Träume, in denen die Dichter auch im Wachen leben können. Der Unglückliche richtete schließlich seine Gedanken auf seine Angelegenheiten. Das Gefängnis befähigt außerordentlich zu scharfer Prüfung des Gewissens. David fragte sich, ob er seine Pflichten als Hausvater erfüllt hätte. In welcher Verzweiflung mußte seine Frau sich befinden! Warum hatte er nicht, wie Marion ihm geraten, erst so viel Geld verdient, bis er in Muße seiner Entdeckung nachgehen konnte.

»Wie«, fragte er sich, »können wir nach einem solchen Skandal in Angoulême bleiben? Was soll aus uns werden, wenn ich aus dem Gefängnis komme? Wo sollen wir hin?«

Selbst über das Verfahren, das er entdeckt hatte, kamen ihm einige Zweifel. Das war eine Angst, die nur Erfinder verstehen können! Von Zweifel zu Zweifel wurde David seine Lage immer klarer, und er sagte sich selbst, was die Cointet dem alten Séchard gesagt hatten, was Petit-Claud eben Eva gegenüber geäußert hatte: »Vorausgesetzt, daß alles gut geht; wie wird es nachher mit der Anwendung stehen? Ich brauche ein Erfinderpatent, dazu ist Geld nötig! ... Ich brauche eine Fabrik, in der ich meine Versuche im großen machen kann, das heißt mein Geheimnis preisgeben! ... Oh, wie recht Petit-Claud hatte!«

Die dunkelsten Gefängnisse spenden sehr lebhaftes Licht.

»Ach was!« sagte David, als er im Begriff war, auf dem primitiven Feldbett, das eine schreckliche Matratze aus sehr grobem braunen Stoff hatte, einzuschlafen, »ohne Zweifel besucht mich Petit-Claud morgen früh.«

David hatte sich also selbst darauf vorbereitet, die Vorschläge anzuhören, die seine Frau ihm von seiten seiner Feinde überbrachte. Nachdem sie ihren Mann umarmt und sich auf das Bett gesetzt hatte, denn es stand nur ein einziger, sehr gewöhnlicher Holzstuhl da, fiel der Blick der armen Frau auf den gräßlichen Kübel, der in einer Ecke stand, und auf die Wände, auf die Davids Vorgänger in großer Zahl ihre Namen und allerlei Sprüche geschrieben hatten. Jetzt stürzten aus ihren vom Weinen ohnehin geröteten Augen die Tränen von neuem hervor, als sie ihren Mann wie einen Verbrecher untergebracht sah.

»Dahin also kann der Drang nach dem Ruhme führen!« rief sie aus. »OGeliebter, verlaß diesen Weg ... Wir wollen zusammen auf der breiten Landstraße gehen, wir wollen nicht plötzlich zu großem Vermögen zu kommen suchen ... Ich brauche wenig, um glücklich zu sein, besonders nachdem ich so viel gelitten habe! ... Und wenn du wüßtest! Diese schimpfliche Verhaftung ist nicht unser größtes Unglück! Lies!«

Sie übergab ihm Luciens Brief, den David bald gelesen hatte; und um ihn zu trösten, berichtete sie ihm das häßliche Wort des Advokaten über Lucien.

»Wenn Lucien sich getötet hat, ist es jetzt geschehen,« sagte David; »und wenn es jetzt nicht geschehen ist, wird er sich nicht töten: er kann, wie er selbst sagte, nicht länger als einen Morgen lang Mut haben.«

»Aber kann man denn in dieser Angst bleiben?« rief die Schwester, die bei dem Gedanken an den Tod schon fast alles verziehen hatte.

Sie berichtete ihrem Manne die Anträge, die Petit-Claud angeblich von den Cointet erhalten hatte, und David nahm sie sofort mit sichtlicher Freude auf.

»Wir werden in einem Dorfe in der Nähe von Houmeau, wo die Fabrik der Cointet gelegen ist, unser Auskommen finden, und ich will nichts mehr als Ruhe«, rief der Erfinder. »Wenn Lucien sich den Tod gegeben hat, haben wir genug Vermögen, um die Erbschaft meines Vaters abzuwarten; und wenn er lebt, wird der arme Junge lernen müssen, sich unserem bescheidenen Leben anzubequemen. Die Cointet werden sicher an meiner Entdeckung Geld verdienen; aber was bin ich schließlich im Vergleich zu meinem Vaterlande? Ein einzelner Mensch. Wenn meine Erfindung allen nützt, so will ich zufrieden sein. Siehst du, liebe Eva, wir sind alle beide nicht zum Kaufmann geschaffen. Wir kennen beide weder die Liebe zum Gewinn noch die Überlegsamkeit im Geldausgeben, selbst wenn das Geld noch so ehrlich verdient ist; und das sind vielleicht die Tugenden des Kaufmanns, denn man nennt diese beiden verschiedenen Formen des Geizes Vorsicht und Geschäftsgeist.«

Eva war entzückt über diese Übereinstimmung der Ansichten, die eine der köstlichsten Blüten der Liebe ist, denn die Interessen und der Geist brauchen bei zwei Menschen, die sich lieben, nicht im Einklang zu stehen. Sie bat nun den Kerkermeister, an Petit-Claud eine Zeile zu schicken, durch die sie ihm mitteilte, er solle für Davids Freilassung sorgen, da sie beide mit den Grundlagen der geplanten Vereinbarung einverstanden wären. Zehn Minuten später trat Petit-Claud in Davids schreckliches Gemach und sagte zu Eva: »Gehen Sie nach Hause, Frau Séchard, wir kommen nach. Nun, lieber Freund,« sagte er dann zu David, »du hast dich also fangen lassen! Und wie hast du den Fehler begehen können, auszugehen?«

»Wie hätte ich nicht ausgehen sollen? Sieh hier, was mir Lucien geschrieben hat.«

David übergab Petit-Claud den Brief Cérizets; der Advokat nahm ihn, las ihn, strich über das Papier und plauderte von den Geschäften, während er den Brief wie aus Zerstreuung zusammenfaltete und in die Tasche steckte. Dann faßte er David untern Arm und ging mit ihm, denn die Erlaubnis des Gerichtsvollziehers war während dieses Gesprächs dem Gefängniswärter überbracht worden.

David glaubte sich, als er zu Hause war, im Himmel. Er weinte wie ein Kind, als er seinen kleinen Lucien küßte und sich nach zwanzig Tagen der Einschließung, deren letztes Stadium ein nach der Auffassung der Provinz so schimpfliches gewesen war, wieder in seinem Schlafzimmer sah. Kolb und Marion waren zurückgekommen. Marion hatte in Houmeau erfahren, daß man Lucien jenseits Marsac auf der Straße nach Paris gesehen hatte. Sein stutzerhafter Anzug war den Landleuten, die ihre Produkte in die Stadt fuhren, aufgefallen. Kolb war auf die Straße hinausgeritten und hatte schließlich in Mansle erfahren, daß Lucien, den Herr Marron erkannt hatte, in einer Kalesche mit Postpferden gesessen hätte.

»Was habe ich gesagt?« rief Petit-Claud, »der Junge ist kein Dichter, er ist ein fortwährender Roman.«

»Mit Postpferden?« rief Eva, »und wo will er diesmal wieder hin?«

»Jetzt«, sagte Petit-Claud zu David, »kommen Sie zu den Herren Cointet, sie erwarten Sie.«

»Ach, Herr Petit-Claud,« rief die schöne Frau Séchard, »bitte, wahren Sie unsere Interessen gut, Sie haben unsere ganze Zukunft in der Hand.«

»Frau Séchard,« antwortete Petit-Claud, »wollen Sie, daß die Konferenz bei Ihnen stattfindet? Ich lasse Ihnen David. Die Herren können heute abend hierher kommen, und Sie sollen sehen, ob ich Ihre Interessen verteidigen kann.«

»Ach, das wäre mir sehr recht«, erwiderte Eva.

»Gut,« versetzte Petit-Claud, »heute abend um sieben Uhr hier.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Eva mit einem Blick und einer Betonung, die dem Advokaten bewiesen, welche Fortschritte er inzwischen in dem Zutrauen seiner Klientin gemacht hatte.

»Fürchten Sie nichts! Sie sehen, ich hatte recht«, fügte er hinzu. »Ihr Bruder ist dreißig Meilen vom Selbstmord entfernt. Und schließlich werden Sie vielleicht noch heute abend ein kleines Vermögen besitzen. Es bietet sich ein ernsthafter Reflektant auf Ihre Druckerei.«

»Wenn das wäre,« sagte Eva, »warum wollen wir nicht warten, bevor wir uns mit den Cointet einlassen?«

»Sie vergessen, Frau Séchard,« erwiderte Petit-Claud, der die Gefahr, die in seiner Mitteilung lag, merkte, »daß Sie nicht in der Lage sind, Ihre Druckerei zu verkaufen, bevor Sie Herrn Métivier bezahlt haben, denn Ihre ganze Einrichtung ist immer noch gepfändet.«

Als Petit-Claud zu Hause war, ließ er Cérizet kommen. Als der Faktor in das Arbeitszimmer eingetreten war, führte er ihn in eine Fensternische.

»Du bist morgen abend Eigentümer der Druckerei Séchard und hast genügende Protektion, um die Übertragung des Druckereipatents zu erlangen,« sagte er ihm ins Ohr; »aber du willst nicht auf den Galeeren enden?«

»Was! was! auf den Galeeren!« rief Cérizet.

»Dein Brief an David ist eine Fälschung, und er ist in meiner Hand. Wenn man Henriette in Verhör nähme, was würde sie sagen? ... Ich will dich nicht zugrunde richten«, fügte Petit-Claud schnell hinzu, als er Cérizet blaß werden sah.

»Sie wollen noch etwas von mir?« rief der Pariser.

»Jawohl, folgendes erwarte ich von dir«, fuhr Petit-Claud fort. »Höre gut zu! Du wirst binnen zwei Monaten Drucker in Angoulême sein, aber du mußt deine Druckerei schuldig bleiben, und du wirst sie in zehn Jahren noch nicht bezahlt haben! Du wirst lange für deine Kapitalisten arbeiten, und überdies wirst du genötigt sein, der Strohmann der liberalen Partei zu sein ... Ich werde deinen Gesellschaftsvertrag mit Gannerac abfassen; ich mache ihn so, daß du eines Tages die Druckerei für dich allein besitzest ... Aber wenn sie eine Zeitung gründen, wenn du ihr verantwortlicher Verleger bist, und wenn ich hier erster Substitut bin, mußt du dich mit dem großen Cointet verständigen, daß du in dein Blatt Artikel aufnimmst, die dazu führen, daß es beschlagnahmt und unterdrückt wird ... Die Cointet werden dich gut bezahlen, wenn du ihnen diesen Dienst leistest. Ich weiß wohl, du wirst verurteilt werden, du wirst ins Gefängnis kommen, aber du wirst als bedeutender Mann gelten, der ungerecht verfolgt wird. Du wirst eine Persönlichkeit im Lager der Liberalen, ein Mercier, ein Paul-Louis Courier, ein Manuel im kleinen. Ich werde nie beantragen, daß dir dein Patent entzogen wird. Und schließlich an dem Tage, wo die Zeitung unterdrückt wird, verbrenne ich diesen Brief vor deinen Augen. Dein Vermögen wird dich nicht viel kosten.«

Die Leute aus dem Volke haben sehr irrtümliche Ideen über die verschiedenen Urkundenfälschungen, die das Gesetz unterscheidet, und Cérizet, der sich schon auf der Anklagebank vor dem Schwurgericht sah, atmete auf.

»Ich werde binnen drei Jahren königlicher Prokurator in Angoulême sein,« fuhr Petit-Claud fort, »du wirst mich brauchen können, denke daran.«

»Abgemacht!« sagte Cérizet; »aber Sie kennen mich nicht. Verbrennen Sie diesen Brief vor meinen Augen, verlassen Sie sich auf meine Dankbarkelt.«

Petit-Claud sah Cérizet an. Es war eins der Duelle von Auge zu Auge, in dem der Blick dessen, der beobachtet, wie ein Skalpell ist, mit dem er die Seele zu eröffnen versucht, und in den Augen dessen, der seine Tugenden zur Schau stellt, sich ein ganzes Drama abspielt.

Petit-Claud antwortete nichts; er zündete eine Kerze an und verbrannte den Brief, wobei er sich sagte: Er hat ein Vermögen in Aussicht.

»Die Seele eines Verdammten steht Ihnen zur Verfügung«, sagte der Faktor.

David erwartete die Besprechung mit einer unbestimmten Ungeduld, ihn beschäftigte weder die Erörterung seiner Interessen noch der Vertrag, der geschlossen werden sollte, sondern die Meinung, die die Fabrikanten von seinen Arbeiten haben würden. Er war in der Lage des Dramatikers vor seinen Richtern. Der empfindliche Erfinderstolz und seine Angst in dem Augenblick, wo er vielleicht am Ziel angelangt war, drängten jede andere Empfindung zurück. Endlich um sieben Uhr abends, genau zu der Zeit, wo die Frau Gräfin du Châtelet sich unter dem Vorwand der Migräne ins Bett legte und ihren Mann seine Gäste allein empfangen ließ so sehr hatten sie die widersprechenden Nachrichten, die über Lucien umliefen, mitgenommen, traten der große und der dicke Cointet mit Petit-Claud bei ihrem Konkurrenten ein, der sich ihnen, an Füßen und Händen gebunden, überliefert hatte. Es erhob sich zunächst die Schwierigkeit: wie sollte man einen Gesellschaftsvertrag machen, ohne Davids Verfahren zu kennen? Und wenn das Verfahren Davids bekannt war, befand er sich völlig in Cointets Händen. Petit-Claud erlangte, daß der Vertrag vorher gemacht würde. Der große Cointet bat jetzt David, ihm etwas von seinen Papieren zu zeigen, und der Erfinder überreichte ihm die letzten Bogen, die er hergestellt hatte und für deren Herstellungspreis er sich verbürgte.

»Nun,« sagte Petit-Claud, »da ist die Grundlage des Vertrags schnell gefunden: Sie können sich auf Grund dieser Proben assoziieren und können für den Fall, daß die Bedingungen des Patents bei der fabrikmäßigen Herstellung nicht eingehalten werden, eine Klausel einfügen, wonach dann das Vertragsverhältnis aufgelöst wird.«

»Sehen Sie, Herr Séchard,« sagte der große Cointet, »es ist ganz etwas anderes, im kleinen in seinem Zimmer mit einer kleinen Form Papierproben herzustellen, als die Fabrikation in großem Maßstab zu betreiben. Nehmen Sie eine einzige Tatsache! Wir stellen farbige Papiere her und kaufen, um sie zu färben, große Posten Farbstoff von genau derselben Farbe. Der Indigo also, mit dem wir unser Muschelpapier färben, wird aus einer Kiste genommen, deren Stücke sämtlich zu gleicher Zeit hergestellt worden sind. Wir haben aber trotzdem nie zwei Bütten von genau derselben Farbe bekommen können. In der Verarbeitung der Rohstoffe gehen Erscheinungen vor sich, die wir nicht verstehen und beeinflussen können. Die Menge und die Qualität des Breies können alles verändern. Wenn Sie in einem Kessel einen Teil Ihrer Zutaten haben, die ich gar nicht zu kennen wünsche, sind Sie darüber Herr, Sie können auf alle Teile gleichmäßig einwirken, können sie verbinden, durcharbeiten, nach Belieben kneten und aus ihnen eine einheitliche Masse machen. Aber wer kann Ihnen garantieren, daß es bei einer Bütte von fünfhundert Ries ebenso ist und daß Ihr Verfahren gelingt?«

David, Eva und Petit-Claud sahen sich an und sagten sich mit diesem Blick allerlei.

»Nehmen Sie ein Beispiel, bei dem es einigermaßen entsprechend zugeht«, fuhr der große Cointet nach einer Pause fort. »Sie machen auf einer Wiese etwa zwei Bündel Heu, und Sie bringen sie ordentlich zusammengepreßt in Ihr Zimmer, ohne daß das Gras heiß geworden ist, wie die Bauern sagen; die Gärung geht vor sich, aber sie verursacht keinen Zwischenfall. Wollten Sie sich auf dieses Experiment stützen und zweitausend Bündel in einer Holzscheuer fest zusammenpacken? Sie wissen wohl, daß dieses Heu sich entzünden und daß Ihre Scheuer wie ein Zündholz niederbrennen würde. Sie sind ein Gelehrter, ziehen Sie daraus Ihren Schluß .... Sie haben bisher zwei Bündel Heu geschnitten, und wir fürchten unsere Papierfabrik in Brand zu stecken, wenn wir zweitausend hineinstopfen. Wir können, mit andern Worten, mehr als eine Bütte verlieren, Verluste haben, viel Geld ausgeben, ohne schließlich ein Resultat in Händen zu haben.«

David war wie niedergeschmettert. Die Praxis sprach ihre positive Sprache zur Theorie, deren Wort immer der Zukunft gehört.

»Hol mich der Teufel, wenn ich einen solchen Gesellschaftsvertrag unterzeichne«, rief der dicke Cointet brutal. »Du kannst dein Geld verlieren, wenn du willst, Boniface, ich behalte meines. Ich bin bereit, die Schulden des Herrn Séchard und sechstausend Franken zu zahlen ... Aber dreitausend Franken davon in Wechseln,« verbesserte er sich, »die auf zwölf und fünfzehn Monate laufen. Wir haben zwölftausend Franken für Métiviers Rechnung zu bezahlen; das macht fünfzehntausend Franken! Aber mehr zahle ich nicht für das Geheimnis, und dann will ich die Erfindung für mich allein ausbeuten. Ah! ist das die Entdeckung, von der du mir sprachst, Boniface? Ich danke schön, ich hielt dich für gescheiter. Nein, das nennt man kein Geschäft!«

»Die Frage für Sie«, sagte jetzt Petit-Claud, der sich von diesem Ausbruch nicht schrecken ließ, »ist folgende: Wollen Sie zwanzigtausend Franken riskieren, um ein Geheimnis zu kaufen, wodurch Sie reich werden können? Bedenken Sie, meine Herren, das Risiko steht immer im Verhältnis zum Gewinn. Es ist ein Einsatz von zwanzigtausend Franken, um ein Vermögen zu verdienen. Der Spieler setzt einen Louis, um dafür auf dem Roulett sechsunddreißig zu bekommen, aber er weiß, daß sein Louis verloren ist. Machen Sie es ebenso.«

»Ich verlange Bedenkzeit,« sagte der dicke Cointet; »ich bin nicht so gescheit wie mein Bruder. Ich bin ein beschränkter, aufrichtiger Mensch, der nur eine einzige Sache versteht: ein Gebetbuch für zwanzig Sous herstellen und für vierzig Sous verkaufen. Ich sehe in einer Erfindung, die nicht über den ersten Versuch hinausgekommen ist, den Anfang des Ruins. Man hat Erfolg mit einer ersten Bütte, bei der zweiten geht es schief, man hört nicht auf, man läßt sich weiterreißen, und wenn man erst mit dem Arm in das Räderwerk gekommen ist, wird der Körper nachgezogen ...«

Er erzählte die Geschichte eines Kaufmanns von Bordeaux, der nach einem Rezept eines Gelehrten die Heide urbar machen wollte und sich dabei zugrunde gerichtet hatte; er fand in der Umgegend, im Departement der Charente und der Dordogne, sechs ähnliche Beispiele in Industrie und Landwirtschaft; er wurde hitzig, wollte nichts mehr hören, die Einwände Petit-Clauds steigerten seinen Unwillen, anstatt ihn zu beruhigen.

»Ich kaufe lieber eine sichere Sache teurer als diese Entdeckung, wenn ich auch nur einen kleinen Nutzen daran habe«, sagte er, zu seinem Bruder gewendet. »Nach meiner Meinung ist die Sache nicht weit genug vorgerückt, um ein Geschäft zu versprechen«, rief er schließlich.

»Aber Sie sind doch gewiß hierher gekommen, um etwas auszurichten«, warf Petit-Claud ein. »Was bieten Sie?«

»Herrn Séchards Schulden zu bezahlen und ihm für den Fall des Erfolges dreißig Prozent vom Gewinn zu geben«, antwortete der dicke Cointet lebhaft.

»Aber, Herr Cointet,« sagte nun Eva, »wovon sollen wir während der ganzen Zeit der Versuche leben? Mein Mann hat nun einmal die Schande der Verhaftung gehabt, er kann wieder ins Gefängnis gehen, die Schande wird darum nicht größer und nicht kleiner, und wir bezahlen unsere Schulden ...«

Petit-Claud sah Eva an und legte den Finger auf die Lippen.

»Sie überlegen nicht richtig«, sagte er zu den beiden Brüdern. »Sie haben das Papier gesehen, der alte Séchard hat Ihnen gesagt, daß sein Sohn in einer einzigen Nacht, wo er ihn eingeschlossen hatte, aus Stoffen, die nicht viel kosten können, vortreffliches Papier gemacht hat ... Sie sind doch hier, um zu einem Abschluß zu kommen. Wollen Sie die Erfindung erwerben, ja oder nein?«

»Also,« sagte der große Cointet, »ob mein Bruder will oder nicht, ich für mein Teil riskiere die Bezahlung der Schulden des Herrn Séchard; ich zahle überdies sechstausend Franken in bar, und Herr Séchard bekommt dreißig Prozent vom Gewinn, aber verstehen Sie wohl: wenn er im Zeitraum eines Jahres die Bedingungen nicht erfüllt hat, die er selbst in den Vertrag setzen wird, muß er uns die sechstausend Franken zurückgeben, das Patent gehört uns, und wir sehen, was wir damit anfangen können.«

»Bist du deiner Sache sicher?« fragte Petit-Claud David, den er beiseite genommen hatte.

»Ja!« erwiderte David. Er ließ sich von dieser Taktik der beiden Brüder fangen und fürchtete, diese Besprechung, von der seine Zukunft abhing, könnte am Widerstand des dicken Cointet scheitern.

»Schön, ich will den Vertrag aufsetzen,« sagte Petit-Claud zu den Cointet und zu Eva; »jeder von Ihnen bekommt noch heute abend ein Exemplar, Sie, können es sich morgen vormittag überlegen; morgen nachmittag um vier Uhr, nach Schluß der Gerichtssitzung, können Sie unterzeichnen. Sie, meine Herren, ziehen die Wechsel von Métivier zurück. Ich schreibe an das Berufungsgericht, um dem Prozeß ein Ende zu machen, und wir unterzeichnen unsere gegenseitigen Verzichtleistungen.«

Folgendes war der Inhalt der Verpflichtungen, die Séchard auf sich nahm:

»Zwischen den Unterzeichneten usw.

Herr David Séchard jr., Drucker in Angoulême, behauptet, ein Verfahren gefunden zu haben, das Papier in der Bütte gleichmäßig zu leimen, und das Mittel, den Herstellungspreis für jede Art Papier um mehr als fünfzig Prozent zu verringern, und zwar durch Einführung von pflanzlichen Stoffen in den Papierbrei, entweder indem sie den Lumpen, die bisher verwendet wurden, beigemengt oder indem sie ohne Zutat von Lumpen benutzt werden. Es hat sich zur Ausbeutung des Erfinderpatents, das auf Grund dieses Verfahrens genommen werden soll, zwischen Herrn David Séchard jr. und den Herren Gebrüder Cointet auf Grund der folgenden Bestimmungen und Bedingungen eine Gesellschaft gebildet ...«

Ein Artikel des Vertrags beraubte David Séchard völlig seiner Rechte für den Fall, daß er die Versprechungen, die in diesem Schriftstück niedergelegt waren, nicht erfüllte. Der große Cointet hatte diese Punkte sorgfältig abgefaßt, und David hatte zugestimmt.

Als Petit-Claud am nächsten Morgen um halb acht Uhr David den Vertrag überbrachte, teilte er den beiden Gatten mit, daß Cérizet zweiundzwanzigtausend Franken in bar für die Druckerei böte. Der Kaufvertrag könnte noch am Abend unterzeichnet werden.

»Aber«, sagte er, »wenn die Cointet von diesem Verkauf erfahren würden, wären sie imstande, Ihren Vertrag nicht zu unterzeichnen, Sie weiter zu drangsalieren und hier alles versteigern zu lassen ...«

»Sind Sie sicher, daß die Zahlung geleistet wird?« fragte Eva, die erstaunt war, daß ein Geschäft, auf das sie keine Hoffnung mehr gesetzt hatte und das vor drei Monaten alles gerettet hätte, jetzt zustande kommen sollte.

»Ich habe den Betrag bei mir zu Hause«, antwortete er kurz.

»Aber das ist Zauberei«, rief David und bat Petit-Claud, ihm dieses Glück zu erklären.

»Nein, es ist sehr einfach, die Handelsherren von Houmeau wollen eine Zeitung gründen«, erwiderte Petit-Claud.

»Aber ich habe sie nicht halten können«, rief David.

»Sie! ... Aber Ihr Nachfolger ... Überdies«, fuhr er fort, »beunruhigen Sie sich über nichts, verkaufen Sie, stecken Sie das Geld ein und überlassen Sie es Cérizet, wie er sich zurechthelfen will, er wird sich schon herauswickeln.«

»O ja«, sagte Eva.

»Wenn Sie auch Ihr Blatt in Angoulême nicht halten konnten,« fuhr Petit-Claud fort, »die Geldgeber Cérizets werden es in Houmeau schon machen.«

Eva, die von der Aussicht, dreißigtausend Franken zu besitzen und aus aller Not heraus zu sein, geblendet war, betrachtete den Gesellschaftsvertrag nur noch als eine Hoffnung, die in zweiter Reihe stand. Und so gaben Herr und Frau Séchard in einem Punkte dieses Vertrags, der noch Gegenstand einer letzten Erörterung wurde, nach. Der große Cointet verlangte das Recht, das Erfinderpatent auf seinen Namen zu nehmen. Es gelang ihm, die Bestimmung durchzusetzen, daß in dem Augenblick, wo Davids Nutzungsrechte in dem Schriftstück völlig auseinandergesetzt würden, das Patent auf den Namen jedes der Teilhaber genommen werden könnte. Sein Bruder sagte schließlich: »Er gibt das Geld für das Patent, er trägt die Reisekosten, und das sind noch einmal zweitausend Franken! Er soll es auf seinen Namen nehmen, oder es wird nichts aus der Sache.«

Der Wucherer von Angoulême triumphierte also auf der ganzen Linie. Der Gesellschaftsvertrag wurde um halb fünf Uhr unterzeichnet. Der große Cointet bat Frau Séchard galant wie es üblich ist, bei Geschäftsabschlüssen der Frau ein Geschenk zu geben, von ihm ein Dutzend Messer und Gabeln und einen schönen Kaschmirschal anzunehmen, damit sie, wie er sagte, die Unannehmlichkeiten der Auseinandersetzung vergessen möchte. Kaum waren die unterzeichneten Verträge ausgetauscht, kaum hatte Cachan Petit-Claud die Quittungen und die Schriftstücke sowie die drei schrecklichen, von Lucien hergestellten Wechsel zurückgegeben, als Kolbs Stimme auf der Treppe ertönte, nachdem man vorher den betäubenden Lärm eines Postpackwagens gehört hatte, der vor der Tür angefahren war.

»Frau! Frau! Fünfzehntausend Franken!« rief er. »In wirklichem Silber hat sie Herr Lucien aus Poitiers geschickt.«

»Fünfzehntausend Franken!« rief Eva und hob die Arme hoch.

»Ja, Frau Séchard,« sagte der Packmeister, der jetzt eintrat, »fünfzehntausend Franken, die mit der Eilpost nach Bordeaux gekommen sind, die wahrhaftig daran zu schleppen hatte! Ich habe zwei Leute unten, die die Säcke heraufbringen. Die Sendung ist aufgegeben von Herrn Lucien Chardon von Rubempré. Ich bringe Ihnen ein Ledersäckchen, in dem für Sie fünfhundert Franken in Gold sind und wahrscheinlich ein Brief.«

Eva glaubte zu träumen, als sie den folgenden Brief las:

»Liebe Schwester!

Hier erhältst Du fünfzehntausend Franken. Anstatt mich zu töten, habe ich mein Leben verkauft. Ich gehöre mir nicht mehr; ich bin nicht der Sekretär eines spanischen Diplomaten: ich bin seine Kreatur.

Ich gehe einem schrecklichen Leben entgegen. Vielleicht wäre es besser gewesen, mich ins Wasser zu stürzen.

Lebt wohl! David wird alles bezahlen und frei werden, und mit viertausend Franken kann er ohne Zweifel eine kleine Papiermühle kaufen und zu Vermögen kommen.

Denkt nicht mehr, ich will es, an

Euren armen Bruder

Lucien.«

»Es ist schon so,« rief Frau Chardon, die eben dazukam, wie die Säcke abgeladen wurden, »daß mein armer Sohn immer Unglück bringt, wie er es schrieb, selbst wenn er Gutes tut.«

»Wir sind noch gut davongekommen«, rief der große Cointet, als er auf der Place du Mûrier war. »Eine Stunde später hätte der Glanz dieses Silbers diesen Vertrag beleuchtet, und unser Mann hätte es sich überlegt. In drei Monaten wissen wir, wie er uns versprochen hat, woran wir uns zu halten haben.«

Abends um sieben Uhr kaufte Cérizet die Druckerei und bezahlte sie, wobei er die Miete des letzten Vierteljahrs zu zahlen übernahm. Am nächsten Tage brachte Eva dem Obereinnehmer vierzigtausend Franken, um im Namen ihres Mannes zweitausendfünfhundert Franken Rente zu kaufen. Dann schrieb sie ihrem Schwiegervater, er sollte ihr in Marsac ein kleines Anwesen von zehntausend Franken suchen, worin sie ihr persönliches Vermögen anlegen wollte.

Der Plan des großen Cointet war erschreckend einfach. Zunächst hielt er das Leimen in der Bütte für unmöglich. Die Vermengung billiger pflanzlicher Stoffe mit dem Lumpenbrei schien ihm das wahre, das einzige Mittel zu sein, zu Vermögen zu kommen. Er nahm sich daher vor, die Billigkeit des Zeuges gar nicht zu betonen und außerordentlich viel Wert auf das Leimen in der Bütte zu legen. Das hing so zusammen. Die Papierfabrikation in Angoulême beschäftigte sich damals fast ausschließlich mit Schreibpapieren, die den Namen Schildpapier, Hennenpapier (das war ein Papier mit Goldrand, das besonders für Liebesbriefe beliebt war), Schülerpapier, Muschelpapier führten, und diese mußten natürlich alle geleimt sein. Diese Papiere waren lange Zeit der Ruhm der Angoulêmer Papierindustrie. So gab die Spezialität, die seit langen Jahren das Monopol der Fabrikanten von Angoulême war, den Ansprüchen der Cointet gewonnenes Spiel; dieses geleimte Papier brachte er aber, wie man sehen wird, bei seiner Spekulation gar nicht in Anschlag. Der Bedarf an Schreibpapieren ist überaus begrenzt, während der an nichtgeleimten Druckpapieren fast schrankenlos ist. Auf der Reise, die der große Cointet nach Paris machte, um dort das Patent auf seinen Namen zu nehmen, bereitete er Geschäftsabschlüsse vor, die in seiner Fabrikationsweise große Veränderungen hervorbringen mußten. Er wohnte bei Métivier und gab ihm Anweisungen, die dazu führen mußten, binnen einem Jahre den Papierhändlern, die bisher die Zeitungen mit Papier versorgten, die Lieferung abzunehmen, indem er den Preis für das Ries so billig stellte, daß keine Fabrik konkurrieren konnte, und dabei allen Zeitungen eine weiße Färbung und sonstige Eigenschaften versprach, die allen bisher verwendeten Sorten überlegen waren. Da die Verträge der Zeitungen alle für eine bestimmte Frist lauten, bedurfte es einer gewissen Zeit, in der die Administrationen unterirdisch bearbeitet wurden, um dieses Monopol wirklich durchzuführen; aber Cointet rechnete darauf, daß er Zeit hatte, Séchard abzuschütteln, während Métivier die Verträge mit den wichtigsten Pariser Zeitungen abschloß, deren Bedarf damals zweihundert Ries täglich betrug. Cointet beteiligte natürlich Métivier mit einem gewissen Prozentsatz an diesen Lieferungen, um einen geschickten Vertreter auf dem Pariser Platz zu haben und seine Zeit nicht mit Reisen zu verlieren. Das Vermögen Métiviers, das zu den beträchtlichsten im Papierhandel gehört, stammt aus diesem Geschäft. Zehn Jahre lang hat er, ohne daß eine Konkurrenz möglich war, die Papierlieferungen für die Pariser Zeitungen gehabt. Der große Cointet kehrte, ohne über diese künftigen Aussichten auf Absatz ein Wort fallen zu lassen, gerade rechtzeitig nach Angoulême zurück, um der Verheiratung Petit-Clauds beizuwohnen, dessen Praxis verkauft war und der die Bestätigung seines Nachfolgers abwartete, um die Stelle des Herrn Milaud einzunehmen, die dem Schützling der Gräfin du Châtelet versprochen war. Der zweite Substitut des Prokurators von Angoulême wurde zum ersten Substituten in Limoges ernannt, und der Justizminister schickte einen seiner Schützlinge an die Staatsanwaltschaft von Angoulême, wo der Posten des ersten Substituten zwei Monate lang frei war. Diese Zwischenzeit waren Petit-Clauds Flitterwochen. Während der Abwesenheit des großen Cointet machte David zunächst eine erste Bütte ohne Leim, die ein Zeitungspapier ergab, das dem bisher von den Zeitungen verwendeten sehr überlegen war, dann eine zweite Bütte mit prächtigem Velinpapier, das für schöne Drucke bestimmt war und von der Druckerei Cointet für eine Ausgabe des Gebetbuches der Diözese benutzt wurde. Die Materialien waren von David selbst im geheimen zugerüstet worden, denn er duldete keine anderen Arbeiter bei sich als Kolb und Marion.

Als der große Cointet zurückgekehrt war, nahm alles ein anderes Aussehen an. Er besah sich die Proben der hergestellten Papiere und war nur mäßig damit zufrieden.

»Lieber Freund,« sagte er zu David, »die Hauptsache für unsern Papierhandel in Angoulême ist das Schreibpapier, hauptsächlich unser Muschelpapier. Es handelt sich vor allem darum, ein möglichst schönes Muschelpapier fünfzig Prozent unter dem Preis des jetzigen herzustellen.«

David versuchte eine Bütte Muschelpapier zu machen, und er bekam ein Papier, das rauh wie eine Bürste war und bei dem der Leim überall in kleinen Klümpchen saß. An dem Tage, an dem der Versuch zu Ende war und David einen der Bogen in der Hand hielt, ging er in einen Winkel, er wollte allein sein, um seinen Gram zu überwinden; aber der große Cointet suchte ihn auf und war zu ihm reizend liebenswürdig. Er tröstete seinen Teilhaber.

»Lassen Sie sich nicht entmutigen,« sagte Cointet, »gehen Sie immer weiter! Mit mir kann man reden, ich verstehe Sie und halte bis zum Ende aus!«

»Wahrhaftig,« sagte David zu seiner Frau, als er zum Essen nach Hause kam, »wir haben es mit wackern Leuten zu tun, und ich hätte nie den großen Cointet für so großmütig gehalten!«

Und er erzählte seine Unterhaltung mit seinem perfiden Teilhaber.

Drei Monate gingen über Versuchen hin. David schlief in der Papierfabrik, er beobachtete die Ergebnisse der verschiedenen Zusammensetzungen seines Zeuges. Bald schrieb er seinen Mißerfolg dem Gemenge aus Lumpen und seinen Pflanzenstoffen zu, und er stellte eine Bütte her, die nur aus seinen neuen Stoffen zusammengesetzt war, und bald versuchte er, eine Bütte zu leimen, die nur aus Lumpen zusammengesetzt war. Und so verfolgte er sein Werk weiter mit bewundernswerter Hartnäckigkeit und immer unter den Augen des großen Cointet, gegen den der Bedauernswerte kein Mißtrauen hatte, und so ging er von Zusammensetzung zu Zusammensetzung, bis er all seine verschiedenen Gemenge mit allen verschiedenen Leimen durchprobiert hatte.

Während der ersten sechs Monate des Jahres 1823 lebte David Séchard mit Kolb in der Fabrik, wenn das leben heißen konnte; denn er vernachlässigte seine Ernährung, seine Kleidung und seine Person. Er schlug sich so verzweifelt mit den Schwierigkeiten herum, daß es für andere Menschen als die Cointet ein erhabenes Schauspiel gewesen wäre: kein Gedanke an Interessen lebte in diesem tapfern Kämpfer. Es gab einen Augenblick, wo er nichts als den Sieg wünschte. Er beobachtete mit wunderbarem Scharfsinn die absonderlichen Ergebnisse der Stoffe, die vom Menschen nach seinem Gefallen in Produkte verwandelt werden, wo die Natur bis zu gewissem Grade in den geheimen Widerständen, die sie leistet, gezähmt ist, und er leitete daraus schöne Gesetze für die Industrie ab, indem er beobachtete, daß man diese Art Schöpfungen nur erlangen konnte, wenn man den sonstigen Beziehungen der Dinge gehorchte, dem, was er die zweite Natur der Stoffe nannte. Endlich gelang es ihm im August, ein in der Bütte geleimtes Papier zu erlangen, das dem, das die Industrie gegenwärtig herstellt und das in den Druckereien zu Korrekturabzügen benutzt wird, völlig ebenbürtig war. Aber die Sorten dieses Papiers fallen nie gleich aus, und ihre Leimung ist auch nicht immer zuverlässig. Dieses Resultat, das im Jahre 1823 in Anbetracht des Standes der Papierfabrikation so hervorragend war, hatte zehntausend Franken gekostet, und David hoffte, die letzten Schwierigkeiten des Problems lösen zu können. Aber es verbreiteten sich jetzt in Angoulême und in Houmeau sonderbare Gerüchte: David Séchard sollte die Gebrüder Cointet ruinieren. Nachdem er dreißigtausend Franken für Experimente verpulvert hätte, wäre es ihm schließlich, sagte man, gelungen, ein sehr schlechtes Papier zu machen. Die andern Fabrikanten waren ängstlich und hielten sich an ihr altes Verfahren; und aus Eifersucht auf die Cointet verbreiteten sie das Gerücht von dem bevorstehenden Zusammenbruch dieses ehrgeizigen Hauses. Der große Cointet seinerseits ließ Maschinen zur Herstellung des endlosen Papiers kommen, wobei er glauben ließ, diese Maschinen wären für die Versuche David Séchards notwendig. Aber der Jesuit mengte in sein Zeug die Zutaten, die er durch Séchard kennen gelernt hatte, und drängte ihn immer weiter, sich nur um das Leimen in der Bütte zu kümmern, während er an Métivier Tausende Ries Zeitungspapier expedierte.

Im September nahm der große Cointet David Séchard beiseite, und als er von ihm hörte, er überlege ein Experiment, das ihm endlich den Sieg bringen müßte, riet er ihm, diesen Kampf nicht fortzusetzen.

»Lieber David, suchen Sie Ihre Frau in Marsac auf und ruhen Sie sich von Ihren Anstrengungen aus; wir wollen uns nicht ruinieren«, sagte er freundschaftlich. »Was Sie als einen großen Sieg ansehen, ist immer nur wieder ein Anfang. Wir wollen jetzt warten, ehe wir weitere Experimente machen. Seien Sie gerecht! Sehen Sie, wie weit wir es gebracht haben. Wir sind nicht bloß Papierfabrikanten, wir sind Drucker, Bankiers, und man sagt, Sie ruinieren uns ...«

David Séchard machte eine reizend naive Handbewegung, um seine ehrlichen Absichten zu beteuern.

»Wenn wir fünfzigtausend Franken in die Charente werfen, sind wir noch lange nicht ruiniert,« fuhr der große Cointet in Erwiderung auf Davids Handbewegung fort, »aber wir wollen nicht wegen der Verleumdungen, die über uns im Umlauf sind, genötigt sein, alles bar zu zahlen, das würde unsere Bewegungsfreiheit lähmen. Wir müssen uns also an die Bestimmungen unseres Vertrages halten, daran müssen beide Teile denken.«

»Er hat recht«, sagte sich David, der sich nur um seine großen Versuche gekümmert und auf das, was sonst in der Fabrik vorging, nicht geachtet hatte.

Und er ging heim nach Marsac, wohin er seit einem halben Jahre jeden Samstagabend gekommen war, um Dienstag früh wieder zu gehen. Eva hatte, von dem alten Séchard wohlberaten, ein Haus gekauft, das die Verberie hieß. Es lag unmittelbar vor den Weinbergen ihres Schwiegervaters, und es gehörten drei Morgen Gartenlandes und ein Weinberg dazu, der von dem Weingut des alten Séchard eingeschlossen war. Sie lebte mit ihrer Mutter und Marion sehr sparsam, denn sie hatte für dieses reizende Anwesen, das in ganz Marsac das hübscheste war, noch einen Restkaufschilling von fünftausend Franken zu bezahlen. Das Haus, das zwischen Hof und Garten lag, war aus weißem Tuff gebaut, mit Schiefer gedeckt und mit Skulpturen geschmückt, die man sich, da sich der Tuffstein so gut bearbeiten läßt, ohne viel Kosten erlauben konnte. Die hübschen Möbel, die aus Angoulême gekommen waren, schienen auf dem Lande, wo damals in diesen Gegenden niemand den geringsten Luxus entfaltete, noch hübscher. Hinter dem Hause, im Garten, stand eine Reihe Granat- und Orangenbäume und seltene Pflanzen, die der frühere Besitzer, ein alter General, der von der Hand des Herrn Marron gestorben war, selbst gepflanzt hatte.

David spielte mit Eva und dem kleinen Lucien in Anwesenheit seines Vaters unter einem Orangenbaum, als der Gerichtsvollzieher von Mansle ihm eine Aufforderung der Gebrüder Cointet an ihren Teilhaber zur Bestellung des Schiedsgerichts brachte, dem nach den Bestimmungen ihres Gesellschaftsvertrages ihre Streitigkeiten vorgelegt werden sollten. Die Gebrüder Cointet verlangten die Zurückgabe der sechstausend Franken und das Eigentum des Patents und ebenso die etwaigen künftigen Ergebnisse von dessen Ausbeutung als Entschädigung für die ungeheuren Ausgaben, die sie ohne Ergebnis gehabt hätten.

»Man sagt, du richtest sie zugrunde!« sagte der alte Winzer zu seinem Sohn. »Das ist wahrhaftig von allem, was du gemacht hast, das einzige, was mir gefällt.«

Am nächsten Morgen um neun Uhr waren Eva und David im Vorzimmer des Herrn Petit-Claud, der der Verteidiger der Witwen und der Vormund der Waisen geworden war und dessen Ratschlägen allein sie folgen wollten.

Der Beamte empfing seine früheren Klienten mit größter Liebenswürdigkeit und wollte durchaus, daß Herr und Frau Séchard ihm das Vergnügen machten, mit ihm zu frühstücken.

»Die Cointet verlangen sechstausend Franken von Ihnen?« sagte er lächelnd. »Wieviel schulden Sie noch vom Kaufpreis der Verberie?«

»Fünftausend Franken, aber zwei davon habe ich«, antwortete Eva.

»Behalten Sie Ihre zweitausend Franken«, versetzte Petit-Claud. »Also fünftausend! ... Und zehntausend Franken täten Ihnen noch gut, um Ihren Landbesitz hübsch wohnlich zu machen! Also schön! In zwei Stunden sollen Ihnen die Cointet fünfzehntausend Franken bringen ...«

Evas Überraschung war unverkennbar.

»Gegen Ihren Verzicht auf alle Gewinne aus dem Gesellschaftsvertrag, den Sie durch gütliche Verständigung lösen«, fuhr der Beamte fort. »Paßt Ihnen das?«

»Und würden wir damit gesetzlich handeln?« fragte Eva.

»Durchaus gesetzlich«, erwiderte der Beamte lächelnd. »Die Cointet haben Ihnen genug zugesetzt, ich will ihren Ansprüchen ein Ende machen. Hören Sie, ich bin jetzt Beamter, ich schulde Ihnen die Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß die Cointet Sie in diesem Augenblick überlisten, aber Sie sind in ihren Händen. Wollen Sie den Kampf aufnehmen, so könnten Sie den Prozeß, den sie Ihnen anhängen wollen, gewinnen. Aber es wäre Gefahr, daß Sie nach zehn Jahren noch kein Urteil hätten. Man wird endlos Sachverständige vernehmen und Gutachten einholen, und Sie müßten mit den Zufällen der entgegengesetzten Ansichten rechnen. Und«, fügte er lächelnd hinzu, »ich sehe keinen Anwalt, der Ihre Sache hier führen könnte. Mein Nachfolger taugt nichts. Ich meine also, ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozeß.«

»Jeder Vergleich, der uns Ruhe gibt, wird mir recht sein«, sagte David.

»Paul,« rief Petit-Claud seinem Diener zu, »holen Sie Herrn Ségaud, meinen Nachfolger! Während wir frühstücken, soll er zu den Cointet gehen,« sagte er zu seinen alten Klienten, »und in ein paar Stunden kehren Sie nach Marsac zurück, haben ein Vermögen verloren, aber können zufrieden sein. Die zehntausend Franken bringen Ihnen noch weitere fünfhundert Franken Rente, und in Ihrem hübschen kleinen Anwesen leben Sie glücklich.«

Nach Verlauf von zwei Stunden brachte der Advokat Ségaud, wie Petit-Claud es vorausgesagt hatte, von den Cointet in aller Form unterzeichnete Schriftstücke und fünfzehn Tausendfrankenscheine.

»Wir verdanken dir viel«, sagte Séchard zu Petit-Claud.

»Aber ich habe euch um ein Vermögen gebracht«, sagte Petit-Claud seinen erstaunten Klienten. »Ich habe euch um ein Vermögen gebracht, ich wiederhole es, ihr werdet es mit der Zeit sehen, aber ich kenne euch, ihr bleibt besser in eurer bescheidenen Lage, als daß ihr um ein Vermögen kämpft, das vielleicht zu spät in eure Hände käme.«

»Wir sind nicht geldgierig, Herr Petit-Claud, wir danken Ihnen, daß Sie uns die Mittel zum Glück verschafft haben,« sagte Frau Eva, »und Sie werden uns immer dankbar dafür finden.«

»Mein Gott! segnen Sie mich nur nicht,« rief Petit-Claud, »Sie machen mir Gewissensbisse, aber ich glaube, heute alles wieder gutgemacht zu haben. Ich verdanke es euch, daß ich Beamter geworden bin, und wenn einer erkenntlich sein muß, bin ich es. Lebt wohl!«

Mit der Zeit änderte der Elsässer seine Meinung über den alten Séchard, der seinerseits den Elsässer liebgewann, weil er, gleich ihm, nicht lesen und schreiben konnte und leicht einen kleinen Rausch bekam. Der alte Bär lehrte den alten Kürassier im Weinberg arbeiten und seine Erträge verkaufen, er bildete ihn in dem Gedanken aus, seinen Kindern einen vernünftigen Menschen zu hinterlassen, denn in seinen letzten Tagen gab er sich über das Schicksal seiner Ländereien kindischen Befürchtungen hin. Der Müller Courtois war sein Vertrauter geworden.

»Sie werden sehen,« pflegte er zu ihm zu sagen, »wie bei meinen Kindern alles gehen wird, wenn ich drunten im Loch bin. Ach, lieber Gott, ich zittere, wenn ich an ihre Zukunft denke.«

Im März des Jahres 1829 starb der alte Séchard und hinterließ für ungefähr zweimalhunderttausend Franken liegende Güter, die, mit der Verberie vereinigt, ein prächtiges Gut gaben, das Kolb schon seit zwei Jahren sehr gut verwaltete.

David und seine Frau fanden im Hause ihres Vaters fast hunderttausend Taler in Gold. Die Volksstimme vergrößerte wie immer den Schatz des alten Séchard dermaßen, daß man im ganzen Departement der Charente von einer Million sprach. Eva und David hatten ungefähr dreißigtausend Franken Rente, wenn sie ihr kleines Vermögen mit dieser Erbschaft zusammentaten; denn sie warteten einige Zeit, ehe sie ihr Kapital anlegten, und konnten es zur Zeit der Julirevolution in Staatspapieren anlegen. Erst um diese Zeit erfuhren das Departement der Charente und David Séchard, wie es mit dem Vermögen des großen Cointet bestellt war. Der große Cointet ist mehrfacher Millionär, ist Deputierter und Pair von Frankreich geworden und wird, wie man sagt, im nächsten Ministerium Handelsminister werden. Im Jahre 1842 hat er die Tochter eines der einflußreichsten Staatsmänner geheiratet, Fräulein Popinot, die Tochter des Herrn Anselme Popinot, der Deputierter von Paris und Maire eines Arrondissements ist.

Die Entdeckung David Séchards ist in die französische Papierfabrikation eingegangen wie die Nahrung in einen großen Körper. Dank der Einführung von Ersatzstoffen für die Lumpen kann Frankreich das Papier billiger als irgendein Land Europas herstellen. Aber es gibt, wie David Séchard vorausgesagt hatte, kein holländisches Papier mehr. Früher oder später wird man ohne Zweifel eine königliche Papiermanufaktur errichten müssen, wie man les Gobelins, Sèvres, die Teppichfabrik Savonnerie und die Königliche Druckerei errichtet hat, die bisher den Schlägen trotzen konnten, die ihnen die Bourgeoisvandalen versetzt haben.

David Séchard wird von seiner Frau geliebt, ist Vater von zwei Söhnen und einer Tochter und hat den guten Geschmack gehabt, von seinen Versuchen nie zu sprechen. Eva war klug genug, ihn dazu zu bringen, auf den furchtbaren Beruf der Erfinder, dieser Mosesnaturen, die von ihrem feurigen Busch auf dem Horeb verzehrt werden, zu verzichten. Er beschäftigt sich zur Erholung mit den Wissenschaften, aber er führt das glückliche, behagliche Leben des Grundbesitzers, der sein Gut bewirtschaftet. Nachdem er dem Ruhm ein für allemal den Rücken gekehrt hatte, begab er sich tapfer in die Reihen der Träumer und Sammler: er widmet sich der Entomologie, studiert die bisher so wenig bekannten Metamorphosen der Insekten, die die Wissenschaft nur in ihrem letzten Stadium kennt.

Alle Welt hat von den Erfolgen Petit-Clauds als Generalprokurator gehört; er ist der Rivale des berühmten Vinet de Provins, und sein Ehrgeiz geht dahin, erster Präsident des Appellationsgerichts in Poitiers zu werden.

Cérizet wurde oft wegen politischer Vergehen verurteilt und hat viel von sich reden gemacht. Er war der kühnste unter den vorgeschobenen Posten der liberalen Partei und wurde der tapfere Cérizet genannt. Als der Nachfolger Petit-Clauds ihn zwang, seine Druckerei in Angoulême zu verkaufen, suchte er auf der Bühne in der Provinz eine neue Existenz, die sein schauspielerisches Talent zu einer glänzenden hätte gestalten können. Eine erste Liebhaberin zwang ihn, nach Paris zu gehen, um bei der Wissenschaft Mittel gegen die Liebe zu suchen, und er versuchte dort, aus der Gunst der liberalen Partei Kapital zu schlagen.

  


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