Honoré de Balzac
Vater Goriot
Honoré de Balzac

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Unterwegs war sie mit ihren Gedanken beschäftigt und antwortete kaum auf die tausend Fragen Eugens, der nicht wußte, was er von diesem stummen, hartnäckigen Widerstand halten sollte.

Als der Wagen hielt, sah die Baronin den Studenten mit einem Blick an, der seinen tollen Worten Einhalt gebot.

»Sie lieben mich sehr?« fragte sie.

»Ja«, erwiderte er, eine aufsteigende Unruhe niederkämpfend.

»Sie werden nichts Schlechtes von mir denken, was immer ich Sie auch bitten mag?«

»Nein.«

»Sind Sie bereit, mir zu gehorchen?«

»Blindlings!«

»Haben Sie schon einmal gespielt?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Noch nie!«

»Ah! Ich atme auf. Sie werden Glück haben. Hier ist meine Börse, nehmen Sie! Es sind 100 Francs darin, das ist alles, was diese unglückliche Frau besitzt. Gehen Sie in einen der Spielklubs, ich weiß nicht, wo sie sich befinden, aber ich weiß, daß es am Palais Royal welche gibt. Riskieren Sie die 100 Francs in einem Spiel, das Roulette heißt, verlieren Sie, oder bringen Sie mir 6000 Francs. Ich werde Ihnen von meinen Sorgen erzählen, wenn Sie zurückgekehrt sind.«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich von dem, was ich tun soll, etwas verstehe, aber ich gehorche Ihnen«, sagte er, froh über den Gedanken: Sie kompromittiert sich mit mir, sie kann mir nichts mehr verweigern.

Eugen nimmt die hübsche Börse und geht zum Haus Nr. 9, nachdem er sich von einem Straßenhändler den nächsten Spielklub hat zeigen lassen. Er steigt eine Treppe hinauf, läßt sich seinen Hut abnehmen; dann tritt er ein und fragt nach dem Roulette. Während ihn die Stammgäste erstaunt mustern, führt ihn der Klubdiener zu einem langen Tisch. Eugen, von den Blicken der Umstehenden verfolgt, fragt ohne Scheu, wo man den Einsatz placieren müsse.

»Wenn Sie einen Louis auf eines dieser 36 Felder setzen, und die Nummer kommt heraus, so erhalten Sie 36 Louis«, sagt ein würdiger Greis mit weißen Haaren zu ihm.

Eugen wirft die 100 Francs auf die Ziffer seines Lebensjahres 21. Ein Ruf des Erstaunens wird laut, ohne daß er Zeit gehabt hat, sich zurechtzufinden. Er hat gewonnen, ohne es zu wissen.

»Ziehen Sie Ihr Geld ein«, sagt ihm der alte Herr, »man gewinnt nicht zweimal mit diesem System.«

Eugen nimmt einen Rechen, den ihm der alte Herr reicht, zieht die 3600 Francs ein und setzt sie – immer noch ohne etwas vom Spiel zu wissen, auf rot. Die Zuschauer, die sehen, daß er weiterspielt, betrachten ihn mit Neid. Das Rad dreht sich, er gewinnt noch einmal, und der Croupier wirft ihm wieder 3600 Francs zu.

»Sie haben jetzt 7200 Francs«, sagt ihm der alte Herr ins Ohr. »Wenn Sie mir glauben wollen, so rate ich Ihnen, gehen Sie fort. Rot ist schon achtmal herausgekommen. Wenn Sie ein mitleidiges Herz haben, so werden Sie diesen guten Rat belohnen und das Elend eines alten Präfekten Napoleons lindern, der sich in der größten Not befindet.« Rastignac, ganz betäubt, läßt sich von dem Herrn im weißen Haar 10 Louis abnehmen und steigt mit seinen 7000 Francs die Treppe hinab, immer noch ohne eine Ahnung von dem Spiel, aber wie benommen von seinem Glück.

»Und nun? Wohin jetzt?« fragte er Madame de Nücingen und zeigte ihr die 7000 Francs. Delphine umschlang ihn in einer tollen Umarmung und küßte ihn stürmisch, aber ohne Leidenschaft.

»Sie haben mich gerettet!« Freudentränen liefen ihr über die Wangen.

»Ich will Ihnen alles erzählen, mein Freund, denn Sie sind doch mein Freund, nicht wahr? Sie sehen mich in Reichtum und Überfluß, nichts mangelt mir, oder es scheint doch wenigstens so. Nun also, Sie müssen wissen, daß Herr von Nücingen mich nicht über einen Sou verfügen läßt. Er bezahlt den Haushalt, meinen Wagen und meine Logen, aber für meine Toiletten weist er mir nur eine ungenügende Summe an, er setzt mich aus Berechnung einem geheimen Elend aus. Ich bin zu stolz, um zu betteln. Wäre ich nicht das erbärmlichste Geschöpf, wenn ich für sein Geld den Preis zahlte, den er fordert? Wie kommt es, daß ich, die ich über 700 000 Francs verfügte, mich meines Vermögens habe berauben lassen? Aus Stolz, aus Ekel! Wir sind so jung und unerfahren, wenn wir in die Ehe treten! Das Wort, mit dem ich meinen Gatten um Geld bitten müßte, würde mir im Munde steckenbleiben. Ich habe es niemals gewagt. Ich habe meine Ersparnisse verzehrt und das Geld, das mir mein armer Vater gab. Später habe ich Schulden gemacht. Die Ehe ist für mich die schrecklichste Enttäuschung, ich kann zu Ihnen nicht darüber sprechen. Möge es Ihnen genügen, zu wissen, daß ich mich eher aus dem Fenster stürzen würde, als die Trennung der Schlafzimmer aufzugeben. Als ich ihm die Schulden der ersten Zeit beichten mußte, für Schmucksachen und andere Dinge, die ich gern hatte (unser armer Vater hatte uns daran gewöhnt, alles zu bekommen, was wir wünschten), habe ich ein Martyrium durchgemacht. Schließlich habe ich den Mut gefunden zu sprechen. Gehörte mir nicht mein Vermögen? Nücingen wurde aufgebracht, er sagte, ich ruiniere ihn . . . Es war furchtbar! Ich wäre lieber hundert Fuß unter der Erde gewesen. Da er meine Mitgift an sich genommen hatte, zahlte er schließlich, aber er setzte mir für die Zukunft für meine persönlichen Ausgaben einen festen Betrag aus, mit dem ich mich, um Frieden zu haben, einverstanden erklären mußte. Später wollte ich die Eigenliebe eines Mannes, den Sie kennen, nicht verletzen. Mag ich auch von ihm betrogen worden sein, so muß ich doch der Vornehmheit seines Charakters Gerechtigkeit zollen. Aber schließlich hat er mich treulos verlassen! Man dürfte niemals eine Frau aufgeben, der man an einem Tage der Not einen Haufen Gold hingeworfen hat. Man müßte sie immer lieben! Sie, eine schöne Seele von 21 Jahren, Sie, der Sie jung und rein sind, Sie werden mich fragen, wie eine Frau Geld von einem Manne annehmen kann. Mein Gott, ist es nicht natürlich, mit dem Wesen, dem wir unser Glück verdanken, alles zu teilen? Wenn man sich alles gegeben hat, wie kann man sich dann über eine Kleinigkeit beunruhigen? Das Geld bekommt nur dann Wert, wenn das Gefühl nicht mehr da ist. Ist man nicht fürs Leben verbunden? Wer sieht eine Trennung voraus, wenn man sich heiß geliebt glaubt? Sie wissen nicht, wie ich heute gelitten habe, als Nücingen mir hartnäckig die 6000 Francs verweigerte. Er, der die gleiche Summe jeden Monat seiner Geliebten, einer Statistin an der Oper, gibt! Ich wollte mir das Leben nehmen. Die tollsten Gedanken gingen mir durch den Kopf. Es gab Augenblicke, wo ich das Los eines Dienstboten, das meiner Kammerzofe beneidete. Meinen Vater aufsuchen? Torheit! Anastasie und ich, wir haben ihn bereits zugrunde gerichtet; mein Vater hätte sich verkauft, wenn er 6000 Francs wert wäre. Ich hätte ihn nur umsonst zur Verzweiflung gebracht. Sie haben mich von der Schande und vom Tode errettet. Ich war irre vor Schmerz. Ach, ich war Ihnen diese Erklärung schuldig; ich habe mich wirklich wie toll Ihnen gegenüber benommen. Als Sie den Wagen verlassen hatten und ich Sie nicht mehr erblickte, wollte ich zu Fuß fortlaufen. Ich wußte selbst nicht wohin. Da haben Sie das Leben der Hälfte aller Pariserinnen: nach außen Luxus, grausame Sorgen im Herzen. Ich kenne arme Geschöpfe, die noch unglücklicher sind als ich. Es gibt Frauen, denen ihre Lieferanten gefälschte Rechnungen schicken müssen. Andere müssen ihren Gatten gestehen; die einen glauben, daß ein Kaschmir für 100 Louis nur 500 Francs kostet, die anderen bezahlen statt 500 Francs 100 Louis. Es gibt arme Frauen, die ihre Kinder hungern lassen und die Sous zusammenkratzen, um sich ein Kleid zu kaufen. Ich halte mich von diesen häßlichen Betrügereien fern. Da haben Sie meine ganze Not! Aber wenn sich andere Frauen an ihre Männer verkaufen, um sie zu beherrschen, so bin ich wenigstens frei! Ich könnte mich von Nücingen in Gold hüllen lassen – ich ziehe es vor, am Herzen des Mannes zu weilen, den ich achten kann. Ah! Heute abend wird Herr de Marsey mich nicht als eine Frau betrachten können, die er bezahlt hat.«

Sie bedeckte ihr Antlitz mit ihren Händen, um Eugen ihre Tränen zu verbergen. Eugen machte ihr das Gesicht frei, um es anzuschauen, sie war schöner als je.

»Ist es nicht schrecklich, Geldsachen mit Gefühlsangelegenheiten zu verbinden«, sagte sie, »Sie werden mich nicht lieben können.«

Dieses Gemisch von edlen Gefühlen, die die Frauen so groß machen, und von Fehlern, zu denen der heutige Zustand der Gesellschaft sie zwingt, machte Eugen ganz bestürzt. Er sagte Delphine sanfte, tröstende Worte und bewunderte diese schöne Frau, die in ihrem Schmerzensschrei so naiv unklug war.

»Sie dürfen dies nicht als Waffe gegen mich gebrauchen«, sagte sie. »Versprechen Sie es mir!«

»Ah, Madame, wie könnte ich so etwas tun!« erwiderte er.

Sie nahm seine Hand und legte sie mit einer Bewegung voll Dankbarkeit und Grazie auf ihr Herz.

»Dank Ihnen bin ich wieder frei und sorgenlos. Ich lebte wie unter dem Druck einer eisernen Hand. Jetzt will ich einfach leben und nichts vergeuden. So werde ich Ihnen gefallen, mein Freund, nicht wahr? Behalten Sie das«, sagte sie, indem sie nur sechs Geldscheine für sich nahm. »Eigentlich schulde ich Ihnen 3000 Francs, denn ich betrachte mich als Ihre Partnerin.«

Eugen wehrte sich wie ein junges Mädchen. Aber als die Baronin ihm sagte: »Ich muß Sie als meinen Feind ansehen, wenn Sie nicht mein Komplice sein wollen«, nahm er das Geld.

»Es soll ein Betriebskapital für schlechte Tage sein«, sagte er.

»Das ist das Wort, das ich fürchtete!« rief sie erblassend. »Wenn Sie mir etwas bedeuten wollen, so schwören Sie mir, niemals wieder einen Spielsaal zu betreten. Mein Gott! Ich! Sie verderben! Ich würde vor Schmerz sterben!«

Sie waren angelangt. Der Gegensatz zwischen jenem Elend und diesem Reichtum betäubte Eugen, in dessen Ohren die unheilvollen Worte Vautrins widerhallten.

»Nehmen Sie dort Platz«, sagte die Baronin beim Eintreten in ihr Boudoir und wies auf einen Sessel am Kamin. »Ich habe einen sehr schwierigen Brief zu schreiben. Geben Sie mir einen Rat!«

»Schreiben Sie nichts!« sagte Eugen. »Stecken Sie die Banknoten in ein Kuvert, schreiben Sie eine Adresse darauf, und schicken Sie den Brief durch Ihre Kammerzofe.«

»Sie sind eine Seele von Mensch!« rief sie. »Sehen Sie, das ist gute Erziehung. Das ist ganz Stil Beauséant«, sagte sie lächelnd.

Sie ist entzückend, dachte Eugen, der immer mehr Feuer fing. Er bewunderte die Einrichtung des Zimmers, in dem die wollüstige Eleganz einer reichen Kurtisane herrschte.

»Gefällt es Ihnen hier?« fragte sie und klingelte der Zofe.

»Therese, bringen Sie dies zu Herrn de Marsey und übergeben Sie es ihm selbst. Falls Sie ihn nicht antreffen, bringen Sie mir den Brief zurück!«

Therese verließ das Zimmer nicht, ohne Eugen einen listigen Blick zugeworfen zu haben. Das Diner war serviert. Rastignac reichte Madame de Nücingen den Arm, die ihn in ein entzückendes Speisezimmer führte, wo er den Luxus der Tafel wiederfand, den er bei seiner Cousine bewundert hatte.

»Sooft ich in die Komische Oper gehe«, sagte sie, »werden Sie mit mir dinieren und mich ins Theater begleiten.«

»Ich würde mich bald an dieses schöne Leben gewöhnen. Aber ich bin ein armer Student, der erst Vermögen und Stellung erringen muß.«

»Das wird kommen«, sagte sie lächelnd. »Sie sehen, alles arrangiert sich. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich heute noch so glücklich würde.«

Es liegt in der Natur der Frauen, das Unmögliche und das Mögliche zu beweisen und Tatsachen durch Vermutungen aus der Welt zu schaffen.

Als Madame de Nücingen mit Rastignac ihre Loge in der Oper betrat, machte sie der Ausdruck der Zufriedenheit auf ihren Zügen so schön, daß jeder sich die kleinen Verleumdungen erlaubte, gegen die Frauen machtlos sind und die beliebig erfundene Verirrungen manchmal glaubhaft zu machen verstehen. Wenn man Paris kennt, glaubt man nichts von dem, was erzählt wird, und man erzählt nichts von dem, was geschieht. Eugen nahm die Hand der Baronin, und beide verständigten sich durch mehr oder weniger lebhafte Händedrücke über die Empfindungen, die die Musik in ihnen auslöste. Für beide war dieser Abend wahrhaft bezaubernd. Sie verließen gemeinsam das Theater. Madame de Nücingen brachte Eugen im Wagen bis zum Pont Neuf. Aber unterwegs verweigerte sie ihm die Gunst der Küsse, die sie ihm beim Palais Royal so reichlich gewährt hatte. Eugen warf ihr diese Inkonsequenz vor. »Vorhin«, erwiderte sie, »war es der Dank für eine unverhoffte Ergebenheit; jetzt wäre es ein Versprechen.«

»Und Sie wollen mir nichts versprechen, Undankbare!«

Er schmollte. Mit einer Geste der Ungeduld, die einen Liebhaber so entzückt, reichte sie ihm ihre Hand, die er mit einem leichten Unwillen, den sie bezaubernd fand, nahm.

»Auf Montag beim Ball«, sagte sie.

Als Eugen dann zu Fuß bei hellem Mondschein weiterging, verfiel er in ernstes Nachdenken. Er fühlte sich zugleich glücklich und unbefriedigt: glücklich über ein Abenteuer, dessen vermutliche Weiterentwicklung ihm die schönste und eleganteste Frau von Paris gab, das Ziel seiner Wünsche; unbefriedigt, weil er seine Geldpläne durchkreuzt fand. Erst jetzt sah er die ganze Wirklichkeit seiner unbestimmten Gedanken vom Abend des Donnerstag. Der Mißerfolg bringt uns stets die Macht unserer Wünsche am deutlichsten zum Bewußtsein. Je mehr Eugen das Pariser Leben genoß, um so weniger wollte er unbekannt und arm bleiben.

Er zerknitterte den Tausendfrancschein in der Tasche und suchte verzweifelt nach Gründen, die ihm erlaubten, ihn sich endgültig anzueignen. Endlich war er in der Rue Neuve-Ste-Geneviève, und als er die Treppe hinaufstieg, sah er Licht. Vater Goriot hatte seine Tür offengelassen, und seine Kerze brannte noch, damit der Student nicht vergäße, ihm, wie er sich ausdrückte, »seine Tochter zu schildern«. Eugen verbarg ihm nichts.

»Wie«, rief Vater Goriot in einem Anfall von Verzweiflung, »Sie glauben, ich bin ruiniert? Ich habe noch 1300 Francs Rente. Mein Gott, die arme Kleine, warum ist sie nicht zu mir gekommen? Ich hätte meine Rente verkauft, wir hätten vom Kapital genommen, und den Rest hätte ich für eine Leibrente hingegeben. Warum haben Sie mir nicht ihre Sorgen anvertraut, mein armer Nachbar? Wie konnten Sie es über sich bringen, ihre letzten armseligen Francs im Spiel zu riskieren? Das Herz könnte einem brechen. Da sehen Sie, was Schwiegersöhne sind. Oh, wenn ich sie hier hätte, ich könnte sie erdrosseln. Mein Gott! Weinen! Sie hat geweint?«

»Mit dem Kopf an meiner Weste«, sagte Eugen.

»Ah! Geben Sie sie mir. Wie? Meine Tochter, meine teure Delphine in Tränen, sie, die als Kind niemals geweint hat! Ich kaufe Ihnen eine neue Weste. Tragen Sie sie nicht mehr. Lassen Sie sie mir! Nach ihrem Heiratsvertrag hat sie die Verfügung über ihr Vermögen. Morgen gehe ich zu Rechtsanwalt Derville. Ich werde die Herausgabe ihres Vermögens verlangen. Ich kenne die Gesetze, ich bin ein alter Wolf, ich werde noch zupacken können.«

»Hier, Vater, sind tausend Francs, die sie mir von unserem Gewinn gegeben hat. Verwahren Sie sie mit der Weste.«

Goriot sah Eugen an und nahm seine Hand, auf die er eine Träne fallen ließ.

»Sie werden Glück haben im Leben«, sagte der Greis. »Gott ist gerecht, sehen Sie. Ich weiß, was Ehrlichkeit heißt, und ich kann Ihnen versichern, daß ich wenige Menschen getroffen habe, die mit Ihnen zu vergleichen wären. Sie wollen also auch mein Kind sein? Aber nun gehen Sie schlafen! Sie können ruhig schlafen, Sie sind noch nicht Vater. Sie hat geweint, sie hat gelitten, das höre ich erst jetzt, während ich ruhig und stumpfsinnig gegessen habe. Ich, der ich Vater, Sohn und Heiligen Geist verkaufen würde, um ihnen beiden eine Träne zu ersparen.«

»Weiß Gott«, dachte Eugen, als er sich schlafen legte, »ich glaube, daß ich mein ganzes Leben lang ein anständiger Mensch bleiben werde. Es ist doch eine Freude, den Eingebungen des Gewissens zu folgen.«

Vielleicht tun nur die Menschen im geheimen Gutes, die an Gott glauben, und Eugen glaubte an Gott. Am folgenden Tage begab sich Rastignac um die Stunde des Balles zu Madame de Beauséant, die ihn zur Herzogin von Carigliano mitnahm, um ihn vorzustellen. Er wurde von der Marschallin, bei der er auch Madame de Nücingen traf, auf das gnädigste aufgenommen. Delphine hatte sich schöngemacht, um allen und dadurch um so mehr Eugen zu gefallen. Ungeduldig erwartete sie seinen Blick, im Glauben, ihre Unruhe verbergen zu können. Für den, der die Herzensregungen einer Frau zu deuten weiß, ist solch ein Augenblick voller Wonne. Wer hat sich nicht schon darin gefallen, eine Frau auf eine Beifallsäußerung warten zu lassen, in der Unruhe, die man erregt, das Geständnis zu erblicken, sich an der Furcht, den holden Ängsten zu freuen, die man dann durch ein Lächeln zerstreut? Während des Balles konnte der Student die ganze Bedeutung seiner Position abschätzen. Er sah, daß er in der Gesellschaft als anerkannter Vetter der Madame de Beauséant eine Rolle spielte. Die Eroberung der Madame de Nücingen, die man ihm schon zusprach, gab ihm ein solches Relief, daß alle jungen Leute ihm neidische Blicke zuwarfen. Als er das bemerkte, genoß er die ersten Freuden der Eitelkeit. Während er von dem einen Salon zum anderen ging und die Gruppen der Gäste streifte, hörte er sein Glück rühmen. Alle Frauen sagten ihm Erfolge voraus. Delphine, die fürchtete, ihn zu verlieren, versprach, ihm heute den Kuß nicht zu verweigern, den sie ihm bei der Rückkehr von der Oper vorenthalten hatte. Rastignac erhielt während des Balles mehrere Einladungen. Durch seine Cousine wurde er einigen Damen vorgestellt, die alle auf Eleganz hielten und deren Häuser sehr gesucht waren. Er sah sich in der großen, schönen Gesellschaft von Paris lanciert. So hatte dieser Abend den Reiz eines glänzenden Debüts. Er entsann sich seiner noch in seinen späten Tagen, wie ein junges Mädchen sich des Balls erinnert, auf dem es seine ersten Triumphe gefeiert hat. Als er am folgenden Tage beim Frühstück in Gegenwart der Tischgenossen seine Erfolge dem Vater Goriot erzählte, brach Vautrin in ein teuflisches Lachen aus.

»Und Sie glauben«, rief dieser furchtbare Logiker, »daß ein junger Modeheld in der Rue Neuve-Ste-Geneviève wohnen kann, im Hause Vauquer, in einer Pension, die gewiß in jeder Hinsicht anerkennenswert ist, aber doch nichts weniger als fashionable? Das Haus ist reich, es glänzt vor Überfluß, es ist stolz darauf, zeitweilig zur Stammburg eines Rastignac erhoben zu sein; aber schließlich – es liegt in der Rue Neuve-Ste-Geneviève, es kennt keinen Luxus, und es ist sehr ›patriarcholorama‹. Mein junger Freund«, fuhr Vautrin in einer Art väterlichen Spottes fort, »wenn Sie in Paris Figur machen wollen, dann müssen Sie drei Pferde und einen Tilbury für den Morgen haben, ein Coupé für den Abend, alles in allem 9000 Francs fürs Kutschieren. Sie wären Ihres Schicksals unwürdig, wenn Sie nicht 3000 Francs bei Ihrem Schneider ausgäben, 600 Francs beim Parfümeur, 300 Francs für Schuhe und dieselbe Summe beim Huthändler. Ihre Wäscherei wird Ihnen 1000 Francs kosten. Die jungen Leute müssen in puncto Wäsche sehr stark sein. Das ist etwas, was man am meisten prüft. Die Liebe und die Kirche wollen hübsche Tücher auf ihren Altären. Wir sind bei 14 000 Francs. Ich will nicht davon reden, was Sie beim Spiel und durch Wetten verlieren und was Sie an Geschenken ausgeben. Das Taschengeld muß man mindestens auf 2000 Francs rechnen. Ich habe selbst mal dieses Leben geführt, ich weiß, was man verbraucht . . . Nun kommen noch 6000 Francs fürs Futter, 1000 Francs für die Bude. Also, mein Junge, das heißt schon unsere runden 25 000 Francs in der Tasche haben, oder wir liegen im Dreck, man lacht uns aus, und zu Ende ist es mit unserer Zukunft, unseren Erfolgen, unseren Geliebten! Ich vergaß noch ganz den Kammerdiener und den Groom! Oder soll Ihnen Christoph Ihre Liebesbriefe austragen? Wollen Sie auf dem Briefpapier, das Sie jetzt benutzen, auch weiterhin schreiben? Das bedeutet Selbstmord! Glauben Sie einem Greis von Erfahrung. Entweder Sie verschließen sich in der tugendhaften Mansarde mit der Arbeit als Liebchen, oder Sie müssen einen anderen Weg einschlagen.«

Vautrin, der diese letzten Worte mit einem rinforzando seiner Baßstimme gesprochen hatte, schielte blinzelnd auf Fräulein Taillefer, um mit diesem Blick an die verführerischen Vorschläge zu erinnern, mit denen er das Herz des Studenten zu verderben versucht hatte. Mehrere Tage vergingen, während denen Rastignac sich nur den Zerstreuungen widmete. Er dinierte fast alle Tage bei Madame de Nücingen und begleitete sie dann in Gesellschaften. Er kam um drei oder vier Uhr morgens nach Hause, stand mittags auf, um Toilette zu machen, und spazierte dann bei schönem Wetter mit Delphine im Bois. So vergeudete er seine Zeit, deren Wert er nicht kannte, um die Lehren und Verführungen des Luxus mit tiefer Begierde in sich aufzunehmen. Er spielte hoch, verlor oder gewann viel, und gewöhnte sich schließlich an dieses ausschweifende Leben der jungen Leute von Paris. Von seinen ersten Spielgewinnen hatte er, verbunden mit hübschen Geschenken, seiner Mutter und seinen Schwestern die 1500 Francs zurückgesandt. Obwohl er angekündigt hatte, das Haus Vauquer verlassen zu wollen, befand er sich noch in den ersten Tagen des Januar in der Pension und wußte nicht, wie er ausziehen konnte. Die jungen Leute sind fast alle einem scheinbar unerklärlichen Gesetz unterworfen, das indessen aus ihrer Jugend und aus der Gier, mit der sie sich auf das Vergnügen stürzen, herzuleiten ist. Ob sie reich oder arm sind, nie haben sie Geld für ihre notwendigsten Bedürfnisse, während sie immer etwas zur Befriedigung ihrer Launen auftreiben. Verschwenderisch mit allem, was auf Kredit zu erhalten ist, knausern sie mit Dingen, die man auf der Stelle bezahlen muß. Sie scheinen sich an dem, was sie nicht haben, zu rächen, indem sie mit dem, was sie haben können, verschwenderisch umgehen. So geht ein Student, um die Dinge beim Namen zu nennen, mit seinem Hut sorgsamer um als mit seiner Kleidung. Da der Schneider mit enormen Gewinnsätzen rechnet, gibt er Kredit, während der Huthändler, der dies angesichts des geringfügigen Preises seiner Ware nicht tun kann, für den Studenten, der zu verhandeln gezwungen ist, eines der am schwierigsten zu behandelnden Lebewesen darstellt. Wenn die Lorgnette einer Schönen bei dem jungen Mann auf dem Balkon eines Theaters eine blendende Weste entdeckt, so ist es zweifelhaft, wie es um seine Strümpfe steht, denn auch der Wäschehändler nagt an seiner Börse. Mit Rastignac war es nicht anders gekommen. Seine Börse war stets leer für Madame Vauquer, immer gefüllt für die Forderungen der Eitelkeit. Sie kannte Gezeiten von Glück und Unglück, die indessen nie mit den dringendsten Zahlungen in Einklang zu bringen waren. Um die übelriechende, unwürdige Pension verlassen zu können, in der seine Ansprüche an das Leben immer wieder erniedrigt wurden, mußte er eine Monatsmiete an seine Wirtin zahlen und überdies Möbel für sein Dandy-Appartement kaufen! Das war stets unmöglich. Wohl verstand es Rastignac, für teures Geld von seinem Spielgewinne Uhren und goldene Ketten beim Juwelier zu kaufen, die er dann wieder zum Leihhaus, diesem düsteren, diskreten Freund der Jugend, trug, um spielen zu können. Aber er war ohne Mut und ohne Einfälle, wenn es sich darum handelte, für seine Nahrung und seine Wohnung zu zahlen oder die notwendige Ausstattung zur Führung eines eleganten Lebens zu erwerben. Gewöhnliche Notlagen, Schulden zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse wirkten nicht mehr auf ihn ein. Wie die meisten Menschen, die dieses Leben in den Tag hinein führen, wartete er bis zum letzten Moment, um Schulden, die in den Augen der Bürger heilig sind, zu bezahlen. So bezahlte Mirabeau seine Brotrechnung auch nur, wenn sie ihm in der zwingenden Form eines Wechsels vorgelegt wurde. –

Um diese Zeit hatte nun Rastignac sein ganzes Geld verspielt und Schulden aufgenommen. Der Student begann zu begreifen, daß es ihm unmöglich sein würde, dieses Leben ohne feste Einnahmen fortzuführen. Aber sosehr er auch unter dem Druck seiner zweifelhaften Lage seufzte, er fühlte nicht die Kraft, auf die Freuden dieses ausschweifenden Lebens zu verzichten, und wollte es um jeden Preis weiterführen. Die Glücksfälle, auf die er seinen zukünftigen Reichtum aufgebaut hatte, erwiesen sich als trügerisch, und die wirklichen Hindernisse wuchsen. Als ihm die Geheimnisse des Hauses Nücingen erschlossen wurden, hatte er eingesehen, daß man, um aus der Liebe Kapital zu schlagen, sich zuvor auf das tiefste erniedrigen und auf alle edlen Ideen verzichten mußte, die allein eine Vergebung der Jugendsünden begründen können. So war sein Leben nach außen hin glänzend, nach innen von Gewissensqualen zernagt. Die flüchtigen Freuden waren mit dauernden Ängsten teuer bezahlt. Aber er hatte sich an dieses Leben nun einmal gewöhnt. Er hatte sich in Leiden verwickelt und sich, wie der Zerstreute La Bruyères, ein Bett im Schlamm des Straßengrabens gemacht; aber er hatte, wie der Zerstreute, einstweilen nur seine Kleidung beschmutzt. –

»Also der Mandarin ist doch tot?« sagte eines Tages Bianchon, als er vom Tisch aufstand.

»Noch nicht«, erwiderte Rastignac, »aber er röchelt schon.«

Der junge Mediziner hielt diese Antwort für einen Scherz. Aber es war Ernst. Eugen, der zum ersten Male seit langer Zeit wieder in der Pension gegessen hatte, war während der Mahlzeit sehr nachdenklich gewesen. Statt nach dem Dessert aufzustehen, blieb er neben Fräulein Taillefer sitzen, der er von Zeit zu Zeit vielsagende Blicke zuwarf. Einige Pensionäre saßen noch bei Tisch und aßen Nüsse, andere spazierten im Zimmer umher, um eine begonnene Unterredung fortzuführen. Wie fast alle Abende, erhob sich jeder nach seiner Laune, je nach dem Grad seines Interesses an der Unterhaltung oder nach dem Stand seiner Verdauung. Im Winter war es selten, daß das Speisezimmer vor acht Uhr völlig geräumt war. Schließlich blieben noch die vier Frauen zusammen und rächten sich an dem Schweigen, das ihrem Geschlecht von der männlichen Gesellschaft auferlegt war. Vautrin, den die nachdenkliche Stimmung Eugens interessierte, blieb gleichfalls im Speisezimmer, obwohl er es anfangs sehr eilig zu haben schien. Er hielt sich so, daß Eugen, der glauben sollte, er habe das Zimmer verlassen, ihn nicht sehen konnte. Statt mit den letzten Pensionären fortzugehen, blieb er im Salon. Er hatte in der Seele des Studenten gelesen und Symptome bemerkt, die auf eine Entscheidung deuteten.

Rastignac war in der Tat in einer verzwickten Lage, wie sie so viele junge Leute kennenlernen. Madame de Nücingen, sei es aus Verliebtheit oder aus Koketterie, hatte alle Methoden der in Paris üblichen weiblichen Diplomatie gegen ihn angewandt und ihn durch alle Ängste einer wirklichen Leidenschaft gejagt. Nachdem sie sich in den Augen des Publikums kompromittiert hatte, um den Vetter der Madame de Beauséant an sich zu fesseln, zögerte sie, ihm die Rechte einzuräumen, die er schon zu genießen schien. Seit einem Monat reizte sie die Sinne des Studenten so, daß schließlich auch das Herz nicht verschont blieb. Wenn Eugen in den ersten Momenten der Liaison der Meister zu bleiben geglaubt hatte, so hatte sich bald Madame de Nücingen als die Stärkere erwiesen. Sie brachte bei Eugen alle Gefühle, gute oder schlechte, in Bewegung, die zwei oder drei verschiedenen Seelen, die ein junger Pariser nun einmal hat. War es bei ihr Berechnung? Nein. Die Frauen sind immer wahr, selbst wenn sie noch so falsch sind, weil sie immer einem natürlichen Gefühl folgen. Vielleicht gehorchte Delphine, die einen Augenblick lang dem jungen Manne zu viel Macht eingeräumt und ihm eine zu große Zuneigung bewiesen hatte, einem Gefühl der Würde, das sich den Zusagen widersetzte oder doch ihre Erfüllung aufschob. Es ist so natürlich für eine Pariserin, selbst im Augenblick, wo die Leidenschaft sie fortreißt, zu zögern, das Herz des Mannes zu prüfen, dem sie ihre Zukunft ausliefert. Die Hoffnungen der Madame de Nücingen waren bereits ein erstes Mal verraten worden, und der junge Egoist, dem ihre Treue galt, hatte sie verschmäht! Sie hatte daher ein gutes Recht, mißtrauisch zu sein. Vielleicht hatte sie auch im Wesen Eugens, den sein schneller Erfolg eitel gemacht hatte, eine Art von Mißachtung entdeckt, die durch die Eigenart ihrer beiderseitigen Situation erklärt werden konnte. Sie wollte ohne Zweifel ihrem jugendlichen Freund imponieren und groß erscheinen, nachdem sie so lange vor dem, der sie verlassen hatte, klein gewesen war. Sie wollte nicht, daß Eugen sie für eine leichte Eroberung hielt, gerade weil er wußte, daß sie de Marsey angehört hatte. Schließlich: Nachdem sie die entwürdigenden Lüste eines jugendlichen Libertins – ein Begriff, der wirklich eine Monstrosität darstellt – genossen hatte, war es für sie eine Wohltat, sich in den blumigen Gefilden einer wahren Liebe zu ergehen, alle ihre Erscheinungsformen zu bewundern, ihre zarten Schauer zu belauschen und sich von ihren keuschen Brisen streicheln zu lassen. Die wirkliche Liebe büßte für die falsche. Dieser Widersinn wird leider noch oft zu finden sein, solange die Männer nicht wissen, wieviel Blumen in der Seele einer Frau durch den ersten Betrug niedergemäht werden.

Aber worin immer ihre Gründe bestehen mochten: Delphine spielte mit Rastignac und fand Gefallen an diesem Spiel. Sicher, weil sie sich geliebt wußte und weil sie, ganz nach ihrer königlichen Willkür als Frau, sich bewußt war, eines Tages den Kummer ihres Geliebten vertreiben zu können. Aus Selbstachtung wünschte Eugen nicht, daß sein erster Kampf mit einer Niederlage endete, und er verfolgte sein Ziel weiter als der Jäger, der unbedingt am Hubertustage sein Huhn erlegen will. Sein Liebeskummer, seine beleidigte Eigenliebe, seine falsche oder wahre Verzweiflung, alles dies fesselte ihn mehr und mehr an diese Frau. Ganz Paris sprach ihm die Eroberung der Madame de Nücingen zu, obwohl er noch nicht weiter war als am ersten Tage. Er wußte noch nicht, daß die Koketterie einer Frau dem Mann oft größere Befriedigung bereiten kann als ihre Liebe selbst, und er geriet so in törichte Wut. Die Frucht, die ihm so lange entzogen wurde, wurde ihm so immer teurer und erschien ihm immer verlockender. Manchmal, wenn er sich ohne einen Sou und ohne Zukunft sah, dachte er, trotz der Stimme seines Gewissens, an die Glücksmöglichkeiten, die ihm Vautrin in einer Heirat mit Fräulein Taillefer gezeigt hatte. Er befand sich jetzt wieder in einem Zustand, in dem sein Elend so laut sprach, daß er fast unbewußt den Künsten der schrecklichen Sphinx nachgab, deren Blicke ihn so oft in ihren Bann gezogen hatten. Als Poiret und Fräulein Michonneau nach oben gingen, sah Rastignac, der sich allein zwischen Madame Vauquer und der Strümpfe strickenden Madame Couture glaubte, Fräulein Taillefer so zärtlich an, daß sie die Augen senkte.

»Haben Sie etwa Kummer, Herr Eugen?« sagte sie nach einem Augenblick des Schweigens.

»Welcher Mensch hat keinen Kummer?« erwiderte Rastignac. »Wenn wir jungen Leute sicher wären, daß man uns zum Dank für alle Opfer, zu denen wir stets bereit sind, aufrichtig liebte, so hätten wir vielleicht niemals Kummer.«

Fräulein Taillefer warf ihm statt aller Antwort einen recht vielsagenden Blick zu. –

»Sie, mein Fräulein, glauben sich heute Ihres Herzens sicher, aber bürgen Sie dafür, daß Sie sich niemals ändern werden?«

Ein Lächeln irrte über die Lippen des jungen Mädchens, das wie ein Strahl aus ihrer Seele war. Ihr Gesicht leuchtete so, daß Eugen fast darüber erschrak, einen so heftigen Gefühlsausbruch hervorgerufen zu haben. –

»Wie? Wenn Sie morgen reich und glücklich wären? Wenn Ihnen ein großes Vermögen in den Schoß fiele, würden Sie dann noch den armen jungen Mann lieben, dem Sie in den Tagen der Not Ihr Herz zuwandten?«

Sie bestätigte mit einem zierlichen Kopfnicken.

»Auch wenn der junge Mann sehr unglücklich ist?«

Ein neues Kopfnicken war die Antwort.

»Was redet ihr da für einen Unsinn?« rief Madame Vauquer.

»Lassen Sie uns«, erwiderte Eugen, »wir verständigen uns über etwas.«

»Also der Chevalier von Rastignac und Fräulein Victorine Taillefer haben sich verlobt?« rief Vautrin, der plötzlich an der Tür des Speisesaales erschien, mit seiner Baßstimme.

»Ah! Sie haben mich erschreckt«, sagten Madame Vauquer und Madame Couture gleichzeitig.

»Man könnte eine schlechtere Wahl treffen«, sagte Eugen lachend, dem die Stimme Vautrins die heftigste Erschütterung bereitet hatte, die ihm je widerfahren war.

»Machen Sie keine schlechten Witze, meine Herren!« sagte Madame Couture. »Komm, komm, mein Kind, wir gehen nach oben!«

Madame Vauquer folgte den beiden Damen, um den Abend in ihrem Zimmer zu verbringen und so Licht und Feuer zu sparen. Eugen fand sich allein Vautrin gegenüber.

»Ich wußte genau, daß Sie dahin kommen würden«, sagte dieser mit unerschütterlicher Kaltblütigkeit. »Aber hören Sie! Ich bin genauso feinfühlig wie andere Menschen. Entschuldigen Sie sich nicht in diesem Augenblick, Sie sind nicht in Ihrem Gleichgewicht. Sie haben Schulden. Nicht die Leidenschaft und die Verzweiflung, sondern die Vernunft soll Sie zu mir führen. Vielleicht brauchen Sie 3000 Francs. Hier, wollen Sie?«

Der Dämon zog eine Brieftasche hervor und entnahm ihr drei Banknoten, die er vor den Augen des Studenten in der Luft flattern ließ. Eugen war in der furchtbarsten Lage. Er schuldete dem Marquis d'Ajuda und dem Comte de Trailles 2000 Francs, die er verloren hatte, auf Ehrenwort. Er hatte sie nicht, und er wagte nicht, den Abend bei Madame de Restaud zu verbringen, wo man ihn erwartete. Es war einer der zwanglosen Abende, wo man Tee trinkt und Kuchen ißt, aber beim Whist auch 6000 Francs verlieren kann.

»Nach allem, was Sie mir anvertraut haben«, sagte Eugen, der kaum ein konvulsivisches Zittern verbergen konnte, »werden Sie verstehen, daß es mir unmöglich ist, Ihnen gegenüber Verpflichtungen zu haben.«

»Schön! Sie hätten mir leid getan, wenn Sie anders gesprochen hätten«, erwiderte der Versucher. »Sie sind ein vortrefflicher junger Mann, feinfühlig, stolz wie ein Löwe und sanft wie ein junges Mädchen. Sie wären eine schöne Beute für den Teufel. Ich liebe junge Leute dieser Art. Nur noch ein wenig hohe Politik, und Sie werden die Welt sehen, wie sie ist. Ein überlegener Mensch, der einige kleine Tugendszenen spielt, kann so alle seine kleinen Launen unter dem Beifall der Dummköpfe im Parterre befriedigen. Binnen wenigen Tagen werden Sie zu uns gehören. Ah! Wenn Sie mein Schüler werden wollten, ich würde Ihnen zu allem verhelfen. Sie brauchten nur einen Wunsch auszusprechen, und er wäre im Nu erfüllt: Ehre, Reichtum, Frauen. Die ganze Zivilisation würde man Ihnen in Ambrosia verwandeln. Sie wären unser Hätschelkind, unser Benjamin, für Sie würden wir uns mit Freuden aufopfern. Alle Hindernisse würden Ihnen geebnet werden. Halten Sie mich denn für einen Verbrecher, daß Sie noch immer Skrupel haben? Nun, ein Mann, der so ehrlich war, wie Sie noch zu sein glauben, Herr von Turenne, machte kleine Geschäfte mit Briganten, ohne sich für kompromittiert zu halten. Sie wollen keine Verpflichtungen mir gegenüber haben, was? Die Sache ist ganz einfach!« fuhr er lachend fort. »Hier, nehmen Sie die Lappen und schreiben Sie hier« – Vautrin holte eine Stempelmarke hervor – »quer: akzeptiert für die Summe von 3000 Francs, zahlbar in einem Jahre. Und das Datum. Die Zinsen sind so hoch, daß Sie keine Skrupel zu haben brauchen. Sie können mich einen Wucherer nennen und sich als jeder Dankesschuld enthoben betrachten. Ich erlaube Ihnen, mich heute noch viel mehr zu verachten, denn ich bin sicher, daß Sie mich später lieben werden. In mir können Sie unermeßliche Abgründe finden, jene starken, konzentrierten Gefühle, die die Dummköpfe Laster nennen; aber Sie werden niemals finden, daß ich feige oder undankbar bin. Schließlich: Ich bin, um mit den Schachspielern zu reden, weder Bauer noch Läufer, sondern ein Turm.«

»Was für ein Mensch sind Sie!« rief Eugen, »Sie sind nur dazu da, um mich zu quälen.«

»Aber nein, ich bin ein guter Kerl, der sich in den Dreck wirft, damit Sie für den Rest Ihrer Tage vor jedem Schmutz bewahrt bleiben. Sie fragen mich: Woher diese Aufopferung? Nun, ich werde Ihnen das eines Tages ganz leise ins Ohr sagen. Ich habe Ihnen zuerst einen Schreck eingejagt, als ich Ihnen das Uhrwerk unserer sozialen Ordnung und das Spiel der Maschine erklärte. Aber diese erste Angst wird vorübergehen wie die des Rekruten auf dem Schlachtfelde. Sie werden sich an die Idee gewöhnen, in den Menschen nichts anderes zu sehen als Soldaten, die für die anderen, die sich selbst zum König salben, zu sterben entschlossen sind. Die Zeiten haben sich sehr geändert. Früher sagte man zu einem Bravo: Hier sind 100 Gulden, töte Herrn Soundso. Und man soupierte in Ruhe, nachdem man einen Menschen für ein Ja oder ein Nein erledigt hatte. Heute biete ich Ihnen ein schönes Vermögen für ein bloßes Kopfnicken, das Sie in keiner Weise kompromittiert, und Sie zögern! Dieses Jahrhundert hat kein Mark mehr in den Knochen!«

Eugen unterzeichnete den Wechsel und nahm dafür die Banknoten.

»Nun, sehen Sie, also seien wir vernünftig«, fuhr Vautrin fort. »Ich will in einigen Monaten nach Amerika reisen und dort meinen Tabak pflanzen. Ich werde Ihnen Freundschaftszigarren schicken. Wenn ich reich bin, helfe ich Ihnen. Wenn ich keine Kinder habe (sehr wahrscheinlich, denn ich bin nicht versessen darauf, Ableger zu hinterlassen), vermache ich Ihnen mein Vermögen. Heißt das Freundschaft? Aber das macht, ich habe Sie gern. Ich habe nun einmal die Leidenschaft, mich für einen anderen aufzuopfern. Ich habe es bereits früher getan. Sehen Sie, mein Junge, ich lebe in einer höheren Sphäre als die anderen Menschen. Handlungen sind für mich nur ein Mittel zum Zweck, und ich sehe nur das Ziel. Was bedeutet ein Mensch für mich? Soviel«, sagte er, indem er mit dem Nagel seines Daumens an den Zähnen knipste, »ein Mensch ist alles oder nichts. Er ist weniger als nichts, wenn er Poiret heißt; man kann ihn wie eine Wanze zertreten. Er ist platt und stinkt. Aber ein Mensch ist ein Gott – wenn er ist wie Sie. Er ist nicht mehr bloß eine mit Haut überzogene Maschine, er ist ein Theater, auf dem die schönsten Gefühle in Aktion treten – und ich lebe nur in Gefühlen. Ein Gefühl: Ist das nicht die ganze Welt in einem Gedanken? Sehen Sie den Vater Goriot! Seine beiden Töchter sind für ihn das Weltall, sie sind der Faden, mit Hilfe dessen er sich in der Schöpfung bewegt. Nun, für mich, der ich das Leben gründlich durchgeackert habe, gibt es nur ein wahres Gefühl: die Freundschaft von Mann zu Mann. Pierre und Jaffier, das ist meine Leidenschaft. Ich kenne das ›gerettete Venedig‹ auswendig. Kennen Sie Leute mit genügend Mark in den Knochen, die, wenn ihnen ein Kamerad sagt: ›Gehen wir einen begraben!‹, mitmachen, ohne zu mucksen und ohne von Moral zu schwatzen? Ich hier, ich habe das getan! Ich würde so nicht zu aller Welt reden. Aber Sie, Sie sind ein höherer Mensch, Ihnen kann man alles sagen, Sie können alles verstehen. Sie sollen sich nicht lange in den Sümpfen herumtreiben, in denen die kleinen Kröten leben, die uns hier umgeben. Na also, nun ist es heraus! Sie werden heiraten. Rüsten wir unsere Waffen! Meine sind aus Eisen, die werden niemals weich, ha, ha!«

Vautrin verließ das Zimmer, ohne die ablehnende Antwort des Studenten abzuwarten, dem er so Ruhe lassen wollte. Er schien das Geheimnis dieser kleinen Widerstände zu kennen, dieser Kämpfe, mit denen sich die Menschen vor sich selbst brüsten und die dazu herhalten müssen, ihre schlechten Taten zu rechtfertigen.

Mag er tun, was er will, dachte Eugen, ich werde Fräulein Taillefer auf keinen Fall heiraten.

Die Idee eines Paktes mit diesem Menschen, vor dem es ihn schauderte, erfaßte ihn wie ein inneres Fieber. Aber er konnte eine gewisse Bewunderung nicht unterdrücken, die der Zynismus der Anschauungen Vautrins und die Kühnheit, mit der er die Gesellschaft zermalmte, in ihm auslösten. Er kleidete sich an, verlangte einen Wagen und begab sich zu Madame de Restaud. Seit einigen Tagen hatte die Gräfin ihre Aufmerksamkeit für den jungen Mann verdoppelt: mit jedem Schritt machte er weitere Fortschritte in der großen Gesellschaft, und sein Einfluß mußte in Zukunft einmal gefährlich werden. Er bezahlte seine Schuld bei de Trailles und d'Ajuda, spielte bis in die Nacht hinein Whist und gewann seinen Verlust wieder zurück. Abergläubisch wie die meisten Menschen, die ihren Weg noch zu machen haben und die alle mehr oder weniger Fatalisten sind, wollte er in seinem Spielglück den Lohn des Himmels für sein Verharren auf dem rechten Wege sehen. Am folgenden Morgen beeilte er sich, Vautrin zu fragen, ob er den Wechsel noch habe. Auf seine bejahende Antwort gab er mit dem recht natürlichen Gefühl der Freude die 3000 Francs zurück.

»Alles klappt«, sagte Vautrin.

»Aber ich bin nicht ihr Komplice«, erwiderte Rastignac.

»Ich weiß, ich weiß!« unterbrach ihn Vautrin. »Kindereien! Sie stolpern noch ein wenig auf der Schwelle!«

Zwei Tage später saßen Poiret und Fräulein Michonneau im Sonnenschein auf der Bank in einer einsamen Allee des Jardin des Plantes. Sie unterhielten sich mit jenem Herrn, der dem jungen Mediziner aus guten Gründen verdächtig vorgekommen war.

»Mein liebes Fräulein«, sagte Herr Goudureau, »ich begreife nicht, worauf Ihre Skrupel beruhen. Seine Exzellenz der Herr Minister der allgemeinen Polizei des Königreiches . . .«

»Ah! Seine Exzellenz der Herr Minister der allgemeinen Polizei des Königreiches . . .«, sagte Poiret.

»Ja, Seine Exzellenz selbst beschäftigt sich mit der Affäre«, sagte Goudureau.

Man wird sich wundern, daß Poiret, ein ehemaliger Beamter, ohne Zweifel ein Mann von bürgerlichen Tugenden, wenn auch ohne Ideen, weiter den angeblichen Rentner aus der Rue de Buffon anhörte, nachdem dieser das Wort »Polizei« ausgesprochen und so unter der Maske eines ehrlichen Mannes seine wahre Natur als Agent der Rue de Jerusalem hatte durchblicken lassen. –

Indessen – nichts war natürlicher. Denn in der großen Familie der Dummköpfe gehörte Poiret einer besonderen Spezies an, und zu ihrem Verständnis tragen sehr die Feststellungen gewisser Beobachter bei, die indes bis heute noch unveröffentlicht sind. Danach gibt es eine Gattung Federfuchser, die im Budget zwischen dem ersten und dritten Breitengrad eingezwängt sind. In den nördlichen Breiten, einer Art Beamten-Grönland, leben die Gehälter von 1200 Francs, während im dritten, in der gemäßigten Zone, die etwas wärmeren Gehälter von 3000 bis 6000 Francs beginnen. Hier gedeiht, trotz ungünstiger Bodenverhältnisse, die Gratifikation. Die ganze Engstirnigkeit dieser subalternen Sippschaft wird durch ein besonderes Merkmal klar: unfreiwilliger, maschinenmäßiger, instinktiver Respekt vor dem Dalai Lama des Ministeriums, dem Beamten durch eine unleserliche Unterschrift vertraut und bekannt unter der Bezeichnung: Seine Exzellenz der Herr Minister, fünf magische Worte, die den gleichen Wert haben wie »il Bondo Cani!« im »Kalif von Bagdad«. In den Augen dieser platten Gesellschaft bedeutet dieser Mann eine heilige Macht, eine höchste Instanz. Wie der Papst für die Christen, so ist Seine Exzellenz in seiner Verwaltung für den Beamten unfehlbar. Der Glanz, den er ausstrahlt, überträgt sich auf seine Handlungen und Worte. Er deckt alles mit der Stickerei seines Fracks, und alles, was er anordnet, ist gesetzlich. Sein Name »Exzellenz«, der die Reinheit seiner Absichten und die Heiligkeit seines Wollens andeuten soll, dient den zweifelhaftesten Ideen als Paß. Was diese armen Kerle niemals aus eigenem Interesse tun würden, tun sie auf der Stelle, sobald das Wort »Seine Exzellenz« ertönt. Die Büros kennen einen Kadavergehorsam, genauso wie die Armee: ein System, das das Gewissen erstickt, die Menschen zunichte macht und sie schließlich nur noch Schrauben und Nägel an der Regierungsmaschine sein läßt. Goudureau hatte als guter Menschenkenner bald heraus, daß Poiret einer dieser bürokratischen Dummköpfe war, und er brachte den Deus ex machina, das Talismanwort: »Seine Exzellenz« in dem Moment vor, wo er unter Demaskierung seiner Batterien Poiret blenden mußte. Er schien ihm eine Art männlicher Michonneau zu sein, wie die Michonneau eine Art weiblicher Poiret.

»Sobald Seine Exzellenz selbst, Seine Exzellenz der Herr . . . Ah! Das ist natürlich etwas anderes«, sagte Poiret.

»Sie hören, wie der Herr denkt, auf dessen Urteil Sie mir Wert zu legen scheinen«, wandte sich der falsche Rentner an Fräulein Michonneau. »Also Seine Exzellenz hat nunmehr die vollständige Gewißheit, daß der angebliche Vautrin, wohnhaft im Hause Vauquer, ein aus dem Lager von Toulon entwichener Sträfling ist, der dort unter dem Namen Trompe-la-Mort bekannt ist.«

»Ah! Trompe-la-Mort!« rief Poiret, »da muß er viel Glück gehabt haben, wenn er sich diesen Namen verdient hat.«

»Sicher«, sagte der Polizeispitzel, »diesen Spitznamen verdankt er dem Umstand, daß er bei seinen höchst gewagten Unternehmungen stets mit dem Leben davongekommen ist. Der Kerl ist gefährlich, müssen Sie wissen! Er hat Eigenschaften, die ihn als außerordentlichen Menschen erscheinen lassen. Seine Verurteilung gereichte ihm bei seinen Anhängern sogar zur höchsten Ehre . . .«

»Er ist also ein Ehrenmann?« fragte Poiret.

»Auf seine Art. Er hat das Verbrechen eines anderen auf sich genommen, eine Fälschung, die ein schöner junger Mann, ein Italiener, den er sehr liebte, beging. Es war ein Spieler, der seitdem in den Militärdienst eingetreten ist, wo er sich übrigens ausgezeichnet geführt hat.«

»Aber wenn Seine Exzellenz, der Polizeiminister, sicher ist, daß Vautrin und Trompe-la-Mort ein und dieselbe Person sind, wozu hat er dann mich nötig?« sagte Fräulein Michonneau.

»Ah, in der Tat«, sagte Poiret, »wenn der Minister, wie wir eben die Ehre hatten von Ihnen zu hören, die Gewißheit hat . . .«

»Gewißheit ist nicht das richtige Wort; es besteht nur eine Vermutung. Sie werden das gleich begreifen. Jacques Collin, genannt Trompe-la-Mort, besitzt das Vertrauen von drei Sträflingen, die ihn zu ihrem Agenten und Bankier gewählt haben. Er verdient eine Menge Geld durch diese Art von Geschäften, die natürlich nur ein ausgezeichneter Mann führen kann.«

»Ha, ha! Verstehen Sie das Wortspiel, Fräulein?« sagte Poiret, »der Herr nennt ihn einen ausgezeichneten Mann, weil er mit der Brandmarke ›ausgezeichnet‹ ist.«

»Der falsche Vautrin«, fuhr der Spitzel fort, »erhält die Kapitalien der Herren Sträflinge, placiert und verwaltet sie. Er stellt sie Ausbrechern zur Verfügung, den Familien, falls die Sträflinge ein Testament machen, oder den Geliebten, wenn er eine Anweisung erhält.«

»Den Geliebten! Sie wollen wohl sagen, den Frauen?« bemerkte Poiret.

»Nein, mein Herr. Der Sträfling hat gewöhnlich nur illegitime Gefährtinnen, die wir Konkubinen nennen.«

»Sie leben also alle im Konkubinat?«

»Allerdings.«

»Aber«, rief Poiret, »das sind ja schreckliche Zustände, die Seine Exzellenz nicht dulden dürfte. Da Sie die Ehre haben, Seine Exzellenz zu kennen, so sollten Sie als Mann mit philanthropischen Ansichten ihn über den unmoralischen Lebenswandel dieser Leute aufklären, die der übrigen Gesellschaft ein so schlechtes Beispiel geben.«

»Aber die Regierung wirft sie nicht ins Bagno, um sie zu Tugendmodellen zu machen.«

»Das ist richtig. Indessen, mein Herr, erlauben Sie . . .«

»Aber lassen Sie doch den Herrn ausreden, mein Bester«, sagte die Michonneau.

»Sie verstehen, mein Fräulein«, fuhr Goudureau fort, »die Regierung hat natürlich das größte Interesse daran, die illegale Kasse, die einen sehr hohen Betrag enthalten soll, in die Hand zu bekommen. Trompe-la-Mort erhält nicht nur große Summen von seinen Kameraden, sondern auch vom Bund der Zehntausend . . .«

»Zehntausend Diebe!« rief Poiret entsetzt.

»Nein, der Bund der Zehntausend ist eine Vereinigung von Schwerverbrechern, von Leuten, die nur im großen arbeiten und die sich nur mit Sachen abgeben, bei denen es wenigstens zehntausend Francs zu erbeuten gibt. Zu dieser Gesellschaft gehört die Elite unserer Schwurgerichtskandidaten. Sie kennen das Strafgesetz und wissen es so einzurichten, daß man niemals die Todesstrafe gegen sie verhängen kann. Collin ist ihr Vertrauensmann, ihr Berater. Mit Hilfe seiner ungeheuren Hilfsquellen hat dieser Mensch es verstanden, sich eine eigene Polizei zu schaffen, er verfügt über ausgedehnte Verbindungen, die sich in ein undurchdringliches Geheimnis hüllen. Obgleich wir ihn seit einem Jahr mit Spionen umgeben, haben wir sein Spiel noch nicht ganz durchschauen können. Seine Geldmittel und seine Fähigkeiten dienen so ständig dazu, das Laster zu unterstützen, das Verbrechen zu finanzieren, und er unterhält eine ganze Armee von Spitzbuben, die mit der Gesellschaft dauernd auf Kriegsfuß stehen. Wenn man Trompe-la-Mort faßt und seine Bank beschlagnahmt, so hat man das Übel bei der Wurzel ausgejätet. Daher ist dieses Unternehmen eine Staatsangelegenheit und eine hochpolitische Affäre geworden und wird denen, die zum Erfolg beitragen, Ehre einbringen. Sie selbst, mein Herr, könnten von neuem Beamter in einem Ministerium oder Sekretär eines Polizeikommissars werden, Funktionen, die den Weiterbezug Ihrer Pension nicht hindern würden.«

»Aber weshalb«, fragte Fräulein Michonneau, »macht sich Trompe-la-Mort nicht mit seiner Kasse aus dem Staube?«

»Oh!« erwiderte der Spitzel, »überallhin würde ihm jemand folgen, der den Auftrag hat, ihn zu töten, wenn er das Lager bestiehlt. Eine Kasse läßt sich auch nicht so leicht entführen wie ein junges Mädchen aus gutem Hause. Übrigens ist Collin auch unfähig, so etwas zu tun, er würde sich entehrt vorkommen.«

»Sie haben recht«, wiederholte Poiret, »er wäre vollkommen entehrt.«

»Aber all das beweist uns noch nicht«, bemerkte die Michonneau, »warum Sie nicht selbst einfach kommen und sich seiner bemächtigen.«

»Gut, mein Fräulein, ich will Ihre Frage beantworten. Aber«, fügte er leise hinzu, »achten Sie doch darauf, daß der Herr mich nicht unterbricht, sonst kommen wir niemals zu Ende. Er ist offenbar recht eingebildet, daß er sich selbst so gern hört. Als Trompe-la-Mort nach Paris kam, ist er als ehrlicher Mensch aufgetreten, er ist Bürger der Stadt geworden und hat sich in einer unauffälligen Pension einquartiert. Er ist gerieben, und man wird ihm niemals ohne weiteres auf die Sprünge kommen. Herr Vautrin ist sehr geachtet, er macht große Geschäfte.«

»Natürlich«, sagte Poiret vor sich hin.

»Der Minister will sich nicht die ganze Pariser Handelswelt und die öffentliche Meinung zum Feind machen, falls man einen wirklichen Vautrin verhaften sollte; die Stellung des Polizeipräfekten ist nicht sehr fest, er hat viele Feinde. Wenn ein Irrtum unterlaufen sollte, so würden die Anwärter auf seinen Posten das Gekläff und Geschrei der Liberalen ausnutzen, um ihn zu stürzen. Man muß genauso vorgehen wie in der Affäre Coignards, des falschen Grafen von St. Helena; wenn es damals ein wirklicher Graf von St. Helena gewesen wäre, wie hätten wir dagestanden? Man muß sich vergewissern!«

»Ja, aber dazu haben Sie eine hübsche Frau nötig«, sagte Fräulein Michonneau lebhaft.

»Trompe-la-Mort würde nicht auf eine Frau hereinfallen«, sagte der Spitzel. »Hören Sie ein Geheimnis: Er liebt die Frauen nicht.«

»Dann sehe ich allerdings durchaus nicht ein, wozu ich dann dienen soll, falls ich es, sagen wir, für 2000 Francs täte.«

»Nichts ist leichter als das«, sagte der Unbekannte. »Ich werde Ihnen ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit geben, die eine ungefährliche Lähmung hervorruft, ähnlich einem Schlaganfall. Man kann die Droge ebensogut in Wein wie in Kaffee schütten. Sie legen den Mann sofort aufs Bett und entkleiden ihn, angeblich um zu sehen, ob sein Zustand nicht lebensgefährlich ist. Sobald Sie allein sind, geben Sie ihm einen Schlag auf die Schulter, paff!, und Sie werden sehen, wie die Buchstaben T.F. erscheinen.«

»Aber das ist ja rein gar nichts«, sagte Poiret.

»Nun, sind Sie einverstanden?« fragte Goudureau die alte Jungfer.

»Aber, mein lieber Herr«, sagte sie, »wenn die Buchstaben nicht erscheinen, bekomme ich dann auch die 2000 Francs?«

»Nein.«

»Wie hoch ist denn dann die Entschädigung?«

»500 Francs.«

»Für so wenig Geld so etwas tun! Für das Gewissen ist es doch dasselbe, und ich muß mein Gewissen beruhigen.«

»Ich versichere Sie«, sagte Poiret, »daß das Fräulein sehr viel Gewissen hat; außerdem, daß sie sehr liebenswürdig ist, selbstverständlich.«

»Nun gut«, fuhr die Michonneau fort, »geben Sie mir 3000 Francs, wenn es Trompe-la-Mort, und nichts, wenn es ein braver Bürger ist.«

»Abgemacht«, sagte Goudureau, »aber unter der Bedingung, daß die Sache morgen erledigt wird.«

»Das geht nicht, mein lieber Herr, ich muß erst meinen Beichtvater fragen.«

»Zu pfiffig«, sagte der Spitzel beim Aufstehen, »auf morgen also. Und wenn Sie mich dringend zu sprechen haben, melden Sie sich Petite Rue Ste-Anne, im Hof der Ste-Chapelle. Es gibt nur eine Tür unter dem Torbogen. Verlangen Sie Herrn Goudureau.«

Bianchon, der vom Kolleg von Cuvier zurückkam, hörte gerade noch das seltsame Wort »Trompe-la-Mort« und das »Abgemacht« des berühmten Chefs der Geheimpolizei.

»Warum machen Sie die Sache nicht sofort? Das bringt 300 Francs Leibrente«, sagte Poiret zu Fräulein Michonneau.

»Warum?« sagte sie, »man muß sich die Sache überlegen. Wenn Vautrin Trompe-la-Mort ist, wäre es vielleicht lohnender, sich mit ihm zu verständigen. Aber wenn man von ihm Geld verlangt, so warnt man ihn, und er ist imstande, sich gratis aus dem Staub zu machen. Das wäre ein schöner Reinfall.«

»Hat der Herr uns nicht gesagt, daß er überwacht wird«, meinte Poiret, »wenn man ihn also warnt, kann man alles verlieren.«

»Übrigens«, sagte die Michonneau, »ich kann ihn nicht ausstehen, er sagt mir nur Unangenehmes.«

»Und«, fuhr Poiret fort, »es ist auf jeden Fall besser, bei der Sache zu bleiben, wie es der Herr gesagt hat, der mir sehr ordentlich zu sein scheint, außer dem, daß er sehr proper angezogen ist; es ist ein Akt der Gesetzestreue, wenn man die Gesellschaft von einem Verbrecher befreit, so tugendhaft er auch sein mag. Wer einmal trinkt, trinkt immer. Wenn es ihm nun einfiele, uns alle zu ermorden? Weiß der Teufel, wir wären selbst schuld an diesem Mord, zudem, daß wir auch die ersten Opfer wären.«

Fräulein Michonneau war so in Nachdenken versunken, daß sie gar nicht auf die Phrasen Poirets hörte, die eine nach der anderen aus seinem Munde fielen wie Tropfen aus einem schlecht geschlossenen Wasserhahn. Wenn der Alte einmal seiner Rede freien Lauf ließ und Fräulein Michonneau nicht zuhörte, so sprach er ewig weiter, wie ein aufgezogenes Uhrwerk. Von einem Gegenstand kam er auf den anderen, ohne irgend etwas zu Ende zu bringen. Als sie beim Hause Vauquer anlangten, war er schließlich mit Hilfe von allerhand Passagen und Redensarten bei der Affäre des Sieur Ragoulleau und der Dame Morin angelangt, in der er als Entlastungszeuge fungiert hatte. Beim Betreten des Hauses verfehlte seine Gefährtin nicht zu bemerken, daß Eugen de Rastignac und Fräulein Taillefer in eine intime Unterhaltung vertieft waren. Das Interesse des Paares an der Unterredung war offenbar so brennend, daß es gar nicht darauf achtete, als die beiden das Speisezimmer passierten.

»Das mußte so kommen«, sagte Fräulein Michonneau zu Poiret. »Seit acht Tagen haben die beiden sich Augen gemacht, als wenn sie sich ihre Seele ausgucken wollten.«

»Ja«, war die Antwort, »sie wurde auch verurteilt.«

»Wer?«

»Madame Morin.«

»Ich spreche von Fräulein Victorine«, sagte die Michonneau, die, ohne es zu beachten, das Zimmer Poirets betreten hatte, »und sie kommen mir mit Madame Morin. Was ist mit der Frau?«

»Was hat Fräulein Victorine denn verbrochen?« fragte Poiret.

»Was sie verbrochen hat? Sie liebt Herrn von Rastignac, sie läßt sich auf etwas ein, ohne zu wissen, wohin das führt, das unschuldige Ding!«


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