Honoré de Balzac
Die Frau von dreißig Jahren
Honoré de Balzac

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3. Mit dreißig Jahren

Ein hoffnungsvoller junger Mann, der zu einer der historischen Familien gehörte, deren Namen immer, entgegenstehenden Gesetzen zum Trotz, mit Frankreichs Ruhm innig verknüpft sein werden, befand sich auf dem Ball bei Madame Firmiani. Die Dame hatte ihm ein paar Empfehlungsbriefe an zwei oder drei Freundinnen in Neapel gegeben. Charles de Vandenesse – so hieß der junge Mann – wollte ihr dafür danken und sich verabschieden. Vandenesse, der sich schon mehrerer Aufgaben geschickt entledigt hatte, war unlängst Attaché eines unserer zum Kongreß nach Laibach entsandten Bevollmächtigten geworden und wollte seine Reise benutzen, um Italien kennenzulernen. Dieses Fest war also ein Abschiednehmen von den Genüssen von Paris, von diesem stürmischen Leben, diesem Wirbel von Gedanken und Vergnügungen, den man so oft schmäht und dem man sich doch so gern hingibt. Charles de Vandenesse war seit drei Jahren daran gewöhnt, je nach den Wechselfällen seiner diplomatischen Laufbahn, die Hauptstädte Europas zu begrüßen und wieder zu verlassen; er gab indessen in Paris nicht viel auf, was zurückzulassen er hätte bedauern müssen. Die Frauen machten auf ihn fast keinen Eindruck mehr; es mag dahingestellt bleiben, ob er der Meinung war, eine wahre Leidenschaft nehme im Leben eines Politikers zuviel Platz ein, oder ob die Armseligkeiten der oberflächlichen Galanterie ihn für eine starke Seele zu eitel dünkten. Wir geben alle vor, mit einer starken Seele begabt zu sein. In Frankreich will kein Mensch, sei er noch so mittelmäßig, lediglich für geistreich gelten. So hatte Charles sich, wiewohl er noch jung war – er zählte kaum dreißig Jahre –, schon an die philosophische Art gewöhnt, dort Ideen, Resultate, Mittel festzustellen, wo die Männer seines Alters Gefühle, Freuden und Illusionen sehen. Er verbannte die Wärme und den Überschwang, die den jungen Leuten natürlich sind, in die Tiefe seiner Seele, die von Natur aus edel war. Er bemühte sich, einen kalten Rechner aus sich zu machen: in Manieren, liebenswürdige Formen, Verführungskünste zu verwandeln, was ihm die Natur an seelischen Schätzen verliehen hatte; so übte er sich in der eigentlichen Aufgabe des Ehrgeizigen, in der tristen Rolle, die dem Zwecke dient, eine glänzende Karriere zu machen. Er warf einen letzten, raschen Blick in die Salons, in denen man tanzte. Offenbar wollte er, ehe er den Ball verließ, einen Gesamteindruck mitnehmen, wie kein Zuschauer seine Loge in der Großen Oper verläßt, ohne das Schlußbild anzusehen. Aus einer begreiflichen Laune betrachtete Monsieur de Vandenesse das echt französische Treiben, den Glanz und die lachenden Gesichter dieses Pariser Festes und stellte sie in Gedanken neben die neuen Gesichter, die malerischen Szenen, die ihn in Neapel erwarteten; dort wollte er, ehe er sich auf seinen Posten begab, ein paar Tage zubringen. Er schien das so verschiedenartige und doch so wohlbekannte Frankreich mit einem Lande vergleichen zu wollen, dessen Sitten und Landschaften ihm nur aus widerspruchsvollen Berichten oder aus meistens schlecht geschriebenen Büchern bekannt waren. Etliche poetische, inzwischen jedoch ziemlich allgemein gewordene Gedanken gingen ihm durch den Kopf; sie gaben, vielleicht unbewußt, Antwort auf die geheimen Wünsche seines Herzens, das eher anspruchsvoll als abgestumpft, eher unausgefüllt als verbraucht war.

›Da sind nun‹, sagte er sich, ›die elegantesten, reichsten und vornehmsten Frauen von Paris. Hier sind die Tagesberühmtheiten, die Helden des politischen Geschehens, die Repräsentanten der Aristokratie und der Literatur; dort die Künstler und die Männer von Macht und Einfluß. Und doch sehe ich nichts als kleine Intrigen, totgeborene Liebe, nichtssagendes Lächeln, grundlosen Hochmut, glutlose Blicke, viel Geist, der ziellos verschwendet wird. All diese weißen und rosigen Gesichter suchen weniger die wirkliche Freude als platte Zerstreuung. Kein wahres Gefühl. Wollt ihr nur gutgesteckte Federn, duftigen Tüll, hübsche Toiletten, zierliche Frauen sehen; ist das Leben für euch nur eitel Oberfläche, die ihr streift, so ist das hier eure Welt. Begnügt euch mit nichtigen Phrasen, entzückenden Grimassen und verlangt kein Herz in der Brust. Mich aber ekelt vor diesen durchsichtigen Machenschaften, die mit der Hochzeit, mit einer Unterpräfektur oder einem fetten Posten oder, wenn es sich um die Liebe handelt, mit geheimen Übereinkünften enden; so sehr schämt man sich, den Anschein eines echten Empfindens zu zeigen. Ich sehe nicht ein einziges wahres Gesicht, dessen beredte Züge von einer Seele künden, die sich einer Idee und einem quälenden Gewissen in gleicher Weise hingeben kann. Kummer und Leid verbergen sich hier schamhaft unter Tändelei. Ich sehe keine einzige von den Frauen, mit denen ich kämpfen möchte und die einen in einen Abgrund reißen. Wo ist in Paris noch Willenskraft zu finden? Ein Dolch ist hier ein Kuriosum, das man an einen goldenen Nagel hängt oder in ein hübsches Futteral steckt. Weiber, Ideen, Empfindungen, alles gleicht einander. Es gibt hier keine Leidenschaften mehr, weil die Persönlichkeiten verschwunden sind. Rang, Geist, Vermögen, alles ist gleichgemacht worden; wir haben alle den schwarzen Rock angezogen, als wollten wir um das gestorbene Frankreich Trauer tragen. Wir lieben unsersgleichen nicht. Zwischen zwei Liebenden müssen Unterschiede getilgt, Klüfte ausgefüllt werden. Dieser Zauber der Liebe ist anno 1789 zugrunde gegangen! Unsere Langeweile, unsere faden Sitten sind das Ergebnis des politischen Systems. In Italien hat wenigstens alles noch grelle Farben. Dort sind die Frauen noch Raubtiere, gefährliche Sirenen ohne Vernunft; ihre ganze Logik besteht in ihrem Geschmack, ihren Gelüsten, und man muß vor ihnen auf der Hut sein wie vor Tigern...‹

Madame Firmiani unterbrach diesen Monolog, dessen tausend einander widersprechende, unfertige, wirre Einfälle nicht wiederzugeben sind. Der ganze Wert der Träumerei liegt in ihrer Unbestimmtheit; ist sie nicht eine Art geistigen Nebels?

»Ich will Sie«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm, »einer Frau vorstellen, die nach dem, was sie von Ihnen gehört hat, den lebhaftesten Wunsch hat, Sie kennenzulernen.«

Sie führte ihn in einen anstoßenden Salon und wies mit einer Gebärde, einem Lächeln und einem Blick, die echt pariserisch waren, auf eine Frau, die am Kamin saß.

»Wer ist das?« fragte der Comte de Vandenesse lebhaft. »Eine Frau, über die Sie sich gewiß mehr als einmal unterhalten haben, um sie zu rühmen oder zu lästern; eine Frau, die ein einsames Leben führt und die wahrhaft geheimnisvoll ist.« – »Wenn Sie je im Leben gnädig gewesen sind, nennen Sie mir ihren Namen!« – »Die Marquise d'Aiglemont.« – »Ich will Unterricht bei ihr nehmen: sie hat aus einem sehr mittelmäßigen Mann einen Pair von Frankreich, aus einer Null einen Mann von politischer Bedeutung zu machen verstanden. Aber sagen Sie mir, glauben Sie, daß Lord Grenville für sie gestorben ist? Einige Frauen behaupten es.« – »Vielleicht. Seit diesem Erlebnis, wenn es eins war, hat sich die arme Frau sehr verändert. Sie ist nicht in Gesellschaft gegangen. Das will in Paris etwas heißen, eine vierjährige Treue. Sie sehen sie hier nur...«

Madame Firmiani unterbrach sich und fügte dann feinsinnig hinzu: »Ich vergaß, daß ich schweigen muß. Plaudern Sie mit ihr!«

Charles blieb für einen Augenblick unbeweglich; er lehnte sich leicht an den Türrahmen und ganz in Betrachtung der Frau vertieft, die berühmt geworden war, ohne daß jemand hätte sagen können, worauf sich diese Berühmtheit gründete. Es gibt viele solche Seltsamkeiten in der Welt. Der Ruf von Madame d'Aiglemont war sicherlich nicht ungewöhnlicher als der mancher Männer, die immer mit einer unbekannten Arbeit beschäftigt sind: Statistiker, die auf Grund von Berechnungen, die sie sich hüten je zu veröffentlichen, für grundgelehrt gehalten werden; Politiker, die von einem Zeitungsartikel zehren; Schriftsteller oder Künstler, deren Werk immer in der Mappe bleibt; Gelehrte in den Augen derer, die nichts von der Wissenschaft verstehen, wie Sganarelle bei solchen, die nicht Lateinisch können, ein großer Latinist ist; Männer, denen man in einem bestimmten Punkt eine ausgemachte Fähigkeit zubilligt, etwa eine führende Rolle in der Kunst oder eine wichtige Mission. Das wunderbare Wort: ›Das ist seine Spezialität‹ scheint für diese Art politischer oder literarischer Abnormitäten geschaffen worden zu sein. Charles blieb länger in Betrachtung versunken, als er wollte; er war unzufrieden, daß ihn eine Frau so stark beschäftigen konnte; aber die Anwesenheit dieser Frau widerlegte auch die Gedanken, die der junge Mann bei der Betrachtung der Ballgesellschaft einen Augenblick vorher gehabt hatte.

Die Marquise, die jetzt dreißig Jahre zählte, war schön, obwohl ihre Gestalt sehr schlank und überaus zart war. Ihr größter Zauber lag auf dem Antlitz, dessen Ruhe von einer wunderbaren Seelentiefe sprach. Ihre Augen, die strahlend waren und doch von einem ständigen Gedanken wie verschleiert schienen, verrieten ein fieberhaftes Leben und die stärkste Entsagung. Ihre Lider, die fast immer keusch zur Erde gesenkt waren, hoben sich selten. Sah sie einmal um sich, so war es eine Regung der Trauer; man konnte den Eindruck haben, sie bewahre das Feuer ihrer Blicke für geheime Betrachtungen. So kam es, daß sich jeder bedeutende Mann zu dieser stillen, sanften Frau seltsam hingezogen fühlte. Der Verstand suchte die Geheimnisse des fortwährenden Rückzugs dieser Frau aus der Gegenwart in die Vergangenheit, aus der Gesellschaft in ihre Einsamkeit zu ergründen, und die Seele war nicht minder begierig, die Geheimnisse eines Herzens aufzuspüren, das sich mit seinen Leiden zu brüsten schien. Und nichts an ihr strafte die Eindrücke, die sie zuerst hervorrief, Lügen. Wie fast alle Frauen mit üppigem Haarwuchs, war sie blaß und hatte einen überaus reinen und zarten Teint, der – das Symptom trügt selten – eine echte Empfindsamkeit anzeigte. Davon sprachen auch ihre Züge, die ganz die zauberhafte Vollendung hatten, die die chinesischen Maler ihren phantastischen Frauengesichtern geben. Ihr Hals war vielleicht etwas lang; aber ein solcher Hals ist besonders grazil und verleiht dem weiblichen Kopf eine gewisse Ähnlichkeit mit den magischen Bewegungen der Schlange. Gäbe es kein einziges der tausend Anzeichen, in denen sich dem Beobachter die verborgensten Naturen offenbaren, so könnte es ihm genügen, die mannigfachen Bewegungen des Kopfes und die Wendungen des Halses, die so überaus ausdrucksvoll sind, zu studieren, um eine Frau zu beurteilen. Bei der Marquise d'Aiglemont stand die äußere Erscheinung in Einklang mit dem innern Leben, das ihre Person beherrschte. Die reichen Flechten ihres Haares bildeten einen hohen Kranz auf ihrem Kopf, den kein weiterer Schmuck zierte: sie schien den Toilettekünsten für immer den Abschied gegeben zu haben. So konnte man an ihr keine der koketten kleinen Berechnungen entdecken, die so viele Frauen verdirbt. So bescheiden indessen auch ihr Mieder war, es konnte ihre zierliche, anmutige Taille nicht verbergen. Der Luxus ihres langen Kleides bestand in einem überaus vornehmen Schnitt; und wenn man von der Anordnung eines Stoffes auf bestimmte Ideen schließen darf, könnte man sagen, daß die zahlreichen schlichten Falten ihres Gewandes ihr einen stolzen Adel verliehen. Die unzerstörbaren Schwächen der Frau verriet sie vielleicht trotzdem durch die peinliche Sorgfalt, die sie auf ihre Hände und ihre Füße verwandte; obwohl sie diese indessen mit einem gewissen Vergnügen zeigte, wäre es der boshaftesten Rivalin schwergefallen, ihre Handbewegungen affektiert zu finden; sie schienen völlig unwillkürlich oder kindlichen Gewohnheiten zu entstammen. Dieser Rest von Koketterie wurde überdies aufgewogen durch die anmutigste Unbekümmertheit. Diese Vielzahl von Eigenschaften, diese Gesamtheit von Details, die eine Frau häßlich oder schön, anziehend oder abstoßend machen, können nur angedeutet werden, besonders wenn, wie bei Madame d'Aiglemont, die Seele das Band aller Einzelheiten ist und ihnen eine entzückende Einheit aufprägt. So stimmte auch ihre Haltung völlig zu dem Charakter ihres Gesichtes und ihrer äußeren Erscheinung. Nur in einem gewissen Alter können die Frauen, und auch da nur einige auserwählte, ihren Bewegungen eine Art Sprache geben. Ist es der Kummer, ist es das Glück, das der Frau von dreißig Jahren, der glücklichen oder unglücklichen Frau, das Geheimnis dieser beredten Haltung verleiht? Das wird immer ein lebendiges Rätsel sein, das jeder nach seinen Wünschen, seinen Hoffnungen oder seinem System zu lösen versucht. Die Art, wie die Marquise ihre Ellbogen auf die Stuhllehnen stützte und die Fingerspitzen der beiden Hände wie spielerisch zusammenlegte; die Biegung ihres Halses, das Sich-gehen-Iassen ihres müden, aber geschmeidigen Körpers, der wie zerbrochen zart in dem Sessel lag; die ungezwungene Stellung ihrer Beine, ihre ganze lässige Haltung, ihre matten Bewegungen, alles offenbarte eine Frau, die kein Interesse im Leben hat, die die Wonnen der Liebe nicht gekannt, aber von ihnen geträumt hat, und die sich unter der Last ihrer Erinnerungen beugt; eine Frau, die seit langem an der Zukunft oder an sich selber verzweifelt ist; eine Frau ohne Beschäftigung, die die Leere für das Nichts nimmt. Charles de Vandenesse bewunderte dieses prächtige Bild, aber wie das Erzeugnis einer geschickteren Manier, als man sie bei gewöhnlichen Frauen antrifft. Er kannte d'Aiglemont. Beim ersten Blick auf diese Frau, die er noch nicht gesehen hatte, erkannte der junge Diplomat ein zu starkes Mißverhältnis, eine zu ausgeprägte Unvereinbarkeit (gebrauchen wir den juristischen Ausdruck) zwischen diesen beiden Menschen, als daß es der Marquise möglich sein konnte, ihren Gatten zu lieben. Indessen, Madame d'Aiglemont führte einen untadeligen Lebenswandel, und ihre Tugend verlieh allen Geheimnissen, die ein Beobachter hinter ihr suchen konnte, einen noch höheren Preis. Als seine erste Überraschung überwunden war, suchte Vandenesse nach der besten Art, Madame d'Aiglemont anzusprechen, und nahm sich mit einer nicht allzu ungewöhnlichen Diplomatenlist vor, sie in Verlegenheit zu setzen, um zu erfahren, wie sie eine Keckheit aufnehmen würde.

»Madame«, sagte er, indem er sich zu ihr setzte, »eine glückliche Indiskretion hat mich wissen lassen, daß ich, ich weiß nicht durch welchen Vorzug, das Glück habe, von Ihnen ausgezeichnet zu werden. Ich bin Ihnen um so größeren Dank schuldig, als ich niemals Gegenstand einer solchen Gunst geworden bin. Sie werden also für einen Fehler von mir verantwortlich sein. Von jetzt an will ich nicht mehr bescheiden sein ...« – »Da hätten Sie unrecht«, erwiderte sie heiter; »die Eitelkeit muß man denen überlassen, die nichts anderes aufzuweisen haben.«

Es entspann sich nunmehr zwischen der Marquise und dem jungen Mann ein Gespräch, das, wie üblich, in einem Zug eine Menge Gegenstände berührte: Malerei, Musik, Literatur, Politik, Männer, Ereignisse und Sachen. Dann kamen sie mit unmerklicher Wendung auf das ewige Thema aller Plaudereien in Frankreich und im Ausland: Liebe, Empfindung und Frauen.

»Wir sind Sklavinnen.« – »Sie sind Königinnen.«

Die mehr oder weniger geistreichen Reden, die Charles und die Marquise austauschten, konnten auf diesen einfachen Ausdruck aller gegenwärtigen und künftigen Gespräche über diesen Gegenstand zurückgeführt werden. Und diese zwei Sätze besagen in einem bestimmten Moment nie etwas anderes als: ›Lieben Sie mich. – Ich werde Sie lieben.‹

»Madame«, rief Charles de Vandenesse verhalten, »Sie lassen es mich lebhaft bedauern, daß ich Paris verlassen muß. Ich werde gewiß in Italien keine so geistvolle Stunde finden, wie es diese gewesen ist.« – »Vielleicht treffen Sie das Glück dort, und das ist mehr wert als all die wahren oder falschen geistreichen Gedanken, die allabendlich in Paris ausgesprochen werden.«

Als Charles sich von der Marquise trennte, hatte er die Erlaubnis, sie zu besuchen, um sich von ihr zu verabschieden. Er schätzte sich, als er sich zur Ruhe begab, sehr glücklich, sein Begehren in aufrichtiger Form vorgebracht zu haben, und tags darauf war es ihm den ganzen Tag über unmöglich, das Bild dieser Frau zu verjagen. Bald fragte er sich, warum die Marquise ihn ausgezeichnet hatte; was für Absichten hinter ihrem Verlangen, ihn wiederzusehen, steckten; und er versuchte sich in unerschöpflichen Erklärungen. Bald glaubte er, die Motive dieses Interesses gefunden zu haben; er berauschte sich an Hoffnungen und ernüchterte sich wieder, je nach der Art, wie er diesen höflichen Wunsch, der in Paris so üblich ist, auslegte. Bald bedeutete er alles, bald nichts. Kurz, er wollte der Neigung, die ihn zu Madame d'Aiglemont zog, widerstehen; aber er ging hin. Es gibt Gedanken, denen wir gehorchen, ohne sie zu kennen; sie sind in uns, und wir wissen es nicht. Diese Erwägung mag mehr paradox als wahr scheinen; aber wer ehrlich ist, findet tausend Beweise für sie in seinem Leben. Als Charles sich zur Marquise begab, gehorchte er einem der von vornherein feststehenden Pläne, die in unserer Erfahrung und der bewußten Errungenschaft unseres Geistes nachher bloß zu ihrer deutlichen Entwicklung gelangen. Eine Frau von dreißig Jahren besitzt für einen jungen Mann unwiderstehlichen Zauber; daher ist nichts natürlicher, nichts stärker gesponnen und fester vorherbestimmt als die tiefe Neigung zwischen einer Frau wie der Marquise und einem jungen Mann wie Vandenesse, für die wir in der Gesellschaft so viele Beispiele finden. Ein junges Mädchen hat in der Tat zu viele Illusionen, zuviel Unerfahrenheit, und zuviel hat mit ihrer Liebe das Geschlecht zu tun, als daß diese Liebe einem jungen Mann schmeicheln könnte; eine Frau aber kennt die ganze Tragweite der Opfer, die sie bringt. Wo die eine von der Neugier, von Verlockungen, die nichts mit der Liebe zu tun haben, getrieben wird, gehorcht die andere einem bewußten Gefühl. Die eine gibt nach, die andere wählt. Ist nicht diese Wahl schon eine außerordentliche Schmeichelei? Die geprüfte Frau, die mit einem Wissen ausgerüstet ist, das sie fast immer teuer, mit ihrem Unglück, erkauft hat, scheint, wenn sie sich hingibt, mehr als sich selbst zu geben; das junge Mädchen hingegen, das noch unwissend und gläubig ist, weiß von nichts, kann nichts vergleichen, nichts recht einschätzen; sie empfängt die Liebe und studiert sie. Die eine leitet und lehrt uns in einem Alter, wo man sich gerne führen läßt, wo der Gehorsam ein Vergnügen ist; die andere will alles erfahren und zeigt sich da naiv, wo die erste zärtlich ist. Jene gewährt dem Manne nur einen einzigen Triumph; diese zwingt ihn zu unaufhörlichen Kämpfen. Die erste hat nur Tränen und Wonnen, die andere hat Wollust und Reue. Damit ein junges Mädchen Geliebte wird, muß sie ganz verdorben sein, und der Mann verläßt sie mit Abscheu, während eine Frau tausend Mittel hat, um zugleich ihre Macht und ihre Würde zu behaupten. Die eine ist zu unterwürfig und gewährt dem Manne die eintönige Sicherheit der Ruhe, die andere hat zuviel zu verlieren, um nicht die tausend Verwandlungen der Liebe zu fordern. Die eine entehrt sich ganz allein, die andere tötet euch zuliebe eine ganze Familie. Das junge Mädchen hat eine einzige Koketterie und glaubt alles getan zu haben, wenn es seine Kleider ablegt; die Frau hingegen hat ihrer unzählige und verbirgt sich unter tausend Schleiern; kurz, sie schmeichelt allen Formen der Eitelkeit, während die Anfängerin nur eine einzige befriedigt. Der junge Mann erregt sich überdies über das Zögern, die Angst, das Bangen, die Verwirrung und den Sturm bei der Frau von dreißig Jahren, die er alle niemals in der Liebe eines jungen Mädchens antrifft. Hat eine Frau dieses Alter erreicht, so verlangt sie von dem jungen Mann, er solle ihr die Achtung wiedergeben, die sie ihm geopfert hat; sie lebt für ihn, beschäftigt sich mit seiner Zukunft, will sein Leben glänzend gestalten, befiehlt ihm, Ruhm zu erlangen; sie gehorcht, bittet und befiehlt, erniedrigt sich und steht über ihm; bei tausend Gelegenheiten kann sie Trost spenden, wo das junge Mädchen nichts kann als jammern. Schließlich kann sich die Frau von dreißig Jahren, abgesehen von den Vorzügen ihrer gesellschaftlichen Stellung, zum jungen Mädchen machen, kann alle Rollen spielen, kann züchtig und schamhaft sein und kann selbst durch ein Unglück schöner werden. Zwischen diesen beiden klafft der unermeßliche Abstand des Vorhergesehenen und des Ungeahnten, der Kraft und der Schwäche. Die Frau von dreißig Jahren befriedigt alles, während das junge Mädchen aus Angst, keines mehr zu sein, nichts gewähren darf. Diese Gedanken und Stimmungen kommen im Herzen eines jungen Mannes hoch und fügen sich in ihm zur stärksten Leidenschaft: sie vereinigt in sich die künstlichen Empfindungen, die von den Sitten erzeugt werden, mit den wirklichen Empfindungen der Natur.

Der wichtigste und entscheidendste Schritt im Leben der Frauen ist gerade der, den eine Frau immer als den unbedeutendsten ansieht. Wenn sie verheiratet ist, gehört sie sich nicht mehr, sie ist Königin und Sklavin des häuslichen Herdes. Die Heiligkeit der Frau ist unvereinbar mit den Pflichten und den Freiheiten der großen Welt. Die Frauen emanzipieren heißt sie verderben. Einem Fremden erlauben, in das Heiligtum der Häuslichkeit einzutreten, heißt das nicht sich auf Gnade oder Ungnade ausliefern? Wenn aber eine Frau ihn hinzieht, ist das nicht ein Fehltritt oder, genauer gesagt, der Anfang eines Fehltritts? Man muß diese Theorie in ihrer ganzen Strenge akzeptieren oder die Leidenschaften freigeben. Bis zum heutigen Tag hat die Gesellschaft in Frankreich sich mit einem ›mezzo termine‹ beholfen: sie macht sich über das Unglück lustig. Wie die Spartaner, die nur die Ungeschicklichkeit bestraften, scheint sie den Betrug zuzulassen. Vielleicht indessen ist dieses System sehr klug. Die allgemeine Verachtung ist die furchtbarste aller Strafen, weil sie die Frau ins Herz trifft. Das allerwichtigste für die Frauen ist, daß sie respektiert werden, denn ohne Achtung existieren sie nicht mehr: darum ist Achtung das erste, was sie von der Liebe verlangen. Die Verderbteste unter ihnen verlangt vor allem andern Absolution für die Vergangenheit, wenn sie ihre Zukunft verkauft; sie versucht ihrem Liebhaber beizubringen, daß sie die Ehren, die die Welt ihr verweigern wird, gegen unwiderstehliche Wonnen eintauscht. Jeder Frau, die zum erstenmal einen jungen Mann bei sich empfängt und sich mit ihm allein sieht, muß die eine oder andere dieser Betrachtungen kommen, besonders wenn er, wie Charles de Vandenesse, von schöner Gestalt oder geistvoll ist. Und dementsprechend wird es kaum einen jungen Mann geben, der nicht irgendwelche geheimen Wünsche hätte, die sich auf eine von tausend Vorstellungen gründen, die die angeborene Liebe zu einer so schönen, geistvollen und unglücklichen Frau, wie es die Marquise d'Aiglemont war, rechtfertigen. So war denn die Marquise, als ihr Monsieur de Vandenesse gemeldet wurde, verwirrt genug; und er war, trotz der Sicherheit, die bei den Diplomaten fast eine Art Kleidungsstück ist, voller Scham. Jedoch zeigte die Marquise bald jenes wohlwollende Wesen, hinter dem die Frauen sich gegen die Deutungen der Eitelkeit verschanzen. Diese Haltung schließt jeden Hintergedanken aus und hält das Gefühl sozusagen in Grenzen, indem sie dieses in die Formen der Höflichkeit zwängt. Die Frauen halten sich dann so lange, wie sie wollen, in dieser zweideutigen Situation wie an einem Kreuzweg auf, von dem die Straßen je nachdem zur Achtung, zur Gleichgültigkeit, zum Erstaunen oder zur Leidenschaft führen. Nur mit dreißig Jahren kann eine Frau die Vorteile dieser Situation beherrschen. Sie versteht es dann zu lachen, zu scherzen, gerührt zu sein, ohne sich etwas zu vergeben. Sie besitzt nunmehr den nötigen Takt, um bei einem Manne alle Saiten der Empfindung anzuschlagen und auf die Töne zu lauschen, die sie aus ihm hervorlockt. Ihr Schweigen ist ebenso gefährlich wie ihre Worte. Ihr erratet nie, ob sie in diesem Alter aufrichtig oder falsch ist, ob sie sich verstellt oder ob sie es mit ihren Geständnissen ehrlich meint. Nachdem sie euch zunächst das Recht eingeräumt hat, mit ihr zu kämpfen, beschließt sie dann plötzlich das Geplänkel mit einem Wort, einem Blick, einer der Gebärden, deren Stärke ihr vertraut ist; sie entläßt euch und hütet euer Geheimnis wohl; sie steht in gleicher Weise unter dem Schutz ihrer Schwäche wie dem eurer Stärke und hat die Freiheit, euch mit einem Scherzwort zu opfern oder sich mit euch abzugeben. Obwohl die Marquise sich bei diesem ersten Besuch auf dieses neutrale Gebiet begab, verstand sie es doch, dabei die hohe Würde der Frau völlig zu bewahren. Ihre geheimen Leiden schwebten immer über ihrer künstlichen Heiterkeit wie ein leichtes Gewölk, das die Sonne nicht völlig verbirgt. Vandenesse schien es, als er ging, er hätte in dieser Unterhaltung ungekannte Wonnen gekostet; aber er blieb überzeugt, daß die Marquise eine der Frauen war, deren Eroberung einem zu teuer zu stehen kommt, als daß man es wagen darf, sie zu lieben.

›Das wäre‹, sagte er sich beim Fortgehen, ›eine unabsehbare Liebe aus der Ferne, ein Briefwechsel, der jeden ehrgeizigen zweitrangigen Beamten ermüden würde! Freilich, wenn ich wollte ...‹

Dieses ›wenn ich wollte‹ ist immer das Verhängnis der Eigensinnigen gewesen. In Frankreich führt die Eigenliebe zur Leidenschaft.

Charles besuchte Madame d'Aiglemont zum zweitenmal und glaubte zu bemerken, daß sie an seiner Unterhaltung Gefallen fand. Anstatt sich unbefangen dem Liebesglück hinzugeben, wollte er eine Doppelrolle spielen. Er versuchte leidenschaftlich zu erscheinen und danach kaltblütig den Fortgang dieses Liebeshandels zu analysieren, zugleich Liebender und Diplomat zu sein; aber er war jung und großherzig, und diese Prüfung mußte ihn in eine grenzenlose Liebe treiben; denn ob sie nun arglistig oder aufrichtig war, die Marquise war ihm immer überlegen. Jedesmal, wenn er Madame d'Aiglemont verließ, beharrte Charles in seinem Mißtrauen und unterwarf die fortschreitenden Stadien, die seine Seele durchliefen, einer strengen Prüfung, die seine eigenen Empfindungen tötete.

›Heute‹, sagte er sich nach dem dritten Besuch, ›hat sie mir zu verstehen gegeben, daß sie sehr unglücklich ist und allein im Leben steht, daß sie, wenn ihre Tochter nicht wäre, sehnlichst zu sterben begehrte. Sie war völlig entsagungsvoll. Ich bin aber doch weder ihr Bruder noch ihr Beichtvater, warum hat sie mir ihren Kummer anvertraut? Sie liebt mich.‹

Zwei Tage später griff er beim Fortgehen die Sitten unserer Zeit scharf an: ›Die Liebe nimmt die Farbe jedes Jahrhunderts an. Im Jahre 1822 ist sie doktrinär. Anstatt sie wie früher durch Tatsachen zu beweisen, diskutiert und erörtert man sie jetzt und hält von der Tribüne herab über sie Reden. Die Frauen verfügen über drei Mittel: erstens stellen sie unsere Leidenschaft in Frage, bestreiten uns die Kraft, so stark zu lieben wie sie. Koketterie! Die Marquise hat mich heute abend regelrecht herausgefordert. Zweitens stellen sie sich als sehr unglücklich hin, um unsern natürlichen Edelmut oder unsere Eigenliebe zu erregen. Schmeichelt es einem jungen Menschen nicht, über ein großes Mißgeschick hinwegzutrösten? Und schließlich haben sie die Manie der Jungfräulichkeit! Sie hat glauben müssen, ich hielte sie für ganz unberührt. Meine Gutgläubigkeit wird allen Berechnungen vortrefflich zustatten kommen.‹

Eines Tages aber, nachdem er all seinen Vorrat an Mißtrauen erschöpft hatte, fragte er sich, ob nicht die Marquise aufrichtig sein könnte; warum Entsagung heucheln, wenn so viele Leiden gespielt werden könnten. Sie lebte in so tiefer Einsamkeit, sie verbarg schweigend Kümmernisse, die sie kaum in dem Ton eines mehr oder minder unterdrückten Ausrufs ahnen ließ. Von diesem Augenblick an nahm Charles ein lebhaftes Interesse an Madame d'Aiglemont. Als er jedoch zu dem gewohnten Rendezvous kam, das ihnen beiden unentbehrlich geworden war – es war ihm wie in instinktiver, stillschweigender Verabredung eine bestimmte Stunde reserviert –, fand Vandenesse seine Freundin immer noch eher gewandt als wahrhaft, und sein letztes Wort war: ›Auf mein Wort, die Frau ist äußerst schlau.‹ Diesmal trat er ein und fand die Marquise in ihrer Lieblingshaltung, einer Haltung voller Schwermut; sie hob, ohne sich zu rühren, die Augen zu ihm auf und schaute ihn mit einem jener warmen Blicke an, die für ein Lächeln gelten. Madame d'Aiglemont drückte Vertrauen, drückte wahrhafte Freundschaft aus, aber nicht Liebe. Charles setzte sich und konnte nichts sagen. Er war von einem Gefühl gepackt, das er nicht in Worte fassen konnte.

»Was haben Sie?« fragte sie ihn mit weicher Stimme. »Nichts ... Oder doch, ich denke an etwas, was Sie noch nicht gekümmert hat.« – »Woran denn?« – »Ja ... der Kongreß ist vorbei.« – »Ach so«, versetzte sie, »Sie mußten also zum Kongreß fahren?«

Eine aufrichtige Antwort wäre die beredteste und zarteste Erwiderung gewesen; aber Charles gab sie nicht. In der Miene Madame d'Aiglemonts lag eine unbefangene Freundschaft, die alle Berechnungen der Eitelkeit, alle Hoffnungen der Liebe, alle Listen des Diplomaten zerstörte, sie wußte nichts davon oder schien nichts davon zu wissen, daß sie geliebt wurde; und als Charles sich nach seiner Verwirrung wieder gesammelt hatte, mußte er sich gestehen, daß er nichts getan und nichts gesagt hatte, was diese Frau berechtigte, es anzunehmen. Monsieur de Vandenesse fand die Marquise an diesem Abend, wie sie immer war: schlicht und herzlich, wahrhaft in ihrem Kummer, glücklich, einen Freund zu haben, stolz darauf, eine Seele getroffen zu haben, die die ihre verstehen konnte; sie ging nicht darüber hinaus und schien nicht daran zu denken, daß eine Frau sich zweimal verführen lassen konnte; aber sie hatte die Liebe kennengelernt und schien sie noch frisch in der Tiefe ihres verwundeten Herzens zu tragen. Offenbar konnte sie sich nicht vorstellen, daß das Glück einer Frau seinen berauschenden Zauber zweimal bringen kann; denn sie glaubte nicht nur an den Geist, sondern vielmehr an die Seele; und für sie war die Liebe keine Verführung, sondern barg alle edlen Verführungen in sich. In diesem Augenblick verwandelte sich Charles wieder in den jungen Mann, er wurde von der Ausstrahlung eines so stolzen Charakters bezwungen und wollte in alle Geheimnisse dieses Frauenlebens eingeweiht sein, das mehr durch den Zufall als durch einen Fehltritt gebrochen zu sein schien. Madame d‘Aiglemont warf ihrem Freund, als er sie nach dem Ausmaß des Kummers fragte, der ihrer Schönheit den Reiz der Trauer verlieh, nur einen Blick zu, aber dieser eindringliche Blick war wie das Siegel unter ein feierliches Abkommen.

»Stellen Sie mir solche Fragen nicht mehr!« erwiderte sie. »Genau heute vor drei Jahren ist der, der mich liebte, der einzige Mann, dessen Glück ich alles, bis auf meine Selbstachtung, geopfert hätte, gestorben; ist gestorben, um meine Ehre zu retten. Diese Liebe ist jung, rein, voller Illusionen zu Grabe gegangen. Ehe ich mich dieser Leidenschaft hingeben konnte, in die mich ein Verhängnis ohnegleichen hineintrieb, war ich durch etwas verführt worden, was so viele junge Mädchen ins Verderben stürzt: durch einen unbedeutenden, aber gutaussehenden Mann. Die Ehe hat meine Hoffnungen eine nach der andern zerpflückt. Heute habe ich das gesetzliche Glück und das Glück, das man strafbar nennt, verloren, ohne das Glück kennengelernt zu haben. Es bleibt mir nichts. Wenn ich schon nicht zu sterben verstand, will ich wenigstens meinen Erinnerungen treu bleiben.«

Bei diesen Worten weinte sie nicht, sie hielt die Augen gesenkt und preßte nervös ihre Finger, die sie wie gewohnt übereinandergelegt hatte. Das alles wurde ganz schlicht gesagt, aber der Ton ihrer Stimme sprach von einer Verzweiflung, die so tief wurzeln mußte wie ihre Liebe, und ließ Charles keinerlei Hoffnung. Dieses furchtbare Dasein, das sich in diesen drei Sätzen, untermalt von einem schwachen Händeringen, kundtat, dieser gewaltige Schmerz einer zarten Frau, dieser Abgrund hinter der Stirn einer schönen Frau, die Trostlosigkeit und die Tränen einer dreijährigen Witwenschaft – all das bezauberte Vandenesse. Er blieb schweigsam und fühlte sich klein vor dieser großen und edlen Frau: er sah nicht mehr ihre erlesene und vollendete körperliche Schönheit, nur noch die unvergleichliche Empfindsamkeit ihrer Seele. Endlich traf er das ideale Geschöpf, von dem alle, die das Leben auf die Leidenschaft gründen, die glühend nach ihr suchen und oft sterben, ohne all ihre ersehnten Schätze genossen zu haben, so schwärmerisch träumen, das Geschöpf, das sie so sehnsüchtig begehren.

Angesichts dieser Sprache und dieser erhabenen Schönheit fand Charles seine Gedanken dürftig. Er sah sich außerstande, Worte zu finden, die dieser schlichten und doch ergreifenden Szene angemessen waren, und griff zu Gemeinplätzen über das Schicksal der Frauen.

»Madame«, sagte er, »man muß seine Schmerzen vergessen können; sonst schaufelt man sich selbst das Grab.«

Aber die Vernunft wirkt gegenüber dem Gefühl immer jämmerlich, ihr sind, wie allem, was wirklich ist, Grenzen gesteckt, während die Empfindung unendlich ist. Schwunglosen Seelen ist es eigen, die Vernunft walten zu lassen, wo es zu empfinden gilt. Vandenesse schwieg also, sah Madame d'Aiglemont lange an und ging. Bislang unbekannte Gedanken rissen ihn mit sich fort und verklärten das Bild der Frau; so war er wie ein Maler, der erst die gewöhnlichen Modelle seines Ateliers als typisch genommen und dann plötzlich die ›Mnemosyne‹ des Museums entdecken sollte, die schönste und am wenigsten geschätzte der antiken Statuen. Charles war tief bewegt. Er liebte Madame d'Aiglemont mit der Treuherzigkeit der Jugend, mit der Glut, die der ersten Leidenschaft eine unsägliche Anmut und Unschuld verleiht, welche der Mann, wenn er später wieder liebt, nur noch in Trümmern wiederfindet; köstlich ist diese erste Liebe, und die Frauen, die sie hervorrufen, kosten sie fast immer mit Wonne aus, denn in diesem schönen Alter von dreißig Jahren, dem romantischen Gipfel im Leben einer Frau, können sie den ganzen Lauf dieses Lebens überschauen und in Vergangenheit und Zukunft zugleich blicken. Die Frauen kennen dann den ganzen Preis der Liebe und genießen sie in der Furcht, sie zu verlieren: noch verschönt die schwindende Jugend ihre Seele, und die Bilder einer drohenden Zukunft lassen ihre Liebe tiefer und leidenschaftlicher werden.

›Ich liebe‹, sagte diesmal Vandenesse, als er die Marquise verließ, ›und zu meinem Unglück eine Frau, die an Erinnerungen gefesselt ist. Der Kampf gegen einen Toten, der nicht mehr da ist, der keine Torheiten mehr begehen kann, der sich niemals mißliebig macht und nur noch Vorzüge besitzt, ist schwer. Heißt das nicht die Vollkommenheit in Person entthronen wollen, wenn man versucht, den Zauber der Erinnerung und die Hoffnungen zu töten, die einen verlorenen Geliebten überleben, weil er nämlich nichts als Sehnsucht erweckt hat, gerade das Schönste also und das Verführerischste, was die Liebe zu bieten hat?‹

Diese düstere Erwägung, die der Mutlosigkeit und der Furcht, kein Glück zu haben, entsprang – so fangen alle wahren Leidenschaften an –, war die letzte Berechnung seiner sterbenden Diplomatie. Von nun an hatte er keine Hintergedanken mehr, wurde der Spielball seiner Liebe und gab sich ganz den Nichtigkeiten dieses unbeschreiblichen Glückes hin, das sich von einem Wort, einem Schweigen, einer unbestimmten Hoffnung nährt. Er wollte platonisch lieben, kam Tag für Tag, um die Luft zu atmen, die Madame d'Aiglemont atmete, setzte sich in ihrem Hause fest und begleitete sie mit der Tyrannei einer Leidenschaft, die ihren Egoismus mit der völligsten Hingabe verschmilzt, überallhin. Die Liebe hat ihren Instinkt, sie findet den Weg zum Herzen, wie das winzigste Insekt mit einem unwiderstehlichen Willen, der vor nichts zurückschreckt, auf seine Blume lossteuert. So ist denn das Geschick einer Empfindung, wenn sie wahrhaftig ist, nicht zweifelhaft. Wird nicht eine Frau allen schrecklichsten Ängsten preisgegeben, wenn sie denken muß, daß ihr Leben von der mehr oder weniger großen Aufrichtigkeit, Kraft, Ausdauer abhängt, mit denen ihr Liebhaber an seinen Wünschen festhält? Es ist einer Frau, einer Gattin, einer Mutter unmöglich, sich der Liebe eines jungen Mannes zu erwehren; das einzige, was in ihrer Macht steht, ist, ihn von dem Augenblick an, wo sie das Geheimnis des Herzens errät – und eine Frau errät es immer –, nicht mehr zu sehen. Aber ein solcher Entschluß scheint zu entscheidend, als daß er einer Frau in einem Alter zugetraut werden könnte, wo die Ehe drückt, ermüdet, zur Last fällt, wo die eheliche Neigung kaum noch lau zu nennen ist, wenn sich nicht gar der Mann schon von ihr abgewandt hat. Sind die Frauen häßlich, so schmeichelt ihnen eine Liebe, die sie schön macht; sind sie jung und reizvoll, so muß die Verführung ihren eigenen Verführungskünsten ebenbürtig sein und ist dann unwiderstehlich; sind sie tugendhaft, so bringt ein erdenfrommes Gefühl sie dazu, gerade in der Größe der Opfer, die sie ihrem Geliebten bringen, und der Glorie, die sie in diesem schweren Kampf erringen, ihre Rechtfertigung zu finden. Alles ist ein Fallstrick. Und so ist gegen so starke Versuchung keine Lehre stark genug. Die strenge Einschließung, die der Frau in Griechenland und im Orient geboten war und die jetzt in England Mode wird, ist für die häusliche Moral die einzige Schutzwehr; aber die Lustbarkeiten der Welt gehen unter der Herrschaft dieses Systems zugrunde: Gesellschaft, Umgangsformen, Eleganz des guten Tones sind alsdann nicht mehr möglich. Die Völker haben zu wählen.

Einige Monate nachdem Madame D’Aiglemont Vandenesse kennengelernt hatte, fand sie denn also ihr Leben mit dem dieses jungen Mannes aufs engste verknüpft; ohne allzu verwirrt zu sein, ja sogar mit einem gewissen Vergnügen, staunte sie, daß sie seinen Geschmack und seine Gedanken teilte. Hatte sie das Gedankenleben Vandenesses angenommen, oder hatte sich Vandenesse all ihren Hinfällen angepaßt? Sie grübelte nicht darüber. Die wunderbare Frau war schon vom Strudel der Leidenschaft ergriffen und redete sich immer noch mit der irreführenden Gutgläubigkeit der Angst ein: ›O nein! Ich will dem treu bleiben, der für mich gestorben ist.‹

Pascal hat gesagt: ›An Gott zweifeln heißt an ihn glauben.‹ Ebenso wehrt sich eine Frau nur, wenn sie gefangen ist. An dem Tage, an dem die Marquise sich eingestand, daß sie geliebt wurde, schwankte sie zwischen tausend widerstreitenden Empfindungen. Die abergläubischen Ängste der Erfahrung wollten sich einmischen. Würde sie glücklich sein? Konnte sie das Glück außerhalb der Gesetze finden, auf die die Gesellschaft, zu Recht oder Unrecht, ihre Moral gegründet hat? Bisher hatte ihr das Leben nur Bitternis zu kosten gegeben. Konnten die Bande, die zwei Wesen vereinten, zwischen denen die Konventionen der Gesellschaft eine Schranke errichteten, glücklich verknotet werden? Jedoch, kann das Glück je zu teuer erkauft werden? Vielleicht, daß sie endlich das Glück fände, das sie so glühend gewollt hatte, nach dem zu suchen doch auch so natürlich ist! Die Neugier verficht immer die Sache der Liebenden. Gerade als die Marquise sich diesen geheimen Betrachtungen hingab, trat Vandenesse ein. In seiner Gegenwart versank der metaphysische Spuk der Vernunft. Wenn ein Gefühl bei einem jungen Mann und bei einer Frau von dreißig Jahren in gleicher Heftigkeit ununterbrochen aufeinanderfolgende Wandlungen durchläuft, so kommt immer ein Augenblick, wo Gründe und Gegengründe sich in einer einzigen, letzten Erwägung aufheben, die in einen Wunsch mündet und diesen untermauert. Je länger der Widerstand währte, desto mächtiger ist dann die Stimme der Liebe. Hier hört denn also der Unterricht oder, besser gesagt, die Studie am ›Muskelmodell‹ auf, wenn es einer Geschichte, die die Gefahren und den Mechanismus der Liebe mehr erklären als malen will, erlaubt ist, der Malerei einen ihrer bildhaftesten Ausdrücke zu entlehnen. Von diesem Augenblick an trug jeder Tag dem Skelett neue Farben auf, bekleidete es mit den Reizen der Jugend, umgab es wieder mit Fleisch und Blut, belebte seine Bewegungen, lieh ihm den Glanz, die Schönheit, den Zauber der Empfindung und die Reize des Lebens. Charles fand Madame d'Aiglemont nachdenklich; und als er sie in dem eindringlichen Ton, der die süßen Zauberkräfte des Herzens so überzeugend macht, fragte: »Was haben Sie?«, hütete sie sich zu antworten. Diese köstliche Frage sprach von einem völligen Einklang der Seelen, und die Marquise wußte mit dem wunderbaren Instinkt des Weibes, daß Klagen oder Aussprechen ihres Leides ein gewisses Entgegenkommen gewesen wäre. Wenn schon jedes Wort eine Bedeutung hatte, die sie alle beide verstanden, welchem Abgrund schritt sie entgegen? Sie las klar und scharf in ihrem eigenen Innern und schwieg. Auch Vandenesse sprach kein Wort.

»Ich bin leidend«, begann sie endlich. Die Bedeutung des Augenblicks, in dem die Sprache der Augen ein völliger Ersatz für die Ohnmacht der Rede war, machte ihr bange.

»Madame«, erwiderte Charles mit zärtlicher, aber heftig bewegter Stimme, »Seele und Leib, alles hängt zusammen. Wenn Sie glücklich wären, wären Sie jung und blühend. Warum lehnen Sie es ab, von der Liebe all das zu begehren, was die Liebe Ihnen geraubt hat? Sie halten das Leben in einem Augenblick für beschlossen, wo es für Sie erst beginnt. Vertrauen Sie sich der Obhut eines Freundes an. Es ist so süß, geliebt zu werden!«

»Ich bin schon alt«, versetzte sie, »nichts könnte mich also entschuldigen, daß ich nicht so fortfahre zu leiden, wie ich gelitten habe. Überdies, Sie sagen, man muß lieben! Ich aber muß nicht, und ich kann nicht! Außer Ihnen, dessen Freundschaft meinem armen Leben ein bißchen guttut, gefällt mir kein Mensch, und keiner könnte meine Erinnerungen auslöschen. Ich nehme den Freund an, ich will keinen Liebhaber. Wäre es edelmütig von mir, ein welkes Herz für ein junges zum Tausch zu geben, Illusionen zu empfangen, die ich nicht teilen kann, ein Glück zu erzeugen, an das ich nicht glauben möchte oder das zu verlieren ich zitterte? Vielleicht, daß ich seine Hingabe nur mit Egoismus erwidern könnte; daß ich kühl erwöge, wo er glühte; meine Erinnerungen würden die Lebhaftigkeit seiner Wünsche kränken. Nein, sehen Sie, für eine erste Liebe gibt es keinen Ersatz. Schließlich, welcher Mann wollte mein Herz um diesen Preis?«

Diese Worte, in denen eine furchtbare Koketterie lag, waren die letzte Verteidigung der Klugheit.

›Wenn er den Mut verliert, gut; dann bleibe ich allein und treu.‹ Dieser Gedanke flog ihr durchs Herz und war für sie der Strohhalm, nach dem ein Ertrinkender greift, ehe ihn die Wogen fortreißen.

Als Vandenesse dieses Urteil hörte, entrang sich ihm ein unwillkürliches Beben, das der Marquise stärker ans Herz griff als all sein bisheriges getreues Werben. In uns Zartgefühl oder Empfindungen zu treffen, die so erlesen sind wie ihre eigenen: das rührt die Frauen am meisten; denn für sie sind Feinheit und Anmut der Seele die Kennzeichen des ›Wahren‹. Charles' Bewegung verriet wahre Liebe. Madame d'Aiglemont ermaß die Stärke von Vandenesses Zuneigung an der Stärke seines Schmerzes. Der junge Mann versetzte kalt: »Sie haben vielleicht recht. Neue Liebe, neues Leid.«

Dann wechselte er den Gesprächsstoff und unterhielt sie von gleichgültigen Dingen; aber er war sichtlich erregt und betrachtete Madame d'Aiglemont mit so gespannter Aufmerksamkeit, als sähe er sie zum letztenmal. Schließlich erhob er sich und sagte bewegt: »Leben Sie wohl, Madame!« – »Auf Wiedersehen?« gab sie mit der feinen Koketterie zurück, deren Geheimnis nur wenigen Frauen gegeben ist.

Er antwortete nicht und ging.

Als Charles nicht mehr da war, als sein leerer Stuhl statt seiner sprach, empfand sie tausendfache Reue und machte sich Vorwürfe. Die Leidenschaft macht in einer Frau, die wenig großherzig gehandelt oder ein edles Herz verwundet zu haben glaubt, in diesem Augenblick einen mächtigen Schritt vorwärts. Niemals soll man sich in der Liebe vor Verstimmungen hüten; sie sind sehr heilsam; die Frauen erliegen nur dem Angriff einer Tugend. Das Wort: ›Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert‹ ist kein Paradox eines Bußpredigers. Vandenesse ließ sich mehrere Tage nicht sehen. An jedem Abend zu der Stunde, wo sie sonst beisammen waren, erwartete ihn die Marquise voll Ungeduld und Reue. Schreiben wäre ein Geständnis gewesen; überdies sagte ihr der Instinkt, er würde wiederkommen. Am sechsten Tage meldete ihr Kammerdiener ihn an. Nie hatte sie diesen Namen mit größerer Freude gehört. Ihr Jubel erschreckte sie.

»Sie haben mich schwer bestraft!« redete sie ihn an. Vandenesse sah sie verständnislos an.

»Bestraft!« gab er zurück. »Und wofür?«

Charles hatte die Marquise sehr wohl verstanden; aber er wollte sich für die Qualen rächen, denen er von dem Augenblick an ausgeliefert war, als sie diese ahnte.

»Warum sind Sie nicht mehr zu mir gekommen?« fragte sie lächelnd. »Haben Sie niemanden empfangen?« Er gab diese Frage zurück, um einer direkten Antwort auszuweichen. »Monsieur de Ronquerolles und Monsieur de Marsay, der kleine Esgrignon, waren hier, der eine gestern, der andere heute vormittag, etwa zwei Stunden. Ich habe, glaube ich, auch Madame Firmiani und Ihre Schwester, Madame de Listomère, bei mir gesehen.«

Noch ein Schmerz! Diese Qual können nur die verstehen, die mit solcher wilden und despotischen Leidenschaft lieben, daß sie immer zu wahnsinniger Eifersucht neigen und das geliebte Wesen jedem fremden Einfluß entziehen wollen.

›Wie!‹ sagte sich Vandenesse, ›sie hat Gäste empfangen, sie hat zufriedene Leute bei sich gesehen und hat mit ihnen geplaudert, während ich mich in Einsamkeit vergrub und unglücklich war!‹

Er unterdrückte seinen Kummer und barg seine Liebe in der Tiefe seines Herzens wie einen Sarg im Meer. Solche Gedanken äußert man nicht, sie haben die Geschwindigkeit von Säuren, die beim Verdunsten den Tod bringen. Seine Stirn jedoch umwölkte sich, und Madame d'Aiglemont gehorchte dem Instinkt des Weibes: sie teilte seine Trauer, ohne sie zu begreifen. Sie wußte nicht, was sie Schlimmes getan hatte, und Vandenesse merkte es wohl. Er sprach von seiner Verfassung und seiner Eifersucht, als sei es eine der Hypothesen, die Liebende gern erörtern. Die Marquise begriff alles und wurde davon so lebhaft gerührt, daß sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Das war der Augenblick, wo für sie der Himmel der Liebe begann. Himmel und Hölle sind zwei große Symbole und bezeichnen die beiden einzigen Punkte, um die sich unser Dasein dreht: Lust und Schmerz. Ist nicht der Himmel allezeit ein Bild für die Unendlichkeit unserer Empfindungen, das immer nur in Bruchstücken gemalt werden kann, weil das Glück ein Ganzes ist? Und stellt nicht die Hölle die unendlichen Martern unserer Schmerzen dar, aus denen wir ein Werk der Dichtung machen können, weil sie so verschiedenartig sind?

Eines Abends saßen die beiden Liebenden schweigend beieinander; sie schauten aufs Firmament, nach dem klaren Abendhimmel, auf den die letzten Strahlen, der untergehenden Sonne goldene und purpurne Töne warfen. In dieser Stunde scheint das langsame Abnehmen des Lichts sanfte Gefühle zu erwecken; unsere Leidenschaft schwingt sanft in uns nach, und inmitten der Ruhe genießen wir den Aufruhr einer ungekannten Gewalt. Die Natur zeigt uns in vagen Bildern das Glück und fordert uns auf, es zu genießen, wenn es uns nahe ist, oder bringt uns zur Reue, wenn es geflohen ist.

In diesen wonnetrunkenen Augenblicken, unter einem Baldachin von Licht, dessen zarte Harmonien mit geheimem Begehren verschmelzen, ist es schwer, den Wünschen des Herzens zu widerstehen, die jetzt ihren ganzen Zauber entfalten; der Kummer versinkt, die Freude wird zum Rausch, der Schmerz drückt nieder. Die Pracht des Abends ruft die Wünsche aus ihrem Versteck und macht ihnen Mut. Das Schweigen wird gefährlicher als das Reden, die Augen bekommen die ganze Gewalt der Himmelsweite, die sie widerspiegeln. Wenn man spricht, trägt das kleinste Wort eine unwiderstehliche Gewalt in sich. Ist jetzt nicht Licht in der Stimme, Purpurglanz im Blick? Ist es nicht, als ob der Himmel in uns oder wir im Himmel wären? So sprachen denn nun Charles und Juliette miteinander – seit einigen Tagen ließ sie sich so vertraulich von ihm anreden und nannte ihn Charles –, aber der ursprüngliche Gegenstand ihrer Unterhaltung war ihnen ganz entrückt; sie wußten kaum, wovon sie sprachen, und lauschten nur mit Entzücken auf die geheimen Gedanken, die von den Worten verhüllt wurden. Die Marquise überließ Vandenesse ihre Hand und hatte nicht mehr die Empfindung dabei, daß das eine Gunst sei.

Sie neigten sich zueinander, um eine der majestätischen Landschaften voller Schnee, Gletscher und grauer Schatten zu betrachten, die an den Abhängen phantastischer Wolkenungetüme lagen; eines der Gemälde voll heftiger Gegensätze von den roten Flammen bis zu den schwarzen Tönen, die, den Himmel mit einer unnachahmlichen flüchtigen Poesie schmücken: die prachtvollen Wolkentücher, die die Sonne bei ihrer Geburt umfangen und in die sie sterbend ihre letzten Strahlen gießt. In diesem Augenblicke streiften Julies Haare die Wangen Vandenesses: sie spürte die leichte Berührung und schauerte zusammen, und er noch mehr; alle beide waren allmählich auf eine der unerklärlichen, entscheidenden Stufen gelangt, wo die Stille die Sinne so empfindlich macht, daß die schwächste Erschütterung Tränen hervorruft und die Trauer zum Überströmen bringt, wenn das Herz in schwermütige Stimmungen versenkt ist oder unsagbare Wonnen auslöst, wenn es im Taumel der Liebe verstrickt ist. Julie drückte fast unwillkürlich die Hand ihres Freundes. Dieser beredte Händedruck gab der Schüchternheit des Liebenden Mut. Die Wonne dieses Augenblicks und die Hoffnungen auf die Zukunft, alles schmolz zusammen zu einer ersten Zärtlichkeit, zu dem keuschen und bescheidenen Kuß, den Madame d'Aiglemont sich auf die Wange geben ließ. Je schwächer die Gunst war, um so mächtiger, um so gefährlicher war sie. Zu ihrer beider Unglück war kein Schein und kein Falsch darin. Es war das Einvernehmen zweier schöner Seelen, die von allem, was Gesetz ist, getrennt und von allem, was Verführung in der Natur ist, zueinandergeführt wurden. In diesem Augenblick trat der General d'Aiglemont ein.

»Das Ministerium ist umgebildet«, sagte er; »Ihr Onkel gehört dem neuen Kabinett an. Sie haben also die besten Aussichten, Botschafter zu werden, Vandenesse.«

Charles und Julie sahen sich an und erröteten. Diese gemeinsam empfundene Scham war wiederum ein Band. Sie hatten beide den nämlichen Gedanken, denselben Gewissensbiß; das ist ein furchtbares Band, das zwei Räuber, die eben einen Menschen umgebracht haben, ebenso stark aneinanderkettet wie zwei Liebende, die sich eines Kusses schuldig gemacht haben. Der Marquis mußte eine Antwort bekommen.

»Ich will Paris nicht mehr verlassen«, erwiderte Charles de Vandenesse. »Wir wissen warum«, versetzte der General und heuchelte die Schlauheit eines Mannes, der ein Geheimnis errät; »Sie wollen Ihren Onkel nicht verlassen, damit Sie Erbe seiner Pairswürde werden.«

Die Marquise flüchtete in ihr Schlafzimmer und fällte bei sich dieses vernichtende Urteil über ihren Gatten: ›Er ist aber auch zu dumm!‹


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