Honoré de Balzac
Das Chagrinleder
Honoré de Balzac

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Valentin war zu Hause angelangt. Eine kalte Wut hatte ihn befallen; er glaubte an nichts mehr; seine Gedanken stritten in seinem Hirn, drehten sich und schwankten, wie es einem Menschen geht, der einer unmöglichen Tatsache ins Auge sieht. Er hätte gern an einen verborgenen Fehler in der Maschine Spieghalters geglaubt; auch die Ohnmacht der Wissenschaft und des Feuers hatte ihn nicht gewundert; aber die Geschmeidigkeit des Leders, als er es in die Hand nahm, und seine Widerstandsfähigkeit, als alle dem Menschen zur Verfügung stehenden Zerstörungsmittel gegen es gerichtet wurden, flößten ihm Grauen ein. Diese unbestreitbare Tatsache erregte ihm Schwindel.

»Ich bin wahnsinnig«, sagte er sich. »Ich habe seit heute morgen nichts gegessen und verspüre trotzdem weder Hunger noch Durst, und dabei fühle ich in der Brust eine brennende Glut.«

Er schob das Chagrinleder wieder in den Rahmen, in dem es bis vor kurzem gewesen war, und nachdem er mit roter Tinte die augenblicklichen Konturen des Talismans nachgezogen hatte, setzte er sich in seinen Lehnstuhl.

»Schon acht Uhr!« rief er. »Dieser Tag ist wie ein Traum vergangen.«

Er legte die Arme auf die Sessellehne, stützte den Kopf auf die linke Hand und blieb in düstere Betrachtungen, in jene verzehrenden Gedanken versunken, deren Geheimnis die zum Tode Verurteilten mit sich nehmen.

»Ach, Pauline!« rief er. »Armes Kind! Es gibt Abgründe, die selbst die Liebe nicht zu überwinden vermag, trotz der Kraft ihrer Flügel.« In diesem Augenblick hörte er ganz deutlich einen unterdrückten Seufzer. Er horchte auf, und infolge einer der rührendsten Vorzüge der Liebe erkannte er den Atem seiner Pauline. »Oh«, sagte er sich, »das ist mein Todesurteil. Wenn sie da wäre, wollte ich in ihren Armen sterben!«

Ein unbeschwertes, fröhliches Lachen erklang. Er wandte den Kopf nach seinem Bett und sah durch die durchscheinenden Vorhänge Paulines Gesicht. Sie strahlte, glücklich wie ein Kind, das sich über einen gelungenen Streich freut; ihr schönes Haar fiel ihr in tausend Locken über die Schultern; sie glich einer bengalischen Rose in einem Blütenmeer weißer Rosen.

»Ich habe Jonathas verleitet«, sagte sie; »gehört dieses Bett nicht mir, bin ich nicht deine Frau? Schilt nicht, Geliebter, ich wollte nur in deiner Nähe schlafen, wollte dich überraschen. Verzeih mir die Torheit!« Sie sprang wie eine Katze aus dem Bett, stand strahlend schön in ihrem Musselin vor Raphael und setzte sich ihm auf den Schoß. »Von welchem Abgrund sprachst du denn, Liebster?« fragte sie, und ihre Stirn zeigte ihre Besorgnis.

»Vom Tode.«

»Du tust mir weh«, antwortete sie; »es gibt Vorstellungen, die wir armen Frauen nicht ertragen können; sie töten uns. Kommt es von unserer starken Liebe oder vom Mangel an Mut? Ich weiß es nicht. Der Tod schreckt mich nicht.« Dabei lachte sie schon wieder. »Mit dir morgen früh in einem letzten Kuß zu sterben wäre eine Wonne. Mir ist, als hätte ich schon mehr als 100 Jahre gelebt. Was liegt an der Zahl der Tage, wenn wir in einer Nacht, in einer Stunde ein ganzes Leben voller Frieden und Glück ausgeschöpft haben?«

»Du hast recht. Aus deinem holden Mund spricht der Himmel. Laßt ihn mich küssen, und dann wollen wir sterben.«

»Sterben wir also!« gab sie lachend zur Antwort.

Gegen neun Uhr morgens schien der Tag durch die Spalten der Jalousien; die Musselinvorhänge dämpften das Licht, aber schon konnte man die kräftigsten Farben des Teppichs und die seidenglänzenden Möbel des Zimmers erkennen, in dem die beiden Liebenden ruhten. Vereinzelt schimmerten Vergoldungen auf. Ein Strahl erstarb auf dem weichen Daunenkissen, das im Liebesspiel zu Boden gefallen war. Paulines Kleid, das an einem hohen Spiegel aufgehängt war, sah wie eine Geistergestalt aus. Die zierlichen Schuhe waren weit vom Bett entfernt liegengelassen worden. Eine Nachtigall hatte sich aufs Fensterbrett gesetzt; ihr helles Singen, ihr rascher Flügelschlag, als sie plötzlich davonflog, weckten Raphael auf.

»Wenn ich sterben soll«, sagte er sich und vollendete damit einen Gedanken seines Traumes, »muß mein Organismus, dieser Apparat von Fleisch und Knochen, der von meinem Willen beseelt ist und aus mir ein menschliches Individuum macht, eine beträchtliche Schädigung aufweisen. Die Ärzte müssen die Symptome der angegriffenen Lebenskraft erkennen und mir sagen können, ob ich gesund oder krank bin.«

Er betrachtete seine schlafende Frau, die seinen Kopf umschlungen hielt und ihn auch im Schlummer mit der zärtlichen Fürsorge der Liebe umgab. Zierlich ausgestreckt wie ein Kind, das Gesicht ihm zugewandt, schien Pauline ihn noch immer anzusehen, ihm den hübschen halbgeöffneten Mund darzubieten, aus dem ihr regelmäßiger, reiner Atem drang. Ihre kleinen schimmernden Zähne hoben das Rot ihrer frischen Lippen hervor, um die ein Lächeln schwebte; die rosige Färbung ihres Antlitzes war in diesem Augenblick lebhafter, sein Weiß gewissermaßen noch weißer als in den verliebtesten Stunden des Tages. Ihre anmutige Hingegebenheit, aus der so reines Vertrauen sprach, fügte dem Zauber der Liebe noch den wundervollen Reiz schlummernder Kindheit hinzu. Selbst die natürlichsten Frauen gehorchen während des Tages gewissen gesellschaftlichen Konventionen, die naive Gefühlsäußerungen hemmen, der Schlaf jedoch scheint ihnen jene unbefangene Natürlichkeit wiederzugeben, die die ersten Lebensjahre so köstlich schmückt: Pauline errötete über nichts, sie war eins der holden himmlischen Geschöpfe, denen die Vernunft noch keine Gedanken in die Bewegungen, keine Geheimnisse in die Blicke gemischt hat. Ihr Profil hob sich klar von dem feinen Batist der Kopfkissen ab; die breiten Spitzenrüschen, die sich in ihr gelöstes Haar mischten, gaben ihr ein leicht schelmisches Aussehen; aber sie war auch in Wonne eingeschlafen. Ihre langen Wimpern ruhten auf ihren Wangen, wie um die Augen vor grellem Licht zu schützen oder die Seele, wenn sie eine vollkommene, aber flüchtige Lust festzuhalten sucht, in ihrer Sammlung zu unterstützen; ihr zierliches, rosiges Ohr, das, von Haaren umlockt, aus Mechelner Spitzen hervorschaute, hätte einen Künstler, einen Maler, einen Greis vor Liebe den Verstand verlieren oder gar einen Wahnsinnigen wieder zu Verstand kommen lassen. Seine schlafende Geliebte zu sehen, wie sie unter dem Schutze des geliebten Mannes friedlich lächelnd schlummert, wie sie ihn noch im Traum, wo das Leben geschwunden zu sein scheint, liebt und ihm schweigend die Lippen darbietet, die noch im Schlafe vom letzten Kusse erzählen; eine Frau zu sehen, die arglos, halbnackt, aber in ihre Liebe wie in einen Mantel gehüllt und inmitten der Auflösung keusch daliegt, ihre da und dort verstreuten Kleidungsstücke zu bewundern, diesen Seidenstrumpf, der am Abend vorher dem Liebsten zu Gefallen rasch abgestreift wurde, den gelösten Gürtel, aus dem grenzenloses Vertrauen spricht – ist das nicht namenlose Freude? Dieser Gürtel ist ein ganzes Gedicht; die Frau, die er schützte, existiert nicht mehr; sie gehört dem Geliebten, ist eins geworden mit ihm; verrät er sie von nun an, verwundet er sich selbst. Raphael sah sich gerührt in diesem Zimmer um, das voller Liebe, voller Erinnerungen war, das der Tag in wollüstiges Licht tauchte, und wandte dann seinen Blick wieder der Frau mit ihren reinen, jungen Formen zu, die noch in der Liebe weilte, deren Gefühle mehr als alles andere ihm ungeteilt gehörten. Er wünschte, ewig zu leben. Als sein Blick auf Pauline fiel, schlug sie mit einem Mal die Augen auf, als hätte ein Sonnenstrahl sie getroffen.

»Guten Morgen, mein Freund«, begrüßte sie ihn lächelnd. »Wie schön du bist, Böser.«

Ihre beiden Köpfe, ganz von der Anmut verklärt, welche die Liebe, die Jugend, die Dämmerung und das Schweigen verliehen, zeigten eines jener göttlichen Bilder, deren flüchtiger Zauber nur den ersten Tagen der Leidenschaft gehört, wie Naivität und Unschuld die Attribute der Kindheit sind. Ach, diese Lenzfreuden der Liebe müssen entschwinden wie das Lachen unserer Kindertage und leben nur in unserer Erinnerung fort, um uns je nach den Launen der geheimen Vorgänge unseres Inneren entweder trostlos zu machen oder uns flüchtige Tröstung zu gewähren.

»Warum bist du erwacht?« sagte Raphael; »ich war so glücklich, dich schlafend zu sehen, daß ich weinte.«

»Auch ich habe heute nacht geweint«, erwiderte sie, »als ich deinen Schlummer bewachte, aber nicht vor Freude. Höre, mein Raphael, höre mich an! Wenn du schläfst, ist dein Atem nicht frei, es ist etwas Rasselndes in deiner Brust, das mir Angst gemacht hat. Während du schläfst, hast du so einen kurzen, trockenen Husten, der aufs Haar dem meines Vaters gleicht, der an der Schwindsucht dahinsiecht. An dem Geräusch deiner Lungen habe ich einige Symptome dieser Krankheit erkannt. Und du hattest Fieber, ich weiß es gewiß, deine Hand war feucht und glühend. Geliebter, du bist jung«, fügte sie hinzu und schauerte zusammen, »du könntest noch geheilt werden, wenn zum Unglück . . . Aber nein«, rief sie froh, »es ist kein Unglück, die Krankheit ist ansteckend, sagten die Ärzte.« Sie umschlang Raphael mit beiden Armen und sog seinen Atem mit einem Kuß ein, in den die ganze Seele strömte. »Ich will keine alte Frau werden. Wir wollen zusammen jung sterben und mit Blumen in den Händen gen Himmel pilgern.«

»Solche Pläne macht man leicht, wenn man gesund ist«, erwiderte Raphael und strich mit beiden Händen durch Paulines Haar.

Aber plötzlich bekam er einen furchtbaren Hustenanfall. Es war ein schwerer, hohler Husten, der aus einer Gruft zu schallen scheint, der Blässe auf die Stirn des Kranken treibt, ihn am ganzen Leibe zitternd und in Schweiß gebadet zurückläßt, seine Nerven aufwühlt, den Brustkorb erschüttert, sein Rückenmark überanstrengt und bleierne Schwere in seinen Adern verbreitet hat. Niedergeschlagen und bleich ließ sich Raphael auf sein Bett sinken, er war erschöpft wie ein Mensch, der seine ganze Kraft in einer letzten Anstrengung verbraucht hat. Pauline sah ihn mit starren, angstvoll geweiteten Augen an. Sie blieb regungslos, blaß und stumm.

»Wir dürfen keine Torheiten mehr anstellen, Liebster«, sagte sie schließlich, um Raphael die furchtbaren Vorahnungen, die sie befielen, zu verbergen.

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Das gräßliche Gerippe des Todes stand vor ihr. Raphaels Antlitz war fahl und hohl wie ein Schädel, der für die Studien eines Gelehrten dem Schlund des Kirchhofs entrissen worden ist. Pauline fiel Valentins Ausruf vom Vorabend ein, und sie sprach zu sich selbst: »Ja, es gibt Abgründe, die die Liebe nicht überwinden kann, aber sie muß in ihnen versinken.«

Ein paar Tage nach dieser trostlosen Szene saß Raphael an einem Märzmorgen in seinem Lehnstuhl. Vier Ärzte standen um ihn herum, die ihn ans Fenster seines Schlafzimmers hatten rücken lassen, wo es hell war, und ihm nacheinander den Puls befühlten, ihn abklopften und mit scheinbarem Interesse befragten. Der Kranke suchte aus ihren Gesten und den kleinsten Falten auf ihrer Stirn ihre Gedanken zu erraten. Diese Konsultation war seine letzte Hoffnung. Diese höchsten Richter sollten sein Urteil sprechen: Leben oder Tod. Um der menschlichen Wissenschaft das letzte Wort zu entreißen, hatte Valentin die Orakel der modernen Medizin berufen. Dank seinem Vermögen und seinem Namen befanden sich die drei Systeme, zwischen denen sich das menschliche Wissen bewegt, hier vor ihm. Drei von diesen Doktoren trugen die ganze ärztliche Philosophie mit sich herum und repräsentierten den Kampf, den der Spiritualismus, die Analyse und ein gewisser spöttischer Eklektizismus untereinander führen. Der vierte Arzt war Horace Bianchon, ein Mann der Zukunft und reicher Kenntnisse, vielleicht der ausgezeichnetste unter den neuen Ärzten, der kluge und bescheidene Vertreter der forschenden Jugend, die sich anschickt, die Erbschaft der seit 50 Jahren von der École de Paris angehäuften Schätze anzutreten, und die vielleicht das Monument errichten wird, zu dem die früheren Jahrhunderte soviel verschiedenes Material zusammengetragen haben. Er war ein Freund des Marquis und Rastignac und hatte vor mehreren Tagen seine Behandlung übernommen. Jetzt half er ihm, die Fragen der drei Professoren zu beantworten, die er zuweilen mit einiger Dringlichkeit auf die Symptome hinwies, die ihm eine Lungenschwindsucht anzuzeigen schienen.

»Sie haben ohne Zweifel sehr ausschweifend gelebt, haben, wie man so sagt, ein tolles Leben geführt und haben sich auch großen geistigen Anstrengungen gewidmet?« fragte einer der drei berühmten Doktoren, dessen eckiger Kopf, wuchtige Gestalt und energisches Auftreten auf eine geistige Überlegenheit über seine beiden Gegner schließen ließ.

»Ich wollte mich durch Ausschweifung zugrunde richten, nachdem ich drei Jahre lang an einem großen Werk gearbeitet habe, mit dem Sie sich vielleicht einmal beschäftigen werden«, antwortete ihm Raphael.

Der große Arzt nickte mit dem Kopf als Zeichen seiner Zufriedenheit, als hätte er sich selbst gesagt: »Ich wußte es!«

Dieser Arzt war der erlauchte Brisset, das Haupt der Organizisten,Organizisten: Vertreter einer medizinischen Doktrin, die jede Krankheit auf ein geschädigtes Organ zurückführt der Nachfolger der CabanisCabanis, Georges (1757-1808): französischer Arzt u. Philosoph und Bichats, ein Vertreter der positivistischen und materialistischen Schule, die im Menschen ein endliches Wesen sieht, das lediglich den Gesetzen seiner eigenen Organisation unterworfen ist und dessen normaler Zustand oder schädliche Anomalien sich aus unverkennbaren Ursachen erklären lassen.

Nach dieser Antwort sah Brisset schweigend auf einen untersetzten Mann, dessen hochrotes Gesicht und glühendes Auge einem alten Satyr zu gehören schienen. Er lehnte mit dem Rücken an der Ecke der Fensternische und betrachtete Raphael aufmerksam, ohne ein Wort zu sagen. Doktor Caméristus war ein schwärmerischer und gläubiger Mann, Führer der VitalistenVitalisten: Anhänger des Vitalismus, einer idealistischen philosophischen Lehre, die davon ausgeht, daß in den lebenden Organismen eine übernatürliche, nicht materielle ›Lebenskraft‹ wirke und poetischer Verteidiger der abstrakten Doktrinen van Helmonts; er sah im menschlichen Leben ein geheimnisvolles höheres Prinzip, eine unerklärliche Erscheinung, der man mit dem Skalpell nicht beikommen kann, die der Chirurgie spottet, den Arzneien der Pharmazeutik, den X der Algebra, den Demonstrationen der Anatomie entschlüpft und all unser Mühen verlacht: eine Art unfaßbare, unsichtbare, irgendeinem göttlichen Gesetz unterworfene Flamme, die oftmals in einem Körper weiterbrennt, über den wir längst das Todesurteil gesprochen haben, wie sie zuweilen auch die lebenskräftigsten Naturen verläßt.

Ein sardonisches Lächeln glitt über die Lippen des dritten, des Doktor Maugredie. Er war ein ausgezeichneter Kopf, aber ein Skeptiker und Spötter, der an nichts als ans Skalpell glaubte, Brisset den Tod eines Menschen zugestand, dem es ausgezeichnet ging, und wiederum mit Cameristus anerkannte, daß ein Mensch noch nach seinem Tode weiterleben könne. Er fand in allen Theorien etwas Gutes, schloß sich keiner an, behauptete, das beste System in der Medizin sei, keins zu haben und sich an die Tatsachen zu halten. Dieser Panurg, dieser König der Beobachtung, der große Diagnostiker und große Spötter, der Mann der verzweifelten Versuche, machte sich jetzt mit dem Chagrinleder zu schaffen.

»Ich möchte mich gern von dem Zusammenhang zwischen Ihren Wünschen und seiner Verkleinerung mit eigenen Augen überzeugen«, sagte er zu dem Marquis.

»Wozu denn?« rief Brisset.

»Wozu denn?« wiederholte Caméristus.

»Ah! Sie sind sich einig«, meinte Maugredie.

»An dieser Zusammenziehung ist weiter nichts Besonderes«, meinte Brisset.

»Sie ist übernatürlich«, sagte Caméristus.

»Ja, in der Tat«, versetzte Maugredie und nahm eine ernste Miene an, während er Raphael sein Chagrinleder zurückgab; »so ist zum Beispiel die hornartige Verhärtung der Haut eine unerklärliche und dennoch natürliche Tatsache, die seit der Erschaffung der Welt die Medizin und die hübschen Frauen zur Verzweiflung treibt.«

Wie genau Valentin seine drei Ärzte auch beobachtete, er entdeckte bei ihnen keinerlei Mitgefühl für seine Leiden. Alle drei blieben nach jeder Antwort stumm, maßen ihn mit gleichgültigen Blicken und fragten ihn aus, ohne ihn zu bedauern. Hinter ihrer Höflichkeit war kühle Teilnahmslosigkeit zu spüren. Sei es, daß sie ihrer Sache sicher, sei es, daß sie in tiefes Nachdenken versunken waren, ihre Worte flossen so spärlich, so träge, daß Raphael manchmal glaubte, sie wären mit ihren Gedanken woanders. Von Zeit zu Zeit antwortete lediglich Brisset: »Gut! Schön!« auf alle hoffnungslosen Symptome, die Bianchon aufzeigte. Caméristus verharrte in einer tiefen Träumerei; Maugredie erinnerte an einen Lustspieldichter, der zwei Originale studiert, um sie treu auf die Bühne zu bringen. Das Gesicht Bianchons verriet große Sorge und traurige Ergriffenheit. Er war erst zu kurze Zeit Arzt, um vor dem Schmerz stumpf, vor dem Bett eines Sterbenden unerschüttert bleiben zu können; er vermochte die Freundestränen nicht zu unterdrücken, die einen Menschen hindern, klar zu sehen und wie ein Befehlshaber den für den Sieg günstigen Augenblick zu packen, ohne auf die Schreie der Sterbenden zu hören. Nachdem die Autoritäten ungefähr eine halbe Stunde darauf verwendet hatten, der Krankheit und dem Kranken sozusagen Maß zu nehmen, wie ein Schneider einem jungen Mann für seinen Hochzeitsanzug Maß nimmt, brachten sie ein paar Gemeinplätze vor, unterhielten sich sogar über Politik; dann wollten sie sich in Raphaels Arbeitszimmer zurückziehen, um ihre Meinungen auszutauschen und das Urteil zu fällen.

»Messieurs«, fragte Raphael, »kann ich der Debatte nicht beiwohnen?«

Gegen dieses Ansinnen erhoben Brisset und Maugredie lebhaften Einspruch und lehnten es trotz der dringlichen Bitten des Kranken ab, in seiner Anwesenheit zu beraten. Raphael fügte sich dem Brauch; er gedachte aber, sich in einen kleinen Gang zu schleichen, von dem aus er die medizinischen Auseinandersetzungen, die zwischen den drei Professoren entbrennen würden, leicht verfolgen konnte.

»Messieurs«, sagte Brisset, als sie eingetreten waren, »gestatten Sie mir, Ihnen sofort meine Meinung darzulegen. Ich will sie Ihnen weder aufdrängen noch sie bestritten sehen; erstens ist sie bestimmt und sicher; sie resultiert aus einer völligen Ähnlichkeit zwischen einem meiner Kranken und dem Patienten, zu dessen Untersuchung wir hierher gerufen worden sind; zweitens erwartet man mich in meiner Klinik. Der Fall, der meine Anwesenheit dort erforderlich macht, ist so wichtig, daß Sie entschuldigen, wenn ich als erster das Wort ergreife. Das ›Subjekt‹, mit dem wir es zu tun haben, ist in gleicher Weise von geistigen Arbeiten erschöpft . . . Was hat er denn geschrieben, Horace?« Damit wandte er sich an den jungen Arzt.

»Eine Theorie des Willens!«

»Donnerwetter! das ist freilich ein weitreichendes Thema! Er ist, sage ich, durch übermäßige Geistesarbeit, durch eine unvernünftige Lebensweise, durch die wiederholte Anwendung zu starker Stimulantien erschöpft. Die ständige Aufpeitschung des Körpers wie des Gehirns hat die Tätigkeit des ganzen Organismus durcheinandergebracht. Messieurs, es ist leicht, in den Symptomen des Gesichtsausdrucks und des Körpers eine starke Reizung des Magens, die Neurose des großen Sympathikus, die lebhafte Empfindlichkeit des Epigastriums und die Verengung des Hypochondriums zu erkennen. Sie haben die Anschwellung und das Hervortreten der Leber bemerkt. Schließlich hat Monsieur Bianchon die Verdauung seines Patienten ständig beobachtet und uns mitgeteilt, daß sie schwer und mühsam ist. Genaugesagt ist kein Magen mehr da; der eigentliche Mensch ist verschwunden. Der Intellekt ist geschwächt, weil der Mann nicht mehr verdaut. Die fortschreitende Veränderung des Epigastriums, des Zentrums des Lebens, hat das ganze System gestört. Von dort werden die dauernden und unbestreitbaren Störungen ausgestrahlt; sie haben durch das Nervengeflecht auf das Hirn übergegriffen, daher die außerordentliche Reizbarkeit dieses Organs. Es liegt eine Monomanie vor. Der Kranke wird von einer fixen Idee verfolgt. Für ihn wird dieses Stück Chagrinleder wirklich kleiner, vielleicht ist es aber immer so groß gewesen, wie wir es gesehen haben; aber ob es sich zusammenzieht oder nicht, dieses Chagrinleder ist für ihn die Mücke auf der Nase des Großwesirs. Setzen Sie unverzüglich Blutegel an das Epigastrium, beruhigen Sie die Reizung dieses Organs, in dem das menschliche Leben seinen Sitz hat, sorgen Sie für eine strenge Diät, und die Monomanie wird weichen. Ich brauche Doktor Bianchon nichts weiter zu sagen; er muß die Behandlung vornehmen, im Ganzen wie in den Einzelheiten. Vielleicht liegt ein Zusammenwirken von Krankheiten vor, vielleicht sind die Atemwege gleichfalls in Mitleidenschaft gezogen; aber ich halte die Behandlung des Verdauungsapparates für weitaus wichtiger, notwendiger, dringlicher als die der Lungen. Die angespannte Beschäftigung des Geistes mit abstrakten Gegenständen und heftige Leidenschaften haben in diesem lebensnotwendigen Mechanismus ernste Störungen hervorgerufen; aber es ist noch nicht zu spät, dessen Triebkräfte wiederherzustellen; es ist noch nichts zu eingreifend verändert. Sie können also Ihren Freund mühelos retten«, wandte er sich abschließend an Bianchon.

»Unser gelehrter Kollege nimmt die Wirkung für die Ursache«, antwortete Caméristus. »O ja, die Veränderungen, die er so trefflich festgestellt hat, sind bei dem Patienten vorhanden; aber der Magen hat nicht die stufenweisen Ausstrahlungen in den Organismus und das Hirn hervorgebracht, wie ein Loch in einer Fensterscheibe strahlenförmig Sprünge um sich zieht. Es war ein Stoß nötig, um die Scheibe zu zersprengen. Wer hat diesen Stoß geführt? Wissen wir es? Haben wir den Patienten genügend beobachtet? Kennen wir alle Vorfälle seines Lebens? Messieurs, das Lebensprinzip, der ›Archeus‹ des van Helmont,van Helmont, Johann Baptist (1577-1644): niederländischer Arzt, Chemiker und Philosoph, der die chemischen Prozesse im Organismus als Wesentlichstes betrachtete ist bei ihm angegriffen; die Lebenskraft selbst ist an ihrer Wurzel verletzt; der göttliche Funke, die transitorische Intelligenz, die der Maschine als Zusammenhalt dient und den Willen erzeugt, das Bewußtsein des Lebens hat aufgehört, die täglichen Erscheinungen des Mechanismus und die Funktionen jedes Organs zu regeln; das verursacht die Störungen, die mein gelehrter Kollege ganz richtig konstatiert hat. Die Bewegung ging nicht vom Epigastrium zum Hirn, sondern vom Hirn zum Epigastrium. Nein!« rief er und schlug sich dabei heftig auf die Brust, »nein, ich bin kein menschgewordener Magen! Nein, da sitzt nicht alles. Ich habe nicht den Mut, zu behaupten, daß, wenn meine Verdauung klappt, alles übrige Nebensache sei. Wir können«, fuhr er dann ruhiger fort, »die schweren Störungen, die bei verschiedenen Menschen mehr oder weniger heftig auftreten, nicht auf die nämliche physische Ursache zurückführen und dürfen sie nicht einförmig behandeln. Kein Mensch ist dem anderen gleich. Wir haben alle besondere Organe, die verschiedene Wirkungen hervorbringen, verschiedene Lebensgrundlagen brauchen, die verschiedene Aufgaben erfüllen und einer Bestimmung folgen, welche zur Vollendung einer uns noch unbekannten Ordnung der Dinge erforderlich ist. Der Teil des großen Ganzen, der gemäß einem höheren Willen in uns das Phänomen des Lebens bewirkt und unterhält, hat in jedem Menschen seine eigene Ausdrucksform und macht aus ihm ein Wesen, das anscheinend endlich ist, das aber in einem Punkt mit einer unendlichen Ursache verbunden ist. Demzufolge müssen wir jedes Subjekt gesondert studieren, es durchdringen, erkennen, worin sein Leben besteht, welche besondere Kraft ihm eigen ist. Von der Weichheit eines nassen Schwammes bis zur Härte eines Bimssteins gibt es unendliche Abstufungen. So ist es auch mit dem Menschen. Zwischen der schwammigen Organisation lymphatischer Menschen und der metallischen Muskelhärte derjenigen, die zu einem langen Leben bestimmt sind, was für Irrtümer begeht da nicht das einzige, unabänderliche System der Heilung durch Schwächung, durch völlige Erschöpfung der menschlichen Kräfte, die Sie stets für gereizt halten! Im vorliegenden Fall also würde ich eine rein seelische Behandlung vorschlagen, eine tiefgehende Prüfung des inneren Wesens. Suchen wir den Sitz des Übels in den Eingeweiden der Seele statt in den Eingeweiden des Körpers! Ein Arzt ist ein erleuchtetes Wesen, das mit einer besonderen Gabe begnadet ist: Gott hat ihm die Macht verliehen, in der Lebenskraft zu lesen, wie er den Propheten Augen gibt, die Zukunft zu schauen, dem Dichter das Talent, die Natur zu beschwören, dem Musiker die Kunst, die Töne in einer harmonischen Ordnung aneinanderzureihen, deren Vorbild vielleicht dort droben ist! . . .«

»Immer seine absolutistische, monarchistische und religiöse Medizin«, murmelte Brisset.

»Messieurs«, meldete sich Maugredie rasch zu Wort, so daß Brissets Einwand nicht weiter beachtet wurde, »wir dürfen den Kranken nicht aus dem Auge verlieren . . .«

»So steht es also mit der Wissenschaft!« rief Raphael verzweifelt in seinem Versteck. »Der eine bringt mir einen Kranz von Blutegeln und der andere einen Rosenkranz zur Heilung; ich habe die Wahl zwischen dem Messer DupuytrensDupuytren, Guillaume (1777-1835): französischer Chirurg und dem Gebet des Prinzen von Hohenlohe!Prinzen von Hohenlohe: Alexander Leopold, Prinz von Hohenlohe-Waldenburg (1794-1849), wurde bekannt durch seine ›Wunderkuren‹, die er im Glauben an die Macht seines Gebetes durchführte Und auf der Linie, die die Tatsache vom Wort, die Materie vom Geiste trennt, steht Maugredie und zweifelt. Das Ja und Nein der Menschen verfolgt mich immer! Überall das ›Carymary, Carymara‹ des Rabelais: ich bin geistig krank, Carymary! Oder körperlich krank, Carymara! Ob ich am Leben bleibe? Sie wissen es nicht. Da war doch Planchette ehrlicher, als er mir sagte: Ich weiß nicht.«

In diesem Augenblick vernahm Valentin die Stimme des Doktor Maugredie: »Der Kranke ist ein Monomane, schön, einverstanden!« rief er; »aber er hat zweimal 100 000 Livres jährlich. Monomanen der Art sind selten, und wir schulden ihnen mindestens einen Rat. Was die Frage angeht, ob sein Epigastrium auf das Hirn gewirkt hat oder das Hirn auf sein Epigastrium, so können wir sie vielleicht nach seinem Tode beantworten. Machen wir es also kurz. Daß er krank ist, ist nicht zu bestreiten. Irgendwie muß er also behandelt werden. Lassen wir die Lehrmeinungen beiseite. Setzen wir ihm Blutegel an, um die innere Reizung und die Neurose, über deren Vorhandensein wir uns einig sind, zu beseitigen, und dann schicken wir ihn in ein Bad; auf diese Weise wenden wir beide Systeme zugleich an! Ist er schwindsüchtig, dann können wir ihn sowieso kaum retten; also . . .«

Raphael verließ schnell sein Versteck und begab sich wieder in seinen Lehnstuhl. Bald kamen die vier Ärzte aus dem Arbeitszimmer. Horace führte das Wort und sagte zu ihm: »Die Herren haben einstimmig die Notwendigkeit einer sofortigen Behandlung mit Blutegeln in der Magengegend anerkannt. Ferner ist es nötig, Ihr Leiden zugleich physisch und psychisch zu behandeln. Zunächst eine passende Diät, um die Reizung Ihres Organismus zu beruhigen . . .«

Hier machte Brisset ein Zeichen der Zustimmung.

»Dann eine hygienische Lebensweise, um auf Ihre geistige Verfassung einzuwirken. Wir raten Ihnen also einstimmig, nach Aix in Savoyen zu reisen oder ein Bad am Mont-Dore in der Auvergne aufzusuchen; die Luft und die Lage von Savoyen sind angenehmer als die des Cantal,Cantal: höchster Gipfel in der Auvergne aber wir überlassen das Ihrem Gutdünken.«

Hier war ein Kopfnicken des Doktor Caméristus zu verzeichnen.

»Diese Herren«, fuhr Bianchon fort, »haben in Ihrem Atmungsapparat leichte Veränderungen bemerkt und haben einhellig meinen bisherigen Vorschriften zugestimmt. Sie sind der Meinung, daß Ihre Heilung nicht schwer sein wird und von einem klugen Wechsel in der Anwendung dieser verschiedenen Mittel wesentlich abhängt . . . Und . . .«

»Und nun sind wir so klug wie vorher!« sagte Raphael lächelnd, während er Horace in sein Arbeitszimmer führte, um ihm das Honorar für die überflüssige Konsultation auszuhändigen.

»Sie sind logisch«, antwortete ihm der junge Mediziner; »Caméristus empfindet, Brisset untersucht, Maugredie zweifelt. Hat nicht der Mensch eine Seele, einen Körper und einen Verstand? Eine dieser drei Grundursachen wirkt in uns immer mehr oder weniger stark, und die menschliche Wissenschaft wird eben immer eine menschliche sein. Glaub mir, Raphael, wir heilen nicht, wir helfen der Heilung! Zwischen der Heilkunst Brissets und der von Caméristus gibt es noch die abwartende Methode,Methode, die den Selbstheilungsprozeß der Natur beobachtet und unterstützt. aber um die mit Erfolg anzuwenden, müßte man seinen Patienten seit zehn Jahren kennen. Die Medizin basiert auf Negation, wie alle Wissenschaften. Versuch also, vernünftig zu leben, mach eine Reise nach Savoyen! Es ist das beste und wird es immer bleiben, sich der Natur anzuvertrauen.«

Einen Monat später waren an einem schönen Sommerabend einige Badegäste von Aix nach der Rückkehr von der Promenade in den Salons des Kurhauses versammelt. Raphael saß an einem Fenster und wandte der Gesellschaft den Rücken. So saß er lange allein; er war in ein stumpfes Brüten versunken, in dem unsere Gedanken kommen, sich verschlingen und verlöschen, ohne rechte Gestalt anzunehmen, und wie leichte kaum gefärbte Wolken in uns verfliegen. Die Trauer ist in diesem Zustand sanft, die Freude schemenhaft, und die Seele schlummert. So überließ sich Valentin diesem Leben der Sinne, erquickte sich an der lauen Atmosphäre des Abends und sog die reine, würzige Bergluft ein. Er war glücklich, keinen Schmerz zu fühlen und sein drohendes Chagrinleder endlich zur Ruhe gebracht zu haben. Die roten Töne der Abenddämmerung erloschen auf den Gipfeln, es wurde kühler. Er verließ seinen Platz und schloß das Fenster.

»Haben Sie die Güte, Monsieur«, sagte eine alte Dame zu ihm, »das Fenster nicht zu schließen! Wir ersticken.«

Dieser Satz klang Raphael seltsam schrill und widerwärtig im Ohr; er war wie das Wort, das einem Freund, auf den wir bauten, unvorsichtig entschlüpft und das den süßen Wahn der Freundschaft zerreißt und uns in einen Abgrund des Egoismus blicken läßt. Der Marquis warf der alten Dame den kühlen Blick eines unzugänglichen Diplomaten zu, rief dann einen Diener und befahl diesem trocken: »Öffnen Sie das Fenster!«

Bei diesen Worten breitete sich auf allen Gesichtern lebhaftes Befremden aus. In der Gesellschaft entstand ein Geflüster, und man blickte den Kranken mit mehr oder weniger beredter Miene an, als hätte er sich sehr unziemlich benommen. Raphael, der seine frühere Jünglingsschüchternheit noch nicht abgelegt hatte, spürte eine Regung von Scham; aber er schüttelte seine Erstarrung ab, gewann seine Energie zurück und fragte sich, was diese seltsame Szene wohl bedeute. Blitzartig kam Leben in seine Gedanken, die Vergangenheit erschien ihm in einer deutlichen Vision: die Ursachen der Gefühle, die er hervorrief, sprangen scharf hervor wie die Adern eines Leichnams, an dem die Präparatoren durch eine zweckdienliche Einspritzung die geringsten Verästelungen gefärbt haben; er sah sich selbst in diesem flüchtigen Bilde, verfolgte sein Leben, Tag für Tag, Gedanken für Gedanken; er sah sich, nicht ohne Überraschung, düster und zerstreut inmitten dieser lachenden Welt; er gewahrte sich, wie er immer über sein Schicksal nachgrübelte, mit seinem Leiden beschäftigt war, das harmloseste Gespräch anscheinend verschmähte, wie er die flüchtigen Vertraulichkeiten scheute, die sich zwischen Reisenden schnell einstellen, weil sie zweifellos damit rechnen, einander nie wieder zu begegnen; er war kaum um die anderen bekümmert und glich letztendlich jenen Felsen, die gegen das Kosen wie gegen das Wüten der Wogen unerschüttert bleiben. Jetzt las er mit einer seltenen Gabe der Intuition in allen Seelen: im Schein eines Leuchters entdeckte er den gelben Schädel und das hämische Profil eines Greises und erinnerte sich, daß er ihm sein Geld abgewonnen hatte, ohne ihm Revanche einzuräumen; ein Stück weiter saß eine hübsche Frau, gegen deren kokette Winke er kalt geblieben war; jedes Gesicht warf ihm ein anscheinend unerklärliches Unrecht vor, sein Verbrechen bestand indes immer in einer unsichtbaren Verletzung der Eigenliebe. Ungewollt hatte er all die kleinen Eitelkeiten, die um ihn kreisten, beleidigt. Die Teilnehmer an seinen Festen oder diejenigen, denen er seine Pferde angeboten hatte, hatten sich über seinen Luxus geärgert; von ihrer Undankbarkeit überrascht, hatte er ihnen diese Art Demütigung erspart; von da an hielten sie sich für verachtet und warfen ihm Dünkel vor. Während er so auf dem Grund der Herzen las, konnte er ihre geheimsten Regungen entziffern; die Gesellschaft, ihre Höflichkeit, ihr Firnis waren ihm widerwärtig. Weil er reich und geistig überlegen war, wurde er beneidet und gehaßt; seine Schweigsamkeit enttäuschte die Neugier; seine Bescheidenheit schien diesen kleinlichen, oberflächlichen Leuten Hochmut. Er kannte jetzt das verborgene, das nicht wiedergutzumachende Verbrechen, das er gegen sie begangen hatte: er entzog sich dem Urteilsspruch ihrer Mittelmäßigkeit. Er lehnte sich gegen ihren zudringlichen Despotismus auf, er brauchte sie nicht; um sich für dieses heimliche Königtum zu rächen, hatten sich alle instinktiv verbündet, um ihn ihre Macht spüren zu lassen, ihn einer Art Scherbengericht zu unterwerfen und ihm zu zeigen, daß sie ihn gleichfalls nicht brauchten. Zuerst war er bei diesem Anblick der Welt voller Mitleid; aber bald schauderte ihn, wenn er an die seltsame Gabe dachte, die ihm so den körperlichen Schleier, unter dem die innere Natur geborgen ist, lüftete. Plötzlich senkte sich ein schwarzer Vorhang über dieses düstere Bild der Wahrheit, und er fand sich allein in der furchtbaren Einsamkeit, die das Los der Großen und Mächtigen ist. In diesem Augenblick überfiel ihn ein heftiger Hustenanfall. Anstatt ein einziges der gleichgültigen und banalen Worte zu vernehmen, mit denen die zufällig zusammengeführten Mitglieder der guten Gesellschaft wenigstens eine Art höfliches Mitleid heucheln, hörte er feindselige Rufe und leise gemurmelte Beschwerden. Die Gesellschaft gab sich nicht einmal mehr die Mühe, sich für ihn zu verstellen, vielleicht weil er sie doch durchschaut hätte.

»Seine Krankheit ist ansteckend.« – »Die Direktion müßte ihm verbieten, ins Kurhaus zu kommen.« – »Es ist ja wahrhaftig polizeiwidrig, so zu husten!« – »Jemand, der so krank ist, soll nicht ins Bad reisen.« – »Er wird mir den Aufenthalt verleiden.«

Raphael stand auf, um sich der allgemeinen Verwünschung zu entziehen, und ging im Saal auf und ab. Er wollte einen Schutz finden und näherte sich einer jungen Dame, die gelangweilt dasaß; er dachte, ihr einige Schmeicheleien zu sagen, aber als er herantrat, wandte sie ihm den Rücken und tat so, als sähe sie den Tänzern zu. Raphael fürchtete, an diesem Abend seinen Talisman schon gebraucht zu haben; er fühlte weder den Willen noch den Mut, ein Gespräch zu beginnen, so verließ er den Salon und zog sich in das Billardzimmer zurück. Da sprach niemand mit ihm, keiner grüßte ihn oder warf ihm auch nur den kürzesten wohlwollenden Blick zu. Sein von Natur aus nachdenklicher Geist enthüllte ihm wie in einer Eingebung die allgemeine und verständliche Ursache der Abneigung, die er hervorgerufen hatte. Diese kleine Welt gehorchte, vielleicht unbewußt, dem großen Gesetz, das die vornehme Gesellschaft regiert, deren unversöhnliche Moral sich vor Raphaels Augen völlig enthüllte. Er sah in die Vergangenheit zurück und erkannte das vollendete Urbild dieser Gesellschaft in Fœdora. Er konnte bei dieser Gesellschaft nicht mehr Mitgefühl für seine Leiden finden als bei Fœdora für die Qualen seines Herzens. Die feine Gesellschaft verbannt die Unglücklichen aus ihrer Mitte, wie ein Gesunder einen Krankheitsträger aus seinem Körper abstößt. Die Welt verabscheut Schmerzen und Unglück; sie fürchtet sie wie eine ansteckende Krankheit, und nie schwankt sie zwischen ihnen und den Lastern; das Laster ist ein Luxus. Wie erhaben ein Unglück auch sein mag, die Gesellschaft weiß es herabzuwürdigen, es durch ein Witzwort lächerlich zu machen; sie zeichnet Karikaturen, um den entthronten Königen den Schimpf an den Kopf zu werfen, den sie von ihnen erlitten zu haben glaubt; sie gleicht den jungen Römerinnen im Zirkus und begnadigt den gefallenen Gladiator nie; sie lebt von Gold und Boshaftigkeit. »Tod den Schwachen!« ist die Losung dieser Art Ritterorden, die es bei allen Völkern der Erde gibt; denn überall gibt es Reiche, und dieser Leitspruch ist tief in die Herzen eingegraben, die vom Reichtum verhärtet oder von aristokratischem Dünkel geschwollen sind. Man denke an die Kinder in einer Lehranstalt: das ist ein Bild der Gesellschaft im kleinen, aber ein Bild, das um so treffender ist, als es naiver und ehrlicher ist; stets gibt es da kleine Heloten, Menschenkinder, die zum Leiden und Dulden geschaffen sind und immer zwischen Verachtung und Mitleid stehen: ihrer ist das Himmelreich, sagt das Evangelium. Man steige auf der Stufenleiter der organischen Wesen noch etwas tiefer. Wenn unter dem Geflügel eines Hühnerhofs eins verletzt ist, dann hacken die anderen mit den Schnäbeln auf es ein, reißen ihm die Federn aus und töten es. Diesem Grundgedanken des Egoismus treu, geht die Welt gegen ein Unglück, das keck genug ist, ihre Feste zu stören, ihre Freuden zu trüben, mit grenzenloser Strenge vor. Wer am Körper oder an der Seele leidet, wem es an Geld oder an Macht fehlt, ist ein Paria. Er bleibe in seiner Verlassenheit! Überschreitet er ihre Grenzen, so findet er überall Kälte: frostige Blicke, frostiges Benehmen, kühle Worte, kalte Herzen. Er kann glücklich sein, wenn er da, wo er Tröstung suchte, nicht Schimpf und Schande erntet! Sterbende, bleibt in euren einsamen Betten! Greise, bleibt allein an eurem erloschenen Herd! Arme Mädchen ohne Mitgift, friert und brennt in euren leeren Dachstuben! Duldet die Welt einmal ein Unglück, dann nur, um es für ihren Gebrauch zurechtzumachen, daraus Gewinn zu schlagen, ihm einen Packsattel überzuschnallen, es an die Kandare zu nehmen, ihm eine Schabracke aufzulegen, es zu besteigen und ihren Spaß mit ihm zu treiben. Betrübte Gesellschaftsdamen, schafft euch vergnügte Gesichter an; ertragt die Launen eurer angeblichen Wohltäterin; tragt ihre Hunde spazieren; seid selbst ihre Affenpinscher, amüsiert sie, erratet ihre Wünsche und seid im übrigen still! Und du, König der Lakaien ohne Livree, gieriger Parasit, laß deinen Charakter zu Hause; verdaue genau so wie dein Gastgeber, weine seine Tränen, lache sein Lachen, sei entzückt über seine Witze; willst du dich über ihn lustig machen, warte, bis er in Staub gesunken ist. So ehrt die Welt das Unglück! Sie tötet es oder verjagt es, erniedrigt es oder kastriert es.

Diese Betrachtungen entsprangen Raphaels Innerem mit der Geschwindigkeit einer poetischen Eingebung; er blickte umher und fühlte die unheimliche Kälte, welche die Gesellschaft um sich verbreitete, um das Elend zu entfernen, und die noch eisiger durch die Seele fährt als der Nordwind im Dezember durch die Glieder. Er kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Wand und versank in tiefe Schwermut. Er dachte, wie wenig Glück diese gräßliche soziale Ordnung der Welt verschaffte. Was denn schon? Vergnügen ohne Freude, Lustigkeit ohne Lust, Feste ohne Heiterkeit, Raserei ohne Rausch, kurz, das Holz oder die Asche eines Herdes, aber ohne den Funken, der die Flamme entzündete. Als er den Kopf hob, sah er, daß er allein war, die Spieler waren entflohen. »Ich brauchte ihnen nur meine Macht zu enthüllen, und sie würden meinen Husten anbeten!« sagte er bei sich. Mit diesen Worten warf er seine Verachtung wie einen Mantel zwischen sich und die Welt.

Am nächsten Tag besuchte ihn der Badearzt mit besorgtem Gesicht und erkundigte sich nach seinem Befinden. Raphael verspürte eine Regung der Freude, als er die teilnahmsvollen Worte hörte, die an ihn gerichtet waren. Er fand die Mienen des Arztes sanft und gütig, aus den Locken seiner blonden Perücke wehte Menschenfreundlichkeit, der Schnitt seines karierten Rockes, die Falten seiner Hose, seine breiten Quäkerstiefel, alles, sogar der Puder, der aus seinem kleinen Zopf kreisförmig auf den leichtgebeugten Rücken gefallen war, sprach von einem apostolischen Charakter, drückte die christliche Nächstenliebe und die Hingabe eines Mannes aus, der sich aus Eifer für seine Patienten angewöhnt hatte, so gut Whist undWhist: aus England stammendes Kartenspiel mit 52 Blättern und meist vier Spielern TricktrackTricktrack: beliebtes Brettspiel zwischen zwei Personen, das mit zwei Würfeln und je fünfzehn weißen und schwarzen Steinen gespielt wurde zu spielen, daß er ihnen immer ihr Geld abnahm.

»Monsieur le Marquis«, sagte er, nachdem er lange mit Raphael geplaudert hatte, »ich hoffe, Ihre düstere Stimmung verscheuchen zu können. Ich kenne jetzt Ihre Konstitution gut genug, um sagen zu dürfen: die Ärzte von Paris, deren großes Können mir bekannt ist, haben sich in der Natur Ihrer Krankheit getäuscht. Wenn nichts dazwischenkommt, Monsieur le Marquis, können Sie so alt werden wie Methusalem. Ihre Lungen sind so kräftig wie die Blasebälge in einer Schmiede, und Ihr Magen könnte es mit einem Straußenmagen aufnehmen; aber wenn Sie in einem Klima mit dünner Luft bleiben, laufen Sie Gefahr, schnell und sicher in geweihte Erde zu kommen. Monsieur le Marquis werden mich in zwei Wochen verstehen. Die Chemie hat bewiesen, daß die Atmung des Menschen ein richtiger Verbrennungsprozeß ist, dessen größere oder geringere Stärke von übermäßig oder spärlich vorhandenen Brennstoffen abhängt, welche in dem besonderen Organismus jedes Individuums angesammelt werden. Bei Ihnen ist Brennstoff im Überfluß da; Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, infolge des feurigen Naturells der zu großen Leidenschaften fähigen Menschen überreich mit Sauerstoff versehen. Wenn Sie die starke und reine Luft atmen, die bei den Menschen mit schlaffen Fibern das Leben beschleunigt, dann beschleunigen Sie den Verbrennungsprozeß, der ohnehin schon zu rasch ist. Zu Ihren Existenzbedingungen gehört also die dicke Luft der Ställe und Täler. Jawohl, die Lebensluft für einen vom Genie verzehrten Mann findet man auf den fetten Weiden Deutschlands, in Baden-Baden oder Teplitz. Wenn Ihnen England nicht zu unangenehm ist, so könnte sein Nebelklima Ihre Siedeglut löschen; aber unser Bad, das tausend Fuß über dem Spiegel des Mittelmeers liegt, ist unheilvoll für Sie. Das ist meine Ansicht«, schloß er mit einer bescheidenen Handbewegung, »ich vertrete sie gegen unsere Interessen; denn wenn Sie diese befolgen, haben wir das Unglück, Sie zu verlieren.«

Ohne diese letzten Worte wäre Raphael durch die falsche Gutmütigkeit des honigsüßen Arztes getäuscht worden; aber er war ein zu guter Beobachter, um nicht aus dem Ton, der Handbewegung, dem Blick und dem leisen Spott, mit denen dieser Satz gesprochen wurde, die Mission zu erraten, die dem kleinen Mann ohne Frage von der Gesellschaft seiner vergnügten Patienten aufgebürdet worden war. Diese Müßiggänger mit dem blühenden Aussehen, diese gelangweilten alten Weiber, diese vagabundierenden Engländer, diese Bürgerweibchen, die ihren Ehemännern entwischt und von ihrem Geliebten ins Bad entführt worden waren, unternahmen es also, einen armen, schwachen, hinfälligen Kranken, der dem Tode geweiht war und unfähig schien, sich gegen tägliche Verfolgung zu wehren, aus dem Bad zu vertreiben! Raphael nahm den Kampf auf. Diese Intrige machte ihm Vergnügen.

»Da Sie über meine Abreise so unglücklich wären«, antwortete er dem Arzt, »will ich versuchen, mir Ihren guten Rat zunutze zu machen und doch hierzubleiben. Ich werde mir ein Haus bauen lassen, in dem wir die Luft Ihrer Verordnung entsprechend modifizieren, und werde gleich morgen darangehen.«

Der Doktor verstand das Lächeln bitteren Spottes, das um Raphaels Lippen schwebte, und empfahl sich, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden.

Der See von Bourget ist ein weites, zerklüftetes Gebirgsbecken, 700-800 Fuß über dem Mittelmeer, ein Wassertropfen von einem so leuchtenden Blau wie kein zweiter in der Welt. Sieht man von der Höhe des Dent-du-Chat auf den See hinunter, so liegt er wie ein verlorener Türkis da. Dieser reizende Wassertropfen hat neun Meilen Umfang und ist an manchen Stellen beinahe 500 Fuß tief. Wenn man unter einem strahlenden Himmel in einem Boot auf dieser Wasserfläche dahinfährt, nichts hört als das Klatschen der Ruder, am Horizont nichts sieht als umwölkte Berge, wenn man sich des glitzernden Schnees der französischen MaurienneMaurienne: Alpenregion in Savoyen erfreut, bald an Granitblöcken vorübergleitet, die Farnkraut oder Zwerggesträuch in ein grünes Samtkleid hüllt, bald an lachenden Hängen, auf der einen Seite Öde, auf der anderen üppige Natur, ein Armer beim Gastmahl eines Reichen, bilden diese Harmonien und Dissonanzen ein Schauspiel, in dem alles groß, in dem alles klein ist. Der Anblick der Berge ändert die Bedingungen der Optik und Perspektive: eine Tanne, die 100 Fuß hoch ist, sieht wie ein Schilfrohr aus, weite Täler eng wie schmale Pfade. Dieser See ist der einzige, auf dem man traulich von Herz zu Herz sprechen kann. Hier kann man sinnen und lieben. Nirgends trifft man ein schöneres Einvernehmen zwischen Wasser, Himmel, Bergen und Erde. Auf ihm findet man Balsam für jeden Kummer des Lebens. Dieser Ort bewahrt das Geheimnis des Leides, er tröstet und verringert es, der Liebe verleiht er etwas Ernstes, Andächtiges, das die Glut tiefer und reiner macht. Ein Kuß steigert sich dort zur Seligkeit. Aber vor allem ist er der See der Erinnerungen; er ist ihnen hold, gibt ihnen die Farbe seiner Wellen, ist ihnen ein Spiegel, in dem alles erscheint. Raphael ertrug seine Bürde nur in dieser schönen Landschaft. Hier konnte er unbekümmert, träumerisch und wunschlos sein. Nach dem Besuch des Arztes ging er spazieren und ließ sich nach der einsamen Spitze eines hübschen Hügels übersetzen, auf dessen Höhe das Dorf Saint-Innocent liegt. Von dieser Art Vorgebirge aus umfängt der Blick die Berge von Bugey, an deren Fuß die Rhône fließt, und das Ende des Sees; von hier aus betrachtete Raphael gern die melancholisch anmutende Abtei Haute-Combe auf dem gegenüberliegenden Ufer, die Begräbnisstätte der Könige von Sardinien, die zu Füßen der Berge ruhten wie Pilger, die am Ziel ihrer Reise angelangt sind. Ein gleichmäßiger, rhythmischer Ruderschlag störte den Frieden der Landschaft und lieh ihr eine monotone Stimme, die an die Litaneien der Mönche erinnerte. Der Marquis war erstaunt, in diesem Teil des Sees, der für gewöhnlich einsam war, Gesellschaft anzutreffen, und wandte, ohne sein Träumen aufzugeben, seine Aufmerksamkeit den Personen zu, die in dem Boot saßen. Er erkannte auf der hinteren Bank die alte Dame, die ihn am Abend zuvor so hart angelassen hatte. Als der Kahn an Raphael vorüberfuhr, wurde er nur von der Gesellschafterin dieser Dame gegrüßt, einer armen Adligen, die er zum erstenmal zu sehen glaubte. Nach ein paar Augenblicken schon hatte er die Gesellschaft vergessen, die schnell hinter dem Vorgebirge verschwunden war, als er in seiner Nähe das Rascheln eines Kleides und leichte Tritte hörte. Er wandte sich um und erblickte die Gesellschafterin; an ihrer verlegenen Miene merkte er, daß sie ihn sprechen wollte, und näherte sich ihr. Sie war sechsunddreißig Jahre alt, groß und dürr, vertrocknet und kühl, und wie alle alten Jungfern recht beklommen von seinem Blick, der mit einem unsicheren, zögernden Gang ohne Elastizität nicht mehr übereinstimmen wollte. Weder alt noch jung, gab sie durch eine gewisse würdevolle Haltung zu erkennen, welch hohen Wert sie auf ihre Tugenden und Eigenschaften legte. Sie hatte übrigens die stillen und klösterlichen Bewegungen der Frauen, die nur mit sich selbst zärtlich umzugehen pflegen, gewiß um der Liebe, die ihre Bestimmung ist, nicht zu erliegen.

»Monsieur le Marquis, Ihr Leben ist in Gefahr, kommen Sie nicht mehr ins Kurhaus!« sagte sie zu Raphael und wich dabei ein paar Schritte zurück, als wäre ihre Tugend schon in Gefahr.

»Aber bitte, Mademoiselle«, erwiderte Valentin lächelnd, »wollen Sie sich nicht deutlicher erklären, wenn Sie schon die Freundlichkeit hatten, hierherzukommen?«

»Oh!« gab sie zurück, »wäre es nicht eine so wichtige Sache, hätte ich nie gewagt, die Ungnade von Madame la Comtesse auf mich zu lenken, denn wenn sie jemals erführe, daß ich Sie gewarnt habe . . .«

»Und wer sollte es ihr sagen?« rief Raphael.

»Das ist wahr«, versetzte das alte Fräulein und warf ihm einen scheuen Blick zu, wie ein Käuzchen, das der Sonne ausgesetzt wird.

»Aber denken Sie an sich«, fügte sie hinzu; »mehrere junge Leute, die Sie aus dem Bade vertreiben wollen, haben abgesprochen, Sie zu provozieren und Sie zu zwingen, sich zu duellieren.«

Aus der Ferne hörte man die Stimme der alten Dame.

»Mademoiselle«, sagte der Marquis, »meinen Dank . . .«

Seine Gönnerin war bereits geflüchtet, als sie die Stimme ihrer Herrin hörte, die abermals aus den Felsen gellte.

»Armes Mädchen! Die Unglücklichen verstehen und helfen einander immer«, dachte Raphael, während er sich unter einen Baum setzte.

Der Schlüssel zu allen Wissenschaften ist unbestritten das Fragezeichen; wir verdanken die meisten großen Entdeckungen dem Wie, und die Lebensweisheit besteht vielleicht darin, sich bei jeder Gelegenheit zu fragen: Warum. Aber das künstliche Vorherwissen zerstört auch unsere Illusionen. So hatte Valentin, ohne lange philosophische Erwägung, die gute Tat der alten Jungfer zum Gegenstand seiner unsteten Gedanken gemacht und fand lauter Galle darin.

»Daß ich von einer Gesellschaftsdame geliebt werde«, dachte er sich, »ist kein Wunder; ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, bin Marquis und habe zweimal 100 000 Livres im Jahr! Aber daß ihre Herrin, die den Katzen die Palme der Wasserscheu streitig macht, sie im Boot in meine Nähe geführt hat, ist das nicht seltsam, fast wunderbar? Diese beiden Frauenzimmer, die nach Savoyen gekommen sind, um hier wie Murmeltiere zu schlafen, die des Mittags fragen, ob schon Tag ist, sollten heute vor acht Uhr aufgestanden sein, um dieses Wagstück, mich aufzuspüren, zu unternehmen!«

Bald war diese alte Jungfer und ihre vierzigjährige Unschuld in seinen Augen eine neue Verwandlung dieser künstlichen und tückischen Welt, eine elende List, ein täppisches Komplott, eine boshafte Spitzfindigkeit, die ein Priester oder eine Frau ersonnen hatte. War das Duell ein Märchen, oder wollte man ihm nur Angst einjagen? Diese dürftigen Seelen, die frech und aufdringlich wie Fliegen waren, durften sich rühmen, seine Eitelkeit erregt, seinen Stolz geweckt, seine Neugier gekitzelt zu haben. Er wollte weder ihr Narr sein noch als Feigling gelten, und da ihn diese Posse zu amüsieren anfing, ging er noch am nämlichen Abend ins Kurhaus. Er stützte sich auf den Marmor des Kamins und blieb ruhig in der Mitte des großen Salons stehen, sorgsam bedacht, sich keine Blöße zu geben; aber er prüfte die Mienen und bot vielleicht gerade durch diese Umsicht der Gesellschaft die Stirn. Wie eine Dogge, die ihrer Kraft sicher ist, wartete er den Kampf ruhig ab, ohne unnütz zu bellen. Gegen Ende des Abends schlenderte er durch den Spielsalon bis zur Tür des Billardzimmers, von wo aus er von Zeit zu Zeit einen Blick auf die jungen Leute warf, die dort eine Partie spielten. Nach kurzer Zeit hörte er seinen Namen nennen. Obwohl sie leise sprachen, erriet Raphael doch sofort, daß sich der Disput um ihn drehte, und schließlich hörte er einige Sätze, die laut gesprochen wurden: »Du?« – »Ja, ich!« – »Ich trau dirs nicht zu!« »Wollen wir wetten?« – »Oh! Es gilt!« Als Valentin, der neugierig war zu hören, worum sich diese Wette drehte, stehenblieb, um das Gespräch besser zu hören, trat ein großer, kräftiger junger Mann von gutmütigem Aussehen, aber mit dem festen, unverschämten Blick der Leute, die sich auf irgendeine materielle Macht stützen, vom Billard her auf ihn zu.

»Monsieur«, sagte er ruhigen Tones zu Raphael, »ich habe es auf mich genommen, Ihnen etwas beizubringen, was Sie nicht zu wissen scheinen: Ihr Gesicht und Ihre Person mißfallen hier jedermann und mir im besonderen. Sie sind zu gut erzogen, um sich nicht dem allgemeinen Wohl zu opfern; ich ersuche Sie daher, sich nicht mehr im Kurhaus zu zeigen.«

»Dieser Scherz, Monsieur«, erwiderte Raphael kalt, »machte schon zur Zeit des Kaisers in mehreren Garnisonen die Runde. Heutzutage zeugt er von einem äußerst schlechten Benehmen.«

»Ich scherze nicht«, erwiderte der junge Mann; »ich wiederhole Ihnen: wenn Sie hierherkommen, leidet Ihre Gesundheit; die Hitze, die Lichter, die schlechte Luft im Saal, die Gesellschaft, all das muß bei Ihrem Leiden schädlich sein.«

»Wo haben Sie Medizin studiert?«

»Ich habe den Bakkalaureus im Schießen bei Lepage in Paris gemacht und den Doktor bei Grisier, dem König des Floretts.«

»Der letzte Grad fehlt Ihnen noch, studieren Sie das Gesetzbuch des guten Tons, und Sie werden ein vollkommener Edelmann.«

Jetzt verließen die jungen Leute, teils lachend, teils schweigend, das Billard. Die anderen Spieler wurden aufmerksam und ließen ihre Karten im Stich, um Zeugen eines Streits zu sein, der sie angenehm kitzelte. Raphael stand inmitten dieser Versammlung von Feinden allein da; er gab sich Mühe, kaltes Blut zu bewahren und nicht die geringste Unbesonnenheit zu begehen; aber als sein Gegner sich eine sarkastische Bemerkung erlaubte, die in einer äußerst schneidenden und witzigen Form eine grobe Beleidigung verbarg, antwortete er ihm ernst: »Monsieur, es ist heutzutage nicht mehr gestattet, jemandem eine Ohrfeige zu geben, aber ich finde kein Wort, um ein so erbärmliches Benehmen wie das Ihre zu brandmarken.«

»Genug! genug! Sie können sich morgen erklären!« riefen einige junge Leute und trennten die Streitenden.

Raphael galt als Beleidiger. Als er den Salon verließ, war vereinbart, daß man sich in der Nähe des Schlosses Bordeau, auf einer kleinen Bergwiese, treffen wollte, die unweit einer neuen Straße gelegen war, auf welcher der Sieger Lyon erreichen konnte. Es blieb Raphael nichts übrig, als entweder das Bett zu hüten oder die Bäder von Aix zu verlassen. Die Gesellschaft triumphierte. Am nächsten Morgen gegen acht Uhr traf Raphaels Gegner in Begleitung von zwei Zeugen und einem Wundarzt zuerst an Ort und Stelle ein.

»Der Platz ist gut; das Wetter ist famos, um sich zu schlagen!« rief er fröhlich. Er blickte auf das blaue Himmelsgewölbe, das Wasser des Sees und die Felsen, ohne einen Hauch von Zweifel oder Besorgnis. »Wenn ich ihn an der Schulter treffe«, fuhr er fort, »schicke ich ihn dann wohl für einen Monat ins Bett, nicht wahr, Doktor?«

»Mindestens«, erwiderte der Wundarzt. »Aber lassen Sie die kleine Weide da in Ruhe; sonst ermüden Sie Ihre Hand und haben Ihren Schuß nicht in der Gewalt. Sie könnten Ihren Gegner töten, statt ihn zu verwunden.«

Man hörte das Rasselns eines Wagens.

»Da ist er!« sagten die Zeugen. Bald sah man auf der Straße einen vierspännigen Reisewagen, der von zwei Postillionen gelenkt wurde.

»Sonderbare Art!« rief Valentins Gegner. »Er will sich auf der Reise töten lassen.«

Bei einem Duell wie beim Spiel haben auch die geringsten Nebensächlichkeiten auf die Phantasie der Teilnehmer, die am Erfolg ihrer Sache stark interessiert sind, großen Einfluß; der junge Mann erwartete daher mit einer gewissen Ungeduld die Ankunft dieses Wagens, der auf der Straße hielt. Zuerst stieg der alte Jonathas schwerfällig aus, um Raphael beim Aussteigen zu helfen; er stützte ihn mit seinen schwachen Armen und entfaltete dabei die peinliche Sorgfalt eines Liebenden für seine Liebste. Die beiden verloren sich dann auf den Fußwegen, die die Landstraße von dem Kampfplatz trennten, und kamen erst lange nachher wieder zum Vorschein: sie gingen langsam. Die vier Zuschauer dieser seltsamen Szene waren tiefbewegt, als sie Valentin, auf den Arm seines Dieners gestützt, heraufkommen sahen; bleich und erschöpft kam er mühsam näher, hielt den Kopf gesenkt und sprach kein Wort. Man konnte die beiden für zwei Greise halten, die in gleichem Maße zerrüttet waren: der eine durch die Zeit, der andere durch den Geist; dem einen stand sein Alter auf seine weißen Haare geschrieben, der jüngere hatte kein Alter mehr.

»Monsieur, ich habe nicht geschlafen!« sagte Raphael zu seinem Gegner.

Diese eisigen Worte und der fürchterliche Blick, der sie begleitete, ließen den wirklichen Herausforderer erzittern; sein Unrecht wurde ihm bewußt, und er schämte sich insgeheim seines Benehmens. Es lag in der Haltung, dem Klang der Stimme und den Bewegungen Raphaels etwas Seltsames. Der Marquis schwieg eine Weile, und jeder folgte seinem Schweigen. Unruhe und Spannung hatten ihren Höhepunkt erreicht.

»Es ist Zeit«, fuhr Raphael dann fort, »mir eine leichte Satisfaktion zu geben; gewähren Sie sie mir; sonst werden Sie sterben. Sie zählen in diesem Augenblick noch auf Ihre Geschicklichkeit und schrecken nicht vor einem Kampf zurück, der Ihnen jeden Vorteil zu bieten scheint. Nun, Monsieur, ich bin großzügig, ich warne Sie vor meiner Überlegenheit. Ich besitze eine schreckliche Macht. Um Ihre Geschicklichkeit zunichte zu machen, Ihre Blicke zu verschleiern, Ihre Hand zum Zittern zu bringen und Ihr Herz verzagt zu machen, ja selbst um Sie zu töten, brauche ich es nur zu wünschen. Ich will nicht genötigt sein, meine Macht zu gebrauchen, es kostet mich zuviel, sie auszuüben. Sie werden nicht der einzige sein, der sterben muß. Wenn Sie es also ablehnen, sich bei mir zu entschuldigen, wird Ihre Kugel trotz all Ihrer Übung im Morden in diesen Wasserfall fliegen, meine indessen, ohne daß ich ziele, mitten in Ihr Herz.«

Bei diesen Worten wurde Raphael von Stimmengewirr unterbrochen. Der Marquis hatte, während er diese Worte sprach, auf seinen Gegner beständig die unerträgliche Klarheit seines starren Blickes gerichtet, er stand aufgereckt mit undurchdringlichem Gesicht und sah aus wie ein zu allem entschlossener Wahnsinniger.

»Bring ihn zum Schweigen«, hatte der junge Mann zu einem seiner Sekundanten gesagt, »seine Stimme geht mir durch Mark und Bein!«

»Hören Sie auf, Monsieur. Ihre Reden sind unnütz!« riefen die Zeugen und der Wundarzt Raphael zu.

»Messieurs, ich erfülle eine Pflicht. Hat der junge Mann noch Verfügungen zu treffen?«

»Genug! Genug!«

Der Marquis blieb unbeweglich stehen, ohne seinen Gegner einen Augenblick aus den Augen zu lassen, der, von einer fast magischen Gewalt bezwungen, dastand wie ein Vogel vor einer Schlange: gezwungen, diesen mörderischen Blick zu ertragen, er floh ihn und wandte sich ihm doch immer wieder zu.

»Gib mir Wasser, ich habe Durst«, sagte er zu seinem Zeugen.

»Hast du Angst?«

»Ja«, antwortete er; »das Auge dieses Menschen ist brennend und macht mich verrückt.«

»Willst du dich bei ihm entschuldigen?«

»Es ist zu spät.«

Die beiden Gegner wurden einander auf 15 Schritt Entfernung gegenübergestellt. Sie hatten jeder ein Paar Pistolen bei sich, und nach dem vereinbarten Ablauf dieser Zeremonie sollten sie, nachdem die Zeugen das Zeichen gegeben hatten, nach Belieben jeder zwei Schüsse abfeuern.

»Was machst du, Charles?« rief der junge Mann, der Raphaels Gegner als Sekundant diente, »du schiebst die Kugel ein und hast noch kein Pulver drin!«

»Es ist mein Tod!« gab er zurück; »ihr habt mich so gestellt, daß mich die Sonne blendet.«

»Sie haben sie hinter sich«, sagte Valentin mit ernster, feierlicher Stimme. Er lud langsam seine Pistole und ließ sich weder durch das Zeichen, das schon gegeben war, noch durch die Sorgfalt, mit der sein Gegner auf ihn zielte, beirren.

Diese übernatürliche Sicherheit hatte etwas Furchterregendes, das selbst die beiden Postillione, die aus grausamer Neugier herbeigekommen waren, entsetzte. Ob er nun mit seiner Macht spielen oder sie erproben wollte, Raphael sprach mit Jonathas und sah ihn in dem Augenblick an, wo sein Gegner feuerte. Die Kugel zerriß einen Weidenzweig und klatschte ins Wasser. Raphael schoß aufs Geratewohl los, traf seinen Gegner ins Herz und zog schnell, ohne den zusammensinkenden jungen Mann weiter zu beachten, das Chagrinleder hervor, um zu sehen, was ihn ein Menschenleben kostete. Der Talisman war nur noch so groß wie ein kleines Eichenblatt.

»Nun, was habt ihr da zu glotzen, Postillione? Auf den Wagen! Vorwärts!« rief der Marquis.

Er langte noch am Abend in Frankreich an, reiste sofort in die Auvergne weiter und begab sich in die Bäder des Mont-Dore. Auf dieser Reise stieg aus seinem Herzen eine jener plötzlichen Eingebungen, die, wie ein Sonnenstrahl durch dicke Wolken auf ein dunkles Tal, unerwartet in unsere Seele fallen. Trauriges Licht, unerbittliche Erkenntnis! Sie erhellt, was geschehen ist, enthüllt uns unsere Fehler, und gnadenlos sehen wir uns selbst. Er begriff mit einem Mal, daß der Besitz einer Macht, mochte sie noch so gewaltig sein, nicht die Weisheit verlieh, sich ihrer zu bedienen. Das Zepter ist ein Spielzeug für ein Kind, eine Axt für Richelieu und für Napoleon ein Hebel, um die Welt aus den Angeln zu heben. Die Macht läßt uns, wie wir sind, nur die Großen macht sie noch größer. Raphael hätte alles tun können und hatte nichts getan.

In den Bädern des Mont-Dore traf er wieder die Gesellschaft, die sich stets eilig vor ihm zurückzog, wie die Tiere einen tot daliegenden Artgenossen fliehen, sobald sie ihn von weitem gewittert haben. Dieser Haß war gegenseitig. Sein letztes Abenteuer hatte ihn mit einer tiefen Abscheu vor der Gesellschaft erfüllt. So war es denn seine erste Sorge, eine von den Menschen weit abgelegene Bleibe in der Nähe der Bäder zu suchen. Er fühlte instinktiv das Bedürfnis, sich der Natur zu nähern und sich den wahren Empfindungen und einem gleichsam vegetativen Leben zu überlassen, wie wir es auf dem Land so gern tun. Am Tage nach seiner Ankunft erstieg er, nicht ohne Mühe, den Pic de Sancy und suchte die hochgelegenen Täler auf, die luftigen Höhen, die unbekannten Seen, die ländlichen Hütten auf diesem Gebirgszug, dessen herbe und wilde Schönheiten die Pinsel unserer Künstler zu locken beginnen. Manchmal finden sich da wunderbare Landschaften voller Anmut und Frische, die sich malerisch von dem düsteren Anblick der öden Berge abheben. Etwa eine halbe Meile von dem Dorf entfernt entdeckte Raphael eine Stelle, wo die Natur, schelmisch und mutwillig wie ein Kind, offenbar Vergnügen daran gefunden hatte, Schätze zu verbergen; als er diese zauberhaft schöne, unberührte Einsamkeit erblickte, beschloß er, hier zu leben. Hier mußte das Leben ruhig, ursprünglich und gedeihlich sein wie das einer Pflanze.

Man stelle sich einen umgedrehten Kegel vor, aber einen Kegel aus Granit, der, stark erweitert, eine Art Becken bildete, dessen Ränder durch bizarre Unebenheiten zerfetzt sind: hier flache, bläulich schimmernde Tafeln ohne Vegetation, auf denen die Sonnenstrahlen aufgleißen wie auf einem Spiegel; dort zerklüftete, von Schluchten zerrissene Felswände, von denen Lavablöcke herabhingen, deren Sturz die Regengüsse langsam vorbereiteten, zuweilen krönten sie ein paar verkrüppelte, von den Winden gepeitschte Bäume; hie und da ragte auf den düster schattigen kühlen Felsbänken ein Gehölz mit Kastanienbäumen empor, hoch wie Zedern; gelbliche Grotten öffneten einen schwarzen, tiefen Schlund, den Brombeersträucher und Blumen umrankten und eine grüne Zunge zierte. Auf dem Grund dieses Beckens, wahrscheinlich der erloschene Krater eines Vulkans, befand sich ein kleiner See, dessen klares Wasser wie ein Diamant erstrahlte. Um dieses tiefe, von Granit, Weiden, Schwertlilien, Eschen und tausenderlei duftenden, in voller Blüte prangenden Pflanzen gesäumte Becken dehnte sich eine grüne Wiese wie ein englischer Rasen; ihr zartes, schmiegsames Gras nahm das Wasser auf, das aus den Felsspalten sickerte, und wurde von den pflanzlichen Überresten gedüngt, die die Stürme von den hohen Gipfeln unablässig in die Tiefe trieben. Unregelmäßig gezackt wie der Spitzensaum eines Frauengewandes mochte der Weiher etwa drei Morgen groß sein; je nach dem Platz, den die hervortretenden Felswände oder die Krümmungen der Wasserfläche ihr ließen, war die Wiese einen oder zwei Morgen breit; an einigen Stellen allerdings war kaum so viel Platz, daß die Kühe hindurchgelangen konnten. In einer bestimmten Höhe hörte der Pflanzenwuchs auf. Der Granit ragte in den absonderlichsten Formen gen Himmel und zeigte die dunstigen Töne, welche die hohen Berge Wolken gleichen lassen. Dem lieblichen Anblick des kleinen Tales setzten diese kahlen, nackten Felsen das wilde, trostlose Bild der Öde entgegen, des Schreckens der Bergstürze und so phantastischer Formen, daß einer dieser Felsen »der Kapuziner« genannt wird, so sehr ähnelt er einem Mönch. Je nach dem Stand der Sonne oder den Launen der Atmosphäre leuchteten diese spitzen Nadeln, diese kühnen Pfeiler, diese luftigen Höhlen zuweilen auf und schimmerten golden, färbten sich purpurn, tief rosa, oder nahmen trübe oder graue Töne an. Diese Höhen boten ständig ein wechselndes Farbenspiel, wie das schillernde Gefieder auf dem Hals der Tauben. Oft drang zwischen zwei Lavablöcke, die aussahen, als hätte sie ein Beil auseinandergehauen, in der Morgenröte oder beim Sonnenuntergang ein froher Lichtstrahl in dieses lachende Schmuckkörbchen, wo er auf den Wassern des Teiches spielte, ähnlich dem goldenen Streifen, der durch den Spalt eines Fensterladens in ein spanisches Zimmer dringt, das man sorgfältig für die Siesta geschlossen hat. Wenn die Sonne über dem alten Krater stand, der von irgendeiner vorsintflutlichen Revolution her mit Wasser gefüllt war, erwärmten sich die schroffen Felswände, der alte Vulkan entbrannte, und seine plötzliche Glut erweckte in diesem unbekannten Fleckchen Erde die Keime, ließ einen üppigen Pflanzenwuchs gedeihen, färbte die Blumen und reifte die Früchte. Als Raphael dorthin kam, erblickte er einige Kühe, die auf der Wiese weideten; nachdem er ein paar Schritte zum See getan hatte, gewahrte er an der Stelle, wo das Tal am breitesten war, ein bescheidenes Haus, das aus Granit erbaut und mit Schindeln gedeckt war. Das Dach dieser Hütte fügte sich in die Landschaft ein: es war mit Moos, Efeu und Blumen bewachsen, die auf ein hohes Alter schließen ließen. Dünner Rauch, vor dem die Vögel keine Scheu mehr hatten, stieg aus dem verfallenen Schornstein. Vor der Tür stand zwischen zwei riesigen Geißblattsträuchern, die, mit roten Blüten übersät, einen wundervollen Duft ausströmten, eine große Bank. Kaum sah man die Mauern unter den Ranken der Weinreben und den Gewinden der Rosen und des Jasmins, die ungehindert emporwucherten. Die Bewohner kümmerten sich nicht um diesen ländlichen Schmuck und ließen der Natur ihre jungfräuliche und elementare Anmut. Auf einem Johannisbeerstrauch waren Windeln zum Trocknen aufgehängt. Eine Katze hockte auf einem Gerät zum Flachsbrechen, darunter stand in einem Haufen Kartoffelschalen ein frisch gescheuerter gelber Kochkessel. Auf der anderen Seite des Hauses erblickte Raphael ein Gehege aus dürren Dornsträuchern, das offenbar die Hühner davon abhalten sollte, die Obststräucher und Gemüsebeete zu plündern. Die Welt schien hier zu Ende. Diese Kate glich jenen Vogelnestern, die sinnreich in eine Felshöhlung geklebt sind, kunstvoll und nachlässig zugleich. Hier war eine unberührte und gute Natur, eine echte, aber poetische Ländlichkeit, die gerade darum poetisch war, weil sie tausend Meilen von unseren gemalten Poesien entfernt blühte und keiner Idee, sondern – ein wahrer Triumph des Zufalls – nur sich selbst entsprang. Als Raphael dort anlangte, stand die Sonne zu seiner Rechten und ließ die bunten Farben der Pflanzen aufleuchten, die gelben und grauen Gründe der Felsen, das verschiedene Grün des Laubes, die roten, blauen und weißen Blütenmeere, die Schlingpflanzen mit ihren Glocken, den schimmernden Samt der Moose, die purpurnen Trauben des Heidekrauts, vor allem aber die klare Wasserfläche, in der sich die Granithäupter der Berge, die Bäume, das Haus und der Himmel getreulich spiegelten, scharf hervortreten oder schmückte das alles mit dem Zauber von Licht und Schatten. Auf diesem entzückenden Bild hatte alles seinen besonderen Glanz, von dem funkelnden Glimmer bis zu den gelben Grasbüscheln, die in einem sanften Helldunkel standen. Alles bot einen harmonischen Anblick: die gefleckte Kuh mit dem blanken Fell, die hauchzarten Wasserpflanzen, die aus einer Senke wie Fransen über dem Wasser hingen und von azurblau oder smaragdgrün schillernden Insekten umschwirrt wurden, und die Baumwurzeln, die kraus gewundenen sandigen Haarschöpfen glichen und ein unförmiges Steingesicht krönten. Der laue Duft des Wassers, der Blumen und der Grotten, der an diesem stillen Ort die Luft schwängerte, erregten in Raphael ein fast wollüstiges Gefühl. Das majestätische Schweigen, das in diesem Hain herrschte, der vielleicht sogar auf den Listen des Steuereinnehmers vergessen war, wurde plötzlich durch das Kläffen zweier Hunde unterbrochen. Die Kühe wandten den Kopf nach dem Eingang des Tales, streckten Raphael ihre feuchten Mäuler entgegen, und nachdem sie ihn stumpfsinnig angesehen hatten, grasten sie weiter. Eine Ziege und ihr Zicklein, die wie durch Zauberei Halt an den Felsen fanden, setzten in großen Sprüngen den Hang herab und hielten auf einer Granitplatte unweit von Raphael inne, als ob sie ihn ausfragen wollten. Das Bellen der Hunde lockte ein dickes Kind vor das Haus, wo es mit offenem Munde stehenblieb, dann erschien ein weißhaariger, untersetzter Greis. Diese beiden Gestalten standen mit der Landschaft, der Luft, den Blumen und dem Haus im Einklang. In dieser üppigen Natur strotzte alles von Gesundheit, Alter und Kindheit waren hier schön; kurz, alle Geschöpfe, die dort lebten, strahlten ein ursprüngliches Sichgehenlassen, eine Vertrautheit mit dem Glück aus, die unsere philosophischen Kapuzinerpredigten Lügen straften und das von seinen Leiden und Leidenschaften aufgeblähte Herz heilte. Der Greis schien eins von den Modellen, wie sie der männliche Pinsel von SchnetzSchnet, Jean-Victor (1787-1870): französischer Maler, 1840-1858 Direktor der französischen Akademie in Rom. liebt: ein wettergebräuntes Gesicht, dessen zahlreiche Falten hart und vertrocknet schienen, eine gerade Nase, hervorspringende Wangen, die wie ein herbstliches Weinblatt rot geädert waren, eckige Konturen, alle Anzeichen von Kraft, selbst da, wo die Kraft schon dahin war. Seine Hände waren schwielig, obwohl sie nicht mehr arbeiteten, und noch immer mit feinem weißen Haar bedeckt; seine wahrhaft freie, männliche Haltung ließ ahnen, daß er in Italien aus Liebe zu seiner kostbaren Freiheit vielleicht zum Räuber geworden wäre. Das Kind, ein wahres Kind der Berge, hatte schwarze Augen, die in die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln, dunkle Haut und einen wirren braunen Haarschopf. Es war flink, entschieden und natürlich in seinen Bewegungen wie ein Vogel; durch die Löcher seiner armseligen Kleidung schimmerte eine weiße und frische Haut. Alle beide blieben schweigend nebeneinander stehen; das gleiche Gefühl bewegte sie, und der Ausdruck ihrer Züge zeugte von der vollkommenen Übereinstimmung in ihrer beider gleichermaßen müßigem Leben. Der Greis hatte sich die Spiele des Kindes zu eigen gemacht und das Kind die Launen des Alten angenommen; eine Art Pakt zwischen zwei Schwachen, zwischen einer Kraft, die dem Ende zuging, und einer Kraft, die vor der Entfaltung stand. Bald zeigte sich eine etwa dreißigjährige Frau auf der Schwelle. Sie strickte im Gehen. Es war eine echte Auvergnatin, von lebhafter Gesichtsfarbe, mit offener, heiterer Miene und weißen Zähnen; sie hatte das Gesicht der Auvergne, den Wuchs der Auvergne, Haube und Tracht der Auvergne, die vollen Brüste der Auvergne und die Mundart der Auvergne; ein vollkommenes Idealbild des Landes, seiner arbeitsamen Sitten, seiner Unwissenheit, Sparsamkeit und Herzlichkeit; es fehlte nichts.

Sie grüßte Raphael, und es entspann sich ein Gespräch. Die Hunde beruhigten sich; der Greis setzte sich auf eine Bank in die Sonne, und das Kind wich seiner Mutter nicht von der Seite; es schwieg, aber hörte aufmerksam zu und sah den Fremden forschend an.

»Ihr fürchtet Euch hier nicht, gute Frau?«

»Und weshalb sollten wir Furcht haben, Monsieur? Wenn wir den Eingang versperren, wer sollte dann wohl hereinkönnen? Oh, wir haben keine Furcht! Übrigens« – damit ließ sie den Marquis in das große Zimmer des Hauses treten – »was sollten die Diebe denn bei uns holen?«

Sie wies auf die rauchgeschwärzten Wände, an denen als einziger Schmuck die blau, rot und grün kolorierten Stiche hingen: »Der Tod des Kredits«, »Die Passion Jesu Christi« und »Die Grenadiere der kaiserlichen Garde«. Weiterhin gab es in dem Zimmer ein altes Säulenbett aus Nußbaum, einen Tisch mit gedrechselten Beinen, Holzschemel, den Backtrog, eine Speckseite, die von der Decke baumelte, einen Salztopf, eine Pfanne und auf dem Kamin vergilbte, bemalte Gipsfiguren. Als er das Haus wieder verließ, sah Raphael auf den Felsen einen Mann, der eine Hacke in der Hand hielt, sich neugierig vorbeugte und auf das Haus sah.

»Sehen Sie Monsieur, da ist der Mann«, sagte die Auvergnatin. Dabei lächelte sie, wie man es an Bäuerinnen oft sieht. »Er arbeitet da oben.«

»Und der Alte ist Euer Vater?«

»Sie müssen schon entschuldigen, Monsieur, das ist der Großvater vom Mann. So wie Sie ihn da sehen, ist er hundertzwei Jahre alt. Nun, kürzlich hat er unseren kleinen Kerl zu Fuß nach Clermont geführt! Er war einmal ein starker Mann; jetzt tut er nichts mehr als essen, trinken und schlafen. Er macht sich immer mit dem kleinen Kerl zu schaffen. Manchmal führt der Kleine ihn auf den Berg; es geht immer noch.«

Sofort entschloß sich Valentin, bei diesem alten Mann und dem Kind zu leben, in ihrer Luft zu atmen, von ihrem Brot zu essen, von ihrem Wasser zu trinken, ihren Schlaf zu schlafen, ihr Blut durch seine Adern fließen zu lassen. Die Laune eines Sterbenden! Eine der Austern dieses Felsens zu werden, seine Schale noch einige Tage länger zu retten, indem er den Tod blind und taub machte, das wurde für ihn das Leitbild der individuellen Moral, die wahrhafte Formel des menschlichen Daseins, das schöne Ideal des Lebens, das einzige Leben, das wahre Leben. Ein inbrünstiger Egoismus bemächtigte sich seines Herzens, in dem das Universum versank. In seinen Augen gab es kein Universum mehr, das Universum war in ihm. Für einen Kranken fängt die Welt am Kopfkissen an und endet am Fußende des Bettes. Diese Landschaft wurde Raphaels Bett.

Wer hat nicht schon einmal in seinem Leben den Lauf und das Verhalten einer Ameise eifrig beobachtet; in das einzige Atemloch einer weißen Schnecke Strohhalme gesteckt; den launischen Flug einer schlanken Libelle verfolgt oder die tausend Äderchen bewundert, die sich, bunt wie die Rosette einer gotischen Kathedrale, auf den rötlichen Blättern einer jungen Eiche abzeichnen? Wer hat nicht eine geraume Weile entzückt die Wirkung der Sonne und des Regens auf ein braunes Ziegeldach betrachtet oder die Tautropfen, die Blütenblätter, ihre mannigfaltig gezackten Kelche beschaut? Wer war nicht schon in diese sinnlichen, trägen und hingegebenen Träume versunken, die kein Ziel haben und doch zu einem Gedanken führen? Wer schließlich hat nicht schon einmal das Leben des Kindes, das faule Leben, das Leben des Wilden ohne dessen tägliche Verrichtung geführt? So lebte Raphael mehrere Tage lang, ohne Sorgen, ohne Wünsche. Er fühlte sich merklich besser, fühlte ein außergewöhnliches Behagen, das seine Unruhe besänftigte, seine Qualen linderte. Er stieg auf die Felsen und setzte sich auf eine Bergspitze, von der aus sein Auge bis in die weite Ferne schaute. Da verbrachte er ganze Tage wie eine Pflanze in der Sonne, wie ein Hase auf seinem Lager. Oder er machte sich mit den Erscheinungen der Vegetation, mit den Veränderungen des Himmels vertraut, er beobachtete aufmerksam die fortschreitende Entwicklung auf der Erde, im Wasser oder in der Luft. Er versuchte sich mit dem inneren Leben dieser Natur zu verbinden und mit ihrem duldenden Gehorsam so völlig zu verschmelzen, daß er dem unumschränkten, zwingenden und erhaltenden Gesetz verfiel, das über den Geschöpfen, die dem Instinkt folgen, waltet. Er wollte nicht länger die Last seiner selbst tragen. Gleich den Verbrechern vergangener Zeiten, die, von der Justiz verfolgt, gerettet waren, wenn sie sich in den Schatten eines Altars geflüchtet hatten, versuchte er sich in das Heiligtum des Lebens einzuschleichen. Es gelang ihm, ein Teil dieses weiten und mächtigen Reifeprozesses der Natur zu werden: er hatte alle Unbilden der Witterung erfahren, in allen Höhlen der Felsen gehaust, die Eigenarten und Gewohnheiten aller Pflanzen kennengelernt, die Herkunft und den Verlauf der Quellen erforscht und mit den Tieren Bekanntschaft geschlossen; kurz, er war mit dieser belebten Erde so völlig eins geworden, daß er gewissermaßen ihre Seele erfaßt hatte und in ihre Geheimnisse eingedrungen war. Für ihn waren die unendlichen Formen in allen Reichen der Natur die Entwicklungen ein und derselben Substanz, die Kombinationen ein und derselben Bewegung, der weitreichende Atem eines ungeheuren Wesens, das wirkte, dachte, voranschritt, wuchs und mit dem er wachsen, voranschreiten, denken und wirken wollte. Er hatte sein Leben in romantischer Art mit dem Leben dieses Felsens vereint, war mit ihm verwachsen. Dank diesem geheimnisvollen Aufflackern, dieser künstlichen Genesung, die den wohltätigen Zuständen des Deliriums zu vergleichen war, mit denen die Natur dem Schmerz Pausen der Erleichterung bewilligt, kostete Valentin in den ersten Tagen seines Aufenthalts in dieser lachenden Landschaft die Wonnen einer zweiten Kindheit. Er lebte so in den Tag hinein, ergründete Nichtigkeiten, unternahm tausend Dinge, ohne eins zu vollenden, vergaß heute, was er gestern vorgehabt hatte, und war sorglos, war glücklich und glaubte sich gerettet. Eines Tages war er zufällig bis Mittag im Bett geblieben; er lag in eine der Träumereien versunken, die aus Schlaf und Wachen gemischt sind, die der Wirklichkeit den Anschein der Phantasie, den Trugbildern die Gestalt der Wirklichkeit verleihen, als er plötzlich, ohne daß er gleich wußte, ob er nicht weiterträumte, zum erstenmal den Bericht über sein Befinden mit anhörte, den seine Wirtin Jonathas mitteilte, der wie jeden Tag heraufgekommen war, um sich danach zu erkundigen. Die Auvergnatin glaubte wahrscheinlich, Valentin schlafe noch, und hielt es nicht für nötig, ihre schallende Stimme zu dämpfen.

»Es geht nicht besser und nicht schlechter«, sagte sie. »Er hat heute nacht wieder gehustet, als ob er seine Seele von sich geben wollte. Er hustet, er spuckt, der gute Monsieur, daß es ein Jammer ist. Wir fragen uns, ich und mein Mann, wo er die Kraft hernimmt, so zu husten. Es zerreißt das Herz. Was für eine verdammte Krankheit hat er! Gar nicht, ganz und gar nicht gut geht es! Ich hab immer Angst, er liegt eines Morgens starr und stumm in seinem Bett. Er ist wahrhaftig blaß wie ein wächserner Jesus! Oh je, ich sehe es, wenn er aufsteht, sein armer Leib ist klapperdürr. Und er riecht schon nicht gut, nee, wahrhaftig nicht! Das ist ihm piepe, er läuft herum und verbraucht seine Kräfte, als ob er noch Gesundheit zu verkaufen hätte. Dabei behält er trotzdem den Kopf oben und jammert niemals! Aber wahrhaftig, unterm Boden wär ihm wohler, er leidet ja zum Steinerbarmen! Ich möcht's nicht haben, unser Interesse wär's nicht. Aber gäb er uns auch nicht, was er uns gibt, ich hätt ihn doch lieb: 's ist nicht aus Berechnung, wahrhaftig nicht! Ach, großer Gott, so 'ne verfluchten Krankheiten kriegen doch nur die Pariser! Wo nehmen sie die nur her? Armer junger Mann! Es kann kein gutes Ende nehmen. Das Fieber, wissen Sie, das höhlt ihn aus, das schmeißt ihn um! Er hat keine Ahnung; er denkt gar nicht dran, Monsieur. Er merkt reinweg nichts. Na, nu flennen Sie mal nicht, Monsieur Jonathas! Das ist doch sicher, wenn er nichts mehr auszustehen hat, ist er glücklich. Spendieren Sie doch eine Andacht von neun Tagen für ihn! Ich habe schöne Heilungen dadurch gesehn, und ich tät selber 'ne Kerze zahlen, um so 'nen sanften Monsieur, so 'n friedliches Schaf zu retten.«

Raphaels Stimme war zu schwach geworden, um gehört zu werden: er mußte also dieses fürchterliche Geschwätz über sich ergehen lassen. Dann aber riß ihn die Ungeduld aus dem Bett. Er stand plötzlich an der Schwelle und rief Jonathas zu: »Alter Schurke, willst du unbedingt mein Henker sein?« Die Bäuerin glaubte ein Gespenst zu sehen und entfloh.

»Ich verbiete dir«, fuhr Raphael fort, »über meine Gesundheit irgend besorgt zu sein.«

»Ja, Monsieur le Marquis«, erwiderte der alte Diener und wischte sich die Tränen ab.

»Und du tätest sogar gut daran, von jetzt ab nicht ohne meinen ausdrücklichen Befehl hierherzukommen.«

Jonathas wollte gehorchen; aber bevor er ging, warf er dem Marquis einen treuen, mitleidvollen Blick zu. Raphael las sein Todesurteil darin. Mit einem Schlag wurde ihm seine wahre Lage bewußt; entmutigt setzte er sich auf die Schwelle, kreuzte die Arme über der Brust und ließ den Kopf hängen. Jonathas näherte sich erschreckt seinem Herrn.

»Monsieur?«

»Geh! geh fort!« schrie der Kranke.

Am Morgen des nächsten Tages war Raphael auf die Felsen geklettert und hatte sich in eine mit Moos gepolsterte Senke gesetzt, von wo aus er den schmalen Weg sehen konnte, auf dem man vom Bade aus zu seiner Behausung gelangte. Am Fuße des Felsens sah er Jonathas, der schon wieder mit der Auvergnatin sprach. Eine boshafte Macht ließ ihn das Achselzucken, die verzweifelten Gebärden, die erschreckende Einfalt dieser Frau verstehen und trug ihm durch den Wind und die Stille sogar ihre unseligen Worte zu. Von Entsetzen erfaßt, floh er auf die höchsten Gipfel der Berge und blieb dort bis zum Abend, ohne die düsteren Gedanken vertreiben zu können, die verhängnisvoll durch die grausame Teilnahme, deren Gegenstand er geworden, in seinem Herzen erwacht waren. Mit einem Mal stand die Auvergnatin selber vor ihm wie ein Schatten im abendlichen Dämmer; mit der wunderlichen Phantasie des Dichters wollten ihm die schwarzen und weißen Streifen ihres Rockes wie die dürren Rippen eines Gespenstes anmuten.

»Lieber Monsieur, jetzt kommt der Abendtau. Wenn Sie hier oben bleiben, geht es Ihnen wie der faulen Birne, die in den Dreck fiel. Kommen Sie mal nach Hause! Das ist nicht gesund, den Tau einzuatmen. Und dabei haben Sie seit dem Morgen noch nichts gegessen.«

»Zum Donnerwetter!« schrie er, »alte Hexe, laßt mich gefälligst leben, wie ich Lust habe, oder ich gehe von hier fort! Es ist gerade genug, daß Ihr mir jeden Morgen das Grab schaufelt, laßt mich wenigstens abends zufrieden!«

»Ihr Grab, lieber Monsieur! Ich sollte Ihr Grab schaufeln? I wo denn, wo ist denn Ihr Grab? Ich wollt, Sie würden so alt wie unser Vater! Wozu denn ins Grab? Wir kommen früh genug hinein.«

»Genug!« unterbrach Raphael sie.

»Nehmen Sie meinen Arm, Monsieur . . .«

»Nein.«

Nichts erträgt der Mensch so schwer wie das Mitleid, besonders wenn er es verdient. Der Haß ist ein Stärkungsmittel, er ruft zum Leben, zur Rache; aber das Mitleid tötet, es schwächt noch unsere Schwäche. Es ist das Übel, das sich nun schöntuerisch gibt, es ist die Verachtung, die sich in Fürsorge kleidet, es ist die Fürsorge, die wir als Kränkung empfinden. Raphael fand in dem Hundertjährigen ein triumphierendes, in dem Kinde ein neugieriges, in der Frau ein quälsüchtiges, in dem Mann ein eigennütziges Mitleid; aber in welcher Form es sich auch zeigte, es trug immer den Tod in sich. Ein Dichter macht aus allem ein Gedicht, mag es nun, je nach den Bildern, die ihn bewegen, ein schreckliches oder ein heiteres sein; seine erregte Seele verwirft die zarten Schattierungen und wählt stets die grellen und satten Farben. Dieses Mitleid zeugte in Raphaels Herzen ein grauenerregendes Gedicht der Trauer und Verdüsterung. Er hatte, als er der Natur nahe zu sein wünschte, wahrscheinlich nicht daran gedacht, wie unverhohlen sich natürliche Gefühle zeigen. Wenn er allein unter einem Baum zu sein glaubte und mit einem furchtbaren Hustenanfall rang, den er nie bezwang, ohne aus diesem gräßlichen Kampf völlig zerschlagen hervorzugehen, sah er die hellen glänzenden Augen des kleinen Jungen auf sich gerichtet, der wie ein Wilder im Grase auf Posten lag und ihn mit jener kindlichen Neugier belauerte, in der ebensoviel Spott wie Vergnügen und ein seltsames, gefühlloses Interesse lag. Ständig schien in den Augen der Bauern, bei denen Raphael lebte, der schreckliche Gruß der TrappistenTrappisten: reformierte Zisterzienser mit einem strengen Schweigegelübde, von dem nur der tägliche Gruß ›memento mori‹ (Gedenke des Todes) ausgenommen war. zu stehen: ›Bruder, gedenke des Todes‹. Er wußte nicht, was er mehr fürchtete, ihre einfältigen Worte oder ihr Schweigen; alles an ihnen störte ihn. Eines Morgens sah er zwei schwarzgekleidete Männer, die um ihn herumschlichen, ihn umwitterten und ihn verstohlen belauerten; freilich taten sie, als wären sie nur als Spaziergänger hierher gekommen, und stellten ihm gleichgültige Fragen, auf die er kurz angebunden antwortete. Er erkannte sie als den Arzt und den Geistlichen des Badeorts, die ohne Zweifel von Jonathas geschickt oder von seinen Wirtsleuten zu Rate gezogen oder gar vom Geruch des nahen Todes angelockt worden waren. Nun sah er sein eigenes Leichenbegräbnis voraus, hörte den Gesang der Priester, zählte die Kerzen und sah die Schönheiten dieser reichen Natur, in deren Schoß er das Leben gefunden zu haben glaubte, nur noch wie durch einen Trauerschleier hindurch. Alles, was ihm vor kurzem noch ein langes Leben verkündet hatte, prophezeite ihm jetzt ein nahes Ende. Am nächsten Tag reiste er nach Paris ab, nachdem er die Flut schwermütiger Worte und herzlich bedauernder Wünsche seiner Wirtsleute über sich ergehen lassen mußte.

Er reiste die ganze Nacht durch und erwachte in einem der lieblichsten Täler des Bourbonnais,Bourbonnais: Gebiet im Norden des Massif central dessen Landschaften wie die Nebelbilder eines Traums an ihm vorbeiflogen. Die Natur breitete sich mit grausamem Liebreiz vor seinen Augen aus. Bald entrollte der Allier bis in weite Fernen sein strahlendes Silberband; dann wieder zeigten, bescheiden in einer gelbschimmernden Felsschlucht versteckt, Weiler die Spitzen ihrer Kirchtürme; bald tauchten in einem kleinen Tal hinter eintönigen Weinbergen plötzlich Mühlen auf, und überall erschienen strahlende Schlösser, an Abhängen erbaute Dörfer oder mit mächtigen Pappeln gesäumte Landstraßen; und endlich leuchtete die Loire mit ihrer weiten Wasserfläche wie ein Diamant aus goldenem Sand hervor. Verführungen ohne Ende! Die Natur, rege und lebhaft wie ein Kind, quoll schier über von der feurigen Glut des Juni und zog die erloschenen Blicke des Kranken unvermeidlich auf sich. Er ließ die Vorhänge im Wagen herunter und schlief wieder ein. Gegen Abend, als der Wagen Cosne hinter sich gelassen hatte, wurde er von fröhlicher Musik geweckt; er war mitten in ein ländliches Fest hineingeraten. Die Poststation lag nahe dem Platz. Während die Postillione die Pferde wechselten, sah er den Tänzen dieses heitren Völkchens zu, er sah hübsche, tändelnde Mädchen mit Blumen geschmückt, ausgelassene junge Männer und schließlich die runden weingeröteten Gesichter der angeheiterten alten Bauern. Kleine Kinder tollten übermütig umher, alte Frauen plauderten vergnügt; alles war einträchtig, und die Freude verschönte sogar die Kleider und die Tische, die man aufgestellt hatte. Der Platz und die Kirche boten ein Bild des Glücks; selbst die Dächer, die Fenster, die Türen des Dorfes schienen sich sonntäglich herausgeputzt zu haben. Gleich Sterbenden, denen das geringste Geräusch lästig ist, konnte Raphael weder einen Fluch noch den Wunsch unterdrücken, die Geigen möchten schweigen, all diese freudige Bewegung sich auflösen, der Lärm verstummen und dieses unverschämte Fest in alle Winde stieben. Verdrossen stieg er wieder in den Wagen. Als er noch einmal nach dem Platz zurücksah; gewahrte er, wie alle Freude verscheucht, die Bäuerinnen auf der Flucht und die Bänke verlassen waren. Auf dem Gerüst des Orchesters saß nur noch ein blinder Spielmann und entlockte seiner Klarinette ein schrilles Rondo. Diese Musik ohne Tänzer, dieser einsame Greis mit dem brummigen Gesicht, in Lumpen gehüllt, mir wirrem Haar, im Schatten einer Linde, das alles war wie ein grausiges Abbild des Wunsches, den Raphael geäußert hatte. In Strömen ging einer jener Wolkenbrüche nieder, der sich aus den Gewitterwolken im Juni häufig ebenso plötzlich ergießt, wie er aufhört. Das war etwas so Natürliches, daß Raphael, der ein paar weißliche Wolken am Himmel sah, die ein leichter Wind davontrieb, gar nicht daran dachte, sein Chagrinleder anzusehen. Er legte sich in die Ecke seines Wagens zurück, der bald auf der Straße weiterrollte.

Am nächsten Tage war er wieder zu Hause, in seinem Zimmer, an seinem Kamin. Er hatte sich ein großes Feuer machen lassen; es fror ihn. Jonathas brachte ihm Briefe. Sie waren alle von Pauline. Er öffnete den ersten ohne Eile und entfaltete ihn so gleichgültig, als handelte es sich um den grauen Bogen einer Zahlungsaufforderung, die sein Steuereinnehmer geschickt hatte. Er las den ersten Satz: »Abgereist! Aber das ist eine Flucht, liebster Raphael. Wie! niemand kann mir sagen, wo Du bist? Und wenn ich es nicht weiß, wer soll es dann wissen?« Mehr daraus zu erfahren, hatte er keine Lust; ungerührt nahm er die Briefe und warf sie ins Feuer. Mit stumpfem, unbeteiligten Blick sah er dem Spiel der Flammen zu, in denen das duftende Papier sich krümmte, zusammenschrumpfte, sich drehte und zerfiel.

Einige Papierfetzen flogen auf die Asche und ließen ihn Anfänge von Sätzen, einzelne Worte, halbverbrannte Gedanken erkennen, und er vergnügte sich ganz unbewußt damit, sie in den Flammen zu entziffern.

»An Deiner Tür gesessen . . . gewartet . . . Laune . . . ich gehorche . . . Nebenbuhlerinnen . . . ich nicht! . . . Deine Pauline . . . liebt . . . keine Pauline mehr? . . . Wenn Du mich hättest verstoßen wollen, hättest Du mich nicht verlassen . . . Ewige Liebe . . . Sterben . . .«

Diese Worte erregten in ihm eine Art Reue; er griff nach der Zange und rettete den letzten Fetzen eines Briefes aus den Flammen.

». . . Ich habe gemurrt«, schrieb Pauline, »aber ich habe mich nicht beklagt, Raphael! Als Du mich von Dir entfernt hieltest, wolltest Du mir gewiß die Last eines Kummers ersparen. Vielleicht wirst Du mich eines Tages töten, aber Du bist zu gut, um mich leiden zu lassen. Oh, reise nie wieder so fort! Ich vermag den größten Qualen zu trotzen, aber nur, wenn ich bei Dir bin. Der Kummer, den Du mir antun könntest, wäre dann kein Kummer mehr; in meinem Herzen lebt eine viel größere Liebe, als ich Dir sie zeigen konnte. Ich kann alles ertragen, nur nicht, fern von Dir zu weinen und nicht zu wissen, was Du . . .«

Raphael legte dieses geschwärzte Bruchstück eines Briefes auf den Kamin; dann warf er es plötzlich in das Feuer zurück. Dieses Stück Papier war ein zu lebhaftes Bild seiner Liebe und seines unseligen Lebens.

»Hole Monsieur Bianchon!« befahl er Jonathas.

Als Horace kam, fand er Raphael im Bett.

»Lieber Freund, kannst du mir einen leicht opiumhaltigen Trank brauen, der mich in einem dauernden Halbschlaf hält, ohne daß der dauernde Gebrauch dieses Getränkes mir schadet?«

»Nichts leichter als das«, erwiderte der junge Arzt; »du müßtest jedoch schon ein paar Stunden am Tag wach sein, um zu essen.«

»Ein paar Stunden?« unterbrach Raphael; »nein, nein! Ich will höchstens eine Stunde auf sein.«

»Was hast du denn vor?« fragte Bianchon.

»Schlafen! Schlafen heißt doch leben!« antwortete der Kranke.

»Laß niemanden herein, wäre es auch Mademoiselle Pauline de Vitschnau!« wies er Jonathas an, während der Arzt sein Rezept schrieb.

»Ist noch eine Hoffnung, Monsieur Horace?« fragte der alte Diener den jungen Arzt, den er bis zur Freitreppe begleitet hatte.

»Es kann noch lange dauern, aber auch heute abend schon zu Ende sein. Bei ihm sind die Aussichten für Leben und Tod gleich. Ich verstehe den Fall nicht«, versetzte der Arzt und machte eine zweifelnde Gebärde. »Man muß ihn zerstreuen.«

»Ihn zerstreuen! Monsieur, Sie kennen ihn nicht. Er hat jüngst einen Menschen erschossen und hat nicht einmal Uff gesagt! Ihn zerstreut nichts.«

Raphael blieb einige Tage in das Nichts seines künstlichen Schlafes versenkt. Dank der Macht, die das Opium auf unsere Seele, das Materielle auf das Immaterielle, ausübt, sank dieser Mann von so gewaltiger, tätiger Phantasie auf die Stufe jener trägen Tiere, die in der Tiefe der Wälder in ihrem Bau aus Laubwerk hocken und keinen Schritt tun, um eine leichte Beute zu fassen.

Er hatte sogar das Licht des Himmels ausgelöscht; der Tag drang nicht mehr bis zu ihm herein. Gegen acht Uhr abends stand er auf; ohne sich seines Daseins klar bewußt zu sein, befriedigte er seinen Hunger und legte sich dann sofort wieder hin. Diese kalten, greisenhaften Stunden trugen ihm nur verschwommene Bilder, Erscheinungen, Schatten auf schwarzem Grund zu. Er hatte sich in tiefes Schweigen vergraben, in eine Verleugnung der Bewegung und des Denkens. Eines Abends erwachte er viel später als sonst und fand sein Essen nicht serviert. Er läutete Jonathas.

»Du kannst gehen«, sagte er zu ihm. »Ich habe dich reich gemacht, du wirst auf deine alten Tage glücklich sein; aber ich will dich nicht länger mit meinem Leben spielen lassen. Wie, du Elender! Ich spüre Hunger. Wo ist mein Essen? Antworte!«

Jonathas lächelte zufrieden, nahm eine Kerze, deren Flamme in der tiefen Dunkelheit der weitläufigen Räume des Hauses spukhaft flackerte, und führte seinen Herrn, der wieder zur bloßen Maschine geworden war, über einen langen Gang bis zu einer Tür, die er plötzlich öffnete. Raphael wurde von Licht überflutet; er war geblendet. Ein unerhörtes Schauspiel überraschte ihn. Seine Kronleuchter steckten voll brennender Kerzen, die seltensten Blumen seines Treibhauses waren harmonisch angeordnet, eine Tafel glänzte von Gold- und Silbergeschirr, Perlmutt und Porzellan; ein königliches Mahl dampfte darauf, dessen verlockende Gerichte den Gaumen reizten. Er sah seine Freunde versammelt und zwischen ihnen entzückende Frauen im schönsten Schmuck, mit tiefausgeschnittenen Kleidern, nackten Schultern, Blumen im Haar und funkelnden Augen; die verschiedenartigsten Schönheiten, verlockend in wollüstigen Verkleidungen: die eine brachte ihre reizenden Formen durch ein irisches Jäckchen zur Geltung, die andere trug die sinnverwirrende Basquina, den Reifrock der Andalusierinnen; diese erschien halbnackt als Diana, Göttin der Jagd, jene züchtig und lieblich als Mademoiselle de La Vallière,La Vallière, Louise de la Baume le Blanc, Duchesse de (1644-1710): Mätresse Ludwigs XIV. alle aber waren in gleicher Weise berauschend. Aus den Augen aller Gäste blickte Freude, Liebe, Lebenslust. Als Raphaels Totenantlitz sich in der Tür zeigte, brach jäher Beifallssturm los, der so hell aufbrandete wie die Strahlen dieses improvisierten Festes. Die Stimmen, der Duft, das Licht, die überwältigende Schönheit dieser Frauen erregten seine Sinne, erweckten sein Verlangen. Eine köstliche Musik aus einem benachbarten Salon übertönte mit einer Flut von Harmonien diesen berauschenden Tumult und machte die seltsame Vision vollständig. Raphael fühlte seine Hand von einer schmeichelnden Hand gedrückt, von der Hand einer Frau, deren frische weiße Arme sich nun hoben, um ihn an sich zu ziehen: Aquilina stand vor ihm. Nun begriff er, daß diese Szenerie nicht schattenhaftes Gaukelwerk war wie die flüchtigen Bilder seiner farblosen Träume; er stieß einen dumpfen Schrei aus, schloß hastig die Tür und schlug seinen alten Diener ins Gesicht.

»Ungeheuer!« tobte er, »du hast also geschworen, mich zu morden!« Dann fand er, obwohl er bei dem Gedanken an die Gefahr, der er ausgesetzt war, an allen Gliedern zitterte, die Kraft, sein Zimmer zu erreichen, trank eine starke Dosis seines Schlafmittels und legte sich zu Bett.

»Aber zum Teufel!« stöhnte Jonathas, als er sich wieder aufrichtete, »Monsieur Bianchon hatte mir doch ausdrücklich aufgetragen, ich sollte ihn zerstreuen.«

Es war gegen Mitternacht. Um diese Stunde strahlte Raphael – dank einer der Launen der Physiologie, die das Staunen und die Verzweiflung der medizinischen Wissenschaften sind – in seinem Schlaf vor Schönheit. Ein lebhaftes Rot färbte seine bleichen Wangen. Auf seiner Stirn, die liebreizend war wie die eines jungen Mädchens, lag das Siegel des Geistes. Das stille, gelöste Antlitz schien wie blühendes Leben. Er glich einem Kind, das unter der Obhut der Mutter eingeschlafen ist. Sein Schlaf war gut, aus seinem roten Mund strömte ein gleichmäßiger reiner Atem, er lächelte; gewiß hatte ihn ein Traum in ein schönes Leben versetzt. Vielleicht war er hundert Jahre alt, vielleicht wünschten ihm seine Enkelkinder ein langes Leben; vielleicht saß er auf seiner ländlichen Bank in der Sonne unter dem Blätterdach und schaute wie der Prophet auf dem Bergesgipfel das Gelobte Land in verheißungsvoller Ferne.

»Da bist du also!«

Diese Worte, mit silberheller Stimme gesprochen, verscheuchten die verschwommenen Gestalten seines Schlafes. Beim Schimmer der Lampe sah er Pauline auf seinem Bette sitzen, aber eine Pauline, die durch die Trennung und durch den Schmerz noch schöner geworden war. Raphael war betroffen beim Anblick dieses Gesichtes, das weiß war wie die Blumenblätter einer Seerose und das, von den langen schwarzen Haaren umflossen, im Dunkel des Zimmers noch bleicher schien. Tränen hatten ihre glitzernde Spur über ihre Wangen gezogen und hingen dort, bereit, bei der geringsten Bewegung herabzutropfen. Weiß gekleidet, den Kopf geneigt und das Bett kaum berührend, saß sie da, und so schien sie ein Engel zu sein, der vom Himmel herabgekommen war, eine Erscheinung, die ein Hauch verwehen konnte.

»Ah, ich habe alles vergessen!« rief sie in dem Augenblick, wo Raphael die Augen aufschlug. »Ich habe nur eine Stimme, um dir zu sagen: Ich bin dein! Ja, mein Herz ist nur Liebe. Ach, Engel meines Lebens, niemals warst du so schön. Wie deine Augen blitzen! Ach geh, ich ahne alles. Du hast deine Gesundheit gesucht, ohne mich, du hast mich gefürchtet . . . Nun . . .«

»Flieh! Flieh! Laß mich allein!« sprach Raphael endlich mit dumpfer Stimme. »So geh doch! Wenn du bleibst, sterbe ich. Willst du mich sterben sehen?«

»Sterben!« wiederholte sie. »Kannst du ohne mich sterben? Sterben, wo du so jung bist? Sterben, wo ich dich liebe? Sterben!« wiederholte sie immer wieder mit tiefer Stimme und griff wie rasend nach seinen Händen.

»Kalt!« sagte sie. »Träume ich?«

Raphael zog das Stückchen des Chagrinleders unter dem Kopfkissen hervor, das jetzt dünn und klein war wie das Blättchen des Immergrün, und zeigte es ihr. »Pauline, schönes Bild meines schönen Lebens, sagen wir uns Lebewohl!«

»Lebewohl?« wiederholte sie in tiefem Staunen.

»Ja. Das ist ein Talisman, der meine Wünsche erfüllt und mein Leben vorstellt. Sieh, was mir noch bleibt. Wenn du mich noch länger ansiehst, sterbe ich . . .«

Das junge Mädchen glaubte, Valentin sei wahnsinnig geworden, sie nahm den Talisman und holte die Lampe. In dem schwankenden Lichte, das Raphael und den Talisman in gleicher Weise aus dem Dunkel heraushob, sah sie gespannt auf das Gesicht ihres Geliebten und auf das letzte Stückchen des magischen Leders. Als er Pauline so sah, wie Angst und Liebe sie verschönte, war er nicht mehr Herr seiner Gedanken: die Erinnerung an die zärtlichen Stunden und die berauschenden Wonnen seiner Leidenschaft quoll übermächtig in seiner seit langem schlafenden Seele empor und loderte auf, gleich einem unzureichend gelöschten Brand.

»Pauline, komm! Pauline!«

Ein furchtbarer Schrei entrang sich dem jungen Mädchen; ihre Augen weiteten sich, ihre Augenbrauen, in unerhörtem Schmerz heftig zusammengezogen, teilten sich vor Grauen, sie las in Raphaels Augen ein rasendes Begehren, wie es einstmals ihr Stolz gewesen war; aber je größer dieses Verlangen wurde, um so mehr schrumpfte das Stückchen Leder kitzelnd in ihrer Hand. Außer sich, stürzte sie in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich.

»Pauline! Pauline!« rief der Sterbende und eilte ihr nach, »ich liebe dich, ich bete dich an, ich begehre dich! Ich verfluche dich, wenn du nicht öffnest. Laß mich bei dir sterben!«

Mit einer sonderbaren Kraft, dem letzten Ausbruch des Lebens, stieß er die Tür auf und sah, wie sich seine Geliebte halbnackt auf dem Sofa wand. Pauline hatte vergebens versucht, sich die Brust zu zerfleischen; und um sich einen schnellen Tod zu geben, wollte sie sich mit ihrem Schal erdrosseln. »Wenn ich sterbe, wird er leben!« rief sie und versuchte umsonst die Schlinge, die sie gemacht hatte, festzuziehen. Ihre Haare waren gelöst, ihre Schultern entblößt, ihre Kleider in Unordnung, und in diesem Ringen um den Tod, die Augen tränenüberströmt, das Antlitz flammend, in dieser fürchterlichen Verzweiflung enthüllte sie dem liebestrunkenen Raphael tausend Schönheiten, die seinen rasenden Taumel noch steigerten. Behend wie ein Raubvogel stürzte er sich auf sie, zerriß den Schal und wollte sie umfangen.

Der Sterbende suchte nach Worten, um das Verlangen auszudrücken, das all seine Kräfte verzehrte; aber nur ersticktes Röcheln entrang sich seiner Brust, immer tiefer bohrte sich jeder Atemzug in seinen Körper und schien schließlich aus den Eingeweiden aufzusteigen. Als er zuletzt fast keinen Ton mehr hervorbrachte, grub er seine Zähne in Paulines Busen. Entsetzt von den Schreien, die er vernahm, kam Jonathas herbeigeeilt und versuchte dem jungen Mädchen den Leichnam zu entreißen, auf dem sie in einem Winkel des Gemachs kauerte.

»Was wollen Sie?« sagte sie; »er gehört mir, ich habe ihn getötet. Hatte ich es nicht vorhergesagt?«

 


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